Cattaneo
Ace
Je näher wir dem dritten Planeten und seinem Trümmerfeld kamen, desto aufgeregter wurde Lilja. Ich konnte sie verstehen; vor dem desaströsen Abend in meinem Quartier – desaströs für mein Ego – war die Reise für sie eintönig, geradezu langweilig gewesen. Sie gab sich schon von Natur aus nicht gerne mit zu vielen Leuten ab, befürchtete vielleicht auch insgeheim, durch die Narben zu viele Leute zu verschrecken. Oder Vorurteile zu schüren. An Bord war ich ohnehin der einzige, den sie gut kannte, und ich war ihr lange genug aus dem Weg gegangen. Gut, da war noch Quicksilver, die sich wie eine Amme um jeden kümmerte, sogar um mich, aber es war kein adäquater Ersatz für etwas zu tun gewesen. Wer konnte das besser nachvollziehen als ich, nachdem ich mir die Hände mehr als einmal an Schmiermitteln im Maschinenraum verdreckt hatte? Eine Aufgabe war etwas wundervolles, und Lilja war endlich an dem Punkt, an dem sie ihre Aufgabe erhielt.
Beinahe hätte ich mich dazu verleiten lassen, ihre Stimmung als gelöst zu werten, wären da nicht immer wieder diese Momente innerer Einkehr bei ihr zu beobachten. Momente, in denen sie nicht verschlossen, sondern sogar abgelenkt war. Nicht, dass sie ohnehin viel im Einsatz sagte, vor allem nichts was nicht mit dem Einsatz zu tun hatte.
"Jadesohn eins?", fragte ich über Kurzwellenfunk mit geringer Sendeleistung, um sicher zu gehen, dass die Mannschaft der JADE nicht mit hörte. Eventuelle Aufzeichnungsgeräte, die Tremane in meinem und Liljas Vogel installiert haben mochte, ausgenommen.
"Eins hier. Was gibt es, Ace?"
"Willst du drüber sprechen?"
"Ich weiß nicht was du meinst. Funkdisziplin, Jadesohn zwei."
"Du sendest mit geringer Leistung niederfrequent.", sagte ich beinahe amüsiert.
Es folgte eine längere Pause, bevor sie schließlich doch antwortete. "Glaubst du an Geister, Ace?"
"Wie bitte?"
"Einfache Frage, einfache Antwort: Glaubst du an Geister?"
"Hm." Glaubte ich an Geister? "Ich glaube, dass es in diesem Universum, zwischen den Sternen, viel mehr Dinge gibt, als wir Menschen kennen gelernt haben und kennen lernen werden. Wahrscheinlich vergehen wir wieder, und haben nicht einmal ein Tausendstel unserer eigenen Galaxis kennen gelernt."
"Du glaubst also nicht an Geister.", sagte sie verstimmt.
"Ich glaube, dass es da draußen Dinge gibt, die ich, bevor ich sie näher kenne, als Geister bezeichnen würde. Ist das in Ordnung?"
Sie seufzte, und das alleine war schon eine mittlere Revolution für sie. "Hast du jemals etwas über eine russische Legendenfigur namens Baba Yaga gehört?"
"Nein."
"Ich werde es nicht näher ausführen, aber viele der Legenden um sie...Sind ein wenig, nun, drastisch und machen aus einer alten, blinden Frau eine alte, blinde, gefährliche Frau. Seit wir das Notsignal geortet haben, fühle ich mich wie in eine solche Geschichte versetzt. Ich hatte schon mal ein ähnliches Erlebnis, damals bei der Jagd nach Jor. Ich war mit Dragon auf Langstreckenpatrouille und bekam irreguläre Werte und verstümmelte Ortungsschatten eines Raumschiffs herein...Mal da, mal nicht, mal da, mal nicht. Es war irritierend."
Nun war ich es, der seufzte. Es wäre ja auch zu viel verlangt gewesen zu erwarten, dass Lilja das Wort "Angst" im Zusammenhang mit sich selbst in den Mund nahm.
"Ich weiß was du meinst. Die Raumfahrermythologie ist voll mit untoten Spacern, Geisterschiffen, Unsterblichen und Menschen, die so lange im Weltall gelebt haben, dass sie draußen ohne Raumanzug überleben können. Einige brauchen dafür aber ab und an frisches Menschenhirn oder frisches Jungfrauenblut. Die Extrapolation alten terranischen Horrors auf die neuen Umstände." Ich spürte ihren Einwand, bevor sie ihn aussprach. "Aber alle Dinge haben irgendwo einen Kern Wahrheit, genauso wie Commander Georges' Theorien. Außerdem werde ich als jemand, der seinem Instinkt sein Überleben verdankt, einen Piloten nicht dafür tadeln, dass er seinem eigenen Instinkt lauscht. Und nein, bevor du fragst, ich fühle mich weder bedroht, noch wie in einem Horrorfilm. Aber ich vertraue dir."
Ein amüsiertes Glucksen war zu hören. "Weil du mich liebst, großer starker Pilot?"
"Weil deine Fähigkeiten gerade auf den leichteren Jägern nahezu konkurrenzlos sind. Weil du das Callsign Lilja mit deiner eigenen Legende geprägt hast. Weil du was kannst. Und ja, weil ich dich liebe."
"Schön, dass du nicht vollends irrational wirst. Und, bitte, bring diesen Witz nicht zu oft. Das irritiert mich."
"Du hast damit angefangen.", erwiderte ich. Ob das reichte, um Lilja etwas von ihrer Beklemmung zu nehmen? Wenn man wusste, dass man seinem Flügelmann vertrauen konnte, wenn man sich auf ihn in jeder Hinsicht verlassen konnte, dann war das immer ein Motivationsschub.
Sie seufzte erneut, diesmal amüsiert. "Konzentrieren wir uns wieder aufs Wesentliche. Und, Ace, danke. Es tut gut, dass du endlich wieder mit mir redest."
Ich schnaubte amüsiert. Diese Spitze hatte sie sich nicht verkneifen können, oder?
Bevor ich jedoch etwas erwidern konnte, informierte mich der Bordcomputer darüber, dass er die Schirmleistung meiner Falcon kurzfristig um zwanzig Prozent erhöhte. Die Begründung ließ nicht lange auf sich warten: Mehrere tausend Mikrometeoriten bewegten sich auf Gegenkurs. Die Automatik hatte die zu erwartende Schirmleistung hochgerechnet und entsprechend reagiert. Nahezu zeitgleich schoss die Strahlungsanzeige in die Höhe.
"Lilja, veranstalten Mikrometeoriten gerade ein Feuerwerk in deinem Schirm?"
"Ach, bei dir auch? Und ich dachte, ich kriege ein exklusives Medusa-Feuerwerk." Sie schwieg ein paar Sekunden. "Wir sind vierundachtzig Kilometer auseinander. Ein etwas großes Feld mit Mikrometeoriten und erhöhter Strahlung, um ein Zufall zu sein. Zumindest wenn sie uns alle entgegen kommen."
"Eine Explosion?"
"Ist das naheliegenste, oder? Und es passt ins Szenario. Ich kontaktiere die JADE. Jademutter, hier Jadesohn eins. Durchqueren ein großes Trümmerfeld an Mikrometeoriten mit um achthundert Prozent erhöhten Strahlungswerten. Recht typisch für die Korona einer atomaren Explosion."
"Hier Jademutter. Haben Sie sonst etwas in der Ortung, Jadesohn eins?"
"Nichts, was größer als ein paar Mikrometer wäre, geschweige denn als die MARY C durchgehen könnte."
"Setzen Sie Ihren Flug fort, Jadesöhne eins und zwei.", klang Tremanes Stimme auf. "Wir berechnen derweil, ob Ihre ,Explosionskorona' von der MARY C verursacht werden konnte."
"Jadesohn eins und zwei verstanden."
Lilja hatte kaum ausgesprochen, da sank die Strahlenbelastung auf einen Wert, der fünfzig Prozent über dem üblichen Strahlungsdruck des Medusa-Systems lag. Das bedeutete, dass der Explosionskranz eine Stärke von fast vierhundert Kilometern hatte. Das ließ auf alles schließen, aber gewiss auf keine kleine Explosion. Beinahe zugleich schraubte mein Bordcomputer die Schirmleistung wieder auf Normwerte zurück. Ich kontrollierte meine Ortung. "Lilja, ortest du das auch?"
"Nein, ich habe nichts auf dem Schirm."
"Das ist es ja gerade. Wir befinden uns in einem Bereich, der nahezu leer gefegt ist. Kannst du feststellen, wie groß der Bereich ist?"
"Es ist eine Art ellyptischer Blase mit einem höchsten Radius von zweihundertelf Kilometern. Das ist merkwürdig. Denn eigentlich sollten wir uns jetzt schon im Asteroidengürtel befinden."
"Außer, jemand oder etwas hat einen Teil der Asteroiden atomisiert."
"Ganz leer ist es hier nicht. Es gibt einzelne Querläufer und vereinzelte Felder hoher Strahlung. Das Zentrum wird, wenn wir Recht haben, auch stark strahlen. Wir..."
Ich horchte auf. Wenn Lilja einen Satz unvollendet ließ, hatte das immer etwas zu bedeuten.
"Ich kriege das SOS wieder rein. Unscharf und verstümmelt. Außerdem scheint es sich zu überlagern. Zwei Signale?"
"Gib mir mal die Daten rüber." Kurz darauf bekam ich die Auswertungen ihres Ortungspod. "Eines der Signale, das stärkere, kommt aus dem Asteroidenfeld in Flugrichtung. Das schwächere scheint aus diesem künstlichen Vakuum zu stammen. Mein Computer hat nach Dreieckspeilung einen Bereich nahezu im Zentrum ausgemacht."
"Na, viel kann da ja nicht sein.", seufzte sie. "Ich sehe mir das Ding im Asteroidengürtel an. Du nimmst dir das zweite Signal vor. Wird wohl nicht mehr als ein geschmolzener Trümmerhaufen sein, aber nachschauen müssen wir. Meide aber Gebiete mit zu starker Strahlung."
"Wieso kriege ich eigentlich die uninteressantere Aufgabe?"
"Vorrecht des höheren Rang, Lieutenant.", erwiderte sie beinahe fröhlich. "Jademutter, hier Jadesohn eins. Investigieren zwei verschiedene SOS-Signale. Jadesohn zwei sucht Signal im Zentrum des vermuteten Explosionsherds auf. Jadesohn eins sucht das Signal im Asteroidengürtel auf."
"Jademutter hier. Verstanden. Haltet trotzdem die Augen nach der MARY C auf. Ein paar Mikrotrümmer und ein potentieller Explosionsherd können alles bedeuten."
"Verstanden, Jademutter."
Lilja verschwand von meinem Flügel, und ich drückte den Nachbrenner, um meinem eigenen Ziel schneller näher zu kommen. Kurz stieg für mich die Radioaktivität an, nahm danach jedoch wieder rapide ab. Dann schwoll sie stärker an, bis ich beinahe das Zentrum erreicht hatte, bis ich wieder eine Zone relativer Ruhe erreicht hatte. Dort bremste ich das Schiff bis auf freien Fall herab. Mit Hilfe der Ortung und der Kameras suchte ich, noch zwanzig Kilometer vom vermuteten Explosionszentrum entfernt, das vermeintliche Epizentrum nach der Quelle des Signals ab.
Schließlich gelang mir eine Entdeckung mit Infrarot, nachdem die Normalortung vor der Strahlung kapituliert hatte und die Kameras nur Nachtschwärze gezeigt hatten.
Interessiert betrachtete ich das Bild. Und stellte sofort fest, dass meine Befugnisse mit diesem Fund weit überschritten waren. Dieser klobige, kompakte Anzug, der nicht von ungefähr an die alten Taucheranzüge der prästellaren Erde erinnerte – jenen Modellen, die mit Stahlstiefeln und externer Luftpumpe gearbeitet hatten – zeigten mir etwas, was eigentlich nicht sein durfte. Nicht hier.
"Jademutter, hier Jadesohn zwei. Ich melde einen potentiellen Überlebenden an den Zielkoordinaten der vermuteten Explosion. Driftet mit geringer Eigengeschwindigkeit um alle drei Achsen mit achtzig Metern die Stunde aus dem Kernbereich heraus."
"Jadesohn zwei, definieren Sie potentiellen Überlebenden.", rief Tremane.
"Ich schicke Ihnen die Bilder."
"Sind angekommen. Wollen Sie mich verarschen? Wie soll so etwas kleines, zerbrechliches Etwas im Zentrum einer Explosion überstanden haben, die tausend Klicks weit gereicht hat?"
"Über das wie und das warum mache ich mir gerade keine Gedanken. Nur über das, was ich vor mir sehe. Und das ist ein handelsüblicher schwerer Ingenieurs- und Bergungsanzug. Ich schlage vor, Sie schicken die Marines und sammeln den Anzug ein. Sie dürften mit ihrem Shuttle in der Strahlung die wenigsten Schwierigkeiten haben."
"Standby, Ace.", klang Jayhawkers Stimme auf. "Behalten Sie den Bergungsanzug in der Ortung. Ihre Partnerin meldet gerade, dass sie ein Rettungsboot in der Ortung hat. Wir müssen hier kurz die Prioritäten ordnen."
"Copy, Standby. Halte den Anzug in der Ortung." Eine Rettungskapsel? Und ich hatte nur einen Bergungsanzug entdeckt – und ein Paradoxon, denn das kleine Ding konnte der Explosion, die hier statt gefunden hatte, eigentlich nicht widerstanden haben. Zwar war es allgemein bekannt, dass im Kern von Explosionen oft ruhige Zonen entstanden, aber die Chance war recht klein, in dieser ruhigen Zone zu sein. Außer natürlich, es waren mehrere Dutzend Bergungsanzüge an der Operation beteiligt gewesen. Dann stimmte die Statistik wieder.
Ich spürte einen leichten Schauder über meinen Rücken fahren. All das Theoretisieren diente nur einem Zweck, nämlich an diesem einsamen, verlassenen Ort nicht zu viel über das wie und warum nachzudenken. Denn bis ich den Rückruf bekam, oder die Marines den Anzug aufnahmen, würde ich sicherlich eine erkleckliche Zeitspanne im Nichts treiben müssen.
Victoria Station, etwa zur gleichen Zeit
Als der junge Mann aus dem Shuttle stieg, musterte ihn der Sergeant vom Dienst argwöhnisch. Sicher, es gab einen Besucherbereich und etliche öffentliche Sektoren an Bord der Victoria Station, aber der Junge stolperte da gerade aus einem militärischen Shuttle, das in einem gesicherten Bereich angedockt hatte. Dutzende Navy-Angehörige passierten ihn auf dem Weg zur Arbeit.
Heutzutage war ein Sprung in den Orbit auch nichts Schlimmeres als eine halbe Stunde Auto fahren. Die Zeiten änderten sich ständig, und damit auch die Möglichkeiten. Allerdings änderten sie sich nicht genug, um einen Jugendlichen in ein Sperrgebiet zu lassen, selbst wenn er versuchte, sich mit seinem kläglichen Bartschatten älter zu machen.
Sicherheitshalber checkte der Sergeant seine Flugliste, um nicht versehentlich irgendeinen Admiralssohn zu hart anzufahren. Nein, es war kein Besucher vermerkt, weder für Admiräle, noch für andere Offiziere und Mannschaften. Unauffällig gab er dem Private vom Dienst ein Zeichen. Der legte seine Hand auf die Waffentasche, ziehbereit.
Die Passagiere ließen vor seinem Pult ihre Dienstausweise ableuchten, danach konnten sie durch eine Personenschleuse in die sensiblen Bereiche von Victoria Station eintreten. Als der Junge an die Reihe kam, hielt ihn der Sergeant auf. "Moment, junger Mann. Wenn Sie die Güte hätten, kurz zu mir zu kommen."
Der Junge kratzte sich am Blondschopf und strahlte den Marine an wie die Morgensonne. "Aber natürlich, Sarge. Was kann ich denn für Sie tun?"
Hm. Der Bengel hatte was, er hatte definitiv was, und das weckte sogar in ihm ein wenig Elterninstinkt. Er beschloss, wesentlich freundlicher zu sein als er eigentlich hatte sein wollen. Gerade in so einem Fall.
"Junger Mann, ich möchte nicht, dass Sie in Ärger geraten. Wenn Sie also einfach wieder ins Shuttle steigen und zum Planeten runter fliegen, dann ist das hier meinetwegen nie passiert. Wenn es Sie wirklich so sehr pressiert, sich die Navy anzuschauen können Sie ja mit siebzehn ins Kadettenprogramm eintreten." Einladend deutete er auf den wartenden Einstieg.
Der Junge lachte leise und stöhnte anschließend gequält. "Bitte, Sarge, bringen Sie mich nicht zum Lachen. Ich habe mir neulich die Rippen gebrochen, und ohne meine Drogen tun die immer noch reichlich weh." Dennoch, ein kurzes Lächeln huschte über seine Züge. "Aber ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Sergeant...Bolkowitz. Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt."
"Schön für Sie. Wenn Sie also einfach wieder zurückgehen würden, wäre mein Tag gerettet."
"Tut mir Leid, Sarge, aber das kann ich nicht."
Der Private vom Dienst löste die Schnalle über dem Waffenholster mit einem metallischen Klicken. Dabei trat er drohend einen halben Schritt vor.
"Ich werde erwartet.", erklärte der junge Mann. Er lächelte verlegen. "Und einen Commander lässt man nun mal nicht warten."
Unsicher geworden studierte der Sergeant noch mal die Passagierliste, bevor der Junge ihn erlöste.
Aus seiner Hemdtasche fischte er einen Dienstausweis hervor. "Wenn Sie das bitte scannen würden, Sarge?"
Irritiert nahm der Unteroffizier das Dokument an sich und tastete es ab. Prompt bekam er das Ergebnis auf seinen Arbeitsplatz geliefert. Ihm blieb die Luft weg. "Commander, ich bitte vielmals um Entschuldigung! Ich habe ja nicht gewusst, dass..."
Lässig winkte Lieutenant Commander Rubenbauer ab. "Schon in Ordnung, Sarge. Das passiert mir ständig. Die meisten Leute schätzen mich auf achtzehn, wenn ich keinen Bart trage."
Er lächelte freundlich. "Im Gegensatz zu anderen Situationen mit anderen Wachtposten waren Sie richtig nett. Ich weiß das wirklich zu schätzen." Fordernd streckte er die Hand aus. "Bitte, Sarge. Mein Flug zur DERFLINGER wartet nicht auf mich."
"Natürlich, Sir." Er reichte das Dokument zurück.
Als Rubenbauer durch die Schleuse ging, rief er hinterher: "Guten Flug, Sir!"
Der Offizier lächelte und rief ein enthusiastisches Danke zurück.
Der Private schloss das Holster wieder und trat an den Arbeitspult heran. "Sarge?"
"Man glaubt es nicht, wenn man es nicht gesehen hat. Der Milchbubi ist nicht nur in Wirklichkeit neunundzwanzig, er ist auch noch Lieutenant Commander und hat auf der DERFLINGER seine eigene Schwadron."
"Dieses Milchgesicht?", staunte der Private.
"Aussehen ist eben nicht alles, Björnsen. Das müsstest du doch eigentlich wissen."
"Ha, ha. Der war jetzt nicht nötig, Sarge."
Cattaneo
Ironheart
Im Orbit um Honsho
Sterntor-System
Der Flug zu einem der etwas entfernter liegenden Systemcheckpoints, einem der unbedeutenden und unbewohnten Planeten des Sterntor-Systems, war wie zu erwarten ereignislos verlaufen. Natürlich hatte man überall im System Sonden platziert, die jede Annäherung eines Feindes frühzeitig melden würden, doch Sonden konnten ausfallen und daher war es sinnvoll sich regelmäßig selbst ein Bild der Lage zu machen.
Also näherten sich die beiden Nighthawks dem vierten Planeten des Systems, dem Gasriesen Honsho. Der silbrig schimmernde Riese füllte fast das gesamte Sichtfeld seines Cockpits aus, als sie die Peilung der ersten Meldeboje registrierten.
Donovan reckte sich in seinem Sitz und versuchte die Verspannung im Nacken zu lösen. Er war sich sicher, dass es reine Schikane von Mantis gewesen war, ihm diesen Einsatz für einen Langstreckenflugpatrouillenflug zu geben.
Der Anflug hatte fast sieben Stunden gedauert, eine Umrundung würde nochmal knapp zwei Stunden in Anspruch nehmen und dann würden sie nochmal fast sieben Stunden zurück brauchen. In seinem relativ untrainierten Zustand würde das sicher später noch zur reinen Tortur werden, aber im Augenblick genoss er einfach nur den Ausblick und versuchte nicht an den Rest des Fluges zu denken.
Statt der vollen Bewaffnung trugen die Jäger Zusatztanks mit sich, was jedem Jägerpiloten etwas Bauchschmerzen bereitete. Aber selbst im unwahrscheinlichen Falle eines Zusammentreffens mit feindlichen Kräften würden sie nicht zum Kämpfen da sein, sondern nur um Meldung zu machen und dann so schnell wie möglich zu verschwinden.
Selbst mit den Zusatztanks wäre der Flug der beiden Nighthawks nach Honsho noch zu weit gewesen, so dass sie auf halbem Wege dorthin durch einen der vielen im System verteilten Tankschiffe aufgetankt wurden. Das würden sie auf dem Rückweg wohl nochmal tun müssen, wenn sie denn wieder Seafort erreichen wollten.
Doch zunächst einmal mussten sie in diesem System die erste Sonde passieren und Kurs auf die zweite nahmen. Als sie an der ersten Markierung vorbei waren, runzelte Donovan nach kurzer Zeit die Stirn. „Petal, wir haben den Checkpoint passiert. Wird es nicht Zeit Meldung zu machen?“
„Ähm, ja. Danke für den Hinweis, Noname.“
Während Petal Meldung auf den Langstreckenfrequenzen machte, schüttelte Noname den Kopf.
Armes Ding. Offenbar hatte sie vergessen, dass es immer der Wingleader war, der den Status Grün an das Hauptquartier meldete. Kein Wunder, denn bisher hatte das immer jemand anderes für sie gemacht.
Während der weiteren Umrundung des Gasriesen – der nach der derzeitigen Sternenkonstellation recht „nah“ an Seafort lag – drifteten seine Gedanken wieder zu Jean Davis.
Daran, wie sie ihn im Gang auf Victoria-Station einfach so hatte stehen lassen.
Und daran, dass es fast zwei Tage gedauert hatte, bis er sie endlich wieder erwischt hatte um sie zu fragen, ob sie nun das Angebot von Major Schlüter angenommen hatte oder ob sie zum 217ten Sturmregiment gehen würde.
Er war erleichtert gewesen zu hören, dass sie sich für Major Schlüter und die Columbia entschieden hatte. Sie würde einen Lehrgang besuchen müssen um sich den Rang eines Second Lieutenants der Marines zu erarbeiten. Aber das würden insgesamt nur knapp sechs Monate sein, von denen sie nur zwei Monate in Fort Brandtner auf Seafort oder einem der anderen Marines Ausbildungslager würde sein müssen, wo auch immer die Columbia dann sein würde. Es würde noch etwas dauern, bis ihr ein Platz zugewiesen werden würde. Vielleicht reichte es noch in dieser Dockzeit. Und wenn sie doch überraschenderweise ausrücken würden, dann müsste Jean den Lehrgang eben nachholen.
Im Moment sah es zumindest nicht danach aus, dass Jean die Columbia verlassen würde, und Donovan war darüber sehr froh.
Warum eigentlich, fragte sich ein Teil in ihm, während ein anderer Teil die Antwort schon längst wusste und ein dritter Teil diese Antwort zu unterdrücken versuchte.
Doch bevor er sich darüber noch weitere Gedanken machen konnte, erwachte sein Radar zu Leben und er empfing etwas auf dem Schirm. Sofort schoss das Adrenalin in seinen Körper, denn hier sollte definitiv nichts sein.
„Petal, empfängst du das auch? Ich habe ein Ping voraus, aber dort ist keine unserer Bojen oder Sonden.“
„Ja, ich empfange das Signal auch. Was kann das sein? Fliegen wir mal ran und schauen uns das Ganze mal an!??“
Petal klang unsicher und sie hatte eindeutig eher eine Frage gestellt, als eine Feststellung zu machen.
„Natürlich schauen wir uns das an. Was meinst du warum wir hier sind?“ Dämliche Frage.
„Aye, ich mache Meldung.“
Und bevor er sie aufhalten konnte, hatte sie schon eine Nachricht an das Sektor-HQ abgegeben. Donovan hätte noch etwas gewartet, aber sie war jetzt der Boss, also sagte er nichts.
Sie hielten auf das Signal zu und Donovan fragte sich, auf was sie wohl gestoßen waren. Akarii würden es wohl nicht sein, denn dafür war das Signal zu schwach und außerdem war kein Wurmloch in der Nähe, durch das diese geschlüpft hätten können. Ebenso unwahrscheinlich war ein Piratenschiff, davon gab es in diesen Regionen eigentlich keine. Denn erstens wäre hier nichts Lohnenswertes gewesen, auf das Piraten hätten lauern können und zweitens war das Sterntorsystem für diesen Abschaum viel zu gefährlich.
Vielleicht war es ein Schmuggler? Jemand der versuchte, sich auf unbefahrenen Schleichwegen durch die weiten Maschen der Systemsicherung zu stehlen? Davon gab es in allen Systemen der Republik mehr als genug.
Sie kamen dem offenbar unbeweglichen Objekt ziemlich schnell näher und nach wenigen Minuten gaben Nonames Instrumente ihm eine eindeutige Identifikation des Objekts wieder.
Zu seiner Überraschung wurde das treibende Schiff als ein Gasminenschiff der Tybalt-Corporation angegeben. Die Dailus schwebte „knapp“ – also nur etwa 100 Kilometer – über der Atmosphäre von Honsho und hatte gewaltige Saugrüssel in die Gasatmosphäre getaucht. Es ähnelte einer Mücke, die ihren multiplen Stachel in den riesigen Planeten gestochen hatte.
Noname runzelte die Stirn. Warum war das Schiff unregistriert in diesem Abschnitt dabei Gas zu fördern?
Das machte keinen Sinn, denn die Tybalt-Corporation war ein bekanntes und großes Industrieunternehmen, das einen illegalen Gasabbau eigentlich nicht nötig hatte. Wieso waren sie also unerlaubt hier.
Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.
„Petal, hast du eigentlich das Schiffsmelderegister für diesen Sektor vor unserem Flug geprüft?“
„Ähm, nein. Ich wusste nicht…“
Noname wollte Petal gerade anblaffen, ob sie denn überhaupt ihren Abschluss gemacht hatte oder wenigstens das Handbuch gelesen hätte.
Doch genau in diesem Moment wurden sie von der Dalius gerufen.
„Hier spricht die Dalius, erster Offizier Hershman. Können sie uns bitte sagen, warum sie uns in die Peilung genommen haben?“ Die Stimme des Schiffsoffiziers klang deutlich gereizt, kein Wunder, da ihn zwei Jäger ins Visier genommen hatten und er sich fragen musste, was hier wohl vor sich ging.
Noname wartete einen Augenblick darauf, dass die eigentliche Wingleaderin etwas sagte. Doch offenbar hatte es ihr vor Scham die Sprache verschlagen.
Also antwortete Donavan an ihrer Stelle. „Hier First Lieutenant Cartmell, Langstreckenpatrouille von Seafort. Das ist eine reine Routineüberprüfung dieses Sektors.“
„Wenn das eine Routineüberprüfung ist, warum nehmen Sie uns dann ins Visier, Lieutenant?“
„Tut mir leid, Officer Hershman. Wie mir scheint sind unsere Nerven ein wenig mit uns durchgegangen. Wir schalten die Zielerfassung augenblicklich wieder aus.“ Donovan tat genau das und Petal folgte seinem Beispiel zum Glück auf der Stelle.
Auf der anderen Seite schwieg der Erste Offizier des Minenschiffes zunächst, doch meldete er sich kurz darauf deutlich entspannter wieder. „In Ordnung, Lieutenant, Sie haben einen weiten Weg von Seafort hierher hinter sich. Ich will mal von einer Meldung absehen. Schließlich sorgen Sie auch für unseren Schutz in diesem Sektor.“
Puuuh, Noname atmete aus. Eine Meldung hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt, auch wenn es Petals Fehler gewesen war. „Danke, Officer Hershman. Ihnen noch viel Erfolg bei der Gasförderung.“
„Guten Flug Lieutenant.“
Als sie die die Verbindung getrennt hatten, öffnete er den Kanal zu Petal.
„Da hast du aber nochmal Glück gehabt, Petal. Das hätte richtig Ärger geben können.“
„Ich…es tut mir leid, Noname…“
„Schon gut.“
Donovan schluckte den Ärger hinunter und sagte nichts weiter. Sie hatte ja unbedingt bereits Meldung an das HQ machen müssen, also würde sie sich so und so rausreden müssen. Donovan gab ihr den Tipp Probleme mit den Sensoren anzugeben, das würde sie wahrscheinlich vor weiteren Fragen und Untersuchungen verschonen.
Gleichzeitig dachte er aber daran, dass das ja noch heiter werden konnte.
Er musste wohl doch Petal so schnell wie möglich so viel wie möglich beizubringen. Und das war sicher auch in seinem eigenen Interesse notwendig.
Nicht auszumalen, was passieren konnte, wenn sie tatsächlich mal in einen Kampf verwickelt würden. Wenn sie nicht mal in der Lage war, einen Patrouillenflug ordentlich vorzubereiten, wie würde es dann in einem Gefecht laufen?
Den Rest des Fluges verbrachten sie bis auf die wenigen notwendigen Statusmeldungen in eisigem Schweigen.
***
Als sie an Bord der Victoria-Station gelandet waren, trafen sich Noname und Petal im derzeitigen Besprechungsraum der Angry Angels, der zum Glück im Augenblick unbenutzt war.
Noname war immer noch stinksauer, gereizt und zudem todmüde erschöpft und knallte seinen Helm unsanft auf einen der Stühle.
„Herrgott, Petal, was war das da draußen? Willst du, dass wir uns beide einen Eintrag in unsere Akten abholen? Wenn du diesen Wing führen willst, dann musst du aber einen Zahn zulegen und ein paar Hausaufgaben machen…“
Doch wenn Noname gedacht hatte, dass er seinen derzeitigen Frust an der kleinen Asiatin auslassen konnte, so hatte er sich geschnitten.
Diese verhielt sich jetzt komplett anders als noch vor ein paar Stunden im Orbit um Honsho.
„Glaubst du denn, für mich ist das leicht? Du warst ein Vorbild für mich, als ich hier an Bord kam, Noname! Du und Ace habt uns durch die erste Karrashin Schlacht geführt, nachdem Skunk ausgefallen war und jetzt soll ich dich führen!?“
Die zierliche Asiatin ließ jetzt ihrem Frust freien Lauf und Donovan hielt verdutzt in seiner Wutrede inne.
„Nichts als Ärger habe ich jetzt am Hals wegen dir. Tulip redet nicht mehr mit mir, da ich jetzt Wingleader geworden bin und er sich übergangen fühlt. Mantis macht mir Druck und du bist unzufrieden. Wenn ihr euren Kleinkrieg ausfechten wollt, dann macht das. Aber nicht auf meinem Rücken, verstanden?“
Die kleine Asiatin schnaubte wütend und Donovan musste grinsen.
„Was ist daran so lustig?“
„Naja, dein kleiner Wutausbruch ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Bewahr dieses Gefühl und nutze es, um von mir zu lernen. Ich bin nicht dein Feind, Petal. Ich will dir helfen, aber du musst lernen wollen, auch wenn du offiziell meine Vorgesetzte sein sollst. Vergessen wir einfach mal für die nächste Zukunft unseren jeweiligen Rang und unsere jeweilige Position, o.k.? Dann kann ich dir helfen, aber nur wenn du dir helfen lässt und die Formalitäten erst mal außen vor lässt.“
Petal nickte schwach, doch das erste Lob zeigte bereits ihre Wirkung. Sie brauchte Selbstbewusstsein und Noname würde es ihr geben, auch wenn es für ihn hieß, seinen Stolz herunter zu schlucken. Aber sein Stolz würde ihn wahrscheinlich ins Grab bringen, wenn er ihr nicht half, also würde er versuchen, ihn zu unterdrücken.
Und wer weiß, vielleicht steckte ja doch mehr in diesem kleinen asiatischen Mädchen als er im Augenblick dachte.
Wenn nicht, würden sie früher oder später tief in der Scheiße stecken.
***
Als Donovan Cartmell kurze Zeit später den Umkleideraum der Schwadronen Schwarz und Rot betrat, war niemand da und schon kurz nach seiner Ankunft war er froh darüber, denn sein Schrank war mit einem fremden Namen gekennzeichnet und schlagartig verging ihm jegliche Laune, sich mit jemanden zu unterhalten: „Hey, was soll denn die Scheiße?“
Wütend trat er gegen die Schranktür, auf der jetzt STUNTMAN stand. Als er ans Schloss griff, um an der Tür zu rütteln, legte er den Daumen auf den Scanner und das Schloss sprang auf.
Als er die Tür aufriss, segelte ihm ein gefaltetes Blatt Papier entgegen und ein erster Blick verriet ihm, dass sein gesamter Kram noch vorhanden war.
Er riss das Namensschild aus dem Plexiglasschlitz und stellte fest, dass jemand sein Namensschild einfach umgedreht hatte und die Rückseite beschriftet hatte: „Sehr witzig.“
Sein Blick fiel auf das zusammengefaltete Stück Papier, dass jemand durch die Luftschlitze geschoben haben musste.
Es war ein Bild von zwei Piloten in Fliegeranzügen, die zusammen in eine einsitzige Simulatorkanzel gezwängt waren. Der vordere trug eine Clownsmaske, der hintere eine Affenmaske. Beide hatten wie Comicfiguren Sprechblasen. Der mit der Affenmaske griff offensichtlich nach vorne und rief: „Gib mir den Steuerknüppel!“
Der mit der Clownsmaske war sichtlich versteift und antwortete: „DAS IST NICHT DER STEUERKNÜPPEL!“
Auf der Rückseite war noch ein weiterer Spruch: „Wer so einen Stunt abliefert, braucht ein neues Callsign!“
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sich Donovan um: „HA-HA-HA, sehr witzig.“
„Was ist witzig?“
Er drehte sich zu Mantis um, die in der Tür lehnte: „Nichts!“
Donovan hatte nicht die geringste Lust, ausgerechnet mit Mantis darüber zu reden, doch in der Art und Weise wie sie ihn schadenfroh angrinste, erkannte er, dass sie entweder eingeweiht war oder die ganze Sache vielleicht sogar eingefädelt hatte.
Doch bevor er sie doch noch darüber ansprechen konnte, fuhr sie fort. „Hm, gut, ich habe mit Dir zu reden,“, sie kam näher, „es kommen da so ein paar Gerüchte auf, dass Du mit Ace' kleiner Schwester...“
„Das geht Dich nichts an!“
„Doch, doch,“, Mantis schlich um ihn herum wie eine Katze, die es auf einen Vogel abgesehen hatte, „ich bin Dein direkter vorgesetzter Offizier und warum auch immer, Du bist auch ein Offizier. Jung Davis hingegen ist nun mal leider nur Sergeant.“
„Nun, komm mir hier nicht mit irgendwelchen Vorschriften, für die sich eh niemand mehr interessiert.“, schnauzte Donovan zurück. Er hätte ihr einfach sagen können, dass er quasi von der Davis Familie adoptiert worden war und daher eher ein familiäres Verhältnis zu Jean pflegte, aber er WOLLTE es einfach nicht. Er selbst war sich ja auch gar nicht so sicher, ob das Verhältnis nun nur rein familiär war. Aber auch in dieser Sache war Mantis der letzte Mensch im All, mit dem Donovan jetzt diese Frage erörtern wollte.
„Aber ich kann doch nicht zulassen, dass einer meiner Offiziere seinen Rang gegenüber einem Unteroffizier geltend macht und diese dann persönlich ausnutzt.“
Seine Antwort wurde von einem fröhlichen Pfeifen abgewürgt. Mit steigender Verwunderung blickte er einen Lucas Cunningham an, der ein Handtuch um die Hüften geschwungen aus Richtung Duschen kam.
„Was zur Hölle machst DU denn hier?“ Lone Wolf hatte ihm in seiner jetzigen Laune gerade noch gefehlt.
„Oh, darf ich vorstellen,“, schnurrte Mantis, „Lieutenant Donovan Cartmell, Callsign Stuntman, dies ist unser neuer Staffelführer, Commander Cunningham.“
Lone Wolf blickte Donovan überrascht an: „Stuntman?“
Donovan starrte Lone Wolf ebenfalls einen Augenblick an. „Staffelführer?“ Dann schüttelte er den Kopf, schlug seine Spindtür zu und machte Anstalten zu gehen: „Das darf doch alles nicht wahr sein...“
„Donovan, wir treffen uns in einer halben Stunde in meinem Büro!“
Der angesprochene Pilot blieb kurz im Türrahmen stehen – quasi als Zeichen, dass er es gehört hatte – und ging dann doch wortlos hinaus.
Mantis hob das zu Boden gefallene Bild auf und kicherte: „Was meinen Sie, Skipper, ist Donovan der Affe oder der Clown?“
„Übertreiben Sie es nicht.“
Sie zuckte mit den Schultern und ging zum Bereitschaftsraum zurück und murmelte vergnügt: „Affe oder Clown…Affe oder Clown ...“
***
Eine halbe Stunde später war Noname – immer noch ungewaschen und total übermüdet - wie befohlen zur Staffelführerkabine gekommen und hatte den Türsummer betätigt. Es war ein irgendwie merkwürdiges Gefühl als er die Tür öffnete, Lone Wolf an dem Schreibtisch des Staffelführers sitzen saß. Erst war Radio sein Staffelführer gewesen, dann Skunk. Am Ende schließlich interimsweise erst Ace und dann Mantis. Und nun saß dort sein früherer Wingleader und wollte ihm tatsächlich vorgaukeln, dass er jetzt sein Staffelführer wäre. Der blöde Witz mit dem neuen Callsign war ohnehin schon dämlich genug, aber das Mantis ihn nun auch noch mit Lone Wolf als Staffelführer vergackeiern wollte, schlug dem Fass den Boden aus.
„Komm rein, Donovan. Setz dich!“ Lucas wollte das Spiel aber offenbar noch weiter spielen, doch er war zu müde und zu genervt für diese Spielchen Also schloss er die Tür, setzte sich aber nicht wie befohlen. „Jetzt hör mal endlich auf mit der Verarsche. Also nochmal: Was zur Hölle machst DU hier?“
„Wie Mantis – meine XO – schon sagte: Ich bin Staffelführer der Roten! DAS mache ich hier!“
Donovan starrte Lone Wolf für ein paar Sekunden ungläubig an. Dann dämmerte ihm endlich, dass es sich hier nicht um einen Scherz handelte. Und dann begann er zu lachen.
Erst war es leichtes Kichern, dann schwoll sein Lachen an. Es war ein ehrliches, ansteckendes Lachen, kein gehässiges Gelächter. Lone Wolf betrachtete ihn erst ausdruckslos, doch je länger Noname lachte, desto mehr ließ er sich davon anstecken, bis er erst Lächeln und dann auch lachen musste, wenn auch nicht so ausgiebig wie Donovan, der mittlerweile hustete und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.
„WAS ist daran so witzig, Donovan?“
„Ich…Ich weiß es nicht…“ japste der Pilot und versuchte sich zusammen zu reißen. „Ich habe vorhin echt gedacht, dass du und Mantis mich verarscht habt und dass das Ganze nur eine Show ist um höchst effektvoll ein neues Callsign zu verpassen.“
„Du überschätzt dich. Soviel Aufwand nur um dir ein neues Callsign zu verpassen? Komm wieder runter.“
Donovan grinste jetzt breit. „Nun, dann muss ich wohl über die Ironie des Schicksals lachen. Da werde ich wieder zum Wingman degradiert und dich machen sie vom Trägercaptain wieder zum CAG.“ Er wischte sich erneut die Tränen aus den Augenwinkeln. “Na gut, was ist mit Raven?“
„Was soll mit ihr sein?“
„Naja, wenn du wieder bei den Angels bist, wird sie ja wohl nicht einfach so wieder ins Glied rücken, oder?“
„Sie muss auch nicht zurück ins Glied, sondern ich.“
Donovans Lachen verschwand augenblicklich. „DU? Du bist nur noch simpler Staffelführer? Warum das denn?“
„Sagen wir nur so viel. Es gab Unstimmigkeiten über meine Befehlsführung während Karrashin.“
„Das tut mir leid.“ Da war kein Spott oder Hohn in Donovans Stimme. Er schien es wirklich so zu meinen, sehr zu Lucas Überraschung angesichts der Tatsache, dass sie sich seit ihrem Wiedersehen immer mal wieder in den Haaren gelegen hatten.
Doch Cunningham traute dem Burgfrieden offenbar nicht ganz. “Na komm schon, Highball.“ Lone Wolf rutschte immer noch ab und an Cartmells noch älteres Callsign heraus. „Lass es raus, mach dich nur ruhig über mich lustig.“
„Nein, Lucas.“ Donovan schüttelte den Kopf. „Nein! Nicht in diesem Fall. Ich kenne es zur Genüge, wie es ist zurückgestuft und gedemütigt zu werden. Das ist nicht lustig.“
Lone Wolfs Augen wurden für einen klitzekleinen Moment zu Schlitzen, offenbar war er sich nicht sicher, ob ihn sein früherer Wingman auf den Arm nahm oder es ausnahmsweise einmal Ernst meinte. „Ich bin nicht gedemütigt worden!“
Donovan blickte ihn schräg an ohne ein Wort zu sagen.
„Na gut, vielleicht ist das tatsächlich ein wenig demütigend. Aber ICH bin immer noch Staffelführer, im Gegensatz zu dir.“ Kaum hatte Lone Wolf das gesagt, schüttelte er den Kopf. „Nein, warte, das war nicht fair. Tut mir leid, Donovan!“
Nun war es an Donovan zu staunen und ehrliche Überraschung trat in sein Gesicht. Lone Wolf hatte sich bislang noch nie bei ihm entschuldigt und einen Augenblick fragte er sich, was er diesmal von ihm wollte. Wie damals, als er ihn indirekt um den Abschuss von Rettungskapseln gebeten hatte. Doch dann entschied er sich, nicht weiter darüber nachzudenken und die Entschuldigung einfach anzunehmen.
Eine kurze unangenehme Pause entstand zwischen den beiden Männern, die sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt kannten, wenn auch mit einer langen Pause zwischendurch.
„Ok, Lone Wolf. Dann lass mal hören, wir du dir das Ganze so gedacht hast?“
„Ehrlich gesagt, habe ich mir noch keine detaillierten Gedanken gemacht, wir warten jetzt erstmal ab, bis die noch fehlenden Neuen eingetroffen sind und dann sehen wir mal. Dass heißt erstmal bleibt alles beim alten.“
„Du willst, dass ich weiter Wingman von Petal bleibe?“
„Strafe muss sein, Donovan. Wie ich hörte warst du nicht gerade nett.“
„Willst du nicht wenigstens auch meine Version der Geschichte hören?“
„Würde deine Version der Geschichte etwa nicht von einem Verhalten hart an der Grenze zur Insubordination handeln? Würde deine Version der Geschichte nicht davon handeln, dass Du das Angebot einer altgedienten Flugkameradin abgelehnt hast, sie als vorübergehender XO der Staffel zu unterstützen?“
Donovan wollte im ersten Augenblick widersprechen, aufbrausen und seinem Ärger Luft machen. Doch irgendwie – er wusste selbst nicht warum, hatte er sich diesmal im Griff und grinste nur schief. „Na gut, meine Version ist wahrscheinlich nicht besser als die von Mantis.“
Lone Wolf runzelte die Stirn. „Nanu, Donovan, so kenn ich dich ja gar nicht. Ich hätte schwören können, dass Du jetzt mindestens verbal auf mich losgegangen wärst. Wenn nicht sogar körperlich.“ Dann tat er so als würde er mit jemandem in der Dusche sprechen. „O.k. Too-Tall, kannst jetzt gehen, ich brauch dich nicht mehr.“ Natürlich war da niemand, doch Donovan blickte sicherheitshalber doch kurz um die Ecke.
„Hey, natürlich ist da keiner, mit dir wäre ich auch noch alleine fertiggeworden.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Also warum bist du so locker und dann ausgerechnet mir gegenüber?“
Donovan zuckte mit den Schultern. „Das hat nichts mit dir zu tun, glaube ich. Irgendwie habe ich mich mit dem Gefühl abgefunden, ständig in die Scheiße zu greifen. Ob nun meine Karriere, meine Kameraden, mein Privatleben, irgendwie habe ich noch alles versaut. Und hab mich dann danach darüber aufgeregt und es noch schlimmer gemacht. Natürlich ändert dass nicht im Geringsten die Tatsache, dass Mantis eine blöde Kuh ist und vollkommen falsch in dieser Sache liegt.“ Lucas kommentierte das mit einem äußerst gequälten Lächeln, worauf Donovan nur beschwichtigend die Hände hob. „Aber vielleicht ist es mal an der Zeit, sich nicht mehr aufzuregen? Vielleicht klappt es dann ja besser?“
„Kann zumindest nicht schaden.“
„Und du, Lucas, warum bist du eigentlich so locker?“
Diesmal war es an Lone Wolf mit den Schultern zu zucken. Dann blickte er Donovan einen kurzen Augenblick an, vielleicht abwägend, was er ihm anvertrauen konnte. „Na gut, wahrscheinlich wird es eh bald die Runde machen. Melissa ist schwanger!“
„Echt? Wow! Na herzlichen Glückwunsch. Und das hat so mir nichts dir nichts einen normalen Menschen aus dir gemacht?“
„Es gibt vielen Dingen eine andere Perspektive!“
Donovan nickte einen Augenblick geistesabwesend. Er wurde zwar nicht Vater wie sein alter Wingleader, aber trotzdem konnte er es im Augenblick recht gut nachvollziehen. Bei ihm waren es die Gedanken an seine neue quasi Familie, die ihn von seiner Wut ablenkten, vor allem die Gedanken an eine spezielle Person dieser Familie.
Lone Wolf war im Laufe der nächsten Minuten so gnädig nur ein paar erste Fragen an Donovan zu stellen und ihn dann relativ schnell wieder zu entlassen, damit er sich eine Mütze Schlaf holen konnte.
Als Donovan die Staffelführerkabine verließ, wusste er nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten sollte.
Ohne Frage war Lone Wolf ein erstklassiger Pilot und würde gerade den jüngeren Piloten der Roten Staffel wieder neuen Mut geben. Und sein heutiges Verhalten war auch deutlich anders gewesen als ihre letzten Begegnungen.
Doch die Frage würde sein, wie stark sich Lone Wolf zurückhalten konnte oder ob er sich in Kompetenzgerangel mit Raven, Irons und den anderen Staffelführern verheddern würde. Letzteres wäre vielleicht doch nicht so vorteilhaft, vor allem nicht für die Moral der gesamten Angry Angels.
Doch letztlich zuckte Donovan nur müde mit den Schultern und schüttelte schmunzelnd mit dem Kopf als er sich in Richtung seiner Kabine machte.
Es war tröstlich zu sehen, dass das Schicksal offensichtlich auch anderen Leuten übel mitspielte.
Cattaneo
Tyr
Medusa-System
„Giyou, Statusbericht.“
Die Stimme des Shuttlepiloten klang angespannt, fast barsch: „Eine halbe Minute bis Kontakt. Immer noch keine Reaktion. Vielleicht ist sein Komm defekt.“
‚Wahrscheinlicher ist, dass der Typ bereits tot ist.’ Viele Bergungsanzüge hatten ein Luftvorrat von zwölf, maximal vierundzwanzig Stunden. Wenn man bedachte, wann sie das Notsignal empfangen hatten…‚Das wird knapp. Eigentlich zu knapp.’ „Radiation?“
„Weit über den Grenzwerten. Wenn der Anzug nicht massiv modifiziert wurde, dann kriegen wir den Typen hübsch kross rein.“
Diese Bemerkung veranlasste Lieutenant Commander Eriksen zu einem sehr unweiblichen Schnauben. Ein Blick Tremanes schnitt ihr das Wort ab: „Wir hatten das doch schon, Doktor. Sie sind zu wertvoll, als dass ich Sie mit dem Shuttle losschicken kann, um etwas Weltraummüll aufzusammeln.“ Aus einem ähnlichen Grund hatte er auch durchgesetzt, dass McKenna und der größte Teil seiner Marines an Bord blieben. Vier Soldaten – fünf mit dem Sani - waren mehr als genug.
Aber während McKenna sein Missfallen nur schweigend geäußert hatte, war Eriksen nicht so zurückhaltend. Natürlich hatte sie auch einen deutlich höheren Rang als der Second Lieutenant. „Dieser ‚Müll’ ist immer noch ein Mensch!“
„Ein Krimineller. Ein Schmuggler. Ein Leichenfledderer. Wenn nicht Schlimmeres.
Außerdem…das da draußen ist ein Sturmshuttle, keine SAR-Fähre. Was könnten Sie schon mit einem einfachen Medkit ausrichten, was nicht auch ein Marine-Sani kann?“
„Ich bin…“
„Und im übrigen will ich kein Risiko eingehen. Die Marines holen den Mann an Bord, und bringen ihn in die Krankenstation der EMERALD. Dort – in einer kontrollierten, isolierten Umgebung – werden wir ihn aus dem Anzug holen, untersuchen und verhören. Wenn er dazu überhaupt noch in der Lage ist. Nicht früher. Ich werde kein Risiko eingehen.
Corporal Hausmann?“
„Ja, Sir?!“ Die dunkle Stimme der hageren Marineinfanteristin blieb ausdruckslos. Doch ihr deutscher Akzent gab ihren Worten eine einschüchternde, fast drohende Härte.
„Sollte der Mann Schwierigkeiten machen, dann stellen Sie ihn ruhig. Stunnen Sie ihn, knüppeln Sie ihn zusammen, setzen Sie ihm eine KO-Spritze…ABER ICH WILL IHN LEBEND!“
„Verstanden.“
Eriksen schnaubte noch einmal: „Haben Sie nicht zugehört? Falls der Mann nicht bereits an einer Aphyxie eingegangen ist, dann ist er schwer verstrahlt! Und nach mindestens dreißig Stunden im All leidet er wahrscheinlich unter Übelkeit, Schwindel…
Was erwarten Sie? Dass der Typ mit bloßen Händen vier bis an die Zähne bewaffnete Marines überwältigt?“
„Erstens, er kann durchaus eine Waffe bei sich haben. Und Zweitens…
Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, das hier ist nicht Ihr Labor. Und auch keines Ihrer Forschungssemester. Das hier ist die Frontlinie. Wir werden nur dann Erfolg haben – und nach Hause zurückkehren – wenn wir keinen Fehler machen. Hier draußen…sind Fehler tödlich. Also lassen Sie mich meine Arbeit machen, und bereiten Sie sich vor, Ihre zu tun. Ist die Krankenstation einsatzbereit?“
„Natürlich.“
„Vielleicht sollten Sie das noch einmal überprüfen.“
‚Arschloch.’
„Victor, ETA bis Rendezvous mit Rettungskapsel?“
„Wenn wir weiter mit Höchstgeschwindigkeit fliegen, und dann auch noch die Fähre aufnehmen wollen…eine halbe Stunde vielleicht.“
„Gut. Ich will das so schnell wie möglich hinter uns haben. Solange wir uns mit diesem Müll beschäftigen müssen, sind wir verwundbar.“
Jayhawker warf dem Geheimdienstcommander einen schiefen Blick zu – und das nicht nur, weil sie selber halb und halb zu diesem ‚Müll gehörte. ‚Wenn die für dich nur Abfall sind, warum bist du dann so scharf darauf, sie aufzusammeln?’
Aber das fragte sie natürlich nicht. Ihr gefiel das alles nicht, nicht ein kleines bisschen. Sie hasste Überraschungen und Rätsel, wenn sie die Sicherheit ihres Schiffs und ihrer Crew gefährdeten – und in diesem verfluchten System schien alle paar tausend Klicks eine solche Überraschung auf sie zu warten. Der Notruf, die immer noch unsichtbar bleibende MARY C, die seltsamen Explosionsspuren, und jetzt noch dieses Treibgut…
In ihrem Kopf schrillten gleich mehrere Alarme. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie hatte keine Ahnung, was es war. ‚Aber es würde mich nicht wundern, wenn es uns mitten ins Gesicht explodiert, wie eine verdammte Sprengfalle.’
Sie war jedenfalls froh, dass sie ihren Leuten die Anweisung gegeben hatte, sich auf alles vorzubereiten. Dass die Schilde hochgefahren, und alle Waffen feuerbereit waren. Sie war sogar froh, dass die beiden Weltraumjockeys da Draußen unterwegs waren, und ihnen so etwas Rückendeckung gaben. Immerhin verfügten die beiden Jäger zusammen über fast die doppelte Feuerkraft der EMERALD JADE.
Tremane schien jedenfalls unbelastet von irgendwelchen Befürchtungen. Oder aber, er verbarg sie ziemlich gut: „Jadesohn Eins, Status.“
Auch Pawlitschenkos Stimme vibrierte von mühsam unterdrückter Spannung: „Die Sensorstörungen nehmen weiter an Stärke zu. Stark schwankende Strahlenwerte.“
„Irgendwelche Radiosignale, wie sie Ohka und Tiburon gemeldet haben?“
„Negativ.“
Tremane presste die Lippen zusammen. Das gefiel ihm nicht. Und ganz besonders gefiel ihm nicht, dass sich diese…Explosion offenbar an einer Stelle ereignet hatte, die laut den Berechnungen ein möglicher Ursprungsort des Signals gewesen sein könnte, das die beiden Piloten der Schwarzen Schwadron bei ihrem Aufklärungsflug gemeldet hatten. Und das damals beinahe die Elektronik ihrer Maschinen überlastet hatte. ‚Verfügte der Sender über eine Art Selbstzerstörungsmechanismus? War das eine Falle? Oder waren diese Idioten auf der MARY C einfach so inkompetent, dass sie die Sendeanlage aus Versehen in die Luft gejagt haben? Und wenn es KEIN Versehen war…dann bleibt die Frage nach dem WARUM. Was wussten sie, was wir nicht wissen? Oder wer hat ihnen diesen Auftrag gegeben…’ Dann schüttelte er wütend den Kopf. Sinnlose Spekulationen brachten ihn nicht weiter.
Jayhawker schürzte abfällig die Lippen: „Vielleicht haben diese Piloten damals ja einfach nur die Raumflöhe husten hören.“
„Aber sicher doch! Und die Explosion? Glauben Sie, die MARY C hat sich in ihre Bestandteile aufgelöst, weil sie mal die Innenheizung zu hoch gedreht haben?“
„Die Maschinenanlagen dieser alten Kähne…“
„Vergessen Sie das. Abgesehen von der Rettungskapsel und dem Typen in dem Bergungsanzug gibt es da Draußen nichts, was wir eindeutig der MARY C zuordnen könnten. Keine Trümmer – gar nichts. Wenn diese Aasgeier nicht zufälligerweise ein paar Mavericks an Bord hatten, dann gab es nichts – NICHTS – an Bord der MARY C, das stark genug wäre um das Schiff so vollständig zu atomisieren.“
Jetzt meldete sich Fuchida zu Wort: „Und in dem Fall wäre von der Rettungskapsel nichts übrig geblieben. Geschweige denn von dem Mann im Bergungsanzug. Im Weltraum gibt es keinen Explosionsschatten.“
Das war zwar natürlich so nicht ganz richtig. Man konnte immer noch hinter einem Raumschiff, einem Asteroiden - oder einem Planeten – Schutz suchen. Aber bisher hatten sie nichts Entsprechendes orten können, was an der passenden Stelle im All schwebte. Da Draußen war…Gar nichts.
„Sir, wir holen ihn jetzt rein.“
.
.
.
„Wir haben ihn.“
„Bericht, Corporal!“
„Objekt zeigt schwache Vitalfunktionen. Offensichtlich bewusstlos. Keine Waffen. Laut den Anzeigen…war der Typ mehr als vierzig Stunden da Draußen.“
„Wie kann es sein…“
„Offenbar hatte er seinen Anzug modifiziert, und die Lebenserhaltungssysteme aufgerüstet, Commander.“
„Sein Glück.“
„Wie man es nimmt, Sir. Er hat eine volle Dosis Strahlen abbekommen. Seine Familienplanung kann der Typ jetzt wohl in den Wind schreiben.“
Bei dieser flapsigen Bemerkung der Marineinfanteristin zuckte Eriksen zusammen, öffnete den Mund…und klappte ihn wieder zu, als Tremane ihr mit einer schneidenden Bewegung seines Zeigefingers das Wort abschnitt. Sie gehorchte. Kochend.
„Seien Sie wachsam, Corporal. Und Giyou, kommen Sie so schnell wie möglich zurück.
Jayhawker…“
„Noch zwanzig Minuten, bis wir die Rettungskapsel querab haben.“
„Gut. Jadesohn Eins und Zwei, Sie beziehen dann eine semistationäre Position bei Drei und Neun Uhr. Volle Abwehbereitschaft.“
„Bestätigt.“
„Fuchida?“
„Keine Signale. Keine weiteren Objekte in der Ortung. Empfang und Reichweite der Sensoren bei siebzig Prozent.“
„Beständig weiter aktiv orten.“ Tremane aktivierte die internen Lautsprecher der EMERALD: „Achtung, Lieutenant McKenna, ETA der Kapsel in zwanzig Minuten. Sie wissen, was Sie zu tun haben. Ab jetzt nur noch Kommunikation über Sprechfunk auf vereinbarten Frequenzen.
Doktor Eriksen, Ihr Patient dürfte in zehn Minuten an Bord sein. Bereiten Sie…alles nötige vor.“
Dann richtete er sich auf, und ließ Kapitän Victor ein knappes Lächeln zukommen: „Ich denke, ich werde dem Doktor Gesellschaft leisten. Die Brücke gehört wieder Ihnen, Kapitän. Wir bleiben in Verbindung.“
Lieutenant Commander Falkner, die bisher schweigend an dem Brückenschott gelehnt hatte, streckte sich in einer fließenden Bewegung: „Ich komme mit.“
Tremane zögerte kurz: „Vielleicht solltest du lieber McKenna…“
Die Untergebene des Geheimdienstoffiziers schüttelte den Kopf: „Der Lieutenant wird schon alleine klar kommen.“
Zu Jayhawkers Überraschung akzeptierte der Commander den Wunsch seiner Untergebenen: „Also gut.“
Als die beiden das Cockpit verlassen hatten, schnaubte Toro abfällig: „Die braucht wohl nur die Beine für ihn breit zu machen, und schon kriegt sie eine Vorzugbehandlung.“
Jayhawker zuckte mit den Schultern. Zwar war sie sich ziemlich sicher, dass Tremane und Falkner eine nicht nur berufliche Beziehung hatten, aber dennoch…’Da steckt noch mehr dahinter. Auf jeden Fall ist sie mehr, als seine Frontfrau, Leibwächterin und Spielzeug. Wie es aussieht, hat sie auch noch was zu sagen. Hmm…’
Cattaneo
Tyr
Andrew Tremane unterdrückte den Impuls, sich mit der Hand über das Gesicht zu fahren. Das wäre im Augenblick sowieso nicht möglich gewesen. Er schwitzte, und die Luft die er atmete, schmeckte abgestanden und künstlich. Lautlos verfluchte er Doktor Eriksen.
Der Geheimdienstoffizier steckte in einem Marines-Kampfanzug. Dieser verdammte Aufzug war die Idee des Doktors gewesen. Da der Anzug des Geborgenen – wie auch der Gerettete selber – hochgradig verstrahlt worden war, war Eriksen eisern geblieben. Wenn Tremane bei der Untersuchung dabei sein wollte, dann nur in einem angemessenen Schutzanzug. An Bord waren aber nur drei medizinische Schutzanzüge vorhanden – für Doktor Eriksen, Schwester Rudkiewicz und TA Harris. Damit hatten Tremane und Falkner nur noch die Wahl zwischen einem Raumanzug und einem Marines-Kampfpanzer gehabt. Falkner hatte sich sofort für die zweite Möglichkeit entschieden, und nach kurzem Zögern war Tremane ihr gefolgt. Doch im Gegensatz zu seiner Untergebenen, die sich in dem Anzug sichtlich wohl zu fühlen schien, und die aufgeschnallte Laserpistole mit der ruhigen Selbstverständlichkeit eines Profis trug, hatte Tremane das Gefühl, in dem Ding zu ersticken.
Er unterdrückte das kurz aufwallende klaustrophobische Gefühl, und konzentrierte sich auf die drei Mediziner, und das Objekt ihres – und seines – Interesses.
Eriksen hielt sich zurück, und überließ die Routineaufgaben weitestgehend der fronterfahrenen Rudkiewicz. Die Doktorin kannte ihre Grenzen. Sie war nun einmal keine Notfallmedizinerin.
Den reglosen Mann von dem schweren Anzug zu befreien, hatte sich als schwierig erwiesen. Der Umgang mit dem verstrahlten Material verlangte ein ebenso wachsames wie behutsames Vorgehen, zumal keiner der Anwesenden mit diesem Anzugsmodell vertraut war. Vielleicht hätte Lieutenant Davis helfen können, aber die Piloten waren noch immer draußen, und sicherten das Schiff. Außerdem wollte Tremane Davis hier nicht dabei haben. Am liebsten hätte er auch noch Rudkiewicz und Harris vor die Tür gesetzt. Aber das war leider nicht möglich.
Die Stimme der Schwester war ausdruckslos und professionell. Sie machte so etwas nicht zum ersten Mal: „Objekt zeigt immer noch keine Reaktion oder Anzeichen von Bewusstsein. Vitalfunktionen weiterhin schwach, aber stabil. Verschlüsse und Gelenke zeigen Spuren von starker Hitzewirkung…oberflächliche Schmelzspuren.“
„Soll das heißen, der Mann wurde in seinem Anzug gekocht?“
Rudkiewicz blickte nicht einmal auf: „Das glaube ich nicht. In dem Fall wäre er wahrscheinlich tot. Aber die meisten dieser Anzüge sind gut isoliert. Der Schaden ist nur oberflächlich.
Entferne jetzt den Helm. Harris, helfen Sie mir. Halten Sie da fest. Ja, da.“
Mit einem leisen Knirschen und einem gemurmelten Fluch kam der Helm frei. Wurde von vier Händen vorsichtig, behutsam, wie eine scharfe Sprengladung beiseite geschoben. Gab das Gesicht des Geretteten frei, das bisher von dem schweren, versiegelten Visier verborgen gewesen war.
Tremane hatte unwillkürlich den Atem angehalten – und stieß ihn jetzt irgendwie enttäuscht wieder aus. Das Gesicht wirkte so…normal. Er war sich selber ganz nicht sicher, was er erwartet hatte, aber das hier…
Das kantige Gesicht des vielleicht vierzigjährigen, dunkelhäutigen Mannes zeigte – noch – keine Spuren der schweren Verstrahlung. Auffällig war lediglich das Fehlen jeder Gefühlsregung. Es wirkte…erschlafft, wie man es von einem Bewusstlosen oder Schlafenden erwartete. ‚Oder einem Mann, der im Schlaf gestorben ist.’
„Falkner. Überprüfen Sie seine Identität. Datenspeicher 4-S. Außerdem brauchen wir eine DNS-Probe, falls uns die Bilderkennungssoftware nicht weiterbringt. Ich will wissen, wer unsere schlafende Schönheit ist.
Eriksen, Sie wissen, was Sie zu tun haben.“
„In der Tat, Commander.“ Das klang etwas schnippisch. Mit einer gemurmelten, für Rudkiewicz bestimmten Entschuldigung trat Eriksen an den Bewusstlosen heran, und befestigte zwei Elektroden an den Schläfen, eine weitere auf der Stirn, und eine vierte im Nacken. Mit einem leisen Summen erwachte eine der Maschinen zum Leben, die auf Tremanes Anweisung hin auf der Krankenstation installiert worden war.
Rudkiewicz warf Tremane einen ausdruckslosen Blick zu – sie wusste, dass sie diese Behinderung ihrer Arbeit ihm zu verdanken hatte – und wandte sich dann wieder dem Bewusstlosen zu: „Lösen jetzt die Zentralverrieglung des Anzugs.“
***
„Wie kommen Sie voran?“
McKenna wäre beinahe zusammengezuckt, als Tremanes ungewöhnlich scharf klingende Stimme aus seinen Kopfhörern erschallte. Er hatte gedacht, dass der ungeliebte Kommandeur der Expedition beschäftigt war.
„Die Kapsel wurde angedockt. Wir gehen jetzt rein. Sobald es etwas Neues gibt, melde ich mich.“ ‚Und jetzt lass mich meine Arbeit machen.’
Tremane unterbrach die Verbindung kommentarlos.
McKenna wandte sich Corporal Jason Haddamar zu. Der erfahrene Soldat war der Sprengstoffexperte des Halbplatoons und wurde auch sonst immer dann angefordert, wenn es um technische Arbeiten ging, die die begrenzten Kenntnisse eines normalen Marines überstiegen.
Hinter den beiden Männern drängten sich die übrigen Soldaten von zwei Chalks. Corporal Hausmanns Chalk wartete als mobile Eingreifreserve etwas weiter hinten, und Sergeant Johannessons Chalk übernahm die Routinesicherung der EMERALD JADE. Eigentlich hätte Johannesson als McKennas Stellvertreter jetzt ebenfalls hier sein sollen, aber der Lieutenant traute seinem ‚zweiten Mann’ nicht so recht. Johannesson war zu sehr darauf erpicht, sich zu beweisen. Er war ehrgeizig bis an die Grenze zum Aktionismus. Kaum die richtige Vorraussetzung für diesen Einsatz.
„Also, Jason?“
Der Corporal schüttelte kurz den Kopf: „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
McKenna schluckte trocken. Das hatte er nicht hören wollen. ‚Was ist das?’
Der Gegenstand seiner Beunruhigung wirkte auf den ersten Blick täuschend unauffällig.
Die Luke der Rettungskapsel war scheinbar absolut identisch mit tausenden, ja zehntausenden baugleichen Einheiten, die auf zahllosen älteren Schiffen im Einsatz waren. Aber auf den zweiten Blick…
War die Luke vor irgendeiner Kraft mehr als einen Zentimeter nach Innen gedrückt worden. Und das, ohne die an einigen Stellen bereits abblätternde Farbschicht anzukratzen oder zu versengen. ‚Explosionsspuren sähen anders aus. Eine Schockwelle?’
„Justin?“
Der Sanitäter blickte von seinem mobilen Scanner auf: „Was es auch war, es scheint kein Leck geschlagen zu haben. Aber ansonsten…ich orte weder Lebenszeichen, noch Energiesignaturen.“
„Vielleicht hat sich die Kapsel infolge einer internen Explosion gelöst. Oder wegen einem Kurzschluss in der Sicherheitselektronik.“
„Vielleicht…Jason?“
„Wir werden schneiden müssen.“
„Dann mach dich an die Arbeit. Der Rest – volle Gefechtsbereitschaft. Aber Schießen nur auf mein Kommando, oder wenn wir unter Feuer genommen werden.“
„Ja, Sir.“
*********
„Das soll also heißen, Sie haben keine Ahnung.“ Tremanes Stimme klang ziemlich ungnädig, aber so leicht ließ sich Rudkiewicz nicht einschüchtern.
„Ohne eine genaue Untersuchung kann ich nur spekulieren. Aber das Lebenserhaltungssystem ist intakt. Es gibt keine sichtbaren Verletzungen, keine Anzeichen einer Vergiftung. Eine leichte Unterkühlung und Dehydration.
Und natürlich die Verstrahlung. Aber das ist keine Erklärung dafür…“
„Dass er nicht aufwacht.“
„Er könnte einen Nervenzusammenbruch erlitten haben. Der Mann war immerhin mehr als einen Tag da draußen. Er muss gewusst haben, dass er eigentlich keine Chance hat, gerettet zu werden. Dass er verloren war.
Ich habe von Menschen gehört, die in einer solchen Situation in eine kattatonische Starre fielen. Die verrückt wurden. Die das Visier ihres Helm öffneten, nur damit das…Warten auf den Tod endlich ein Ende hatte.“
„Sehr überzeugend. Wenn Sie Fakten anzubieten haben, dann sagen Sie mir Bescheid. Doktor Eriksen, diese Spekulationen fallen doch eigentlich eher in ihr Fachgebiet.“
Die NSC-Mitarbeiterin antwortete nicht.
„Doktor Eriksen?!“
Sie zuckte zusammen: „Sehen Sie sich das an, Sir. Die Hirnaktivitäten liegen in dem für einen Bewusstlosen typischen Bereich. Mit zwei Ausnahmen. Hier…und hier. Sir…“
„Verdammt.“ Die beiden Gehirnpartien mit den anormalen Messdaten…waren identisch mit den Hirnregionen, die Doktor Eriksen auch bei der Untersuchung von Nakakura und Pallardo ins Auge gefallen waren. Aber in diesem Fall…
„Sagen Sie mir, wenn ich falsch liege, Lieutenant Commander, aber ich habe den Eindruck, dass…“
„Wir bekommen ein mindestens doppelt so starkes Signal. Verdammt, unter anderen Umständen würde ich sagen, dass dieser Mann beinahe psychotisch sein müsste.“
„Rudkiewicz, bereiten Sie alles nötige vor, um den Mann notfalls sofort zu sedieren. Und dann…dann wecken Sie ihn auf, verdammt.“
„Ich…“
„SOFORT. Und wenn Sie ihm Adrenalin spritzen müssen, ich will endlich Antworten.“
Sir…“, meldete sich Eriksen zu Wort.
Der Geheimdienstoffzier fuhr zu ihr herum: „Was ist denn, verdammt?! Ich habe genug von Ihren…“
„SIR! Die Amplitude der Hirnströme steigt immer weiter. Ich…“
Tremane starrte auf den Bildschirm, auf den Doktor Eriksen jetzt zeigte, und versuchte vergeblich, aus den Anzeigen schlau zu werden.
Und dann sah er etwas anderes. Der ‚Bewusstlose’ hatte die Augen aufgerissen. Und er sah ihn an.
„RUDKIEWICZ!!“
**********
„Wir sind durch!“ Jason Haddamar ließ das Schweißgerät sinken, wich zurück, und brachte in einer tausendfach geübten Bewegung das Lasergewehr an die Schulter, das er während seiner Arbeit beiseite gelegt hatte.
Die ohnehin auf den Soldaten lastende Spannung verdichtete sich weiter, drohte manchem der Marines den Atem zu nehmen. Zumindest Justins Harprings Stimme klang irgendwie erstickt: „Anzeigen unverändert.“
„Luke auf!“
Mit einem dumpfen, schabenden Ächzen öffnete sich die Einstiegsluke der Rettungskapsel. Die unter und über den Läufen der Sturmgewehrlaser befestigten Flashlights und Laserzielsucher schnitten durch das Dunkel, zuckten über den Boden und die Wände der Kapsel…
Und enthüllten eine Szenerie des Schreckens. Ein Massengrab.
Irgendeiner der Soldaten fluchte unterdrückt, während ein anderer keuchend, fast würgend Luft holte. War das sein eigener Atem, der so schnell ging? Lieutenant McKenna wusste es nicht.
Wie viele waren es? Vier? Fünf? Ein halbes Dutzend?
Überwiegend Männer, doch auch ein Junge, sicherlich nicht viel älter als sechzehn.
Alle reglos. Alle tot. Ineinander verkrümmt, verrenkt, die Gliedmaßen auf eine kaum vorstellbare Art und Weise verkrampft. Zu grauenvollen Karikaturen ihres früheren Selbst erstarrt.
In einer Lache aus Blut. Blut, das als schwarze Klumpen und Schlieren auf den Gesichtern der Toten geronnen war. Das aus Nasen, Ohren und Augen geflossen war.
Schwarzes Blut, das über die Wände und die Decke der spartanisch eingerichteten Kapsel verspritzt worden war.
Blut, das eine im Todeskampf erstarrende Hand in ungelenken, verzerrten Lettern über die Wand geschmiert hatte.
‚ES IST HIER’
***
Der Schlag erwischte Rudkiewicz vollkommen überraschend. Riss ihr das Injektionsgerät aus der Hand, schleuderte sie gegen die Wand der Krankenstation. Harris duckte sich mit einem Aufschrei, während Doktor Eriksen zurückzuckte, als wäre sie es, die der Schlag getroffen hätte.
Nichts davon schien der Gerettete zu bemerken, der sich auf einmal auf der Bahre hin und her warf, als würden wieder und wieder Stromstöße durch seinen Körper gejagt. Und schrie, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leib vom Körper gezogen.
„Beruhigen Sie sich! Wir wollen Ihnen helfen!“
Genauso gut hätte Rudkiewicz gegen eine Wand sprechen können. Die Schreie des Geretteten wurden nur noch schriller, steigernden sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, während er gegen die Fixiergurte kämpfte, die ihm Rudkiewicz in weiser Voraussicht angelegt hatte. Leider hatte sie es dabei versäumt, auch die Arme zu fesseln.
„SCHEISSE, STELLEN SIE IHN RUHIG!“
„SIR! DIE AMPLITUDE SPRENGT DIE ANZEIGE! So etwas…“
„RUDKIEWICZ!!“
Die derart Angeblaffte kam auf die Beine, die Injektionspistole wieder fest in der Hand. Jetzt bewährte sich ihre Erfahrung: „HARRIS! PACKEN SIE MIT AN, VERDAMMT! FALKNER – SIE AUCH!“
Falkner war die erste, die reagierte. Geduckt näherte sie sich dem Tobenden mit ein, zwei schnellen Schritten…
Und mit einem gutturalen Schrei stemmte sich der Mann in die Höhe, während die Fixiergurte mit einem peitschenden Knall aus ihren Halterungen rissen. Der Gerettete warf sich zurück, sein Arm wischte über den Tisch mit den medizinischen Geräten – und kam mit einem bösartig blitzenden Skalpell wieder nach Oben.
Falkner zuckte reflexartig zurück, aber Harris, der sich ebenfalls ermannt hatte, war nicht schnell genug. Die schmale Klinge schlitzte den Ärmel seines Schutzanzugs vom Handgelenk bis zum Ellbogen auf, in einer einzigen, fließenden Bewegung. Blut schoss aus dem Schnitt, spritzte über den Boden und den schreienden Mann von der MARY C.
„SCHEISSE! DER HAT MICH GESCHNITTEN!“
Lieutenant Commander Falkner stieß Tremane mit einem brutalen Ellbogenstoß zurück gegen die Tür der Krankenstation, weg von dem Tobenden, während sie gleichzeitig in einer blitzschnellen, flüssigen Bewegung die Laserpistole aus dem Holster riss, und auf den Tobenden anlegte.
„JEAN, NEIN! DAS IST EIN BEFEHL!!“
„BIST DU WAHNSINNIG, ANDREW?!!“
„LEBEND! WIR BRAUCHEN IHN LEBEND!!“
Harris presste die Hand gegen den Arm. Ob absichtlich oder instinktiv – der Verrückte hatte ihn in die Ecke gedrängt. Er kam nicht zur Tür – nicht, ohne unter dem durch die Luft zuckenden Skalpell hindurch zu müssen: „SCHIESSEN SIE, FALKNER! DER BRINGT UNS SONST ALLE UM!“
„RUHE, VERDAMMT!“
Der Gerettete warf den Kopf in den Nacken, viel zu weit – auf seinem geröteten Hals traten die Adern und Sehnen vor, wie Kabelstränge. Eine dunkle, zähe Flüssigkeit rann aus seiner Nase, tropfte aus Ohren und Mund: „SETHANA! SETHANA!! AN DARON SETHANA!!“
„WAS ZUM TEUFEL…?!“
„RUHE VERDAMMT! SEDIERT DEN SCHEISSKERL ENDLICH!!“
„SETHANA!! AN DARON SETHANA!“
Mit einem gefauchten Fluch warf Lieutenant Falkner die Pistole beiseite. Tremane wollte den Mann lebend - also würde er ihn lebend bekommen. Sie blendete die Schreie ihrer Kameraden aus, Tremanes gebrüllten Befehle, die sich überschlagende Stimme des Tobenden, der Worte in einer Sprache schrie, die sie nicht verstand. Nichts davon war wichtig. Sie duckte sich, sprang vorwärts. Der Infanteriepanzer behinderte zwar ihre Bewegungen, schützte sie gleichzeitig aber auch zuverlässig. Als das Skalpell mit einem dumpfen, kratzenden Geräusch über die Brustplatte des Anzugs fuhr, zuckte sie nicht einmal zusammen. Stattdessen ließ sie ihre Hände nach vorne schnellen, und packte den Waffenarm ihres Gegners in einem geübten Hebelgriff am Handgelenk und über dem Ellbogen.
Im nächsten Augenblick flog sie nach hinten weg, und wäre beinahe gestürzt.
Das konnte nicht sein! Sie hatte mit diesem Griff schon einmal einen ausgebildeten Marineinfanteristen den Arm gebrochen. Unmöglich, dass ein dehydrierter, verstrahlter Raummatrose sie einfach durch den Raum schleuderte, wie eine Puppe. 'Ist der auf Demon Dust?'
Blitzschnell entschied sie sich für eine andere Strategie, und pflückte die Injektionspistole aus der Hand der Krankenschwester, die vor dem Skalpell zurückgewichen war. 'Dann eben so.' Ein schnelles Antäuschen, ein blitzartiger Vorstoß...
Und im gleichen Augenblick zischte die schmale Klinge herab, bohrte sich mit einem dumpfen Knirschen in den Hals, wurde mit brutaler, rücksichtsloser Entschlossenheit von Links nach Rechts gezogen, und zertrennte dabei im Bruchteil einer Sekunde Halsschlagader und Luftröhre.
Die Hand immer noch um die Klinge gekrampft, mit der er sich eben die eigene Kehle durchgeschnitten hatte, sackte der Mann von der MARY C zur Seite, klatsche mit einem widerlich weichen, knochenlosen Geräusch auf den ehemals blanken, antiseptischen Boden der Krankenstation. Schwarzes, zähflüssiges Blut sammelte sich in einer dunklen Lache um seinen Körper, rann in trägen Wellen über den Boden.
In die fast unwirklich laut wirkende Stille, schallte die raue, vor Anspannung und Entsetzen vibrierende Stimme von Second Lieutenant McKenna: „Commander Tremane? Doktor Eriksen? Verdammt, was ist bei euch los?!
Wir haben hier…Sie sind alle tot. Alle. Überall Blut. Sie sind ganz einfach…ausgeblutet. Aus Ohren, Nasen, Mund, Ohren. Großer Gott…
Eriksen, was ist das?
Commander?! Was sollen wir tun? Commander? Wie lauten Ihre Befehle?!“
Doch es war Eriksen, die als erste die Initiative ergriff, und alle Kanäle des Bordfunks aktivierte. Ihre Stimme klang erstickt, dumpf, als müsste sie sich jedes Wort abringen: „Achtung…an alle Stationen! Es besteht die Gefahr einer Biokontamination mit einem unbekannten Erreger.
McKenna – versiegeln Sie die Kapsel. Ziehen Sie Ihre Männer zurück und warten Sie weitere Befehle ab.
Captain Victor…Schalten Sie die Luftumwälzungsanlage aus. Isolieren Sie die einzelnen Sektionen voneinander.
Achtung an Alle – legen Sie sofort einen Schutzanzug an, oder ziehen Sie sich in eines der Shuttles oder unsere Rettungskapsel zurück.
Ich wiederhole. Es besteht die Gefahr einer Biokontamination mit einem unbekannten Erreger…“
Cattaneo
Cattaneo
Liljas Rückblick
Die zwei Kampfflieger hingen regungslos im All – natürlich nur relativ gesehen. Nicht nur zerrten an ihnen die Gravitationskräfte des Systems, im All war auch nichts wirklich statisch. Immerhin expandierte die Milchstraße ständig mit atemberaubender Geschwindigkeit. Folglich bewegten sie sich durchaus, nur die relative Position zu den Bezugspunkten, hier in erster Linie die Emerald Jade, blieb nahezu unverändert. Und mit dieser Phrase konnte man den augenblicklichen Zustand ziemlich treffend beschreiben – relativer Stillstand, zugleich aber eine so rasante Entwicklung, dass Menschen ihr kaum folgen oder sie wirklich erfassen konnten.
Es hatte mit einem Moment voll atemberaubendem Chaos begonnen. Von der Emerald waren nur noch kaum verständliche Meldungen gekommen, Menschen brüllten und fluchten auf den verschiedensten Funkkanälen, dazu das Heulen von Alarmsirenen – alles in allem erinnerte das Szenario in fataler Weise an die letzte Botschaft der Mary C. Und Lilja hatte entsprechend reagiert und Ace umgehend befohlen, den Frachter mit allen Waffen anzupeilen und auf die Weisung zur Feueröffnung zu warten. Seine überraschte Nachfrage hatte sie erbarmungslos niedergebügelt. Wenn dort etwas vor sich ging wie auf dem verschollenen Schiff, dann wäre es ihre Pflicht, sicherzustellen, dass dies hier und jetzt endete. Mit allen Mitteln…
Es hatte Minuten gebraucht, ehe sich Tremane schließlich gemeldet hatte, Minuten, die der Russin jede für sich wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. Sie wollte gar nicht daran denken, welche möglichen Schreckensszenarien sich dort drüben abspielen konnten. Oder wozu sie vielleicht gezwungen sein würde.
Der TIS’ler hatte Entwarnung gegeben. Mehr oder weniger zumindest – die Aussicht, vorerst für Gott-weiß-wie-lange-Zeit in den Jägern festzusitzen, war für sich schon nicht gerade beruhigend, während vielleicht irgendein tödlicher Virus auf dem Schiff vor dem Ausbruch stand. Wenn man diese Aussicht betrachtete, dann war Abwarten noch das Geringste der möglichen Übel. Nicht, dass es eine Alternative gab. Also hatte Lilja die Jäger in eine Parkformation gebracht und sich in Geduld geübt. Nicht gerade ihre größte Tugend. Zunächst war da noch die Angst vor dem gewesen, was die Besatzung und die Passagiere der Emerald bedrohte. Tremane war nicht sehr ausführlich gewesen – welche Überraschung – doch er hatte immerhin genug gesagt.
Doch niemand hielt es unbegrenzt lange mit Daueranspannung und Nervosität durch. Irgendwann verschwand das Adrenalin aus den Adern, und die Aufgekratztheit wurde schließlich durch Erschöpfung ersetzt. An Bord der Emerald hatte sich nicht viel ereignet, weder zum Guten noch zum Schlechten. Die erste Stunde des Wartens war voller Wachsamkeit gewesen. Die zweite voller Unruhe und Misstrauen wegen der wortkargen Mitteilungen von Bord. Die dritte Stunde aber brachte die Erkenntnis, dass sich wohl kaum so schnell entscheiden würde, wie es weiterging…
Langsam, Stück für Stück, hatte nicht mehr die mögliche Bedrohung, sondern die Abwesenheit von Ereignissen begonnen, die Piloten zu zermürben. Ein Jäger war nicht gerade ein Ort für einen so langen Aufenthalt, zumal sie ja schon eine Weile drin saßen. Die Raumanzüge waren zwar entsprechend eingerichtet für gewisse…körperliche Bedürfnisse, die sich nun mal nicht vermeiden ließen, wenn man jemanden für ein paar Stunden irgendwo einsperrte. Was nicht hieß, dass die Vorkehrungen angenehm zu nennen waren. Doch daran war man gewöhnt, wenn man schon einmal längere Patrouillen geflogen war, und dabei Pech gehabt hatte. Aber das war ja nicht das einzige Problem. Lilja und Ace hatten natürlich nicht mehr als die unvermeidliche Notration mitgenommen. Das hieß, jeder hatte eine kleine Trinkflasche mit Wasser, und praktisch nichts zu essen. Immerhin war nur ein regulärer Begleitflug für die Bergung geplant gewesen, nicht mal eine Langstreckenaufklärung. Die Russin hatte etwas von ihrer koffeinhaltigen Fliegerschokolade eingepackt, aber sonst nichts. Ob Ace etwas zu essen hatte, wusste sie nicht. Hunger und auch Durst – das Wasser würde nicht lange reichen – meldeten sich folglich bald an. Lilja war froh, dass sie in den letzten Wochen nicht über die Küche auf der Emerald gejammert hatte, so brauchte sie sich nicht zu schämen, als sie sich eingestand, dass sie sich schon bald nach Quicksilvers nicht eben überragenden Kochkünsten zu sehnen begann. Und nach einer Toilette, einem Bad – und, im Laufe der Zeit, vor allem nach einem Bett. Die Bergung der Rettungskapsel und des Raumanzugs hatte schon zwei Stunden gebraucht, und davor hatte noch eine Einsatzbesprechung und Überprüfung der Jäger auf dem Programm gestanden – sie waren also schon etliche Stunden auf den Beinen gewesen, bevor man sie bis auf weiteres in die Warteschleife gehängt hatte. Das machte sich bemerkbar.
Schlaf kam natürlich nicht in Frage. Immerhin konnte die Mary C oder ein Akarii-Raider oder auch Piraten jederzeit auftauchen. Was, wenn jemand den Notruf des verschollenen Frachters aufgefangen hatte, und nachschaute? Und ebenso mochte es geschehen, dass es an Bord der Emerald zu einer Katastrophe kam. Lilja hatte keine Erfahrung mit geheimnisvollen Infektionskrankheiten, aber sie war eine gut ausgebildete Offizierin. Und das hieß, ihr fielen unerfreulich viele mögliche Variationen zum Thema ,Eskalation’ ein. Eine Meuterei. Die Desertion einiger Besatzungsmitglieder mit einem Shuttle. Nervenzusammenbrüche oder andere Auswirkungen von Anspannung und Krankheit…
Nein, da hieß es, aufmerksam und vor allem wach zu bleiben. Wenigstens verfügten die Jäger über die Standardausrüstung, und das beinhaltete auch einige Medikamente, darunter auch Muntermacher. Allerdings hatten die den Nachteil, dass nach Ende ihrer Wirkungsdauer einige unerfreuliche Nebenwirkungen fällig waren. Starkes Schwitzen gehörte geradezu zum Grundprogramm – und das war nichts, was man so leicht riskieren sollte, wenn man nicht viel Wasser und keine Mineralkonzentrate hatte, um Dehydrierung und Entsalzung zu bekämpfen. Deshalb hatte Lilja vorerst darauf verzichtet, sich chemisch aufzumöbeln. Doch nachdem sie das dritte Mal aus einem Sekundenschlaf aufgeschreckt war, konnte sie nicht leugnen, dass sie etwas unternehmen musste.
Abgesehen von den Muntermachern gab es eigentlich nur noch eine Möglichkeit, sich wach zu halten. Und die forderte eine gewisse Selbstüberwindung, wie das Warten nicht gerade ihre Lieblingsübung. Aber da sonst keine Alternative bestand…
Lilja stellte eine Richtfunkverbindung zu Jadesohn Zwei her: „Ace…?“
Das fiel ihr nicht gerade leicht. Sie hatte nämlich seine früheren Versuche, mit ihr ins Gespräch zu kommen, recht unwirsch abgewürgt. Zuerst war sie zu aufgekratzt gewesen, zu sehr auf Hochspannung – und zu ängstlich angesichts dessen, was als nächstes geschehen würde. Was sie sich natürlich nicht anmerken lassen wollte, und wenn Lilja etwas verheimlichen wollte, wurde sie grundsätzlich patzig – vor allem wenn ihr Gegenüber nicht gerade zu ihrem exklusiven Freundeskreis gehörte. Und dann war die Langeweile gekommen, und das zermürbende Warten hatte sie auch nicht gerade freundlicher gestimmt. Sie war sowieso nicht gut darin, zurückzustecken. Ace brachte zudem nicht gerade die liebenswertesten Facetten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein. Aber glücklicherweise hatte sie eine Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne das Gesicht zu verlieren.
Der blauhaarige Pilot schien zumindest im Augenblick nicht gewillt, Lilja ihre frühere Barschheit heimzuzahlen. Er klang selber etwas verschlafen: „Ja…was?“
Die Russin räusperte sich: „Ich hab’ nachgedacht. Wenn das so weiter geht, pennen wir garantiert in den Jägern ein. Aber wenn wir uns die Pillen jetzt einwerfen, sind wir in spätestens ein paar Stunden hinüber – dabei wissen wir nicht, wie lange es noch dauert. Abgesehen davon, dass wir dann dehydrieren.“
Ace gab ein Lachen von sich: „Was denn, kein Vertrauen zu den Recyclingfähigkeiten der Anzüge?“ Tatsächlich hatte der Anzug eine beschränkte Wiederverwertung – zwar wurden nicht gerade Urin und Fäkalien recycelt, Schweiß allerdings schon. Lilja knurrte etwas nicht Druckreifes: „Lieber schiebe ich noch etwas Durst. Du weißt, wie ekelhaft das Zeug schmeckt. Außerdem – die ausgeschwitzten Mineralien ersetzt uns das nicht.“ Sie zögerte erneut, doch dann fuhr sie fort: „Ich würde sagen, wir sollten versuchen, uns gegenseitig wach zu halten. Wenn wir reden, pennt nicht einer von uns unbemerkt ein – oder wir beide gleichzeitig. Und das können wir nicht verantworten.“ Es war doch gut, wenn man sich als die Verantwortungsbewusste geben konnte.
Ihr Kamerad schien darüber nachzudenken: „Wollen wir Schiffe-Versenken spielen?“ schlug er vor. Sein Grinsen war sogar über die Funkverbindung zu hören. Lilja verzog die Lippen: „Ich mach mich doch nicht lächerlich, FALLS Tremane mithört.“ Sie gab ihrer Stimme eine spöttische Note, als sie fortfuhr: „Und außerdem traue ich dir nicht. Du würdest bestimmt schummeln.“ Mit einmal bekam ihre Stimme einen etwas boshaften Klang: „Ich dachte ja eigentlich daran, dir noch ein wenig Nachhilfeunterricht im Einheitsführung und Abfangjägertaktik zu geben. Interesse? Oder meinst du, du weißt schon alles?“
Jetzt war es Ace, der etwas Unfeines murmelte: „Du gibst wohl nie auf?“ Noch ehe er fortfahren konnte, nutzte die Russin diese Steilvorlage: „Natürlich nicht. Deshalb bin ich ja auch Lieutenant Commander und habe fast 40 Abschüsse.“
Doch ihr Untergebener war noch nicht fertig: „Erbarmen. Das halte ich nicht durch. Hier hocken und dann auch noch Schüler spielen, da fall’ ich bestimmt ins Koma. So schwere Kost halte ich nicht durch – nicht unter den Umständen.“
Lilja schien wenig überrascht, und ihre ungnädige Reaktion war eindeutig gekünstelt: „Banause. Da hat er schon mal die Möglichkeit, etwas zu lernen, und wie nutzt er sie? Du hast noch einiges nachzuholen, mein Bester.“ Ihre Stimme wurde mit einem mal etwas schnippischer: „Na schön, das fällt also aus. Wir können uns natürlich ein paar Geschichten erzählen – Kriegsgeschichten fallen aber aus, immerhin haben wir fast den ganzen Krieg zusammen verbracht. Wenn du aber glaubst – ihr Kerle seid ja alle gleich – ich erzähle dir hier, und allen möglichen Zuhörern gleich mit, wie ich meine Jungfräulichkeit verloren oder mit wem ich alles bei meinem letzten Landurlaub die Matratze gedrückt habe, dann bist du schief gewickelt. Selbst wenn du mich ja LIEBST, und es vielleicht wissen willst.“ Sie hatte mit einer launigen Antwort gerechnet, aber stattdessen herrschte erst einmal Funkstille. Lilja runzelte die Stirn. Schließlich wurde es ihr zu bunt, beziehungsweise zu lang: „Hallo, Erde an Ace. Bist du noch da? Oder hat die Enttäuschung dich umgebracht? Jungejunge, man sollte meinen, von deinen Bekannten Radio und Skunk bist du noch ganz andere Sachen gewöhnt, oder von diesem Knastbruder Noname. Rede gefälligst mit mir, oder ich komm rüber!“
Selbst nach dieser wenig subtilen Aufforderung herrschte noch eine Weile Schweigen, ehe Ace sich wieder hören ließ. Er klang etwas unsicher, schien sich aber im Griff zu haben. Lilja kam einmal mehr zu der Erkenntnis, dass manche Kerle ihr einfach ein Rätsel waren – so unfein war ihre Wortwahl ja nun wieder auch nicht gewesen.
Der Pilot schien sich jedes Wort genau zu überlegen: „Na, ich weiß nicht…was würdest du gerne erzählen? Oder von mir wissen?“
Lilja lachte kurz auf: „Also jedenfalls nicht das, was ich dir NICHT erzählen will. Aber ich denke, da der Vorschlag von mir kommt, sollte ich wohl auch anfangen. Irgendwelche Wünsche?“
Ihr Kamerad zögerte, dann gab er sich wohl einen Ruck: „Was aus deiner Schulzeit vielleicht?“
Die Russin seufzte: „Na schön, wie du willst. Schauen wir mal…“
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Kazan, Autonome Region Tatarstan, Sowjetische Konföderation, zwölf Jahre zuvor (2625)
Die Glocke des Mihail-Alekseevi
-Lavrent’ev-Oberschule* schlug behäbig, wie es sich angesichts des stolzen Alters des Gebäudes gehörte. Der weitläufige Schulkomplex, zumindest regional bekannt für die Naturwissenschaftler, die er seinem Namen getreu hervorbrachte, war in guten Zustand, ungeachtet dessen, dass der Name der Stadt den meisten Nichtrussen nicht viel sagen würde, und man sich hier eigentlich in der „Provinz“ befand. Die Gebäude waren modern, und vor allem war der ganze Campus sehr weiträumig aufgebaut. Die Sommerhitze lastete schwer über der Stadt, und keine Wolke versprach Schatten oder gar Regen. Kazan war im 27. Jahrhundert nicht einmal annähernd die Großstadt mit mehr als einer Million Einwohnern, die sie zwischen dem 20. und dem 24. Jahrhundert gewesen war. Obwohl die Aufgabe eines Teils der agrarischen Anbauflächen und sogar kleinerer Städte neue Menschen in die Zentren gespült hatte, und Kazan war so etwas wie ein regionales Zentrum, waren weit mehr in richtige Hotspots des wirtschaftlichen Lebens oder gleich zu den Sternen ausgewandert. Die Stadt hatte inzwischen gerade noch 300.000 Einwohner – für eine Erdenstadt nicht wenig, aber nur ein Schatten alter Größe. Die Hauptstadt der Autonomen Region Tatarstan schien besonders im Sommer manchmal vor sich hin zu träumen, zweifelsohne mit Gedanken an frühere, zumindest für die Stadt bessere Zeiten.
Nicht, dass die Bewohner der Wehmut nachgaben, althergebrachten Stereotypen über die russische Seele zum Trotz. Zwar hatte sich der Charakter der Stadt geändert, aber die Menschen Kazans – Tataren, aber auch noch viele ethnische Russen, Baschkiren und Vertreter anderer Minderheiten – machten das Beste aus dem, was sie hatten. Ihre Stadt war weitläufiger geworden, und hatte die Augen geöffnet, über die Grenzen der Sowjetischen Konföderation – und der Erde – hinaus. Zwar hatte es umfassende Umstrukturierungen in den Standbeinen der russischen Wirtschaft gegeben, aber von Verwahrlosung oder Arbeitslosigkeit konnte keine Rede sein. Besonders der nahe gelegene Stauseekomplex wurde neben der Stromerzeugung umfassend für Hydrokulturen und als Erholungsgebiet genutzt, dazu liefen dort auch einige nicht näher bezeichnete Forschungsprojekte.
Die Schüler jedenfalls unterschieden sich nicht wesentlich von denen in einer beliebigen anderen Stadt. Sie ließen sich vom Wetter nicht sonderlich beeindrucken, die drückende Hitze schien ihre gute Laune eher noch anzuheizen. Lachen und ein Sprachwirrwarr aus Russisch, Tatarisch und Englisch hallte von den Wänden wieder. Die meisten stürzten sich auf die Haltestelle von Maglev- oder Untergrundbahn, die einen Großteil des Transports übernahmen. Da die Wohnviertel aufgelockert worden waren und etliche der Schüler aus kleineren Ortschaften außerhalb der Stadt kamen, hielt sich die Zahl der Jugendlichen, die zu Fuß unterwegs waren, in Grenzen, und statt Autos nutzte man lieber das hochmoderne öffentliche Nahverkehrssystem. Unter den Jugendlichen, die etwas aus dem allgemeinen Rahmen fielen, war eine kleine Gruppe, die es offenbar eilig hatte und ein gemeinsames Ziel ansteuerte.
Die Vierzehn- bis Sechzehnjährigen schienen sich fast eine Art Wettrennen darum zu liefern, wem es gelang, sich an die Spitze zu setzen. Wer zurückfiel, musste sich einiges an Spott anhören. Mit zur Spitzengruppe gehörte ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren. Sie trug ihre Haare lang, hatte sie aber zurückgebunden – bei der Hitze ein weiser Entschluss, denn bald glänzten Schweißperlen auf ihrem Gesicht. Die glatte, von Anstrengung leicht gerötete Haut und ihre Augen mit langen Wimpern gaben ihr eine gewisse Attraktivität, zumal sie auch körperlich gut in Form war. Sie hatte kein Problem, angesichts des Wetters etwas mehr Bein zu zeigen. Diese insgesamt recht vorteilhafte Erscheinung wurde jedoch durch eine wenig formschöne Zahnspange ruiniert, und ihre Zähne erschienen für ihren Mund fast etwas zu groß geraten. Die anderen Jugendlichen, die sich untereinander vielfach nur mit Spitznamen riefen, nannten sie wohl deshalb auch Lošadka, was soviel wie Pferdchen bedeutete. Aber es war Vorsicht in dem Spott. Es war bekannt, dass die junge Tatjana Pawlitschenko einmal einen besonders hartnäckigsten und boshaftesten Spötter mit einem Lachen erklärt hatte, wenn sie schon wie ein Pferd aussähe, dann sei es ja gut, dass sie auch wie eines zutreten konnte. Was sie sogleich auf das Schmerzhafteste und Drastischste unter Beweis gestellt hatte.
Der scheinbare Anführer der Truppe, eine offenbar tatarischstämmiger Junge, den man wohl wegen seinem listigen Gesichtsausdruck Lisënok – Jungfuchs – nannte, hatte schließlich genug: „He, Lošadka, willst du uns davonrennen?“ Seine jüngere Kameradin warf ihm einen Seitenblick zu, ohne ihm direkt in die Augen zu schauen, wurde aber langsamer. Zumindest ihm gegenüber schien sie etwas verlegen, obwohl sie sonst wenig Zurückhaltung zeigte. Aber ganz ohne Spott kam sie doch nicht aus: „Was denn, bin ich für deine krummen Beine zu schnell?“ Sie schien aber zufrieden, sich an der Spitze etabliert zu haben – oder seine Aufmerksamkeit errungen zu haben, das war nicht so genau zu sagen.
Ein anderes Mädchen stichelte gegenüber der Spitzenstürmerin: „Wie kommt es denn, dass du heute mitkommst? Ich dachte, du müsstest dich auf die Physikprüfung nächste Woche vorbereiten. Schließlich hat deine Mutter für dich doch eine Stelle als ihre Nachfolgerin eingeplant. Wieso hast du dann die Zeit, um sie hier zu verplempern – wo du doch sonst so eine Musterschülerin bist…“
Es war wohl nicht ganz böse gemeint, aber Tanja zuckte etwas unbehaglich mit den Schultern. Dann meinte sie mit etwas bemühter Forschheit: „Also, Koše
ka…“, das hieß Kätzchen, „…die Chance lasse ich mir doch nicht entgehen. Was meinst du denn, werde ich zwei Monate lang drei Nachmittage der Woche mit beiden Armen voller Motoröl verbringen, und dann ausgerechnet anlässlich der Belohnung kneifen?“
Lisënok lachte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du im Overall hübsch aussiehst?“ Tanja wurde rot, erst vor Verlegenheit, dann vor Ärger, als der Junge fortfuhr: „Nicht? Nun, dafür gibt es sicher einen Grund.“ Mit einem neuen Lachen brachte er sich vor dem Mädchen in Sicherheit, das ihm ein Bein stellen wollte. Aber so sehr Tanja das Geflachse genoss – na ja, meistens zumindest – in Wahrheit fühlte sie sich schon ein wenig unbehaglich. Ihre Eltern hatten sie eigens an eine angesehene naturwissenschaftliche Schule geschickt, auch wenn sie dazu täglich zweimal rund 50 Kilometer zurücklegen musste, und folglich sehr früh aus dem Haus ging und sehr spät zurückkehrte. Doch obwohl sie keineswegs schlecht in Physik war – dem Feld, auf dem ihre Mutter glänzte und arbeitete, ohne jedoch genau zu sagen WORAN, denn ihre Arbeit war geheim – es war nicht gerade das, was ihr Herz höher schlagen ließ. Natürlich war sie sich klar, irgendwie würde sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, in ein paar Jahren – oder studieren, aber das kam ja auf dasselbe hinaus, eine Entscheidung würde in jedem Fall anstehen. Im Sport, der ihr so viel Spaß machte – Kazan hatte in seiner Geschichte neben einigen bekannteren Künstlern auch so manchen Sportler hervorgebracht – war sie einfach nicht gut genug, um ihn zum Beruf zu machen. Soviel gestand sie sich ein. Sicher, wenn ihre Mutter ihr geheimnisvolle Geschichten von der Arbeit auf dem Europa-Mond, dem Mars oder anderen Sondereinrichtungen erzählte, klang das schon aufregend. Das einmal zu sehen, klang schon nicht schlecht.
Nun, jedenfalls hatte sie ein wenig schlechtes Gewissen, ihre Zeit mit anderen Dingen zu verbringen. Wenigstens war sie gut genug in der Schule, so dass sie sich vor sich selbst rechtfertigen konnte. Obwohl, ihre Eltern hätten es sicher lieber gesehen, wenn sie dem Physikclub angehört hatte. Aber sie hatte sich für die Osoviatkosma entschieden – die Abkürzung stand für die „Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Raumfahrt“, ein in frühen neosowjetischen Zeiten gegründeter, quasi para- und vormilitärischer Sport-, Flug- und Technikverein, der enge Beziehungen zu verschiedenen Waffengattungen unterhielt. Es war nicht nur die Möglichkeit, mit einem Paintball-Gewehr durchs Unterholz zu rennen, oder einen Transportschweber auseinander zu nehmen und wieder zusammenzusetzen – es war die Mischung aus Technik, Sport und die Betonung einer ruhmreichen Vergangenheit und verantwortungsvollen Gegenwart, die sie ansprach.
Unter weiterem verbalem Geplänkel erreichten die Jungen und Mädchen schließlich ihr Ziel. Es wäre vermutlich auch möglich gewesen, den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Aber der Fußmarsch gehörte zu den Aufgaben, die man ihnen gestellt hatte. Die örtliche Osoviatkosma-Basis, die den Namen Georgij Konstantinovi
Mosolov** trug, befand sich in einem ehemaligen Wohnviertel, das dem Schrumpfen der Bevölkerung Kazans zum Opfer gefallen war. Ein Großteil der Gebäude war abgerissen worden, zum Teil hatte man die Fläche wieder begrünt, aber auch eine Start- und Landebahn angelegt. Die übrig gebliebenen Häuser dienten zu Schulungsaufgaben – vor allem aber für Gefechtssimulationen. Die Osoviatkosma nahm ihre Aufgabe ernst, nicht nur Nachwuchs für die Streitkräfte vorzubereiten, sondern auch die Verteidigungsfähigkeiten der Bevölkerung zu steigern.
Die meisten Ausbilder waren Reserveoffiziere oder langjährige Mitglieder, die in passenden Berufen arbeiteten oder gearbeitet hatten. Man konnte nicht sagen, dass sie ihre Mission im Management eines reinen Abenteuer- oder Nostalgievereins sahen. Die Furcht vor äußeren Invasoren war fast so etwas wie Bestandteil des russischen Nationalcharakters – zumindest, wenn man in die Schulbücher schaute. Die letzten ernsten Konflikte auf der Erde lagen allerdings weit zurück. Die Organisation verdankte ihre Aufgabe und ihr militaristisches Selbstverständnis zum Teil ihrem „heldenhaften“ Erbe aus ihrer Gründungszeit, den Jahren des Basmat
ej-Konflikts.*** Damals waren die Mitglieder – keineswegs nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene – besonders in Südostrussland auch so etwas wie eine Verfügungsreserve für die Miliz des Innenministeriums gewesen, und sie hatten mehr als einmal anwenden müssen, was sie gelernt hatten. Die Namen von über 100 gefallenen Mitgliedern aus Kazan, gestorben im Alter zwischen 14 und 60 Jahren, hielt man unvermindert in Ehren, obwohl nicht nur der Krieg selbst, sondern auch die Sowjetische Staatenkonföderation als eigenständiger Staat längst Geschichte war. Natürlich hatten in späteren Jahren Mitglieder der Organisation nach ihrem Wechsel zu den Streitkräften auch weiterhin gekämpft und waren gestorben, in Südamerika und später in den Weiten des Weltalls. Auch an sie erinnerte man sich.
Die reale Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung bestand schon lange nicht mehr. Die Bundesrepublik lebte in Frieden, und auch wenn man manche intergalaktische Nachbarn vorsichtig ausgedrückt nicht schätzte oder ihnen misstraute – niemand würde so töricht sein, einen Krieg anzufangen. Die mächtige TSN deklassierte alle anderen Flotten mit Ausnahme der imperialen Streitkräfte der Akarii. Und selbst gegenüber denen waren sie eine veritable Risikostreitkraft – also eine Macht, die jeden Waffengang zu einem absolut unkalkulierbaren Risiko machen würde. Die Macht der Piraten war längst gebrochen, und auch wenn die alte Totenkopfflagge weiterhin flatterte – wie sie es seit dem Beginn menschlicher Schifffahrt getan hatte und wohl bis zum Ende der Menschheit auch weiter tun würde – so waren die letzten Freibeuter an die Peripherie der Republik zurückgedrängt worden, eine weitaus weniger reale Gefahr als technisches oder menschliches Versagen. Die kleineren internen Konflikte wie auf Pandora stellten die Armee oder Flotte nicht wirklich vor Zerreißproben, obwohl es noch nicht gelungen war, die Feinde niederzuwerfen.
Heute waren die Mitglieder der Osoviatkosma – jetzt am Nachmittag waren die Jugendlichen unter sich, denn ihre erwachsenen Kameraden arbeiteten noch – für einen ganz besonderen Programmpunkt zusammengekommen. Aus diesem Grund ging auch das Umziehen, bei dem sie Overalls anlegten, weitaus schneller als sonst. Dann rannten die Kadetten zum Flugfeld, wobei ihre Ausbilder sie kaum zurückhalten konnten.
Die ersehnte Attraktion kündigte sich mit einem fernen metallischen Blitzen am Himmel an – und bald war auch ein leichtes Fauchen zu hören, das sich rasch zu einem ohrenbetäubenden Lärm steigerte. Nebeneinander flogen sie heran – zwei S-41 Shuttle. Die schlanken Mehrzweckmaschinen waren sogar mit je zwei Laserkanonen bewaffnet, die ihnen eine geradezu bedrohliche Note gaben. Wer auch immer am Steuerknüppel saß, er verstand sein Handwerk. Die Shuttles flogen perfekt synchronisiert, und als sie zur Landung ansetzten, gab es keinen Augenblick des Zögerns oder der Unsicherheit. Obwohl die Kadetten ein gutes Stück entfernt standen, war der Lärm überwältigend. Die Triebwerke wirbelten Staub und Grashalme auf und peitschten die Wartenden wie ein wütender Sturm. Die waren dennoch vor Begeisterung kaum zu bremsen. Wenn ihre Ausbilder ihnen nicht erlaubt hätten, sich in Bewegung zu setzen, wären sie vermutlich auch so losgerannt.
Und mit viel Gebrüll – eher der akustischen Kulisse geschuldet als pseudomilitärischem Gehabe – teilte man die Kadetten in zwei Gruppen und scheuchte sie in die Shuttles. Kaum fünf Minuten nach dem Aufsetzen hoben die Maschinen bereits wieder ab, und nahmen Kurs auf den blauen Himmel.
Tanja starrte wie gebannt aus dem Bullauge, während ihr Shuttle rasch an Geschwindigkeit gewann. Sie war schon ein paar Mal mit einem Flugzeug geflogen – die Osoviatkosma ließ auch Fallschirmspringen trainieren, und einmal hatte sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder den Urlaub in einer Hüttensiedlung in Sibirien verbracht, die nur auf dem Luftweg zu erreichen war. Aber das war nicht mit diesem Gefühl zu vergleichen. Die Shuttles ließen den Boden förmlich hinter sich, und lösten sich aus der Anziehungskraft der Erde so leicht wie ein Falke von seinem Hochsitz. Dabei blieben sie stets im Verbandsflug. Binnen weniger Minuten war die Erde weit zurückgeblieben. Tanja wusste natürlich, dass ein Shuttle im günstigsten Fall eine halbe Stunde bis zum Mond brauchte, aber so etwas zu wissen und selbst in einer solchen Maschine zu sitzen, das war schon etwas grundverschiedenes. Ein paar Mal demonstrierten die Piloten abrupte Flug- und Beschleunigungsmanöver, die zeigten, wie viel Kraft selbst in diesen vergleichsweise „zahmen“ Maschinen steckte. Die junge Russin wusste, dass die Jagd- und Kampfflieger der TSN ein Vielfaches der Geschwindigkeit erreichen konnten – jeder gute Kadett konnte die Werte der eigenen und auch der potentiell feindlichen Kampfflieger, also den Maschinen der Konföderierten und Akarii, aus dem Gedächtnis herunterbeten.
Ihr war, als befände sie sich in einem Traum. Sie hatte dergleichen im Film gesehen, davon gelesen, und es sich auch einmal vorgestellt – aber das konnte mit der Wirklichkeit nicht annähernd mithalten. Die Erde, die den Menschen geboren hatte, wirkte mit einmal unendlich weit weg. Tanja fühlte jedoch keine Angst, sondern Stolz. Das alles hatten Menschen möglich gemacht – zuerst und immer wieder auch die Einwohner ihrer Heimat.
Die Stimme des Piloten riss Tanja aus ihren Tagträumen, doch die Ankündigung versöhnte sie mit der Störung: „Achtung – in 30 Sekunden schalte ich die künstliche Schwerkraft ab. Meldet euch sofort, falls Probleme auftreten. Und viel Spaß.“
Tatsächlich – eine halbe Minute später spürte Tanja, wie sie sich langsam vom Sitz zu lösen begann. Sie öffnete die Sicherheitsgurte, wie auch ihre Kameraden um sie herum, obwohl ihr das Herz bis Hals klopfte. Dann begann sie zu schweben. Es war unbeschreiblich, nicht einmal annähernd das gleiche wie das Training im Wassertank. Die kleinste Bewegung veränderte ihre Position, ließ sie zur Seite, nach oben oder unten schweben. Es war auch ein wenig unheimlich – der vollständige Verlust dessen, was man gewöhnt war – aber während der eine oder andere Kadett sich mit leicht käsigem Gesicht binnen kurzen wieder an den Sitz klammerte, genossen die anderen die Erfahrung aus vollen Zügen. Sie alle waren etwas enttäuscht, als man sie warnte, dass man bald die Schwerkraft wieder einschalten würde.
Nach der Schwerelosigkeits-Einlage wurden die Kadetten nacheinander zu zweit in das Cockpit gerufen. Tanja gehörte zur ersten Gruppe. Der Pilot war ein drahtiger Mann unbestimmten Alters. Er grinste die Jugendlichen an und examinierte sie über die verschiedenen Anzeigetafeln und Armaturen. Sie alle hatten natürlich schon Simulatoren „geflogen“, zum Vergnügen, mitunter auch in der Schule oder bei der Osoviatkosma. Der Raumfahrer lachte schließlich aufgeräumt: „Nicht schlecht für solche Knirpse wie euch. Aber es ist noch was anderes, wenn man das alles im Augen behalten muss, wenn man sich durch ein Asteroidenfeld schlägt – oder wenn sie auf dich schießen.“
Tanja musterte ihn neugierig: „Haben Sie denn in den Streitkräften gedient?“
Der Mann lachte erneut, lauter diesmal: „Nein danke, ich doch nicht. Frachterpilot – 36 Jahre lang. Ich bin aber einmal von Piraten abgeschossen worden, und zweimal hätte nicht viel gefehlt. Und über Pandora…“ doch dann überlegte er es sich anders, was immer er auch gerade hatte sagen wollte. Er nickte der jungen Russin zu und deute auf den Copilotensitz: „Willst du mal übernehmen?“
Das Mädchen starrte ihn mit großen Augen an: „Darf ich? WIRKLICH?“
Sie wartete gar nicht erst die Erlaubnis, sondern kletterte auf den Sessel – den sie erst mal etwas höher stellen musste. Dann legte sie mit einem Seitenblick auf den Piloten die Hände um den Ersatzsteuerknüppel des Copiloten. Der Pilot grinste: „Gut, dann zeig mal, was du kannst. Ich gebe dir die Anweisungen.“ Er nickte Tanjas Kamerad zu, der neidisch zusah: „Du darfst an die Waffenkontrollen. Ich weise dir die Ziele an – hier gibt es ein paar Übungsziele, bisschen Raumschrott, den wir mit Markern geimpft haben. Da kannst du zeigen, ob du reagieren und zielen kannst. Und dann tauscht ihr – in Ordnung?“
Die junge Russin war sich später nicht so ganz sicher, wie lange dieses Erlebnis gedauert hatte. Zumeist fehlten ihr auch die Worte, ihre Gefühle angemessen zu beschreiten. Es war eine Mischung zwischen Trance und Rausch, aber ohne deren Nachwirkungen – außer der Sehnsucht, das wieder zu erleben. Zuerst als Pilotin – sie war erst noch unsicher, doch als der Pilot sie ermunterte, wurde sie ruhiger, und bald flog sie jedes Manöver, das er anordnete. Dann wechselte sie zum Feuerleitstand und schoss auf die Anzeigen. Das zweite Shuttle tummelte sich in sicherer Entfernung.
Als sie das Cockpit verlassen mussten, fielen beide geradezu dem Pilot um den Hals. Der Raumfahrer grinste schief, fast etwas traurig, weil er selber nicht mehr den Zauber des Neuen empfand: „Ich denke, jetzt habt ihr es verstanden. Ihr wisst ja, wie man so sagt: die Erde ist die Wiege des Menschen…“ und beide Jugendlichen beendeten das Zitat: „doch wie bei seiner Wiege kommt eines Tages die Zeit, da er sie verlassen muss…“
Im Laderaum herrschte andächtiges Schweigen, als sich das Shuttle auf den Rückweg machte. Normalerweise hätten die Jungen und Mädchen voreinander angegeben oder sich enthusiastisch über ihre Erlebnisse ausgetauscht. Doch irgendwie wollte keiner den Zauber, der noch etwas nachwirkte, brechen, oder als Störenfried unangenehm auffallen. Dieses andächtige oder verlegene Schweigen – manchmal war der eigene Überschwang fast peinlich – hielt an, bis sie gelandet und die Shuttles wieder gestartet waren.
Erst am Boden fand Tanja wieder Worte: „Ich wünschte mir, ich könnte DAS zum Beruf machen. So wie der Pilot. Fliegen – und die ganze Republik kennen lernen.“ Zu ihrer Verlegenheit hatte sie zu laut gesprochen. Koše
ka hatte sie gehört. Das andere Mädchen kicherte: „Da musst du aber noch besser in Physik, und vor allem beim Schrauben werden.“ Tanja maß sie mit einem grimmigen Blick: „Glaubst du etwa, das könnte ich nicht schaffen?“ Koše
ka zuckte mit den Schultern: „Selbst wenn – ich glaube nicht, dass deine Eltern davon begeistert werden. Sie würden sicher sagen, das sei nichts für Mädchen.“
„Pah!“ meine Tanja verächtlich: „Wir sind doch nicht im Mittelalter. Frauen können alles werden.“ Auf das Gekicher einiger ihrer männlichen Kameraden fügte sie wutentbrannt hinzu: „Oder etwa nicht? Was ist mit Katâ Budanova, mit Lidiâ Litvâk, was mit Natal’ja Guseva und Irina Tarasova****? Glaubt ihr etwa, die haben sich davon abhalten lassen, nur weil sie Mädchen waren? Die sind nicht nur Pilotinnen geworden, die haben auch im Krieg gekämpft!“
Lisënok, der so etwas wie der inoffizielle Anführer war, schlichtete den Streit: „Ruhe, ihr alle. Ich denke, wir alle haben Recht auf unsere Träume.“ Er lachte: „Aber ich denke, wir alle wollten schon unbedingt mal was werden – und nächste Woche wieder was anderes.“ Womit er durchaus Recht hatte. Tanja gab keine Widerworte. Aber insgeheim dachte sie darüber nach, wie schön es wäre, noch einmal so fliegen zu können…
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Gegenwart, 2637, Medusa-System
Als Lilja geendet hatte, schwieg sie erst einmal – ihr Zuhörer auch. Die Russin schien sich noch halb in der Vergangenheit zu befinden. Dann, fast als wäre ihr die Retrospektive unangenehm, ergriff sie in einem bemüht aufgeräumten Ton wieder das Wort: „Den Rest der Geschichte kannst du dir vorstellen. Ich war gut genug, um meinen Plan weiterzuverfolgen. Und anders als manche andere Wünsche, was ich mal werden wollte, bin ich dabei geblieben. Ich habe gut gelernt – auch Technik und Physik. Irgendwann kam ich auf die Idee, dass ich bei den Streitkräften meine Wünsche erfüllen UND meinen Idolen nacheifern konnte – gut, damals war das Gefährlichste, womit zu rechnen war, Piraten – und auch so die Galaxis sehen würde. Das klang noch besser als eine private Anstellung, auch wenn die vielleicht besser bezahlt wird. Aber was hätte ich denn im Zivilberuf anders als Shuttle-Operaterin werden können? Das wäre schon viel gewesen, aber wie würde es dann wohl sein, einen Jäger zu fliegen? Beim Militär konnte ich hoffen, vielleicht sogar richtige Karriere zu machen, und wenn mich meine Heimat eines Tages braucht…“ Sie lachte gallig: „Damals dachte ich, ich würde vielleicht irgendwann man auf Piraten schießen, auf Abschaum, der unseren Leuten auflauert.“
Sie schwieg kurz, bevor sie mit ruhiger Stimme fortfuhr: „Nach der Schule bin ich dann also zur Flotte gegangen. Die waren froh über jemanden, der wie ich schon Vorbildung hatte. Deshalb kam ich nach der Grundausbildung fast sofort auf einen Außenposten, in eine gute Einheit. Karrieresprungbrett, und ein Ort, wo man so viel fliegen und die Augen aufsperren kann, wie man will – statt nur Herumgekrieche in den inneren Systemen.“ Jetzt klang sie wieder etwas bitter: „Tja, ich dachte, ich hätte die große Karte gezogen. Konnte ja keiner wissen, dass der Krieg dazwischenkommen würde. Halbes Jahr später war ich drin. Man soll sich immer vor dem hüten, was man sich wünscht.“ Doch dann fügte sie trotzig hinzu: „Aber klar ist auch – ich würde es – ALLES – noch mal machen.“
Ace schien über das gehörte nachzudenken. Er war wohl vor allem noch in Gedanken bei der Lilja von vor zwölf Jahren: „Hm, danke, dass du es mit erzählt hast. Das klingt so ganz anders, als du dich heute gibst.“
Lilja klang etwas sarkastisch, als sie antwortete: „Ich hoffe doch, das überrascht dich nicht. Ich bin nicht vollkommen fertig aus der Gussform gekommen – wer tut das schon. Wenn ich ehrlich bin, ich selber erkenne mich auch kaum wieder, wenn ich meinem alten Ich in die Augen sehe.“ Mit etwas mehr Schärfe als eigentlich nötig fügte sie hinzu: „Nicht, dass es etwas gibt, wegen dem ich mich schämen müsste, klar?“ Sie schien das als Abschluss dieser Gesprächsphase zu betrachten.
Doch Ace war offenbar noch nicht mit ihr fertig: „Sag mal, Tanja…warst du eigentlich glücklich damals? Ich meine, glücklicher als heute?“
Das Schnauben der Pilotin hätte einem Kaltblüterpferd mit Nasennebenhöhlenentzündung Ehre gemacht: „Was ist das denn wieder für eine komische Frage? Natürlich war ich’s. Meinst du etwa, Akarii zu killen ist schon immer mein Traum gewesen? Dass ich unbedingt einen Krieg wollte, um meinen Heldinnen nachzueifern? Wenn du das über mich denkst, hätte ich echt Grund auf dich sauer zu sein. Ja, ich mache das gerne – aber eben nur weil diese Schuppenflechten unbedingt den Krieg anfangen mussten. In meiner Lebensplanung hatte das damals ganz gewiss keinen festen Platz, und ich denke, ich hätte auch ganz gut darauf verzichten können. Wie auch auf den ganzen anderen Rest. Ich träume manchmal heute noch davon, so fliegen zu können wie beim ersten Mal – aber ein Stück weit hat mir der Krieg das versaut. Ich denke immer auch ein Stück weit daran, wie es ist, wenn sich ein Fritz hinter dich hängt. Und wie viele meiner Kameraden hier draußen geblieben sind. Vielleicht wird es nie wieder so wie damals. Und ich selber kann auch nicht wieder so werden – das wäre ja auch ein bescheuerter Wunsch. Man verändert sich, sichtbar oder nicht, auch weil man sich verändern muss. Doch das ist kein Grund zum flennen. Erwachsen muss jeder mal werden. Im Grunde ist das ganz einfach – du jammerst nicht wegen dem, was mal war, was du dir mal gewünscht hast oder was hätte seien können. Du lebst mit dem, was du hast, tust, was du tun musst – und wenn dir das Freude bereitet, umso besser. Deine Heimat braucht dich, du bist da – ni
evo, du musst die Sache angehen. Da ist der Feind – bring ihn um. Es geht nicht darum, ob du das wolltest oder nicht. Du wärst ein erbärmlicher Jämmerling, würdest du dich drücken. Ich dachte, das hätte ich dir inzwischen erklärt. Ich hasse die Akarii nicht wegen meiner Narben oder meinen Wunden, die sind letzten Endes nur etwas, das mich was angeht. Aber der Krieg, das ist die eigentlich wichtige Sache, da?“ Sie lachte sarkastisch: „Dafür bin ich sogar bereit, bei SOWAS wie dieser glorreichen Expedition mitzumachen.“
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* Mihail Alekseevi
Lavrent’ev – bekannter Sohn der Stadt Kazan, Mathematiker und Hydrodynamiker mit internationalem Ruf.
** Georgij Konstantinovi
Mosolov – berühmter Test- und Extrempilot aus Kazan während der Ersten Sowjetunion, Koryphäe auf dem Gebiet der Ausbildung von Piloten.
*** Basmat
ej-Krieg – bei dieser Auseinandersetzung handelte es sich um einen erbitterten Konflikt der Sowjetischen Staatenkonföderation in Zentralasien und der Kaukasusregion kurz nach ihrer Gründung. Nach offizieller Lesart waren die Gegner allesamt islamistische Terroristen und Kriminelle, doch tatsächlich handelte es sich um ein Konglomerat aus religiösen Fanatikern, aber auch gemäßigten muslimischen, christlichen und wohl auch anders- oder gar nicht gläubigen Nationalisten, die sich der Einverleibung in den neuen Staatenbund – und ihren Regierungen, die dem zugestimmt hatten – widersetzten. Auch einige Nachbarstaaten, die mehr oder weniger freiwillig als Rückzugsgebiet der Aufständischen fungierten, wurden in die Kampfhandlungen hineingezogen. Der Krieg (der offiziell nie als solcher galt, sondern als Polizeioperation bezeichnet wurde) endete 2068 nach sieben Jahren schwerer Kämpfe mit einem Sieg der sowjetischen Streitkräfte, obwohl sich vereinzelte Guerilla-Aktionen und Anschläge noch fast zwei Jahrzehnte hinzogen.
**** Katâ Budanova und Lidiâ Litvâk waren berühmte Pilotinnen in der Roten Luftwaffe im Großen Vaterländischen Krieg. Beide fielen, nachdem sie jede wahrscheinlich über zehn deutsche Maschinen abgeschossen hatten. Natal’ja Guseva alias Vol
ica (Wölfin) war Kommandeurin einer gefürchteten Jagdbomberstaffel während des Basmat
ej-Krieges (2061 – 206

und eine hochdekorierte Heldin der Sowjetischen Staatenkonföderation. Irina Tarasova alias Lasto
ka (Schwalbe) war eine russische Fliegerheldin und beste Jagdpilotin der Roten Luftwaffe während der Intervention im Krieg in Südamerika (2168 – 2179). Sie übertraf jeden ihrer männlichen Kollegen und stieg bis in den Rang einer Generalin auf. Zuletzt war sie Kommandeurin des Luftwaffenkontingents der sowjetischen Interventionsstreitkräfte, später Befehlshaberin der gesamten sowjetischen Luftwaffe. Die vier Pilotinnen waren so etwas wie Ikonen innerhalb der neosowjetischen Streitkräfte (unter russischen Soldaten sind sie es bis heute) und sie werden auch von vielen nichtrussischen Frauen des Fliegerkorps als Vorkämpferinnen für die vollständige Emanzipation betrachtet.
Cattaneo
Ace
Nachdenklich betrachtete ich meine Anzeigen. Nachdenklich überdachte ich das Gehörte. Und schließlich musste ich leise lachen.
"Was?", fragte Lilja ärgerlich.
Ich zwang mich dazu, mit dem Gelächter aufzuhören, so amüsant meine letzten Gedanken auch gewesen waren. "Nun,", sagte ich nach dem letzten Glucksen, "du wirst wohl böse mit mir sein müssen, weil ich genau das immer von dir gedacht habe. Dass du eine Vollzeit-Akarii-Hasserin bist. Tut mir Leid, aber du warst hervorragend darin, deinen Job zu machen und es als Bestimmung hinzustellen. Allein wenn ich daran denke, was du mir bei unserem ersten Treffen im Boxring um die Ohren gehauen hast, klang es immer, als wäre es etwas tief persönliches zwischen dir und den Akarii."
"Ace – natürlich hasse ich sie. Aber ich habe mir diesen Hass nie gewünscht. Und so lange wir im Krieg sind und sie nicht auf den Knien, werde ich sie hassen. Das ist es doch, was einen Krieg ausmacht. Und entschuldige bitte, dass ich alle Akarii über einen Kamm schere."
"Für mich klingt das mehr nach Streit, nicht nach tiefstem Hass." Ich lächelte dünn. "Dann sind unsere Standpunkte doch viel näher, als ich eigentlich dachte. Du steigst in meiner Sympathie, Tanja."
"Ich steige? Wo war ich denn vorher? Oder besser gefragt, was hat deine Sympathie für mich vorher eingeschränkt, Wunderpilot?"
"Willst du eine Liste?", erwiderte ich trocken.
"Was denn, was denn? Sind deine tiefen Gefühle für mich bereits wieder eingefroren?"
"Meine Gefühle für dich haben nichts mit meinem Verstand zu tun, Lieutenant Commander Pawlitschenko. Das ist eine rein empirische Sache. Aber es gibt da schon ein paar Punkte, die... Die ich heikel finde."
"Was? An mir? Heikel?" Für einen Moment schien sie sprachlos zu sein. Vielleicht weil ich so dreist gewesen bin, sie zu kritisieren. Vielleicht weil ich zugegeben hatte, ihre Motive vollkommen falsch eingeschätzt zu haben. Vielleicht weil ich sie bei irgendetwas erwischt hatte. Vielleicht ein wenig von allem. "Es gibt da ein oder zwei Dinge, die ich nicht an dir mag, um es mal offen auszusprechen."
Ein langer Seufzer erklang. "Was denn, Superpilot? Du wirst mir doch jetzt nicht erzählen, dass ich dir zu trocken bin? Oder das du meine Narben nicht hübsch genug findest? Oder ärgert es dich, dass ich mehr Abschüsse habe als du?"
Ich prustete leise. "Diese Dinge könnten mir nicht mehr egal sein, als sie ohnehin schon sind. Obwohl ich zugeben muss, dass ich dich nach Kriegsende zuallererst auf die chirurgische Station schleifen würde, damit die Narben weg kommen, und ich mich noch mal in dich verlieben kann."
"Ha, ha. Sehr komisch, Superpilot. Du weißt schon, dass du das Einfühlungsvermögen eines Uniform-Trägers beim einparken hast, oder? Ich trage meine Narben ja auch nicht zum Spaß mit mir rum."
"Sondern?", hakte ich nach.
Stille antwortete mir. Für einen Augenblick glaubte ich mehr als einen Seufzer von ihr zu hören. "Ich lebe noch, Clifford. Ich habe überlebt, und bis auf Alex wurde meine ganze Staffel ausgelöscht. Ich habe... immer noch Erinnerungen an diese Zeit. Und ich fühle mich schuldig. Schuldig, nicht genügend Akarii vernichtet zu haben, schuldig, meine Kameraden nicht beschützt zu haben, schuldig, überlebt zu haben, schuldig, noch fliegen zu können. Ich weiß, das ist nicht klug von mir, aber du weißt ja aus erster Hand, wie irrational Gefühle sein können. Die Narben...sie sind einfach nicht wichtig dagegen. Zuerst habe ich einfach nicht die Zeit gehabt, mich darum zu kümmern. Wie kann ich nur Zeit oder Geld dafür ausgeben, wenn wir im Krieg sind? Was spielt es denn für eine Rolle, wie ich aussehe? Und dann, im Laufe der Zeit, sind sie einfach ein Teil von mir geworden. Ich sehe sie morgens nach dem Aufstehen und weiß, dass ich eine Pflicht zu erfüllen habe, für jeden meiner toten Kameraden. Ich habe eine Aufgabe und ich kann sie erfüllen. Das hilft mir. Das stützt mich. Damit dränge ich die Schuldgefühle ein wenig zurück. Aber selbst wenn ich diese Narben entfernen lasse, die in meiner Seele werde ich ewig behalten."
"Sie werden weniger werden. Dünner. Du wirst sie vergessen, wenn du es zulässt.", sagte ich leise.
"Als wenn du in meiner Haut stecken würdest.", erwiderte sie halb spöttisch, halb belustigt.
"Camp Hellmountain, schon vergessen? Ich...habe diese Erfahrung sehr gut verdaut, fast schon vergessen. Ich weiß nicht so recht, wie ich das geschafft habe, aber wenn ich mich heute ansehe und den Cliff, der damals auf dem Deck der alten RED stand, so bin ich wohl weiser, bescheidener, selbstverliebter. Aber ich trage die Schuld des Überlebenden nicht mit mir. Wohl aber die Pflicht. Genau wie du, Lilja." Das waren gute Worte gewesen, ich spürte es. Und zum ersten Mal seit Jahren hatte ich das Gefühl, sie hätte mir zugehört. Allerdings dauerte dieses Gefühl nur eine flüchtige Sekunde, und ich fürchtete schon, sie würde mich wieder "Fritzen" rufen, wie sie es früher zu tun gepflegt hatte, als sie mich Akarii-Freund genannt hatte.
"Also, was ist es dann? Wenn nicht die Narben, was stört dich an mir?", begann sie unvermittelt.
Ich grinste schief. "Du bist eine Planetengeborene."
Ich hörte sie ungläubig nach Luft schnappen. "Was, bitte?"
"Du bist auf einem Planeten aufgewachsen. Da unten, wo Wasser vom Himmel fällt, und ständig irgendein Wind geht, wo der größte Leuchtkörper dich verbrennen kann und den halben Tag sowieso nicht da ist, wo du kein verdammtes Sicherheitsschott in Reichweite hast... Es ist eine erstaunliche, verrückte Welt. Ich mache gerne Urlaub in ihr, vor allem bade ich gerne mal in richtig großen Seen und im Meer. Die Dimensionen sind so unvorstellbar. Das gefällt mir. Aber dort leben? Niemals den Rhythmus eines Raumschiffs mehr zu hören, die Vibrationen nicht mehr zu spüren, nein, das könnte ich nicht." Ich atmete tief durch und sammelte mich für eine Frage, die beiläufig klingen sollte, aber sicher nicht war. Ob sie sich vorstellen konnte, dauerhaft im Weltraum zu leben. Aber Lilja kam mir zuvor. "Okay, erzähl mir davon."
"Was, bitte?"
"Ich habe dir von meiner Schulzeit erzählt, und jetzt bist du dran, Superpilot. Erzähl mir von deiner Kindheit, hier draußen im Weltraum."
Ich schnaubte amüsiert. "Willst du was Bestimmtes hören, oder soll ich was Willkürliches auswählen?"
"Irgendwas mit viel Weltraum, bitte."
Nun lachte ich offen. "Das betrifft neunundneunzig Prozent meines Lebens, Lilja."
"Na, dann hast du ja genügend Auswahl." Ich glaubte sie dünn lächeln zu sehen. "Erzähle von deinem magischen Moment, an dem du auch Pilot werden wolltest, meinetwegen."
Ich hörte ein leises Knacken über die Leitung. "Lilja?"
"Nur meine Koffeinschokolade. Meine Notfallration. Hast du nichts drüben?"
"Ich habe meine Crickers. Ich liebe dieses Zeug."
"Na dann können wir ja eine gemeinsame Mahlzeit abhalten, und du erzählst."
"Einverstanden."
Zwölf Jahre zuvor, Wega-System:
"Guten Morgen, Klasse."
"Guten Morgen, Herr Lehrer." Peinlich genau achtete ich darauf, dass Jean und Ian unseren neuen Klassenlehrer anständig begrüßten. Ich war der Älteste, und ich hatte die Verantwortung. Außerdem war ich gerne der Boss. Aber ausnahmsweise blamierten die beiden mich nicht. Ebenso wenig wie Carmichael und Sally, die ebenfalls an der Schulungseinheit teilnahmen.
Der Lehrer schritt an uns vorbei. Oder besser gesagt, sein Avatar, der in Echtzeit zu uns projiziert wurde, schritt an unseren Avataren vorbei, während er durch den virtuellen Klassenraum ging, der auf unseren Arbeitsmonitoren angezeigt wurde.
Er war groß gewachsen, aber sehr dürr. Ich hatte recherchiert und wusste, dass Mr. Hardin vom achten Mond des dritten Planeten stammte, Octus. Trial war ein Gasriese und umkreiste die rote Riesensonne Wega auf einer Bahn, die seine Monde in die sogenannte Ökosphäre befördert hatte. Die sonnennäheren Planeten hatte Wega gefressen, damals, als sie sich zum Roten Riesen aufgebläht hatte. Aber nun herrschten auf den elf Monden Trials geradezu perfekte Bedingungen für das Terraforming. Octus war die erste Welt, auf der es abgeschlossen war, auch wenn es noch Jahrzehnte dauern würde, bis die Schwerkraft künstlich von derzeit einem halben Gravo auf den Standard von einem Gravo angehoben werden konnte. Dementsprechend war Hardin schlank und hoch gewachsen. Und würde hier an Bord der CARNEGIE wahrscheinlich schon nach einem halben Tag schnaufend zusammenbrechen. Das All war weit, bunt, aufregend und immer für neue Informationen gut, wie ich zufrieden feststellte.
"Wir haben fünf neue Schüler bei uns, die ab jetzt für die nächsten vier Wochen an den Systemsitzungen teilnehmen werden.", sagte der Lehrer. "Zugleich müssen wir uns von Kerry und Luto verabschieden. Ihr Frachter, die COLON, verlässt heute das Wega-System."
Kurz dachte ich an das Schulprinzip, dessen Mühlen mich gerade in der Mangel hatten. Wir, die Kinder von Raumfahrern, manchmal Sternenreisende genannt, manchmal auch Spacer und bei nicht so wohlwollenden Menschen Zigeunervolk, besuchten natürlich keine reguläre Schule. Und es waren auch selten genügend Kinder an Bord eines Zivilschiffs, um einen hauptberuflichen Lehrer zu rechtfertigen. Das hätte ohnehin ein weites Aufgabenfeld erfordert, denn als mein Cousin Justus seinen Abschluss machte, hatte er die Hochschulreife abgelegt. Unser System basierte auf der überlichtschnellen Kommunikation, und dem Aufwand der republikanischen Schulbehörde, in den bewohnten Systemen interplanetare Schulen einzurichten. Diese Schulen schickten sich alle Informationen über die Schüler hin und her, und die Lehrer stellten sich auf unseren bisher festgestellten und geprüften Wissensstand ein. Das funktionierte natürlich nur bei einem genormten Schulsystem, und bei einigem Verwaltungsaufwand. Aber die Eltern waren froh, dass ihre Kinder eine reguläre Schule besuchen konnten und reguläre Abschlüsse machten. Und die Republik war froh, dass sie keine Familien per Gesetz auseinander reißen musste und dennoch ihrer Pflicht nachkam, den Kindern der Spacer eine bestmögliche Ausbildung angedeihen zu lassen.
Für Jean, Ian und mich bedeutete dies, dass wir im Wega-System genau dort weiter machten, wo wir vor dem Sprung aufgehört hatten. Nur an den neuen Lehrer mussten wir uns gewöhnen. Bei unserem letzten Besuch vor einem Jahr war er noch nicht für uns zuständig gewesen. Allerdings bedeutete das auch, dass ich in einer Woche fünf Klausuren hatte. Und ich war verdammt schlecht vorbereitet. Mathe, Physik, Raumkunde, Grammatik und Warenwirtschaft standen auf dem Plan. In drei der Fächer, Warenkunde, Grammatik und Physik, wackelte meine allzu sicher geglaubte vier beträchtlich. Teufel, da würde ich glatt mal lernen müssen.
Die Vorstellung war der übliche Sermon. Es war natürlich hilfreich, dass ich bereits einige der anderen Schüler, die virtuell an ihren Pulten saßen, kannte. Dabei war der teilweise beträchtliche Altersunterschied egal. Tutoriert wurden wir nach unseren Altersklassen. Im Weltraum der Ballungsgebiete wie Sol, Texas und Sterntor hingegen gab es meist genügend Schüler, um einzelne Klassen zu eröffnen.
Das Avatarsystem wiederum gab uns die Möglichkeit, mit den anderen Schülern zu kommunizieren, also auch nach dem Unterricht mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. In einigen Systemen kam es auch vor, dass wir per Bildfunk am Unterricht einer regulären, planetengebundenen Klasse teilnehmen konnten. Aber da sich unser Lehrsystem meistens von dem der Bodengebundenen unterschied – jeder Planet hatte sein eigenes Lehrprogramm – war das nur selten der Fall.
Im Anschluss an die Vorstellungen, bei der ich wieder ein waches Auge auf meine Geschwister hatte, schloss sich eine Freistunde an. Traditionell wurde von uns erwartet, dass wir uns dabei in der Klassengemeinschaft betätigten, die Teilnahme war aber freiwillig. Was für uns bedeutete, dass aus unseren dreiundvierzig potentiellen Klassenkameraden plötzlich die Hälfte wurde. Der Rest hatte sich für die Pause abgeschaltet. Das war nicht unbedingt böse Absicht oder Desinteresse. Aber es standen Klausuren ins Haus, und für viele Kinder von Spacern waren die Freistunden die einzige Möglichkeit zu lernen. Das Avatarsystem und das Schulsystem wurden staatlich gefördert, aber letztendlich mussten wir an Bord mitarbeiten. Das war auf der CARNEGIE nicht anders als auf anderen Frachtern.
"Hi, Cliff.", sagte eine bekannte Stimme. Ich bemerkte neben meinem Avatar den Avatar eines braungebrannten Europäers. "Stan, hallo. Wie lange ist das her?"
Der hagere Blondschopf grinste mich an. "Fast zwei Jahre. Du erinnerst dich? Alle Frachter durften acht Wochen lang Manticore nicht verlassen, weil es eine akute Piratenwarnung für die Route zu den Konföderierten gab."
"Oh ja, was für eine schöne Zeit. Ich hätte ja liebend gerne mal den Planeten besucht, aber diese Navy-Trottel mit ihren nervigen Sperrgebieten verderben einem ja jeden Spaß."
Stan grinste mich überlegen an. "Daran merkt man, was für ein Kindskopf du noch bist, Clifford. Seit wann will ein ordentlicher Raumfahrer auch auf einen Planeten runter? Während du auf der CARNEGIE gehockt und Trübsal geblasen hast, war ich auf der DEUTSCHLAND und habe bei einer Gefechtsübung zugesehen."
"Wow! Du warst auf einem Träger?" Angemessen begeistert sah ich ihn an.
"Während einer Gefechtsübung.", wiederholte er um sicherzugehen, dass ich es auch wirklich gehört hatte. "Ich durfte sogar einen der Jäger raus schießen." Sein Avatar grinste breit und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Und für Wega habe ich auch schon was organisiert. Die Red Star Minutemen veranstalten eine Flugschau mit Pilotentraining."
Elektrisiert erhob ich mich. Die RSM waren zwar nur eine Garnisonseinheit, aber gewiss keine schlechte. Garantiert nicht vom Kaliber der berühmten Blue Angels, aber es waren gottverdammte Militärpiloten! Ich hätte einen Arm dafür geopfert, um einer von ihnen zu sein.
"Schade, dass du nicht schon letzte Woche ins System gesprungen bist, Clifford.", sagte er gedehnt und musterte mich gelangweilt. "Da haben sie nämlich Trainingsrunden auf ihren Zweisitzern verlost. Phantom, um genau zu sein."
Grenzenlose Enttäuschung machte sich in mir breit. Okay, Flugschauen waren schon was geiles, aber selbst am Steuer sitzen zu können, selbst zu fliegen, das war das wahre Leben. Seit ich mal mit einem der Geleitjäger der CARNEGIE hatte mitfliegen dürfen, hatte mich das Hochgefühl eines solchen Fluges nicht mehr verlassen. Dad hatte versprochen, dass ich mit siebzehn die Tauglichkeitsprüfung ablegen durfte, aber bis dahin war es noch weit. Eine Lehrstunde von anderen Profis wäre da wirklich hilfreich gewesen.
"Trainingsrunden? Und du hast eine gewonnen?", mischte sich Jean ein. Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass der kecke kleine Frechdachs sich einmischte. "Ist ja geil. Wo, auf Octus?"
Stan grinste nur noch breiter. "Kommst du zum gucken, Jean? Ihr fliegt doch sowieso Octus an, oder?"
"Klar, wir legen übermorgen an. Dann haben wir den Entladezyklus, und da können wir uns in drei Tagen ausklinken, wenn wir schnell sind. Reicht das noch für die Flugschau?"
Stan winkte ab. "Masse. Sie ist erst in fünf Tagen. Wenn du gucken kommst, mache ich ein besonderes Flugmanöver für dich, Jean."
"Für mich nicht?", murrte ich.
"Für dich habe ich was besseres, Clifford." Sein Avatar grinste nun von einem Ohr bis zum anderen. "Das kostet dich aber ein Date mit deiner Schwester."
Entsetzt sprang ich auf. "Sie ist doch keine Ware! Und überhaupt, was hast du überhaupt für mich?"
"Rate mal, wer eine der Trainingseinheiten übrig hat und sie dir schenken würde...Vielleicht für die Mütze deines Opas, die mit dem Redemption-Logo."
Nun war es geschehen, ich kämpfte arg mit meiner Fassung. Flugstunden, was für eine Chance! Aber dafür Opas Baseball-Mütze hergeben, die er als Skipper der REDEMPTION getragen hatte, meinen allergrößten Schatz?
Vorsichtig schielte ich zu meiner Schwester rüber. "Jean, hast du was dagegen, mit diesem hässlichen Kerl auszugehen? Ich verprügle ihn auch, wenn er was Dummes versucht."
Ian, der hinter mir saß, lachte bellend. "Da weiß ja einer endlich mal, wie man Prioritäten setzt. Ein Stück Stoff über seine eigene Schwester. Gut, dass ich kein Mädchen geworden bin."
Jean und ich sahen ihn spöttisch an. "Wissen wir noch nicht."
Sein Lachen blieb ihm im Halse stecken. Dass er von der Größe her eher nach den Davis kam, und nicht so sehr nach den Holcombs wie ich, hatte ihn schon immer gewurmt. Es war auf jeden Fall eine erstklassige Methode, um ihn eine Zeitlang zum Schweigen zu bringen.
Jean musterte mich überlegen. "Sieh an, sieh an. Heute mal nicht der Überbeschützer, was? Okay, ich mach's."
Stan riss siegreich die Arme hoch und jubelte.
"Aber du bezahlst, Cliff!", bestimmte sie energisch. "Und du spionierst uns diesmal nicht hinterher!"
Ich schluckte hart und ärgerlich. "Wenn..."
"Cliff!", sagte sie hart und ernst. "Ich kriege deine Mütze. Und wenn du nicht Wort hältst, behalte ich sie."
Noch ärgerlicher räusperte ich mich. Damit hatte sie mich absolut in der Hand. "Okay. Du kleine Halsabschneiderin wirst mal eine ganz hervorragende Händlerin abgeben."
"Und was werde ich abgeben?", fragte Ian von hinten.
"Eine wunderschöne Braut, was sonst?"
Er schlug nach mir, und ich wich aus. Nicht, dass mir die Babyfäuste eines Zwölfjährigen wehtun konnten, aber das gehörte dazu.
"Tja, weniger heulen und mehr draußen arbeiten, dann wird Cliff schon aufhören, dich zu gängeln", stellte Jean fest. Sie war schon immer ein bisschen fixer in allen Dingen gewesen, auch darin unseren kleinen Bruder zu quälen. Wenn sie ihn nicht gerade vergötterte. Oder schminkte. Oder beides.
Ian schüttelte sich. Mit 'draußen' war natürlich das Vakuum gemeint. Ich konnte meine Reparatureinsätze im Raumanzug oder in der Vakuumblase schon nicht mehr zählen - Ian hatte sich bisher nur in die Vakuumblase getraut, und selbst dabei jede Sekunde in Todesangst verbracht. Gut, es war wirklich nicht jedermanns Sache, nur von einer dünnen Kuppel aus Spezialgewebe auf der Außenhülle eines Raumschiffs zu arbeiten, wenn ein kleiner Riss schon dein Ende bedeuten konnte. Immerhin stand eine solche Kuppel unter dem Druck der beheizten Atemluft. Andererseits bedeutete dieses aufwändige Verfahren die Möglichkeit, manche Dinge viel leichter zu reparieren, als wenn man in einem klobigen Raumanzug steckte.
"Ich mag das Vakuum nicht.", gestand er. "Ich bin lieber drinnen."
"Ian kann auch mitkommen. Nelly kann sich um ihn kümmern.", bot Stan an, um das Gespräch auf den eigentlichen Kern zurück zu bringen.
"Nelly ist nur ein Jahr älter als ich. Und die soll auf mich aufpassen?", murrte Ian.
"Eigentlich sollst du ja auf sie aufpassen. Auf so einer Flugschau ist so viel los, wie schnell kann sie da verloren gehen. Aber das kann ich ihr ja so kaum sagen, oder?" Stan grinste siegesgewiss. Und auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Geschickt und raffiniert hatte sich Stan gerade ein Date geangelt und seine drei größten Störenfriede ausgeschaltet. Und dadurch, dass er seiner Schwester exakt das gleiche über Ian erzählt hatte, würde sie mit einer ähnlichen Begeisterung zustimmen wie Ian es gerade tat. "Okay, ich mach's! Dad sagt immer, man muss zu allen Mädchen nett sein, man weiß ja nie ob man mit ihnen nicht vor dem Traualtar landet!"
"Also abgemacht. Ihr kommt zur Flugschau, und du kriegst eine von meinen Trainingsrunden, Cliff."
"Abgemacht!", rief ich enthusiastisch.
***
"Okay, mein Junge. Wir leben zwar in Friedenszeiten, aber in unserer hochtechnisierten Welt kann auch mal was schief gehen. Das bedeutet, dass dieser wundervolle Flieger aus den unmöglichsten Gründen von einer Sekunde zur anderen schrottreif sein kann. Sei es durch einen Fehler im Motor, sei es durch Mikrometeoriten. Es muss nicht mal ein Pirat sein, der auf uns schießt. Wenn ich also PULL! PULL! PULL! rufe, greifst du entweder zum gelbschwarzen Zug zwischen deinen Beinen oder über deinem Kopf, und löst den Schleudersitz aus. Hm, nimm den zwischen den Beinen. Ich glaube für den oben bist du noch etwas klein."
Ich nickte ergeben. First Lieutenant Andropow war das, was man in der Miliz einen Piloten mit Erfahrung nannte. Er war schon gegen Piraten geflogen und hatte sich einen der in Friedenszeiten so seltenen und begehrten Abschüsse geholt. Damit galt er heutzutage schon als Veteran.
"Der Jäger sprengt zuerst die Kanzel ab. Danach fliegt der Sitz raus. Zieh so schnell wie möglich, denn wenn ich beim zweiten PULL! bin, habe ich schon längst dran gezogen. In dieser Situation kommt es auf Sekundenbruchteile an. Wenn du beim dritten PULL! noch sitzt, ist es vielleicht dein Todesurteil. Und noch mal zum Verständnis, Cliff: Da draußen kann alles passieren. Oder auch nichts. Bereit sein musst du ständig. Für alles und jeden. Copy?"
"Copy that!", antwortete ich.
"Okay, dann wollen wir doch mal starten. Du bist Weltraumgeborener?"
"Ja, Sir."
"Na, dann kann ich dir ja etwas mehr zumuten als dem anderen Weichkäse.
Ground Control von Flight Ecco-Lima-4. Erbitte Startfreigabe."
"Ecco-Lima-4, Startfreigabe für Rollbahn acht ist erteilt. Guten Flug, Ecco-Lima-4."
"Danke, Flight Control."
Langsam setzte sich die zweisitzige Phantom in Bewegung und rollte auf Bahn acht der Naval Space Base Octus zu.
Die Triebwerke erwachten zu flammendem Leben, und der Schutzschirm begann knisternd seine Arbeit, um all die lästigen Luftatome aus dem Weg zu schieben, die uns sonst mit ihrer Massenträgheit behindert hätten. Unser Flug würde direkt in den Weltraum gehen, genau dahin, wo eine Phantom auch hin gehörte.
"Bist du bereit, Junge?"
"Roger."
"Na, dann los!" Er gab Vollschub, und die Maschine ruckte aus dem Stand an. Ich wurde nach hinten gepresst, bevor die Trägheitsdämpfer griffen. Ich hatte ohnehin das Gefühl, als würden sie heute leistungsreduziert bleiben.
Das Blau des Himmels ließen wir schnell hinter uns. Bereits nach zehn Sekunden hatten wir eine Höhe von acht Kilometern erreicht, wo die Stratosphäre von Octus begann. "Ach, und wenn du kotzen musst, mach ja nicht dein Visier auf. Alles in den Anzug, Junge. Oder du darfst unter fachkundiger Anleitung des Schichtleiters dein Cockpit reinigen."
Diese Ansage schien ihm besondere Freude zu bereiten, aber noch musste ich ihn enttäuschen. Noch machten mir die vier Gravos laut Anzeige nichts aus. "Roger."
Dann waren wir durch, im freien Weltall. Mein Blick ging sofort zu den Instrumenten, die mir die nähere kosmische Umgebung detailliert erklärten. "Zwei freundliche Kontakte in neunzig, drei über Horizont, sowie in zweihundertdrei, achtundvierzig unter Horizont. Siebzehn beziehungsweise achtundvierzig Klicks entfernt."
"Gut gesehen, Junge. Das sind meine Kollegen, die gerade ein paar aufgeblasene Planetenbewohner zum Kotzen bringen." Ich konnte sein Grinsen förmlich vor mir sehen. "Es macht doch immer wieder Spaß, ein wenig Bescheidenheit in solche Menschen zu prügeln."
Ich lächelte schwach. Freundlicherweise schien ich davon ausgenommen zu sein, weil ich den Aufstieg ins All nicht mit einer Entleerung meines Magens beantwortet hatte.
"Wollen wir mal richtig fliegen?", rief der Lieutenant enthusiastisch. "Wir haben ein Trainingsgelände über Septum eingerichtet. Der befindet sich gerade auf der anderen Seite von Trial. Bisher habe ich heute noch mit keinem Fluggast die volle Strecke geschafft."
"Meinetwegen gerne", erwiderte ich. Das war alles so phantastisch, so atemberaubend. Genau so wie ich es in Erinnerung hatte. Ein erhabenes Gefühl. Ich verstand mehr und mehr, warum Opa Monty damals zu den Fliegern gegangen war.
"Okay, dann halt dich fest!" Andropow aktivierte die Nachbrenner, die Maschine machte einen Satz auf Trial zu. Erst nach und nach war ersichtlich, dass er den Gasriesen über den Nordpol umrunden wollte. Meine Anzeigen hatten das schon früher behauptet, aber der Blick aus der Kanzel hatte irgendwie einen anderen Eindruck vermittelt. Ich registrierte für mich selbst, dass die freie Sicht hier draußen nicht viel wert war. Die beiden anderen Jäger der Flugschau hätte ich mit bloßem Auge jedenfalls nie entdeckt.
"Willst du mal? Einen Planeten zu umrunden ist nicht besonders gefährlich, und es spricht nichts dagegen."
"Darf ich wirklich?"
"Natürlich. Bist du bereit? Ich übergebe die Kontrolle."
Übergangslos schien der Steuerknüppel in meiner Hand zu schlagen, dann hatte der Computer die Toleranzen für mich errechnet und sich meinem Griff angepasst. "Ich habe die Kontrolle.", hauchte ich beinahe ehrfürchtig.
"Du siehst den Korridor auf deinem HUD*. Bleibe einfach innerhalb der Rahmen. Das könnte normalerweise auch ein Autopilot erledigen, aber den schalten wir Piloten nur sehr selten ein. Die Gefahr ist zu groß, dass wir nicht mehr rechtzeitig reagieren können. Im All entscheiden nun mal manchmal..."
"Sekundenbruchteile.", vervollständigte ich.
"Genau das." Er lachte zufrieden. "Hast du schon mal eine Slide-Bremse betätigt, Cliff?"
Für einen Moment hörte ich das Blut in meinem Kopf rauschen. Natürlich wusste ich was die Slide-Bremse ist, ich wusste, was ein Slide war. Ich hatte immerhin "Das blaue Band" gelesen. "Nein, noch nie.", gestand ich.
"Na, dann wird es ja höchste Zeit. Tritt die Bremse durch und drehe das Cockpit in Richtung Trial."
Gehorsam trat ich die Bremse und löste die reine Masse des Jägers aus der Flugrichtung. Der Antriebsstrahl erlosch, und mit Hilfe der Korrekturdüsen konnte ich nun in jede Richtung schwenken, die mir beliebte. Solange ich nicht den Fehler beging, in einer wirklich unvorteilhaften Position die Slide-Bremse wieder zu lösen und damit den Jäger zu zerstören, weil der Antrieb und die derzeitige Flugrichtung die Maschine zwischen sich zermalmten, war alles in Ordnung. Dennoch bewegte ich den Jäger nur mit den Fingerspitzen, lauschte ängstlich auf jedes Geräusch, das ich nicht kannte.
Endlich hatte ich den Jäger in der richtigen Position. Erleichtert atmete ich auf.
"Und jetzt schau hoch.", hörte ich den Lieutenant ergriffen flüstern.
Ich sah nach oben durch die Kanzel. Über mir hing Trial, fast zum greifen nahe, in all seiner Pracht, all seiner erhabenen Schönheit. Ich war sprachlos, atemlos, begeistert und doch so unendlich klein. Ich hatte schon so viel gesehen als Kind von Frachtfahrern, aber ich musste erkennen, dass es noch so viel mehr gab, was sich zu sehen lohnte, was sich zu erleben lohnte. Dieses Bild, das sich mir bot, das ich mit meinen eigenen Augen sah, hätte mir kein Foto und kein Video jemals vermitteln können. Ich sah hinab auf die gigantischen Methanstürme, folgte ihren Wanderungen, ihren Kollisionen, sah wie sich breite Wolkenbänke um den Planeten schlängelten, sah die Wirbel, die Strömungen, die Umwälzungen. Ein Mahlstrom, gewiss, aber von einer Erhabenheit, einer Schönheit, die mich ergriff.
"Und was möchtest du mal werden, wenn du groß bist, Cliff?", klang die Stimme des Lieutenants auf.
"Jägerpilot.", hauchte ich zurück.
"Vielleicht hast du sogar das Zeug dazu. Wir werden es austesten, im Trainingsgebiet. Drehe den Jäger wieder zurück, Junge."
Ich erwachte wie aus einem Traum, orientierte mich und kam dann der Anweisung nach. "Roger!"
Nachdem der Bug wieder in Flugrichtung zeigte und das Haupttriebwerk wieder seine Arbeit aufnahm, fand ich endlich in die Wirklichkeit zurück.
"Wenn du willst - und wenn du dich auf dem Manöverfeld gut schlägst - gehen wir auf dem Rückflug ein paar hundert Kilometer tiefer. Einverstanden, Cliff?"
Begeisterung pochte in meinen Adern. "Jawohl, Sir!"
Gegenwart, Medusa-System
"Den Rest kannst du dir denken. Ich habe mich nicht vollkommen dumm angestellt, und auf dem Rückflug sind wir so tief runter, dass die Bodenstation auf Octus uns nervös eine Anfrage schickte, ob mit der Maschine alles in Ordnung wäre. Tja, seither bin ich in diese kleinen Dinger verliebt. Zuerst durch die Erzählungen meines Opas, der in seiner aktiven Zeit Jagdpilot gewesen ist, dann durch eigenes Erleben. Und jetzt schau mich an, wo ich sitze."
"Mitten in einem Strahlenschauer in einem Niemandsland, in dem es nur Protuberanzen, Radioaktivität und nichtige Träume gibt.", erwiderte sie mürrisch.
"Tanja?", fragte ich irritiert.
"Das musste jetzt sein, oder? Ich erzähle dir von meinem ersten Flug mit einem Gefechtsshuttle, und du musst natürlich mit einem Raumjägerflug einen drauf setzen. Dieses Wettkampfdenken behagt mir gar nicht, First Lieutenant."
Ich lachte. "Du willst mir doch nicht etwa erzählen, du hättest nach deinem ersten Shuttleflug NICHT Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um so bald wie möglich einen echten Jäger zu fliegen. Oder auch nur mitzufliegen."
"Zugegeben. Aber du hast versucht mich zu übertrumpfen. Und mir auch noch verraten, dass du deine eigene Schwester verkauft hast. Mein Bruder hätte mit mir nie sowas gemacht."
"Was heißt hier übertrumpfen?", fragte ich amüsiert. "Im Gegensatz zu dir war ich nie in einer Wehrsportgruppe und bekam auch keinen Flug mit einem Kampfshuttle spendiert. Ich hatte ganz andere Sorgen und Prioritäten. Man hat auch als Kind auf einem Frachter einen langen Tag." Ich seufzte leise. Nicht, dass das Leben auf einem Frachter schlecht wäre. Beileibe nicht. Aber es war fordernd, schon für die Kinder. Und sei es, dass man Dreijährigen Tonbandaufnahmen von entweichender Luft vorspielte, damit sie beim Spielen wussten, was dieses Geräusch bedeutete, und wem sie es schnellstmöglich sagen mussten. Im Weltall starb man getrennt oder überlebte zusammen. Dort war ich geboren, und dort würde ich sterben. Ein- bis zweitausend Jahre in der Zukunft, wenn es nach mir ging. "Außerdem war meine Schwester nicht sehr lange in dem Alter, in dem sie sich ausnutzen und fremdbestimmen ließ. Sie ist sehr schnell sehr reif und ein sehr großes Aas geworden. Stan hat sein Date nicht bereut, aber sie hat mit ihm gefuhrwerkt, wie immer sie es wollte. Sie ist eine sehr beängstigende Frau, und ich bin froh, dass ich ihr Bruder bin." Ich dachte kurz nach. "Und ich bin froh, dass ich nicht ihr Feind bin."
"Schließt sich das nicht ohnehin aus?", fragte Lilja irritiert.
"Nicht bei meiner Schwester.", stellte ich trocken fest.
Sie lachte verhalten. "Nicht, dass ich meinen Bruder nicht auch um den Finger wickeln könnte, wie ich will. Ist vielleicht ganz gut, dass Jean jetzt Sergeant ist. Da hat sie genügend Leute zum herumkommandieren."
"Und ich bin ranghöher.", betonte ich. "In manchen Situationen zählt das was."
"Ach, ist das so, First Lieutenant?", erwiderte sie mit einem Anflug von Humor in der Stimme. Subtil hatte sie mich wieder einmal auf den Rangunterschied zwischen uns aufmerksam gemacht. Wahrscheinlich würde sie eines Tages Captain sein, während ich noch darum kämpfte, meinen beiden vollen Ringen den zusätzlichen halben eines Lieutenant Commanders hinzu zu fügen. Immerhin hatte ich nun eine Staffel, und war immer noch nicht befördert worden. Mist, verdammter.
"Ich glaube fast, ich könnte deine Schwester mögen, Ace.", sagte sie gedehnt. Dann fügte sie mit leichter Bosheit hinzu: „Obwohl sie natürlich nur ein Marine ist…“
"Hindert dich das daran, dich mit ihr zu verbrüdern? Ihr bereitet mir einzeln schon genügend Sorgen."
"Ach, das war aber süß von dir. So süß, dass ich es fast schon glauben kann, Cliff."
"Der war jetzt echt nicht nötig, Tanja."
"Nötig vielleicht nicht, aber schön." Sie lachte leise. "Okay, was jetzt? Ein paar Geistergeschichten, oder gibst du noch einen Schwank aus deiner Jugend zum Besten?"
"Wie wäre es mit einem weiteren Schwank aus deiner Jugend? Hast du eigentlich ein paar Fotos aus dieser Zeit, als die zarte kleine Tanja Pawlischenko in der Schule Rock trug und eifrig mit den Füßen auskeilte? Ich würde dich zu gerne mal in Schuluniform sehen. Und mit der Zahnspange."
"Die Bilder würde ich nicht mal meinem Freund zeigen.", erwiderte sie kurz angebunden. "Was ist mit dir, Superpilot? Hast du ein paar schöne Erinnerungsfotos an deine ersten Flugerfahrungen?"
"Wir können ja tauschen.", schlug ich vor.
"So dringend will ich den kleinen Clifford nun auch wieder nicht sehen." Sie hüstelte, als ihr die Zweideutigkeit ihrer Worte bewusst wurde. "Du weißt wie ich das meine."
"Hm. Wenn wir nur lange genug hier draußen schweben, erzählst du mir vielleicht doch von deinem ersten Mal.", scherzte ich.
"Bestimmt nicht. Niemals. Und dir schon gar nicht.", erwiderte sie frostig.
"Fahre die Krallen wieder ein, Lilja. Es war nur ein Scherz. Das Konzept sollte dir theoretisch bekannt sein."
Sie seufzte. "Was mache ich nur mit dir, Clifford Davis? Immer wenn ich glaube, dass du doch ein vernünftiger, anständiger und kluger Pilot sein könntest, zerschlägst du drei, vier Lagen Geschirr. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass du deine eigene Staffel auch verdient hast, aber du machst es einem schwer. Und du machst es mir schwer, dich zu mögen." Sie hüstelte erneut. "Nicht, das ich das wirklich vorhabe."
Leise atmete ich aus. "Ich entschuldige mich." "Was?" "Wenn ich dir zu nahe getreten bin, dann entschuldige ich mich. Ich will dich nicht verärgern. Nicht dir weh tun, Tanja."
"Also ich glaube kaum, dass du das könntest. Oder dass ich es zulassen würde. Aber gut, akzeptiert. Aber, Cliff, denke nächstes Mal zuerst, und rede dann erst, okay? Wir..."
"Jademutter an Jadesohn eins und zwei. Die Situation ist unter Kontrolle. Sie erhalten Andockerlaubnis. Allerdings besteht weiterhin Anzugspflicht." Die Stimme von Jayhawker klang erschöpft, rau und irgendwie alt. "Es sieht nicht so aus, als hätten wir es mit einer Biokontamination zu tun, aber wir gehen trotzdem auf Nummer sicher."
"Jademutter von Jadesohn eins. Haben verstanden. Wir verlassen Eskortposition und kehren zum Mutterschiff zurück." Sie wechselte auf jene Kurzwellenfrequenz, die in letzter Zeit zu unserer Privatfrequenz mutiert war. "Cliff, Ziellösung auf EMERALD JADE lösen und längsseits gehen." Sie gähnte leise. "Wenn du drin bist, kannst du bei meinem Andockmanöver helfen."
"Habe verstanden. Löse Formation auf." Langsam drückte ich meine Falcon fort von jener Position, die mir und Lilja im Notfall einen guten Fangschuss auf die JADE erlaubt hätte. Ich war froh, dass es nicht so weit gekommen war. Aber ich war sehr sicher, dass einige Leute auf ihre Entscheidung sauer sein mussten. Zumindest bis sie sich die berechtigte Frage stellten, wo Lilja und ich hinterher hätten hinfliegen wollen.
Oh, unser Abenteuer bekam gerade erst richtig Fahrt. Das war auf obskure Weise den versauten Urlaub mehr als wert. Und je mehr Tage vergingen, desto mehr Spaß hatte ich auch mit Lilja. Erstaunlicherweise.
*HUD: Head Up Display. Bezeichnung für projizierte Anzeigen am Rand des Sichtfelds des Piloten mit flugwichtigen Daten.
Cattaneo
Tyr
Kriegsrat
Medusa-System, etwa 24 Stunden nach der Bergung der Rettungskapsel
Es war eine seltsame, gespenstisch gesichtslos anmutende Runde, die sich in der Messe versammelt hatte. Die Raumanzüge, medizinischen Schutzanzüge und Marines-Kampfpanzer gaben den Männern und Frauen eine bedrohte, fast postapokalyptische Note.
Keiner an Bord der EMERALD JADE hatte in den letzten 24 Stunden viel Schlaf gefunden, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Eriksen, Harris und Rudkiewicz hatten, unterstützt von Quicksilver und den Marines-Sanitätern PFC Justin Harpring und Samatha Hull, das Schiff, die geborgenen Besatzungsmitglieder und die Rettungskapsel der MARY C nach Hinweisen auf einen unbekannten – oder bekannten – Krankheitserreger untersucht. Oder nach irgendeiner anderen medizinischen Ursache für den Tod der in der Rettungskapsel gefundenen Besatzungsmitglieder der MARY C, und das Verhaltenen des lebend Geborgenen.
Commander Tremane und Lieutenant Commander Georges hatten währenddessen die ihnen zur Verfügung stehenden Datenbanken nach ähnlichen Vorfällen durchsucht. Tremane war dabei sogar so weit gegangen, sich mit der Frage an Lieutenant Davis zu wenden, ob er oder einer seiner im Raumhandel aktiven Verwandten jemals von einem ähnlichen Vorfall, oder einem Krankheitsbild gehört hatte, das zu dem passte, was in den letzten Stunden über die EMERALD JADE hereingebrochen war. Allerdings hatte Ace ihm nicht weiterhelfen können.
Der Rest der Mannschaft und der Marines hatte inzwischen zwar wenig zu tun gehabt, aber auch wenig Ruhe gefunden. Eingesperrt in schwere Einsatzanzüge, die mehr für optimalen Schutz als Bequemlichkeit konzipiert waren, oder in der fragwürdigen Sicherheit der Shuttles oder der Rettungskapsel der EMERALD JADE, waren sie zum Warten verdammt gewesen. Zweifellos war der ein oder andere, den die Natur unglücklicherweise mit einer besonders lebhaften Phantasie beschenkt hatte, mehr als einen Tod gestorben.
Das galt wahrscheinlich ganz besonders für den einzigen Mann, der sich im ‚Risikobereich’ ohne Schutzanzug hatte bewegen können. Da Harris Anzug von dem lebend geborgenen Mitglied der MARY C-Besatzung beschädigt, und Harris dabei außerdem auch noch verletzt worden war, hatte es Doktor Eriksen für sinnlos erklärt, ihn in einen neuen Anzug zu stecken. FALLS es einen unbekannten Erreger an Bord der EMERALD JADE gab, dann hatte sich Harris bereits infiziert. Ein Schutzanzug würde ihm dann nichts mehr nützen, dafür aber eine eventuell notwendige Untersuchung und Behandlung erschweren.
Unter vier Augen hatte Tremane außerdem auch noch einen weiteren Grund dafür genannt, warum er Eriksens Einstellung unterstützte: „Wenn Harris auch austicken sollte, will ich nicht, dass er in einem Panzeranzug steckt.“ Der MTA war natürlich nicht besonders glücklich über diesen Befehl gewesen, aber man hatte ihm da keine Wahl gelassen.
Doch er war weder krank noch verrückt geworden. Genauso wenig, wie alle anderen an Bord. Doch da niemand wusste, wie lange die Inkubationszeit der Krankheit dauern mochte – falls es denn eine Krankheit war – konnte das allerdings nicht wirklich als ein Entwarnungssignal verstanden werden.
Im Gegenteil, je länger mancher Zeit hatte, sich mit dem Geschehenen zu beschäftigten, umso rätselhafter und bedrohlicher musste das Erlebte wirken – und umso düsterer schien die Zukunft.
Es war Tremane, der das Wort ergriff. Er schien sich erstaunlich gut im Griff zu haben. Der einzige Hinweis darauf, dass auch für ihn nicht Alles nach Plan lief, war der raue, schleifende Unterton der in seiner Stimme mitschwang, und die seltsam kraftlos wirkende Art und Weise, mit der er sich auf dem Messetisch abstützte: „Kommen wir zu der wichtigsten Frage. Lieutenant Commander Eriksen?“
Unter dem Klarsichtvisier ihres Schutzanzuges wirkte die junge Ärztin nahe am Zusammenbruch. Vermutlich hielten sie nur Adrenalin und Aufputschmittel auf den Beinen. Sie war praktisch pausenlos im Einsatz gewesen: „Wir haben die Autopsien abgeschlossen, die wir bei dem Selbstmörder und bei einem der anderen Toten durchgeführt haben. Zudem haben wir den übrigen Opfern Blut- und Gewebeproben entnommen, und sie mit unseren Ergebnissen verglichen. Das gleiche habe ich mit Harris gemacht. Dazu kommt die Innenluftanalyse in der geborgenen Rettungskapsel und an Bord der EMERALD JADE.
Das Ergebnis ist eindeutig. Es gibt keinen unidentifizierten Krankheitserreger an Bord dieses Schiffes. Oder in irgendeiner der Proben.“
McKenna war der Erste, der Zweifel anmeldete: „Und Sie haben da nicht vielleicht irgendetwas übersehen?“
Eriksen warf dem Marineinfanteristen einen Blick zu, der selbst durch die Sichtscheibe ihres Schutzanzuges reichlich unterkühlt wirkte: „Wissen Sie eigentlich, wo an Ihrer Waffe Vorne und Hinten ist?“
„Nun werden Sie mal nicht zickig. Immerhin geht es um unser Leben. Also, wie sicher sind Sie? Das darf ich ja wohl fragen, bevor ich mein Leben in die Waagschale werfen.“
Eriksen warf Tremane einen schnellen Blick zu, der den meisten anderen allerdings entging. Der Geheimdienstcommander nickte knapp. Die Doktorin zögerte kurz, holte tief Luft. Dann griff sie nach ihrem Hals, löste die Verschlüsse, und nahm den Helm ab: „SO sicher, Lieutenant. Sind Sie jetzt zufrieden?“ Sie bot keinen besonders gepflegten Anblick – das Haar klebte in Strähnen an ihrer Kopfhaut, die ungesund fahl wirkte – Ergebnis von Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Nervenanspannung. Aber im Augenblick störte sich daran ganz bestimmt niemand.
Es waren Tremane und Falkner, die als erste diesem Beispiel folgten. Trotzdem beide ebenfalls erschöpft wirkten, zeigten sie eine fast verdächtige Kaltblütigkeit. Dann kamen Rudkiewicz, Pawlitschenko, Davis. McKenna blieb nichts anderes übrig, als dem Beispiel zu folgen, wenn er sich nicht ausgerechnet von Georges überflügeln lassen wollte. Victor war die Letzte, die das Visier ihres Raumanzugs öffnete, ohne sich deshalb allerdings anscheinend zu schämen. Sie war auch die Erste, die diesmal das Wort ergriff: „O. K., Doktor. Das war eine gelungene Einlage. Jetzt sitzen wir alle im selben Boot wie unser Freund Harris. Aber dann heißt das also, dass wir vierundzwanzig Stunden umsonst Blut und Wasser geschwitzt haben, weil Sie überhastet auf den roten Knopf gedrückt haben?“ Victors Stimme klang nicht einmal besonders anklagend, aber angesichts der unfreundlichen Blicke, die sie von einigen der anderen einstecken musste, fühlte sich Lieutenant Commander Eriksen dennoch angegriffen: „Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich mit meiner Befürchtung Recht gehabt hätte? Oder wenn es einen Erreger gegeben hätte, und wir inzwischen alle tot wären oder im Sterben lägen – nur, weil ich die Bedrohung nicht ernst genommen hätte? In der unmittelbaren Krisensituation – und angesichts der Informationen, die uns zur Verfügung standen – war ein unbekannter Krankheitserreger die wahrscheinlichste Erklärung.“
Tremane nickte unwirsch: „Der Doktor hat Recht. Sie hat gemäß der geltenden Richtlinien und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“
Das brachte ihm denn doch einige überraschte Blicke ein. Immerhin war es immer Tremane gewesen, der auf Tempo drängte, und jede noch so kleine Verzögerung gnadenlos kritisierte. Dass er jetzt eine vierundzwanzigstündige – offenbar grundlose – Unterbrechung der Mission einfach abtat, passte so gar nicht zu ihm. Aber als Befehlshaber der Mission – und ranghöchster Offizier an Bord – hatte er die Kompetenz dazu. Gut möglich, dass jemand sich später noch mal unter vier oder sechs Augen dazu äußern würde, aber im Augenblick war die Sache damit erst einmal erledigt.
Allerdings gab es auch aus anderen Gründen böses Blut. Lieutenant McKenna, der schon eine ganze Weile böse Blicke mit Lilja gewechselt hatte, sah offenbar die Gelegenheit gekommen, seiner Verärgerung Luft zu machen. „Und was ist mit Pawlitschenko? Hat sie auch nur ‚nach bestem Wissen und Gewissen’ gehandelt? Danke, dass Sie uns doch nicht atomisiert haben, Lieutenant Commander.“
Die Angesprochene verzog nicht mal die Mundwinkel: „Die Lage an Bord der EMERALD JADE war von meiner Position aus nur schwer einzuschätzen. Ich konnte nicht ausschließen, dass es an Bord zu einem ähnlichen…Zusammenbruch gekommen war, wie es möglicherweise auf der MARY C der Fall war. Für diese Eventualität musste ich die nötigen Vorbereitungen treffen, um angemessen reagieren zu können.“
„Uns mit Ihren Geschützen und Raketen ins Visier zu nehmen, war für Sie also eine angemessene Maßnahme?!“
„In dieser Situation – ja. Und zu dieser Einschätzung stehe ich auch jetzt.“
„Wie tapfer von Ihnen! Sie saßen ja auch nicht an Bord dieser Rattenschüssel, die ins All zu blasen Sie im Begriff waren.“
„Was erwarten Sie von mir? Wenn es an Bord zu einem unkontrollierten Ausbruch tödlicher Gewalt gekommen wäre, dann wäre es meine Pflicht gewesen, diesen Ausbruch – und eine mögliche Biokontamination – auf dieses System zu begrenzen. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.“
„Hören Sie das Tremane? Wir haben hier eine verdammte Heldin!“
„Hören Sie, das bringt uns doch nicht weiter…“
Ausnahmsweise fiel Lilja einem Vorgesetzten ins Wort: „Hätte ich einen Waffeneinsatz für nötig befunden…wäre das auch mein Todesurteil gewesen. Es muss Ihnen doch klar sein, dass ich dieses System unmöglich hätten lebend verlassen können. Nicht mit den Treibstoff- und Sauerstoffvorräten einer Falcon.“ Das brachte McKenna für einen Augenblick aus dem Konzept. Und auch Doktor Eriksen, die auf diese Neuigkeit ziemlich sauer zu reagieren im Begriff schien, verschluckte erst einmal, was ihr auf der Zunge lag. Der Blick, den sie der Pilotin zuwarf, machte allerdings deutlich, dass sie das Ganze nicht einfach vergessen würde.
Obwohl es Jayhawkers Schiff gewesen war, das Lilja ins Visier genommen hatte, war es die Kapitänin der EMERALD JADE, die sich jetzt einem anderen Thema zuwandte: „Wenn es keine Krankheit war, was die Leute an Bord der Rettungskapsel umgebracht, und diesen Typen im Raumanzug hat austicken lassen, was war es dann? War es Gas? Wurden sie vergiftet?“
Eriksen schüttelte müde den Kopf: „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht an eine Vergiftung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Männer alle gleichzeitig vergiftet werden konnten. Die in der Kapsel befindlichen sind offenbar alle fast gleichzeitig gestorben. Die Differenz beträgt wahrscheinlich nicht mehr als eine Stunde. Höchstens.
Ein Gas…KÖNNTE eine Erklärung sein. Vorausgesetzt, dass der Mann in dem Bergungsanzug nur eine geringere Dosis abbekam. Die Luft in seinem Anzug war jedenfalls nicht kontaminiert. Aber ich habe weder bei ihm, noch bei der Vergleichsperson in den Lungen, der Haut oder dem Blut etwas gefunden, was auf irgendeinen der gängigen Kampfstoffe hinweist. Allerdings hatte ich bisher noch nicht die Zeit, alle nötigen Tests durchzuführen – die Suche nach einem Erreger hatte Vorrang. Außerdem sind wir in dieser Hinsicht ziemlich schlecht aufgestellt. Immerhin, die Gefahr einer Biokontamination haben wir bei der Ausrüstung der Expedition in Betracht gezogen…“
„Ist ja entzückend, dass ich das erst jetzt erfahre!“ Nicht nur bei Jayhawker löste Doktor Eriksens Erklärung nicht gerade Begeisterung aus.
Aus irgendeinem Grund sah sich Tremane erneut veranlasst, in die Bresche zu springen: „Immerhin ist es die Aufgabe dieser Mission, Artefakte einer unbekannten Alienrasse zu bergen. Wir wären dumm gewesen, wenn wir die Möglichkeit einer Kontamination nicht in Betracht gezogen hätte.“
"Das erklärt aber nicht die Hinweise auf eine thermonukleare Detonation." gab Victor zu bedenken.
McKenna schnaubte abfällig: "Vielleicht gab es an Bord der MARY C ja auch so eine Heldin, wie unseren Lieutenant Commander Pawlitschenko?!"
Tremane winkte ab: "Das ist Weltraumabschaum. Ich glaube nicht, dass einer von denen die nötige Entschlusskraft und Opferbereitschaft aufbringen würde, um das eigene Schiff in die Luft zu jagen.
Ganz zu schweigen davon, dass sich immer noch die Frage stellen müsste, wie er das gemacht hat - und warum die Rettungskapsel und der Mann in dem Bergungsanzug von der Explosion verschont wurden. Wir haben bisher noch keine Trümmerteile gefunden, die wir klar der MARY C zuordnen können, deshalb ist es uns unmöglich, zu verifizieren, ob die Detonation überhaupt an Bord des Frachters erfolgte."
Lieutenant Davis blickte auf: "Gibt es an Bord der Rettungskapsel Aufzeichnungen darüber, was passiert ist? Oder ein Verlaufsprotokoll in der Sensorelektronik des Bergungsanzugs?"
Tremane winkte verächtlich ab: "Was glauben Sie, was die hier gemacht haben? Eine ordentlich dokumentierte archäologische Ausgrabung durchgeführt? Die Aufzeichnungsfunktion des Bergungsanzugs wurde deaktiviert. Was die Daten der Rettungskapsel angeht...Fuchida?"
Der junge Sensoroffizier starrte Commander Tremane ein, zwei Augenblicke wortlos an, dann warf er Ace einen irgendwie unbehaglichen, fast entschuldigenden Blick zu: "Tut mir leid. Ich habe das Aufzeichnungsmodul geborgen, aber es ist schwer beschädigt. Ich werde versuchen, es zu rekonstruieren, aber...Die Technik ist veraltet, und bei der Strahlung in dem System..."
Niemand schien zu bemerken, wie es kurz um Tremanes Lippen zuckte, und er dem Lieutenant Commander der RELENTLESS ein millimeterknappes Nicken zukommen ließ. Der junge Offizier war ehrgeizig, und von Commodore Mithel offenbar gut ausgebildet worden. Er würde seine Pflicht tun. Und seinen Befehl befolgen.
„Kann dieses…Massaker auch eine Folge von Strahlenschäden sein?“ schaltete sich Lieutenant Davis ein.
Eriksen warf ihm einen frustrierten Blick zu. Vermutlich gingen ihr langsam all diese ‚Zivilisten’ auf die Nerven, die in ihrem Revier wilderten: „Ich weiß es nicht. Wie ich bereits sagte, die Suche nach einem ansteckenden Erreger hatte Vorrang. Zweifellos war der von unserem Shuttle Geborgene über einen längeren Zeitraum einer potentiell tödlichen, radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Allerdings…die Strahlenwerte in der Rettungskapsel waren zwar deutlich über dem Durchschnitt, aber auf keinen Fall unmittelbar lebensbedrohlich.
Dennoch…möglich wäre es. Bei den Autopsien sind mir massive Hirnschäden aufgefallen, die möglicherweise – nur möglicherweise – durch einen extrem intensiven Strahlungsimpuls ausgelöst wurden. Aber dazu werden wir weitere Autopsien bei den anderen Opfern durchführen müssen. Jedenfalls besteht keine unmittelbare Gefahr für uns.“
„Und wenn es eine Strahlung – was hat sie ausgelöst?“ hakte Davis nach.
McKenna warf Kapitän Victor einen abschätzenden Blick zu: „Eine Reaktorhavarie? Diese alten Maschinen…Das könnte auch eine interne Explosion ausgelöst haben.“
Jayhawker schnaubte verächtlich: „Wenn sie keine kompletten Stümper waren…Außerdem, wenn unsere Sensoren korrekte Werte liefern, war das da draußen deutlich größer, als eine einfache Reaktorexplosion in Folge eines Unfalls.“
„Oder war es vielleicht ein Strahlenstoß der Medusa?“
Die Raumkapitänin sah den Marineinfanteristen an, als hätte er angefangen, wie ein Huhn zu gackern: „Das ist doch Schwachsinn! Abgesehen davon, dass das da draußen eine verdammte SONNE und keine Strahlenkanone ist, eine derartige Eruption hätten wir messen müssen, sobald wir in das System gesprungen sind. Aber da war nichts. Klar, ich würde keinem empfehlen, längere Zeit außenbords zu gehen, und die Strahlungswerte schwanken…Aber das, was Ihnen da vorschwebt, das ist Humbug.“
„Hören Sie, wenigstens bemühe ich mich, eine Erklärung zu finden…“
„Genauso gut können Sie auch den…den Raumgeistern der Sternenleere die Schuld geben!“
„Hören Sie auf. Alle beide. Das bringt uns nicht weiter.“ Tremanes Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
„Aber es hat hier schon einmal einen massiven Strahlenausbruch gegeben. Einen Ausbruch, der jede uns bekannte Skala und das, was wir über das Innenleben von Sternen zu wissen glauben, gesprengt hat.“ Zum ersten Mal hatte sich Georges zu Wort gemeldet. In seinen Worten schwang eine seltsame Mischung aus Grauen und Faszination mit.
Tremane winkte ab: „Jetzt werden Sie lächerlich. Das war vor…wie viel? Viertausend Jahren? Und wie Kapitän Victor bereits sagte, ein Ausbruch, der die Schutzschilde der MARY C überlasten könnte, hätten wir messen müssen. Außerdem bliebe dann immer noch die Frage, was diese...Explosion ausgelöst hat. Und, wenn sie nicht die MARY C betroffen hat, wohin sie dann verschwunden ist.“
Fuchida zuckte mit den Schultern „Ich denke, ein Reaktorschaden ist immer noch die wahrscheinlichste Lösung. Vermutlich kam es zu einer Panik, was diesen Funkspruch erklären würde. Ein paar haben es noch halbtot in die Rettungskapsel geschafft, bevor die MARY C in die Luft geflogen ist…“
Lilja nickte knapp: „Wenn wir einmal diese Explosion außer acht lassen – von der wir immer noch nicht genau wissen, was sie ausgelöst hat – vielleicht hat auch die Besatzung der MARY C an einen Krankheitserreger geglaubt. Das sind Schmuggler, Abschaum. Vermutlich wollten sie kein Risiko eingehen, haben die ‚Erkrankten’ in der Rettungskapsel isoliert, und das Weite gesucht. Wahrscheinlich über einen anderen Sprungpunkt.“
Tremane nickte energisch: „Ich finde auch, dass es das Vernünftigste ist, nach einer PLAUSIBLEN Erklärung zu suchen. Und ein solcher Unfall…“
Lilja fixierte den Commander aufmerksam: „Entschuldigen Sie, Sir, aber diese Erklärung erscheint mir dennoch etwas zu einfach, um sie als gegeben hinzunehmen. Zweifellos ist sie einfach und bequem, aber…“
„Ja, Tremane, Sie machen sich das etwas einfach. Außerdem…haben Sie vielleicht vergessen, was wir in der Rettungskapsel gefunden haben? Ich habe gesehen, was eines dieser armen Schweine geschrieben hat. MIT SEINEM EIGENEN BLUT. Wissen Sie, was er geschrieben hat? ES IST HIER. Das klingt irgendwie nicht wie ein Reaktorunfall!“
Tremane funkelte McKenna wütend an: „Diese Männer waren höchstwahrscheinlich in Panik. Sie lagen im Sterben. Woher wollen Sie wissen, was uns dieser arme Teufel sagen wollte? Bloß weil ein Sterbender ein Licht am Ende des Tunnels gesehen hat, glauben Sie doch wohl auch noch nicht an ein Leben nach dem Tod, oder?
ES IST HIER? Na und? Was, glauben Sie denn, meinte er damit? Die Rettungskapsel war leer. Bis auf die Toten. DA WAR NICHTS. Vermutlich hat er halluziniert. Könnten wir uns also Wichtigerem zuwenden, als irgendwelchen Hirngespinsten und Schreckgespenstern, Lieutenant?“
Der Marineinfanterist presste die Lippen zusammen. Seine Stimme klang gepresst: „Ich bin Soldat. Ich kenne meine Pflicht. Aber ich will nicht, dass meine Männer in einen Einsatz gehen müssen, ohne zu wissen, gegen was sie kämpfen müssen.“
Tremane lachte jäh auf, hart und schneidend: „Kämpfen?! Da Draußen ist nichts, was es zu bekämpfen gilt! Nichts, gegen was wir Ihre Männer schicken müssten. Das hier ist keine Kampfmission – und die Männer in der Rettungskapsel sind nicht von irgendeinem…Weltraummonster umgebracht worden, das jetzt an unserer Außenhülle klebt. Falls es das ist, was Sie befürchten.
Aber nur, damit Sie sich sicher fühlen, werde ich veranlassen, dass die Toten sicher weggeschlossen werden. Ich hoffe, das beruhigt Sie und ihre Leute etwas.“
McKenna antwortete nicht, aber die dunkelrote Färbung seines Gesichts zeigte deutlich, dass Tremanes beißender Spott sein Ziel nicht verfehlt hatte.
Allerdings verschaffte das dem Geheimdienstoffizier nur eine bestenfalls flüchtige Genugtuung. Zum Glück hatten nur die, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Krankenstation aufgehalten hatten, die letzten Worte des überlebenden MARY C-Crewman gehört – bevor der sich selber die Kehle aufgeschlitzt hatte. Tremane hatte Eriksen, Rudkiewicz und Harris bei Androhung eines Kriegsgerichts zum Stillschweigen verdonnert. Er wusste immer noch nicht, welche Sprache der Mann benutzt hatte, und das machte ihm Angst. Auf keinen Fall durfte er den ohnehin hoch kochenden Gerüchten neue Nahrung geben. Er würde die ihm zur Verfügung stehenden Datenbänke sichten müssen. Und wenn das nichts half, dann würde er sich wohl an Georges wenden. Aber nicht jetzt, nicht sofort – nicht, solange selbst ein Idiot eine Verbindung zwischen den jüngsten Ereignissen und Tremanes Frage ziehen konnte. Nicht, bevor er nicht eine passende Tarngeschichte parat hatte, mit der er sein Interesse für die Bedeutung dieser Worte gegenüber Georges rechtfertigen konnte.
Cattaneo
Tyr
Es war Fuchida, der zu dem vorstieß, was für Tremane der eigentlich Kern der Diskussion war: „Seien wir ehrlich, wir wissen immer noch nicht, was diese Explosion ausgelöst hat, was mit der MARY C passiert ist, und was diese Männer an Bord der Rettungskapsel getötet und einen anderen in einen…Tobsüchtigen verwandelt hat. Gut, es war kein Virus. Aber vielleicht war es ja Gift? Gas? Irgendein exotischer Strahlungspuls, über dessen Herkunft wir nur spekulieren können…“
„Das Verhalten dieses Unglücklichen muss nicht unbedingt ein…Symptom für das sein, was mit den anderen passiert ist.“, warf Tremane ein: „Die an Bord der Rettungskapsel aufgefundenen Besatzungsmitglieder zeigten keinerlei signifikanten Kampfspuren. Vielleicht hat er ganz einfach einen Nervenzusammenbruch erlitten, weil er wusste, dass er ebenfalls…kontaminiert worden war. Oder, weil er wusste, dass ihn hier Draußen niemand finden kann. Solche Fälle hat es gegeben.“
„Wenn ich fortfahren dürfte, Commander? Was auch immer wir vermuten…Letztendlich werden wir immer auf eine Frage zurückkommen. Sollen wir bleiben…oder umkehren?“
Tremane presste die Lippen zusammen, aber überraschenderweise fuhr er dem Sensoroffizier der RELENTLESS nicht einfach über den Mund.
So war es Captain Victor, die als Erste ihre Meinung zum Besten gab: „Wir sollten verschwinden. Ganz schnell. Was auch immer der MARY C passiert ist, wir sollten das als Warnzeichen verstehen. Solange wir nicht wissen, was mit diesen armen Schweinen geschehen ist – solange können wir auch nichts tun, um uns zu schützen.“
Doktor Eriksens Stimme klang ungewöhnlich rau, und sie vermied es, Commander Tremane anzusehen: „Ich stimme dem Captain zu. Ich halte ein weiteres Verbleiben vor Ort für zu riskant.“
Georges fuhr beinahe aus seinem Sitz hoch: „Einfach verschwinden? Wo wir vielleicht die Chance haben, eines der großen Rätsel des Universums zu lösen? Wir könnten an der Schwelle zu einer Entdeckung stehen, die unser Wissen über die galaktische Geschichte revolutionieren könnte!“
Lilja meldete sich zu Wort: „Dieses ganze Gerede über Rätsel und die galaktische Geschichte interessiert mich nicht. Aber wir haben einen Auftrag. Und den sollten wir erfüllen.“
„Wenn wir diese Panzerungstrümmer bergen und replizieren könnten, würde das unseren Jäger- und Kriegsschiffbau revolutionieren. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Was ist, wenn die Akarii uns dabei zuvorkommen würden, bloß weil wir jetzt den Schwanz einkneifen und abhauen?“ Trotzdem Ace ihren Standpunkt unterstützte, warf Lilja ihm einen Blick zu, der etwas skeptisch wirkte. Offenbar schätzte sie den Wert der Alienrelikte wesentlich weniger enthusiastisch ein, als ihr Untergebener.
Jayhawker schnaubte: „Die Akarii? Ich sage Ihnen was, Lieutenant. Wir sollten FROH sein, wenn die hier aufkreuzen, wenn wir weg sind. Was es auch ist, was die Leute der MARY C getötet hat – es wird bei den Echsen bestimmt keine Ausnahme machen. Und bei uns auch nicht!
Woher wollen Sie wissen, dass die MARY C nicht deswegen zum Teufel gegangen ist, weil sie genau das gemacht haben, was wir jetzt tun wollen – wie ein Haufen besoffener Weltraumdigger durch das Asteroidenfeld irren, und alles einsammeln, was auch nur ein bisschen ungewöhnlich aussieht? Wissen Sie, was die dabei aufgesammelt, oder ausgelöst haben? Ich nicht – und ich will es auch nicht herausfinden!“
„Wir werden bleiben.“ Tremanes Stimme schnitt durch den ausbrechenden Streit wie ein Messer: „Ich bin der Kommandeur dieser Mission, und der ranghöchste Offizier. Ich weiß, dass Sie an die Sicherheit ihrer Leute denken, Victor. Und ich verstehe Ihre Bedenken, Doktor Eriksen. Aber ein Rückzug steht nicht zur Debatte. Wir sind mit einem Auftrag und einem Ziel hierher gekommen, und wir werden es erfüllen.“
„Und wie wollen Sie mir garantieren, dass wir uns mit dem nächsten Trümmerstück nicht genau das an Bord holen, was die MARY C vernichtet hat?“
„Das ist einfach lächerlich! Aber um Sie zu beruhigen…Wir werden gar nichts an Bord holen, was nicht in die Probebehälter passt. Die sind immerhin für den Umgang mit Kampfstoffen und Nuklearmaterial erprobt. Untersuchungen erfolgen nur unter absoluter Versiegelung des Analyseraums. Alle größeren Fundstücke werden auf der Außenhülle gelagert.“
„Das ist nicht einmal annähernd genug! Wir sprechen hier schließlich nicht von einem einfachen Virus, oder etwas Plutonium! Wir reden von Alientech, die ein paar Jahrtausende alt ist. Wie können wir auch nur AHNEN…“
„Sie sagen es. Sämtliche eventuellen Artefakte müssen mindestens ein Alter von zwei- bis viertausend Jahren haben. Glauben Sie ernstlich, dass uns aus dieser Richtung noch irgendeine Gefahr droht? Selbst…selbst Raumgeister müssten sich nach so einer langen Zeit längst zur Ruhe gesetzt haben.“
Doktor Eriksen mischte sich wieder ein: „Und was ist mit dem Signal, das bei der ersten Erkundung des Asteroidengürtels beinahe zwei moderne Kampfflieger lahm gelegt hätte?“
Tremane presste verärgert die Lippen zusammen: „Ein impulsstarker Funksender ist immer noch etwas anderes, als irgendeine…automatische Strahlenkanone, die einen mehrere tausend Tonnen schweren Raumfrachter ausschalten oder zumindest die Besatzung verstrahlen kann. Eine solche Waffe müsste eine Energiesignatur haben, die wir – oder schon den Fliegern der COLUMBIA – auf zehntausend Klicks Entfernung hätten bemerken können. Haben wir so etwas geortet, Fuchida?“
„Bisher nicht…“
„Na bitte.“
Der Sensoroffizier fuhr mit einem irgendwie gequälten Gesichtausdruck fort: „Aber natürlich könnte so ein Gerät auch abgeschirmt sein. Oder üblicherweise in einem energiesparenden Modus operieren, der eine Ortung erschwert. In Kombination mit hochleistungsfähigen Passivsensoren könnte so ein Gerät problemlos immer nur dann aktiviert werden, wenn sich ein passendes Ziel nähert…“
Victor knallte mit der flachen Hand auf den Tisch: „Da! Sie haben es gehört!“
Lieutenant Commander Fuchida fuhr unbeirrt fort: „…trotzdem plädiere auch ich dafür, dass wir hier bleiben.“
Tremane lächelte schmal: „Wie es aussieht würden Sie so oder so überstimmt, Victor. Aber letztendlich spielt das keine Rolle. ICH habe hier das Kommando. Wir werden hier bleiben. Und wir werden die Sache zu Ende bringen. Selbst wenn Medusa das Tor zur Hölle wäre, und alle Dämonen an unserer Hüllenpanzerung kratzen würden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt!“
Victor schnaubte kurz: „Da Sie sich so eloquent ausdrücken…Klar genug. Wenn Sie mich entschuldigen würden, ich muss der Crew Bescheid sagen, dass wir weiter Ihren weißen Wal jagen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie seinen Blas sehen. Oder wenn Sie entdecken, dass wir tatsächlich das Tor zur Sternenhölle überschritten haben. Denn genau das ist, wo diese armen Schweine herkommen, die wir aus der Kapsel gezogen haben.“ Jayhawker stieß den Stuhl zurück. Ihre Stiefelsohlen trommelten einen wütenden Takt auf den Bodenplatten.
Doktor Eriksen schien nicht übel Lust zu haben, dem Beispiel des Kapitäns zu folgen, besann sich dann aber eines Besseren. Vielleicht fehlte ihr die Durchsetzungskraft Jayhawkers – oder aber, sie wollte Tremane nicht aus den Augen lassen.
Der hatte sich inzwischen zu McKenna umgewandt: „Sie haben sich noch nicht dazu geäußert, Lieutenant? Was sagen Sie als Kommandeur unserer Marineinfanterie dazu? Bleiben – oder Rückzug?“
In dem Blick, den McKenna ihm zuwarf, war ganz bestimmt keine Liebe oder Bewunderung. Nicht einmal ehrliche Akzeptanz. Die Stimme des Marines klang so ausdruckslos, dass seine Missbilligung fast schon greifbar war: „Ich kenne meine Pflicht. Und das heißt, ich befolge Ihre Befehle. Wenn Sie sagen, dass wir hier bleiben, dann bleiben wir eben hier.“
„Hervorragend. Nun, da das geklärt ist…“
Lilja hob kurz die Hand: „Sir. Es wäre vielleicht ratsam, Sterntor über die Ereignisse zu informieren. Nur zur Sicherheit. Immerhin ist ein Raumschiff verschwunden…“
Tremane schien den Vorschlag kurz zu erwägen, schüttelte dann aber den Kopf: „Nein. Wir wissen nicht, wer alles so einen Funkspruch auffangen könnte. Die Akarii könnten wirklich anfangen, sich für dieses System zu interessieren, wenn sie einen militärischen oder geheimdienstlichen Code empfangen - oder gar knacken. Und außerdem…vergessen Sie nicht, dass die Geldgeber, die hinter der MARY C steckten, immer noch aktiv sind, und Informanten in Flotte oder Sicherheitsdienst haben könnten. Ich will nicht, dass sie noch ein Schiff losschicken, ein paar Piraten anheuern – oder aber ihre Koffer packen, und verschwinden. Ich will die Köpfe dieser verräterischen Hunde – auf einem silbernen Tablett.“
„Sie wollen ziemlich viel.“ konstatierte Lieutenant Commander Eriksen mit ziemlich bissig klingender Stimme.
Tremane lächelte ungewöhnlich entwaffnend, fast ein wenig selbstironisch: „Das ist der Preis für die wirklich Guten.“ In Wirklichkeit gab es allerdings noch einen weiteren – und wesentlich wichtigeren – Grund, warum der NIC-Commander keinen Funkspruch absetzen wollte. Er wollte auf keinen Fall, dass irgendjemand, der einen höheren Rang als er bekleidete, plötzlich zu der Ansicht kam, dass das Risiko zu groß war, und die ganze Operation abblies.
„Aber ich werde einen entsprechenden Funkspruch vorbereiten und im Abstand von acht Stunden automatisch aus dem Bordlog aktualisieren lassen. Sollte es zu einer…Krisensituation kommen, kann der Funkspruch praktisch in Nullzeit abgesetzt werden.“
Lilja schien nicht ganz zufrieden mit diesem Ergebnis, aber wenn sie noch weitere Einwände hatte, dann behielt sie für sich.
Gemäß der Maxime, dass man Nägel mit Köpfen machen, und das Eisen so lange schmieden musste, wie es heiß war, ging Tremane fast nahtlos zu der Einsatzplanung für die nächsten achtundvierzig Stunden über. Es war offensichtlich, dass ein Rückzug für ihn nie zur Debatte gestanden hatte.
Nach einer achtstündigen Ruhepause, die die EMERALD JADE in einem ‚sicheren’ Abstand von dem Asteroidenfeld verbringen würde, sollte die Erforschung und Detailkartographierung des Asteroidengürtels beginnen. Dabei würde der Frachter allerdings nicht selber in den Asteroidengürtel vordringen, sondern die Vorstöße den Jägern oder dem Sturmshuttle überlassen. Dennoch sollte der Frachter weiterhin unter den Bedingungen einer eingeschränkten Gefechtsbereitschaft operieren – mit aktivierten Waffen, voll aufgeladenen Schutzschilden, und einsatzbereiten Maschinen.
Zu jedem Zeitpunkt sollte außerdem ein Marines-Squad einsatzbereit sein, und die Sicherung der EMERALD JADE übernehmen – auch, wenn ein weiteres Squad gerade mit der Enterfähre draußen sein sollte.
Sämtliche Mannschaften und Offiziere, die an Flügen in den Asteroidengürtel oder der Bergung der Artefakte beteiligt sein würden, sollten sich in regelmäßigen Abständen einer Untersuchung durch Doktor Eriksen unterziehen, die außerdem auch die übrigen geborgenen Leichen untersuchen würde. Anschließend würde man die Leichen einfrieren, und zwecks eventuell anstehender fortführender Tests nach Sterntor mitnehmen. Aus irgendeinem Grund rief diese Ankündigung wenig Begeisterung hervor.
Aber bald forderten die Anspannung und Erschöpfung der letzten vierundzwanzig Stunden ihren Tribut ein. Die meisten waren völlig übermüdet, ausgehungert, und verschwitzt. Sie sehnten sich (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) nach einer heißen – oder wenigstens kalten – Dusche, frischer Wäsche, einem halbwegs genießbaren, warmen Essen, und dann einer vollen ‚Nacht’ Schlaf, die nicht durch irgendwelche Alarmmeldungen und Notfälle unterbrochen würde. Das galt sogar für diejenigen, die am liebsten sofort das Medusa-System hinter sich gelassen hätten. Wenigstens würde man sich in den nächsten acht, neun Stunden von dem verfluchten Asteroidengürtel fernhalten.
Allerdings kamen nicht alle sofort zum Schlafen: „Pawlitschenko, Davis – Sie bleiben noch einen Augenblick hier.“ Während die anderen Teilnehmer der Krisensitzung die Messe verließen, hüllte sich Tremane in Schweigen – ein Schweigen, das er so lange hielt, bis Falkner beide Schotts geschlossen, und schweigend wieder ihren üblichen Platz einen halben Schritt hinter seiner linken Schulter eingenommen hatte.
Es war Davis, der das Wort als erster ergriff: „Und was ist so wichtig, dass niemand sonst davon wissen darf?“
Der Geheimdienstoffizier warf dem Piloten einen ziemlich unterkühlten Blick zu:„Drei Dinge.
Erstens: Die nächsten Tage werden ziemlich hart für Sie werden. Sie werden abwechselnd Aufklärungsflüge fliegen, während der andere die Nahsicherung der EMERALD JADE übernimmt. Falls es in diesem System etwas gibt, was Ihre Sensoren aufspüren können, falls die MARY C sich doch noch irgendwo hier verbirgt…will ich, dass Sie sie finden.
Sie werden also kaum zum Schlafen kommen. Wir anderen natürlich auch nicht.
Zweitens: Ich bin fest davon überzeugt, dass die MARY C einem Reaktorunfall und/oder einer Meuterei zum Opfer fiel – ob sie nun explodiert oder geflohen ist. Dennoch…wissen wir nicht mit absoluter Gewissheit, was mit der MARY C passiert ist. Und obwohl der Überlebende höchstwahrscheinlich einfach einen Nervenzusammenbruch hatte – falls dieser Weltraumabschaum nicht ohnehin irgendeine Psychose mit sich rumschleppte – wir können nicht VÖLLIG ausschließen, dass sein…Aussetzer eine externe Ursache hatte.“
Liljas Lippen kräuselten sich zu einem etwas zynischen Lächeln: „Das hat sich vorhin aber anders angehört.“
„Ich wüsste nicht, dass ich als Kommandeur jede meine Erwägungen und Risikoanalysen vor versammelter Mannschaft ausbreiten müsste. Betrachten Sie diese offenen Worte als einen…Vertrauensbeweis.
Wie dem auch sei, aus diesem Grund können wir nicht die – allerdings bestenfalls entfernte – Möglichkeit nicht ausschließen, dass so etwas nicht auch mit einem von Ihnen passieren kann.
Um irgendwelchen…unvorsehbaren Ereignissen vorzubeugen, werden wir die Sensoren und die Software aufrüsten, die Ihre Vitalfunktionen überwacht. Doktor Eriksen, Lieutenant Commander Fuchida und Lieutenant Commander Falkner werden das übernehmen.
Sie werden ziemlich weit in den Asteroidengürtel vorstoßen. Und auch in andere Gebiete, von denen die EMERALD JADE sich tunlichst fernhalten wird. Deshalb…müssen Sie sich klar sein, dass Sie damit ein gewisses Risiko eingehen. Seien Sie also vorsichtig.
Doch wenn tatsächlich etwas Unvorsehbares geschehen sollte, wenn einer von Ihnen dadurch…zu einem Risiko für unsere Mission werden sollte…
Dann wird es wahrscheinlich an dem jeweils anderen sein, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Fühlen Sie sich dieser Aufgabe gewachsen?“
Diese Frage traf die beiden Piloten mit der Wucht einer mittelschweren Artilleriegranate. Tremane hingegen schien nicht einmal etwas schneller zu atmen, während er den beiden Piloten eröffnete, dass er die Möglichkeit in Betracht zog, dass sie vielleicht aufeinander schießen mussten.
Wieder war es Davis, der zuerst das Wort ergriff: „Hören Sie, Tremane, das…“
„Ich will eine klare Antwort. WERDEN SIE IHRE PFLICHT TUN?!“
Aber es war Lilja, die antwortete: „Ich werde tun, was nötig ist. Ist es das, was Sie hören wollten, Sir?“
„Allerdings. Ich danke Ihnen. Davis? Jetzt liegt es an Ihnen.“
Ace starrte seine Kameradin an, als würde sie auf einmal Heklar reden: „Tanja, verdammt…“
Sie funkelte ihn wütend an: „Was?! Was hast du denn erwartet? Wir sind im Krieg! Und ich habe einen verdammten Eid geleistet. Genauso wie du.“
In Tremanes Stimme schwang jetzt eine Schärfe mit, die vorher nicht da gewesen war: „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Lieutenant. Werden Sie das tun, was Ihre Pflicht ist? Werden Sie Ihren Eid halten?“ Unwillkürlich schien sich Falkner anzuspannen. Auf einmal wirkte sie wie eine gespannte Metallsehne – bereit, jederzeit loszuschlagen.
„Ich…ich kenne meine Pflicht.“ Clifford Davis Stimme klang erstickt. Und er schaffte nicht, Lilja in die Augen zu blicken. Er bemerkte nicht, dass Falkner ihm einen langen, prüfenden Blick zuwarf. Die Geheimdienstlerin blieb jedoch stumm.
Tremane schien mit der Erklärung von Davis zufrieden: „Gut. Dann wäre das wohl geklärt.
Drittens: Wie gut kennen Sie beide sich mit der Führung und Steuerung eines Frachters aus?“
Auch diese Frage war eine Überraschung, doch diesmal überwog bei den beiden Piloten die Verwunderung. Tremanes letzte Frage war allerdings auch wohl kaum zu überbieten.
Lilja zuckte mit den Schultern – etwas zu bemüht beiläufig, so als würde sie mit diesem Schulterzucken auch noch etwas anderes abschütteln wollen: „Ich habe die Standartlehrkurse an der Akademie absolviert. Mit Note 2,3.“
„Nun, das sollte wohl reichen. Davis?“
Ace wirkte immer noch so, als würde er an einem ziemlich zähen Knochen kauen. Er klang irgendwie abwesend: „1,6. Ich…meine Familie hatte ein eigenes Raumschiff. Ich bin zwar kein vollwertiger Raumschiffpilot, aber…“
„Ach ja, ich hatte Ihre Vergangenheit im Handelsgewerbe vergessen. Ausgezeichnet.“ Das war natürlich eine halbe Lüge. Tremane vergaß so etwas nicht.
Lilja musterte den Geheimdienstoffizier etwas misstrauisch: „Und dürfen wir auch erfahren, warum Sie das wissen wollen?“
Andrew Tremane lächelte frostig: „Warum nicht? Solange Sie das nicht weitertratschen. Die gleiche Frage werde ich übrigens auch noch der Besatzung unserer Sturmfähre stellen. Und was das ‚Warum’ angeht…
Ich traue unserem Kapitän nicht mehr ganz. Sie war ziemlich eindeutig in ihrem Wunsch, lieber heute als morgen dieses System zu verlassen. Es könnte sein, dass sie irgendetwas…Unüberlegtes tut. Und für diesen Fall halte ich es einfach für besser, über eine…Reserveoption zu verfügen. Das wäre dann erst mal Alles. Sie können jetzt gehen.“
Nach wenigen Minuten waren Tremane und Falkner alleine in der Messe. Deshalb sah niemand von den anderen, welche Veränderung mit dem Geheimdienstoffizier vor sich ging, kaum dass Lieutenant Davis und seine Vorgesetzte die Messe verlassen hatten. Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. Tremanes Schultern sackten herab, seine Augen verloren ihren harten Glanz, und er musste seinen Kopf mit den Händen stützen, als wäre er plötzlich zu schwer geworden.
Falkner lehnte sich mit einem müden Seufzer gegen die das Messeschott: „Das wäre überstanden. Wir bleiben hier. Bist du jetzt glücklich, Andrew?“
Der schnaubte kraftlos, ohne aufzublicken: „Glücklich? Im Augenblick weiß ich nicht, was das bedeuten soll. Ein halbes Dutzend Menschen sind tot – einer, nachdem er uns in Zungen angebrüllt hat – und wir haben nicht die geringste Ahnung, was das bedeutet. Die MARY C ist verschwunden – vielleicht geflohen, vielleicht explodiert. Vielleicht auch…“
„Und du hast dir jede Menge neuer Freunde gemacht. Das ist doch was.“
Wieder schnaubte Tremane – vielleicht war es aber auch ein ersticktes Lachen: „Musste wohl sein.“
„Na wenn du es sagst. Aber irgendwann überspannst du noch einmal den Bogen. Und dann finden wir uns in einer Rettungskapsel wieder und müssen zusehen, wie die EMERALD JADE in der Ferne immer kleiner wird.“
„Nicht gerade das beste Bild, würde ich sagen.“
Jean Falkner dachte an eine andere Rettungskapsel, und musste ihrem Vorgesetzten Recht geben: „Nein, da hast du Recht. Los, komm schon. Es wird Zeit, dass du auch eine Mütze Schlaf bekommst. Und ich auch. Sonst verschlafen wir noch die nächste Katastrophe. Oder die Meuterei, die Jayhawker wahrscheinlich anzuzetteln im Begriff ist.“
Aber sie musste ihm schon unter die Arme greifen, um Tremane auf die Beine zu bekommen. Und obwohl er dann aus eigener Kraft den Weg zu seinem Quartier finden konnte, blieb sie immer einen halben Schritt hinter ihm, um ihn aufzufangen, falls er stolpern und lang hinschlagen sollte. ‚Und das beschreibt perfekt meine Aufgabe. Verdammt.’ Allerdings war sie sich auch nicht ganz sicher, ob sie selber sich noch auf ihre Standfestigkeit verlassen konnte.
Im Gegensatz zu den anderen an Bord der EMERALD JADE wussten sie und Tremane, worum es hier wirklich ging. Sie beide gingen den gleichen Weg, obwohl ihr Ziel möglicherweise ein anderes war.
Sie wusste nicht, wie ihr Vorgesetzter mit dem Wissen um die mögliche Bedeutung ihrer Mission umging - und vor allen Dingen mit den Gefahren, die vielleicht noch auf sie warteten mochten, und die auf einmal zu einer hässlichen, bedrohlichen Realität geworden waren - aber zumindest ihr machte es eine Heidenangst. Normalerweise begegnete sie einem solchen Gefühl damit, dass sie es betäubte – oder zum Angriff überging. Aber beides ging jetzt nicht. Sie würde in den nächsten Tagen einen verdammt klaren brauchen, und ansonsten…es gab nichts, was man angreifen konnte.
Tremane hatte es ja selber gesagt. Es gab nur das gleichgültige All. Rätsel. Schatten. Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die töten konnte.
Cattaneo
Cunningham
Victoria Station,
Geschwaderräume 127. Fighter Wing
Die Hälfte der Staffeln der Angry Angels teilten sich zu zweit einen Umkleideraum, die drei Bomberstaffeln nahmen allein aufgrund ihrer Größe einen einzelnen Raum in Beschlag. Und da sich die beiden Abfangjägerschwadronen und die beiden Nighthawkschwadronen jeweils einen Raum teilten, hatten die glücklichen Griphenpiloten am meisten Platz.
Während auf den moderneren Trägern jede Staffel ihren eigenen Umkleideraum hatte, der auch noch so angelegt war, dass die Spinde in der Mitte eine Trennwand bildeten, sodass Männlein und Weiblein eine gewisse Privatsphäre vergönnt war, war Victoria Station in einer Zeit entstanden, als die Navy der kompletten Gleichstellung hinterher gehechelt hatte, wie sie damals Mode gewesen war, so dass es für jede Staffel eine Reihe Spinde gab, die sich genau gegenüber lag. In der Mitte war eine breite Bank. Männer und Frauen mussten sich so arrangieren. Aber zumindest gab es getrennte Duschen.
Das war so auf Victoria Station, das war so auf Trafalgar Station gewesen, und auf Suez Station über Deneb war es ebenso. Bei neueren Stationen wie Perseus hingegen hatte man wieder eine gewissen Geschlechtertrennung durchgeführt, und vor dem Krieg hatte diese auch zu den Prioritäten des Space Defence Phalanx Modernisation Program gehört, um die großen Festungen und Flottenstützpunkte upzugraden.
Lucas packte gerade seine Reisetasche für den Flug zur Derflinger, als Mantis hineinplatzte: „Hey, Skipper. Erstens, das mit den neuen Nighthawks hat geklappt, die alten Kisten habe ich an die Butcher Bears abgeschoben. Jetzt können die mal sehen, wie das ist, wenn man nur die alten Reste bekommt. Und zweitens, das hier hat einer von Dodsons Assis für Sie abgegeben.“
„Pünktlich auf die Sekunde.“ Der Kommandeur der roten Schwadron nahm den Karton entgegen und holte seinen alten Fliegerhelm hinaus. „Sehen Sie sich das an, die neuen Verschlüsse, die neuen Filter, exzellent.“
„Sie wissen aber schon, dass Sie damit gegen mindestens drei Vorschriften verstoßen?“
Lucas hielt seiner XO den mitternachtsblauen Helm hin, der als Motiv einen Wolfskopf in grau, schwarz und weißer Färbung von der Mitte aus über die rechte Hälfte zeigte. Links über dem Sichtschlitz stand in goldenen Lettern sein Callsign: „Mantis, selbst wenn Sie mir einen Künstler finden, der mir dieses Bild eins zu eins auf den neuen Helm bringen könnte, ich würde meinen Helm nicht hergeben.“
„Ja, ja, ganz schick. Ich habe hier noch den Flugplan für unsere Staffel für die nächsten Tage, da muss noch Ihre Unterschrift drunter.“
„Was heißt hier schick, gucken Sie sich das mal genauer an.“
Leicht genervt nahm Mantis den Helm entgegen und betrachtete den Wolfskopf genauer. Sie runzelte die Stirn und hielt ihn neben Cunninghams Kopf: „Wow, die Augen sind Ihren nachempfunden. Das ist wirklich eine fantastische Arbeit.“
„Hey, wo finde ich denn hier den Boss?“ Die neue Stimme gehörte einer Frau, die etwa so groß war wie Cunningham, also einen halben Kopf größer als Mantis, jedoch ein breiteres Kreuz besaß als die beiden älteren Piloten.
Die kurzärmelige Tropenuniform zeigte deutlich muskulöse Arme. Die dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten. Das scharf geschnittene Gesicht hätte vielleicht als hübsch durchgehen können, wäre da nicht der deutlich sichtbare Bodybuilder-Körper.
Mantis deutete auf Cunningham: „Der da ist der Boss, ich bin XO.“
Die Pilotin trat an die beiden heran und salutierte: „First Lieutenant Beverly Carr, melde mich zum Dienst.“
Lucas erwiderte den Gruß: „Commander Lucas Cunningham, das ist Lieutenant Shaw.“
Sie gaben einander die Hände, erst Cunningham, dann Mantis. Und Carr sah nicht nur aus wie eine Gladiatorin, sie hatte auch so einen Handschlag.
„Cunningham? Lone Wolf Cunningham? Ich habe einiges über Sie gehört, Sir.“
„Danke, ich versuche meiner eigenen Legende gerecht zu werden.“
Mantis räusperte sich übertrieben: „Sie sind reichlich früh dran, Lieutenant.“
„Ja, mein Transport von Perseus ging etwas früher und ich musste meinen Urlaub abbrechen. Gibt es denn schon was zu tun, oder kann ich meinen Urlaub beenden?“
„Sie könnten sich schon mal mit den neuen Raumanzügen vertraut machen.“, erwiderte Mantis, ehe Lucas etwas sagen konnte. „Ansonsten können Sie es erstmal ruhig angehen lassen, und vielleicht schauen Sie sich schon mal ihre Maschine an.“
„Klar, sind die Spinde noch zur freien Auswahl?“
Lucas deutete auf die gegenüberliegende Seite: „Die gehören den Bears, hier auf dieser Seite können Sie unter den leeren frei wählen.“
„Cool.“, Carr suchte sich einen Schrank aus, stellte den Scanner des Schlosses auf ihren Daumenabdruck ein und beschriftete das Schild mit ihrem Callsign 'Titan'. „Die Maschinen stehen im Hangar unter unserem Flugdeck?“
Mantis bejahte und nötigte dann Cunningham die Unterschrift für den Flugplan ab.
Sie wollte sich gerade verabschieden und in den dem Umkleideraum angeschlossenen Bereitschaftsraum der Schwadron zu gehen, als sie bemerkte, dass Titan sich ganz ungeniert umzog und die Tropenuniform gegen einen Arbeitsoverall tauschte.
„Was, noch nie einen nackten Soldaten gesehen.“, fragte diese, als sie Mantis Blick bemerkte und den Schrank abschloß, „Welche Maschine kann ich mir denn nehmen?“
Etwas konsterniert suchte die XO auf ihrem Datapad die Maschinen heraus: „Eins-null-vier ist noch frei.“
Titan salutierte andeutungsweise und entschwand. Es war zu hören, dass sie draußen auf dem Gang zu joggen anfing.
Mantis fuhr zu Lone Wolf herum: „Haben Sie die Muskeln gesehen?“
Dieser grinste dreckig: „Ich habe nicht auf die Muskeln geachtet.“
„Männer!“
„Für Prüderie sind wir hier auf der falschen Station, aber wenn Ihnen so etwas unangenehm ist, drehen Sie sich besser um, weil ich gleich duschen will.“
„So was habe ich alles schon mal gesehen.“
Lucas betrat den Briefingroom für die Rawhides, das Unterstützungsschwadron der Angry Angels. Die gerne als Busfahrer verspotteten Shuttlepiloten waren nicht anwesend.
„Guten Tag, Gentlemen.“ Er blickte sich um und tatsächlich umfasste die Gruppe nur Männer. „Wie Sie alle wissen steht uns ein zweitägiger Trip zur Derflinger bevor. Die Kampfgruppe der Derflinger formiert sich in der Nähe des achten Planeten des Systems, genannt Hanson, nach dem Navigator der Gallant, mit der Masters und Seafort Sterntor bei ihrer ersten Fahrt hierher kartographierten. Unser S-41 wird den Hinflug so schaffen, die von Trash geflogene Thunderbolt wird zwei Zusatztanks benötigen, und der Flug wird etwa sieben Stunden dauern.“
Auf dem Wandmonitor wurde der Kurs von Victoria Station zur vorherberechneten Position der Derflinger aufgezeigt.
„Der Rückflug wird für uns treibstoffmäßig dann nicht mehr möglich sein und wir werden unterwegs aufgetankt. Das wird uns fast vierzehn Stunden kosten.“
„Ein Hoch auf die Einsatzplanung der Navy.“, murrte Ferret, der zusammen mit Trash die Thunderbolt für die Übungen auf die Derflinger überstellen würde. „Kann mir einer sagen, warum diese Trägerqualifikation nötig ist? Ich meinen Träger, Flottenträger oder Raumstation, wo ist da der Unterschied?“
„Lieutenant,“, meinte der Count, der sich zu Ferret umdrehte, „wenn Sie das Landedeck einer Raumstation nicht von der eines Trägers unterscheiden können, sollten Sie vielleicht zu den Marines gehen.“
Damit hatte der XO der Bomberschwadron die Lacher auf seiner Seite.
„Sehr witzig, seit Hungry Joe über uns arme Jabo-Piloten hergefallen ist, haltet ihr Bomberjocks euch echt für die Größten.“, knurrte Ferret.
„Sie hätten die Lektion lernen sollen, die Joe dem werten Skunk erteilt hat, NIEMAND spielt mit Hungry Joe Poker. Außer vielleicht Mr. Cooper hier.“
Der frisch gebackene LSO der Columbia machte ein finsteres Gesicht.
„Gut.“, unterbrach Lucas die aufkeimende Frotzelei. „Hat jemand unseren Passagier gesehen, Lieutenant Commander Rubenbauer?“
Allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm.
„Naja, wir haben keine Zeit zu verschwenden, gehen wir es an. Sie haben ein Shuttle organisiert, Mr. Cooper?“
„Yessir, ich brauche nur noch einen Co-Piloten.“
„Das mache ich.“, drängelte sich Lucas vor, bevor einer der anderen sich melden konnte. Wenn er schon Bus fahren musste, dann wollte er zumindest auf dem Beifahrersitz landen und nicht wie die restliche Fracht im Passagierabteil enden.
Indem er seinen Seesack schulterte, gab Lone Wolf das Signal zum Aufbruch. Trash und Ferret, die ihre Raumanzüge trugen, übergaben Zombie und Knock-Out ihre Reisetaschen, nicht ohne dass letzterer seinen Unmut kund tat.
In der Tür rannte Lucas in einen jungen Mann, eher einen Knaben. Dieser verzog bei der wirklich leichten Kollision das Gesicht und hielt sich schützend die rechte Seite: „Tschuldigung, Sir.“
Der Angry Angel musterte den Jungen kritisch: „Was zur Hölle machst Du…machen Sie hier? Zivilisten haben hier nichts verloren!“
„Oh, ich bin Lieutenant Commander Rubenbauer. Ich suche Commander Cunningham.“
„Sie sind Rubenbauer? Sie sind reichlich spät, wir wollten gerade aufbrechen.“
„Yeah.“ Rubenbauer lächelte fröhlich. „Ich wurde von den Türstehern aufgehalten.“
„Wie dem auch sei, schnappen Sie sich Ihr Gepäck, wir müssen los.“
„Aye-aye, Sir.“
Der Start brachte noch die üblichen Verspätungen mit sich, aber eine Stunde später war das Shuttle auf dem Weg zur Derflinger.
Und obwohl Red Cooper sein Bestes gegeben hatte, das Admiralsshuttle der Rawhides zu bekommen, hatte deren CO die Anfrage mit den Worten abgelehnt: „Nur über meine tote, kalte Leiche hinweg werde ich das Amiralsshuttle an eine Bande Jetjockeys ausleihen um eine Spriztour zu machen, vor allem während unser neuer Admiral schon im System ist!“
So startete die Expedition zur Derflinger in einem normalen Personenverkehrsshuttle der Navy. Letztlich war es tatsächlich nur ein Bus, der weltraumfähig war und viele Sitzreihen besaß, jeweils zwei Reihen die sich gegenseitig angucken und für die sechs Lieutenant Commanders, einen Commander und zwei Lieutenant Junior Grade mehr als genug Platz, jedoch wenig Komfort ließen.
Während Knock-Out, wie es die Rüpel in der Schule nunmal so taten, sich ganz hinten hinflegelte, dankte er Gott dafür, seinen eigenen Musikplayer mitgebracht zu haben, da der Militärsender, den sie hier zur Unterhaltung spielen konnten, seiner Meinung nach wirklich viel zu konservative, zehn Jahre alte Rockmusik von sich gab.
Zombie, auch wenn von der Musik nicht allzu angetan, war froh auf diesem Flug nicht in der Thunderbolt eingesperrt zu sein, denn die würde nicht mal den Militärsender empfangen.
Die alten Herren, wie Knock-Out sie wenig feinfühlig genannt hatte, also die fünf Lieutenant Commander die ihnen Gesellschaft leisteten, hatten sich vorne zusammengerottet, und Sean Grover hatte seinen Flightsuit herausgekramt.
Gemeinsam gingen sie nochmal die neuesten Funktionen des Anzugs durch. Rubenbauer, der wie alle Piloten der Derflinger noch den alten hatte, blickte zwar sehr interessiert aber auch etwas neidisch drein.
„Schaut Euch nur all den Mist, den dieser Anzug besitzt.“, murmelte Grover, dann lauter: „Vitalmonitor, Sauerstofffilter, die gut eine Woche arbeiten und mit einem Minimum an externer Reserve auskommen...Und hier das Medkit, welches am Vitalmonitor angeschlossen ist und Aufputschmittel und andere Medikamente verabreichen kann.“
„Was für andere Medikamente?“, fragte der Count.
„Narkotika, um jemanden ins künstliche Koma zu versetzen.“, antwortete Blackhawk anstelle von Grover. „Wenn man länger als drei Tage im All schwebt, wird man vom Anzug sediert, so dass man bis zu weitere zehn Tage überleben kann.“
Kevin Schwimmer zog die Stirn kraus: „Kann der Anzug einen denn so lange am Leben halten, ich meine wegen der Kälte uns so? Guckt ihn euch doch mal an, das Ding ist viel beweglicher als die alten MK-10-Anzüge, die kann man doch ganz bequem in der Messe oder so tragen.“
„Die Isolierung ist einfach Wahnsinn!“ Grover krempelte den linken Ärmel um und zeigte seine Kameraden die Innenfütterung. „Smartgewebe, das passt sich seiner Umgebung an, damit könnte man Sport machen, Fußball spielen, am Stand spazieren gehen...“
„Fußball ist Sport.“, warf Rubenbauer ein, was ihm einige Lacher und einen bösen Blick von Seiten Grovers einbrachte.
„Vielleicht kriegen wir ja beim Skipper durch, dass wir eine Dirty-Shirt-Messe bekommen.“, meinte Grover.
„Eine was?“, wollte der Count wissen.
„Na ja, auf den ersten Flugzeugträgern, damals auf der Erde,“, auf den verständnislosen Blick von Schwimmer hin schüttelte Grover nur den Kopf, „zur See! Da war es üblich, dass die Geschwader eine Messe hatten, wo sie in ihren Flightsuits und G-Anzügen rein konnten und sich nicht erst die Borduniform anziehen mussten. Mit den alten Raumanzügen ein Ding der Unmöglichkeit, aber mit diesen Schätzchen, warum nicht?“
„Das werde ich Ihnen sagen, Sean“, knurrte der Count. „Wir sind Offiziere und als solche sollen wir unter anderem als Beispiel dienen. Und wir sind nicht alle Amerikaner, die es mit ihrer Vorbildfunktion nicht so ganz genau nehmen.“
„Ich komme von Ceres II, ich bin kein Amerikaner.“
Rubenbauer prustete los: „Und ich dachte immer, Ceres sei von einem nordamerikanischem Konsortioum besiedelt worden.“
Wieder funkelte Grover den fremden Piloten an: „Das steht hier aber nicht zur Diskussion. Auf Ceres II. haben wir jedenfalls die stärksten Waffengesetze des ganzen Bundes.“
„Ja, weil ihr euch damals beinahe gegenseitig ausgerottet hättet.“, warf jetzt Schwimmer ein.
„Ja, ja, immer auf die arme Aussiedler, das ist typisch irdische Diskriminierung.“, hielt Grover dem Gelächter seiner Kameraden entgegen.
Von ganz hinten brüllte Ferret auf einmal: „Genau, nieder mit den Erdlingen!“
Im Cockpit hatte sich derweil Stille breit gemacht.
Red Cooper war so nahe an seinem eigentlichen Element, wie es nur ging. Seit er vor über einem Jahr verwundungsbedingt die Fliegerei an den Nagel hängen musste, versah er Schiffsdienst. Als erfahrener Pilot war es da nur logisch, dass er als LSO – Landing Signal Officer – eingesetzt wurden. Ein wichtiger Job auf Trägern, bei Piloten jedoch weitestgehend unbeliebt. Zu Friedenszeiten war es eigentlich normal, dass ein Lieutenant Senior Grad irgendwann während seiner Dienstzeit ein oder zwei Turns als LSO auf einem Träger absolvierte, ehe er wieder in den normalen Flugbetireb ging und eine höhere Position bis hin zum Commander einer Schwadron anstrebte. Ebenso war es für die Aussteiger, die nach ihren neun Pflichtjahren nach der Akademie ins Zivilleben zurückkehrten, einer der letzten Dienstposten, um sie aus der Gefahrenzone des Flugdienstes herauszuholen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf ihre zivile Karriere vorzubereiten.
In Kriegszeiten waren LSOs händeringend gesucht, da die Geschwader so gut wie keine flugfähigen Offiziere herausgaben. Also war es ein Posten für jene Piloten, die sich von Verletzungen erholten oder aufgrund von Verletzungen permanent flugunfähig waren.
Dabei hatte Cooper noch Glück gehabt. Theoretisch war da die Wahl gewesen, ob er zu einer Unterstützungsschwadron oder zum Borddienst versetzt wurde. Aber der ehemalige Abfangjägerpilot hatte entschieden, dass er kein Taxifahrer war, und sich zum Borddienst gemeldet. Jetzt, wo er endlich mal wieder hinter dem Steuer einer Maschine saß, auch wenn es nur ein S-41 war, wusste er, dass er einen Fehler begangen hatte.
Aber jetzt war es zu spät, seine Beurteilung war ausgezeichnet. Und der Sprung zum Lieutenant Commander war schneller gewesen als bei einer fliegenden Einheit. Außerdem würde er jetzt Air Boss der Columbia werden, und damit würde ihm das Flugdeck eines der bekanntesten terranischen Trägern gehören. Und wenn er die Aufgabe gut meisterte, würde er bald Commander werden. Und dann würde wohl eine Abkommandierung auf ein kleineres Schiff als Erster Offizier erfolgen, und dann wohl der Perisher.
Aber jetzt, wo er dieser lahmen Krücke die Sporen gab, da vermisste er im Stillen das Fliegen sehr. Zum Glück hatte er mit Cunningham einen ruhigen Co-Piloten, der ihn nicht vollquatschte.
„Sie verbrennen zuviel Sprit, Red.“
Wenn man vom Teufel spricht: „Wie bitte?“
„Sie manövrieren zuviel. Wir werden mit dem Treibstoff nicht bis zur Derflinger kommen.“
Cooper überprüfte die Treibstoffanzeige. Ja, Cunningham hatte recht, aber zum Teufel: „Lassen Sie dass mal mein Problem sein, Commander, ich habe für den Vogel unterschrieben, ich bin der Pilot.“
„Na, wenn Sie meinen.“
Die beiden Piloen verfielen wieder ins Schweigen.
Als sie etwa eine halbe Stunde von der Derflinger entfernt waren, wurden sie von deren Patrouille angefunkt: „Unidentifizierte Flugobjekte auf Kurs zwo-neun-neun, hier Albatros eins-null-acht, auf der allgemeinen Wachfrequenz, identifizieren Sie sich, kommen.“
„Albatros eins-null-acht,“, antwortete Lucas, „hier Rawhide neun-null-drei und Harpooneer drei-eins-eins mit Kurs auf Roncalli, wir kommen von Victoria Station für Übungsflüge.“
„Rawhide neun-null-drei, Albatros eins-null-acht, verlangsamen Sie auf einhundertzwanzig km/s und warten Sie auf Freigabe.“
„Albatros eins-null-acht, Rawhide neun-null-drei, verstanden.“, antwortete Lucas. Roncalli, die Codewörter für die Träger wurden auch immer abstruser.
Nach etwa einer Minute antwortete der Pilot der Derflinger: „Rawhide neun-null-drei, Albatros eins-null-acht, schalten Sie um auf Roncalli Wachfrequenz, Delta-vier-zwo, Rufzeichen des Spacewacs ist Hawker fünf-null-fünf, guten Flug.“
Zur Bestätigung klickte Lucas zweimal mit dem Funkgerät und ging dann auf die angegebene Funkfrequenz, um dann mit dem S-41 Spacewacs Raumüberwachungs-Shuttle Kontakt aufzunehmen: „Hawker fünf-null-fünf, hier Rawhide neun-null-drei, von Victoria Station, bitten um Freigabe und Annäherungsvector für Roncalli.“
„Rawhide neun-null-drei, Hawker fünf-null-fünf,“, erklang die gelangweilte Stimme eines Radartechnikers, der sich wohl schon zu Tode gelangweilt hatte, obwohl er sicherlich gerade mal zwei Stunden hinter seinem Radarschirm saß und nicht wie Lucas, der dass schon den halben Tag machte, „ändern Sie ihren Kurs auf zwo-sieben-zwo, Sie haben Anflugerlaubnis für Roncalli. Nähern Sie sich von grün vier.“
Ehe Lucas bestätigen konnte klopfte ihm Cooper auf den Arm: „Wir brauchen einen Tanker, wir sind etwas short, was den Saft angeht.“
„Können uns Trash und Ferret nicht was abgeben?“
„Die haben zwar genug,“, gab der Pilot zu, „aber keine Tankvorrichtung an ihren Zusatztanks.“
„Ich hab's Ihnen ja gesagt,“, knurrte Lucas, „Hawker fünf-null-fünf, Rawhide neun-null-drei, bestätigt, aber wir sind Bingo Fuel, wir brauchen einen Tanker.“
„Rawhide neun-null-drei, Hawker fünf-null-fünf: Einen Tanker? Wir sind doch noch in Reichweite für Seafort.“
„Hawker fünf-null-fünf, Rawhide neun-null-drei, wir sind halt Jet-Piloten.“
Der Radartechniker blieb Lucas eine Antwort darauf schuldig. Etwas später meldete er ihnen, dass die Derflinger einen Tanker gestartet hatte.
Nach dem Auftanken ging die Landung ganz routiniert vonstatten, auch wenn Cooper einen etwas angespannten Eindruck machte.
Kurz nach dem Shuttle wurde die Thunderbolt von Trash und Ferret an Bord gebracht. Der Jagdbomberpilot legte einen Eins-A Touchdown hin. Wie es sich für einen Angry Angel gehörte, befand Lucas.
Die Piloten der Columbia wurden von einem Lieutenant Commander Warner begrüßt, dem Air Boss der Derflinger. Dieser begrüßte erst Conti freundschaftlich, ehe er allen Gästen die Hand gab.
„Sie haben Glück Commander“, meinte Warner zu Cunningham, „wir haben heute Deutschen Abend, da gibt es Bierchen und Schnitzel.“
Etwas irritiert blickte sich Lucas zum Count um, da Warner schon dabei war die Thunderboltcrew zu begrüßen: „Was zur Hölle sind den bitte Schnipsel?“
„Schnitzel, Sir, Fleisch, lecker.“
„Aha, Commander Warner, ich will ja nicht unhöflich erscheinen aber wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“
„Ich weiß, aber ein Bierchen wird doch wohl in Ordnung sein, oder?“
Lucas hätte verneint, wenn er gewusst hätte, dass auf der Derflinger Bierchen im Literbecher ausgeschenkt wurde. Auch hätte er während seiner Offiziersausbildung an der Accademia Navale di Livorno* in Italien öfters Deutschland besucht, wie einige seiner Kameraden.
Und die „Schnipsel“ waren gut sechshundert Gramm schwere, platt geklopfte Fleischplatten in knuspriger Panade. Tatsächlich war es ein sehr geselliger Abend mit den Offizieren der Derflinger. Vor allem der erste Offizier war ein netter Kerl und guter Erzähler.
Vom Geschwader hingegen war wenig zu sehen, der Flying Circuis hatte den ganzen Tag über Manöver abgehalten und führten jetzt die Standardpatrouillen aus.
Die CAG und die verschiedenen Staffelführer ließen sich kurz blicken, Demolisher, ein alter Angry Angel, blieb etwas länger um seine Bekanntschaft mit den Angehörigen des Geschwaders zu erneuern.
Kali hingegen bekamen sie nicht zu Gesicht.
Als Lucas am Ende des Abends in seine Koje schlüpfte, war er froh, morgen nicht fliegen zu müssen. Und zum Glück hatte er nicht soviel getankt, dass er nicht mehr in das obere Bett klettern konnte, denn die untere Koje wurde von dem selig schnorchelnden Count okkupiert.
TRS Derflinger
0,015 Lichtstunden südlich von Seafort, Sterntor
Wie Lucas vorhergesehen hatte, war das Aufstehen am nächsten Morgen relativ schwer, als um null-vierhundert die Hundewache abgelöst und das allgemeine Wecksignal für den Tag gegeben wurde. Der Operationsoffizier der Angry Angels überlegte kurz, wie die ATO – Air Tasking Order, Tagesflugplan - für den heutigen Tag aussah, beziehungsweise, was er mit dem Ops-Offizier des Flying Circuis abgesprochen hatte.
Letztlich entschied er sich jedoch sofort aufzustehen, auch wenn die Operationen der Angry Angels erst am späten Vormittag anliefen.
Er rutschte aus seiner Koje und federte sich bei der Landung mäßig elegant ab. Der Count rührte sich im unteren Bett, blickte auf die Uhr und drehte sich mit einer gemurmelten Unflätigkeit wieder herum, wobei er sich die Bettdecke übers Gesicht zog.
Lone Wolf ging unter die Dusche und zog sich anschließend einfache Dienstuniform an und wollte schon gehen, doch am Schott hielt er kurz inne. Er entschied sich noch dafür das Basecap mit dem Columbia-Emblem aufzusetzen, so dass jeder an Bord ihn als Gast identifizieren konnte.
Auf dem leichten Träger erwachte so langsam das volle Leben und auch die Messen füllten sich.
Obwohl die Majestic Klasse mit knapp über der halben Länge der Pegasus Klasse neben dieser wie ein Zwerg wirkte, waren diese Schiffe mit 38.000 Tonnen riesig. Sie waren ein Zuhause für über zweitausend Männer und Frauen, beherbergten insgesamt sechzig Jäger, Jagdbomber und Shuttles, wobei bei der Derflinger die Jagdbomber durch richtige Angriffsmaschinen vom Typ Crusader ersetzt worden waren.
Und wenn die nächste oder übernächste Generation von Nighthawk oder ihrem Nachfolger keine reinen Überlegenheitsjäger mehr sein würden, sondern auch noch die Rolle von Jagdbombern übernehmen sollten oder wenn die nächste Generation von Thunderbolt das Feld des Raumüberlegenheitsjägers voll ausfüllen konnte, würde mit den neuen MK III.-Majestics die Schlagkraft der Flotte exponentiell wachsen.
Er hingegen würde dann wohl oder übel wohl wieder auf die leichten Abfangjäger umsteigen müssen und die heutigen Falcons waren wahrlich ein würdiger Nachfolger der Typhoon, die er zu Beginn seiner Karriere geflogen war.
Die Pilotenmesse war schon gut gefüllt, als Lucas dort eintraf. Er holte sich zuerst einen Kaffee und stellte sich dann mit einem Tablett an der Schlange an.
Sofort wurde er erkannt und in Gespräche mit den anderen Piloten verwickelt, Angebote ihn vor zu lassen, lehnte er höflich ab.
Als er dran kam, sah er, dass die Küche auch noch Schnitzel von gestern Abend anbot und ihm verging spontan der Appetit.
„Wir haben auch noch das normale Frühstücksangebot, Sir, Pfannkuchen, Brötchen, Eier, was Sie möchten.“
„Geben Sie mir ein paar Pfannkuchen, Smut.“
Als er sich mit seinem Frühstück einen Tisch suchen wollte, wurde er von einer jungen Pilotin, gerade mal eine Hand breit höher als ein Schäferhund, abgefangen: „Setzen Sie sich doch zu uns Nighthawk-Piloten, Sir.“
Ohne eine Antwort abzuwarten schob sie ihn auch schon in eine bestimmte Richtung.
„Zischt ab Ihr Looser.“, wehrte sie die Proteste anderer Piloten ab.
„Der is' nix' für Dich, Bobcat, der ist verheiratet.“, rief eine hochgewachsene rothaarige.
„Ha-Ha, sehr witzig hören Sie nicht auf die Neidhammel, man hat nicht jeden Tag Gelegenheit mit einer lebenden Legende zu frühstücken.“, Bobcat schien ihn regelrecht zu schieben.
„Lieutenant, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass Ihre Schmeichelei bei mir nicht funktionieren...“
„Ich wollte nicht schleimen, Sir, aber es wäre…“
„...dann würde ich lügen, aber hören Sie bitte auf mich zu schubsen, ich komme schon freiwillig mit.“
Am Tisch der Nighthawkschwadron der Derflinger erhoben sich die dort schon sitzenden Piloten.
Nun bekam Lucas auch mal wieder Kali zu Gesicht.
„Commander.“, grüßte ihn die ehemalige Angry Angel kühl.
„Kali, Ladies, Gentleme.n“, kaum dass er sich gesetzt hatte wurde er mit Fragen bombardiert. Über die Schlacht von Manticore, Corsfield, die Jagd nach Prinz Jor und die Schlacht bei Karrashin.
Nach der ersten Runde des Fragespiels plätscherte das Gespräch ein wenig vor sich hin und man unterhielt sich über die verschiedenen Jahrgänge der Nighthawks und die Entwicklung des Jägers während des Krieges, über die verschiedenen Manöver, wie man am besten eine Bloodhawk ausmanövrierte.
„...und dann würde ich zum von Bein übergehen und die Schuppenflechte aus dem All blasen, einfach so.“, beendete ein junger Pilot, dessen Callsign Joker lautete, seine Erklärung.
Lucas nahm einen Schluck von seinem mittlerweile erkalteten Kaffee, legte den Kopf schräg und fixierte Joker.
„Was denn?“ Wollte dieser wissen, als ihm die Betrachtung unangenehm wurde.
„Wenn Sie auf das von Bein angewiesen sind, Lieutenant, dann ist schon was schief gelaufen.“
Der jüngere Nighthawkpilot blinzelte: „Wie meinen Sie das?“
Doch statt Lucas antwortete Kali für ihn: „Weil der Akarii sich in einer perfekten Sechs-Uhr-Position befindet und in acht von zehn Fällen schießt der Akarii die Nighthawk ab, wenn sie zum von Bein übergeht.“
Bobcat schluckte: „In acht von zehn Fällen?“
„Ja,“, bestätigte Lucas kalt, „fünf von zehn unserer Jungs haben das von Bein nicht richtig drauf und versauen es, und in weiteren drei Fällen ist die Echse so gut, dass sie einen einfach auskontert. Sie dreht entgegengesetzt ein, taucht über einen hinweg und eröffnet das Feuer und beendet die Angelegenheit mit einer Rakete als Sahnehaube.“
Joker blickte betreten drein, während Bobcat den Blickkontakt zu den Veteranen ihrer Staffel suchte, von denen einer bedächtig nickte, der andere funkelte Lucas wütend an.
Dieser ordneten den letzten im für Piloten wirklich gefährlichen Stadium ein, zwischen dem Grünschnabel und dem abgekochten Veteran. Wahrscheinlich hatte er schon das Kampfgetümmel erlebt und zwei, vielleicht drei Abschüsse erzielt, hielt sich für einen aufsteigenden Stern, der alles wusste, der bei den Einsatzbesprechungen abschaltete und sich das Gerede des Staffelführers nicht mehr anhörte, den die Warnungen und Hinweise einfach nur noch langweilten.
Einer jener, der seine Kameraden sterben sah und der felsenfesten Überzeugung war, ihm könne so etwas nicht passieren, weil er ja so viel schlauer war.
„Mal was anderes, Lone Wolf,“, riss Bobcat ihn aus den Gedanken, „wir treten heute gegen die Butcher Bears an, haben Sie da noch ein paar Tips für mich?“
Einen Augenblick war Lucas versucht Kano in die Pfanne zu hauen, doch Kali würde dem sicherlich davon erzählen und dann wäre der kleine Samurai plötzlich sehr wachsam ihm gegenüber. Also entschied er sich dagegen, auch wenn es ihm durchaus gelegen gekommen wäre, wenn die Bären erstmal nicht ganz so gut aussehen würden: „Fragen Sie doch Ihre XO, Lieutenant.“
„Menno, Sie sind doch mit ihm geflogen.“
„Fliegen,“, konterte Lucas, „das ist mein Stichwort, ich muss noch in die PreFlight und dann muss ich so langsam mal meine Rasselbande aufscheuchen.“
Zu Lucas Überraschung war Cooper schon in der Flight-Ops und unterhielt sich mit dem Operationsoffizier des Geschwaders, Lieutenant Commander Mendoza, und dem Air-Boss, und ihm berichtete, dass er alle Angry Angels schon hoch gescheucht hatte.
Der Air-Boss bot ihm Kaffee und Zigaretten an. Ersteres nahm er an.
„Also Red,“, meinte der Ops-Offizier des Flying Circus gerade, „vielleicht sehen sich Ihre Leute mal das Katapult genauer an. Wir haben keinen Dampfkatapult mehr, das ist ein moderner Magnetschlitten, der die Jäger raus schleudert.“
„Ist gut, wann können wir das machen?“
„In gut einer halben Stunde schicken wir unsere Nighthawks raus, dann lässt sich das sicherlich einrichten. Wir haben auch schon eine Crusader vorbereitet. Braucht ihr für die Prüfungen noch einen voll qualifizierten Piloten?“
„Japp, das wäre gut.“
Lieutenant Commander Warner, der Air-Boss, aktivierte den Kartentisch, um den sich die Offiziere versammelt hatten.
Mendoza nahm seinen Kontaktstift und erklärte die Vorgehensweise: „Als erstes werden wir einen Tanker ausbringen und dreißig Klicks hinter der Derflinger Position beziehen lassen. Um elf Uhr dreißig ist geplant mit der Übung zu beginnen. Als erstes sind Ihre Jabo-Jocks drann.
Als Boje dient die TRS Laredo“, er berührte das Symbol eines schweren Kreuzers aus der Flottille der Derflinger, welches jetzt grün beleuchtet wurde, „Ihre Jungs werden in einer elliptischen Bahn zur Laredo fliegen, von dort aus geht es zum Tankshuttle, Kennung Hawker fünf-null-drei, werden es umrunden und dann die Derflinger über rot drei anfliegen. Die ersten beiden Landungen werden über ATLS stattfinden, die dritte wird einen manuelle Landung ohne ATLS. Vor der dritten Landung wird aufgetankt. Als letztes und viertes wird eine komplette Notlandung mit Master-Alarm an Bord des Jägers ausgeführt.“
Lucas verzog das Gesicht: „Master-Alarm ist doch für so eine Prüfung gar nicht vorgesehen.“
„Sind Sie jetzt die Angry Angels oder nicht?“, erklang eine dunkle Stimme hinter Lucas.
Alle Offiziere um den Kartentisch fuhren herum. Der Neuankömmling war hereingekommen, ohne das einer der vier Offiziere es mitbekommen hatte.
Der Offizier stand vor einer Plexiglasswand, wo mittels Fettstift die Landestatistiken in ein Raster eingetragen wurden.
Es war ein mittelgroßer Europäer, der die Pilotenschwingen über der linken Hemdtasche und Commodore Sterne am Kragen trug.
Neben ihm stand im gelben Hemd der Mini-Boss* und grinste hinterhältig.
„Entschuldigen Sie die Störung.“, meinte der Neuankömmling und hielt Lucas die Hand hin, „John Bretten, Verbandskommandeur der Derflinger-Gruppe.“
„Lucas Cunningham, angenehm,“, der Operationsoffizier der Angry Angels nahm die Hand entgegen. Bretten hatte einen starken Händedruck und ein ehrliches, freundliches Gesicht in dem gerade ein schalkhaftes Grinsen versuchte nicht zu sehr aufzufallen, „aber ja, Commodore, wir sind die Besten.“
Einige der Derflinger-Offiziere husteten übertrieben und auch ein 'Hört, hört.' wurde laut.
„Außerdem ist es Ihr Träger, wenn etwas schief geht.“, fügte Lucas hinzu.
„Ach, ich bin sicher der Captain ist bereit dieses Risiko einzugehen,“, antwortete der Commodore munter und verabschiedete sich, „weitermachen.“
Der Rest der Besprechung war reine Routine, ebenso wie die Besprechung mit den Piloten der Angry Angels, zu denen sich Lieutenant Commander Lubicheque der CO der Crusader-Staffel des Flying Circuis gesellte.
Während Lucas die Piloten in die ATO – Air Tasting Order – einwieß, wurde Bereitschaftsalarm fürs Flugdeck gegeben und die Nighthawks der Derflinger gestartet.
*Stellvertreter des Air-Boss und dessen designierter Nachfolger.
Cattaneo
Ironheart
Öffentliche Bibliothek
Victoria Station, Im Orbit um Seafort
Sterntor-System
Die Viktoria Station im Orbit um Seafort war wie so viele andere Orbitalstationen im Grunde eine kleine Stadt, in der schon die eigentliche Besatzung aus bis zu 20.000 Menschen bestand. Auf der Station gab es fast alles an öffentlichen Einrichtungen, die es auch in Kleinstädten auf der Oberfläche gab, wenn auch nicht in demselben Ausmaß. Es gab zum Beispiel Kirchen, Kinos, Schwimmbäder und eben auch eine Bibliothek. Natürlich waren diese Einrichtungen auf der Viktoria Station keine allein stehenden Gebäude, vielmehr waren sie nahtlos in die Station eingefügt worden.
Man konnte allerdings nicht gerade sagen, dass die Bibliothek sich wahnsinniger Beliebtheit erfreute, zumindest nicht bei den knapp 20 niedrigeren Diensträngen, bei denen sich Donovan während seiner Suche nach dem genauen Ort der Bibliothek erkundigt hatte. Erst ein etwas älterer Offizier hatte ihm den Weg weisen können. Und nun stand Donovan in dem wenig eindrucksvollen Raum, der vollgepackt mit altmodischen Büchern zu sein schien. Auch im 27ten Jahrhundert war das aus Papier bestehende Buch immer noch ein mehr oder weniger beliebtes Medium, auch wenn Bookpads, Holostories oder portable Trivideos natürlich den Löwenanteil ausmachten. Doch das klassische Buch war einfach nicht tot zu kriegen, wie die sich auf allen Seiten des Raumes erstreckenden vom Boden bis zur Decke reichenden Regale bewiesen.
Doch schienen an diesem Ort die Bücher einen einsamen Kampf zu kämpfen. Die Ausleihtheke war in der Mitte des knapp 5 mal 20 Meter langen Raumes, darum gruppierten sich einige Tische, die allesamt unbesetzt waren.
Einen Augenblick überlegte Donovan, ob er wieder hinausgehen sollte um sich seinen Tippgeber mal vorzuknöpfen. Doch die Aussicht des Eintrages in seiner Akte aufgrund einer neuerlichen herzlichen Prügelei mit einer Bande von Marines war im Moment nicht gerade erbaulich. Also schritt er an die Ausleihtheke, wo er von einem besonders hässlichen Exemplar der männlichen Spezies begrüsst wurde. Aus einem merkwürdigen pullunderartigen Objekt, welches in einem früheren Leben vielleicht einmal als Kleidungsstück bezeichnet worden war, ragten spindeldürre Arme und ein im Verhältnis zum Ausmaß des restlichen Körpers proportianal viel zu kleiner Kopf heraus. Der offensichtlich stockschwule Bibliothekar flüsterte ihm ein leises „Shalömchen.“ zu und raunte noch ein „Was kann ich denn für dich tun, Süßer?“
Nun gut, dass eine Bibliothek an Bord einer primär aus Militär besetzten Raumstation nicht gerade hoch frequentiert sein würde, war gewissermaßen nicht schwer zu erraten gewesen. Aber wenn diese Bibliothek nun auch noch von einem schwulen, notgeilen und gleichzeitig potthässlichen Sonderling geleitet wurde, war es natürlich umso weniger verwunderlich.
Donovan riss sich zusammen und wandte sich an den Bibliothekar mit einem „Ich bin auf der Suche nach…“ nur um von diesem mit einem „Schhhh, nicht so laut…“ unterbrochen zu werden.
Verdutzt hielt Donovan inne und blickte sich in dem gänzlich leeren Raum um. „Aber hier ist doch niemand…?“
„Shhhh.“ beharrte dieser und zeigte rüber in eine Ecke des Raumes. Was Donovan zunächst entgangen war, war die Tatsache, dass dort drüben eine Bresche in der Regalwand aus Büchern existierte. Da der dahinter liegende Raum ebenfalls mit Bücherregalen gepflastert war, hatte er das zunächst nicht sehen können.
Donovan zwinkerte dem Bibliothekar zu und hoffte im selben Augenblick inständig, dass dieser das nicht missverstehen würde und dann machte er sich auf den Weg zu diesem zweiten Raum.
Als er in dieses Hinterzimmer trat, sah er einen ähnlichen Raum wie den aus dem er kam. Nur gab es hier keine Ausleihtheke und einer der Tische war tatsächlich besetzt. Tief über die Bücher gebeugt, arbeitete die Person gerade an etwas und blickte kurz und flüchtig auf als sie wahrnahm, dass jemand den Raum betreten hatte. Als sie ihn erkannte, lächelte sie freundlich und legte den Stift beiseite.
Als er an ihrem Tisch ankam, stand sie auf, umarmte ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann flüsterte sie:„Donovan, was machst du denn hier?“
„Warum flüsterst du?“
„Serge, legt da viel Wert drauf.“
„Serge?“
„Ja, der Bibliothekar! Hier ist es ruhiger als in der Kirche!“
„Na, kein Wunder…“
„Also, was willst du hier?“
„Ich habe dich gesucht. Du bist seit unserem letzten Treffen unauffindbar gewesen. Und da habe ich mir langsam Sorgen gemacht…“
„Hast du dir Sorgen gemacht oder meine Brüder bzw. mein Cousin?“
Donovan versuchte die spitze Bemerkung nicht persönlich zu nehmen. „Nein, die haben nichts damit zu tun. Ich habe mir Gedanken um dich gemacht und wollte nur wissen, ob Du nun Major Schlüters Angebot angenommen hast oder ob du nun zum 217ten gehen wirst.“
„Und warum willst du das wissen?“
„Na hör mal, ich gehöre doch jetzt zur Familie…!“ Donovan spielte den Entrüsteten und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er durchaus nervös war, zu erfahren welche Wahl Jean treffen würde. Ginge sie zum 217ten würde er sie sehr lange nicht mehr wiedersehen, wenn überhaupt. Bliebe sie bei den Bordmarines der Columbia würde sie zumindest nur für eine Weile auf ein paar Lehrgänge gehen müssen, würde aber prinzipiell wieder kehren.
Doch bevor sie ihm antworten konnte, betrat Serge den Raum, erbost flüsternd: „Also, meine Täubchen, wenn ihr turteln wollt, dann geht’s doch bitte woanders hin, ja? Das hier ist eine Bibliothek und hier wird nicht geredet!“
Jetzt wurde es Donovan aber doch zu bunt. „Nun hör mal zu, du Vogelscheuche…“
Doch bevor Donovan weitermachen konnte, zerrte Jean ihn am Arm aus der Bibliothek. „Hör auf, du Raumjockey, ich will hier nochmal herkommen können, verstanden.“
Grummelnd liess sich Donovan aus dem Raum zerren, aber nicht ohne Serge einen bösen Blick hinterher zu werfen. Dieser streckte ihm wenig beeindruckt die Zunge heraus, ein grotesker Anblick, den Donovan wohl für eine geraume Weile nicht vergessen würde.
***
Kurze Zeit später schlenderten die beiden über eine der zahllosen Promenadendecks, die einen tollen Blick auf die Raumwerft rund um Victoria Station und den Planeten Seafort boten. Wie immer waren die Promenadendecks gut besucht, denn selbst die hartgesottensten Raumfahrer mussten zugeben, dass ein regelmäßiger Blick ins All, auf den Planeten und auf die gigantischen Schiffe der Navy für viele Entbehrungen entschädigen konnte.
Im Panorama der ankommenden und abfahrenden Raumschiffe wandte sich Jean Davis wieder an Donovan.
„Gut, wir waren dabei stehen geblieben, dass Du mir erzählen wolltest, warum es dich interessiert, für was ich mich entscheide. Und damit meine ich, warum du es WIRKLICH wissen willst.“
„Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Kein Grund sich um mich Sorgen zu machen. Ich bin ein Marine.“
Donovan lächelte gequält. „Genau das macht mir ja Sorgen…“
Jean grinste breit. „Na gut, dann will ich deine arme, fürsorgliche Seele mal nicht länger belasten: Ich habe mich entschlossen an Bord der Columbia zu bleiben und Major Schlüters Angebot eines Offizierslehrgangs anzunehmen.“
Innerlich atmete Donovan erleichtert aus. Das Jean nicht in die Fänge der Jumpin` Devils geraten würde, war eine gute Nachricht. „Wie lange dauert der Lehrgang?“
„Naja, man kann es in sechs Monaten schaffen, aber realistischerweise werden es wohl eher zwölf Monate sein. Inklusive eines zweimonatigen Trainingslehrgangs in Fort Bragg auf Seafort.“
„Zwei Monate?“
„Ja, das ist Pflicht. Aber man kann die Zeit in mehrere Module aufbrechen, so dass man nicht Gefahr läuft eine Feindfahrt zu verpassen, sollten wir wieder auslaufen müssen. Aber so wie es aussieht, werden wir ja eh noch eine Weile auf Kiel liegen, oder?“
„Ja, das sieht ganz danach aus.“
Sie schlenderten eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann war es schliesslich Jean, die das Schweigen brach. „Also, ich finde es gut, dass DU dich um mich gesorgt hast. Danke.“ Ihr Lächeln liess Donovans Herz schneller schlagen. „Was ist mit dir, Donovan? Wie läufts bei dir?“
Donovan erzählte ihr von, dass er von nun mit Stuntman an ein neues Callsign verpasst bekommen hatte.
Jean schmunzelte. „Na, das passt wenn ich an die Nummer mit meinem großen Bruder denke! Und wie läuft es mit deiner neuen Wingleaderin?“
„Naja, geht so. Petal gibt sich Mühe, hat aber wirklich nicht das Zeug dazu einen Wing zu leiten. Das alles ist noch viel zu früh für sie.“
„Na, dass muss ja auch hart für sie sein.“
„Wie meinst du das?“
„Naja, wenn ich dich unter mir hätte…“ Donovan versuchte krampfhaft diesen Gedanken nicht bildlich in seinen Kopf sickern zu lassen. Vergeblich. „…dann stelle ich mir das … ahmm… anstrengend vor.“ Vor Donovans geistigem Auge surrte ein Film ab, der mit dem eigentlichen Gespräch gar nichts zu tun hatte. Daher dauerte es einen Augenblick, bis er das gesagte richtig wahrgenommen hatte.
„Wieso?“
„Wart mal, ich versuche mal die richtigen Begriffe zu finden um dich zu beschreiben. Starrköpfig, aufbrausend, nachtragend, besserwisserisch, halsberecherisch, arrogant…“
„Reden wir jetzt hier über mich oder Lone Wolf?“
„Wen? Ach, euren CAG?“
„Ex-CAG.“
„Den kenne ich nicht. Ich sage dir nur, was du mir geschildert hast, Donovan. Ich halte dir nur einen Spiegel vor das Gesicht. Für so etwas sind Freunde da, oder?“
„Ach ja?“ Donovan blieb stehen und schaute hinaus in das Weltall, ohne einen Blick für das Panorama zu haben. Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Zorn und Wut, vor allem auf sich selbst. Wieder einmal zeigte Jean deutlich, was sie eigentlich von ihm hielt. Wie hatte er nur denken können, dass sie etwas für ihn empfand.
„Hör zu, Donovan, ich lerne dich immer besser kennen. Und ich spüre, dass dich die Zurückstufung zum Wingman und Mantis Demütigen tiefer treffen, als Du es dir selbst zugestehen willst. Es wurmt dich, dass deine Karriere den Bach runtergegangen ist und das kann ich gut verstehen.“
„Ach ja? Etwa weil Du jetzt Karriere machst?“
„Ja, aber mich hätte es auch schwer getroffen, wenn man mich nicht gelassen hätte.“
„Die Karriere ist nicht alles im Leben.“
„Das stimmt.“ Jean nickte. „Aber trotzdem finde ich ehrgeizige Männer sexy.“
Bumm.
Das hatte gesessen.
Ein paar Augenblicke blickte er Jean an, eine Mischung aus Wut, Ärger und Trauigkeit in seinem Blick.
Offenbar fiel Jean auf, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. „Hey, Donovan. Komm schon, das sollte ein Scherz sein.“
Er zuckte mit den Schultern und versuchte so zu tun, als ob ihre Aussage ihm nichts ausmachte. Wieder brandete eine Welle der Enttäuschung über ihn hinweg. Betrübt lehnte er sich an eine Absperrung und starrte in die Unendlichkeit des Alls. Das einzige was er in seiner grenzenlosen Niedergeschlagenheit erwidern konnte war ein mattes „Wie du meinst.“
Jean schaute ihn von der Seite an. Dann schüttelte sie sachte den Kopf, legte ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihn an. Donovan blickte zu ihr hinüber und war wieder mal gefesselt von ihrem tollen Lächeln.
„Hör zu, Donovan, ich finde dich nett und interessant, aber ich bin nicht über Ken hinweg…Noch nicht…“
Er nickte und versuchte einzuordnen, was sie ihm sagen wollte. `Hiess das etwa…?`
Er blickte Jean tief in die Augen und sie erwiderte seinen Blick.
Er verstand. „Ich…Ich kann warten.“
Jean wandte etwas verschämt den Blick ab. „Das ist schön, Donovan.“
Schweigend blickten sie hinaus ins All und Donovan fühlte sich wieder wie ein spätpubertierender Teenager. War er noch vor ein paar Minuten absolut niedergeschlagen gewesen so hätte er jetzt jubeln, schreien, tanzen können. Doch er tat nichts dergleichen sondern schaute ihr nur lange und intensiv von der Seite an. Und was war das, wurde sie etwa rot?
Schliesslich war es Jean, die die Stille zwischen Ihnen unterbrach. „Also was ist, hilfst du mir?“
„Womit?“
„Na mit meinen Offizierslehrgang natürlich? Woran du wieder denkst…“ Ihr neckischer Unterton schickte einen warmen Schauer sein Rückgrat hinunter.
„Ja, gerne. Aber nur, wenn ich mich nicht mit diesem Serge abgeben muß.“
Jean kicherte „Morgen Abend?“
Donovan nickte und war sich endlich sicher, dass Jean sein freudiges Lächeln nun endgültig richtig einordnen konnte. Auch wenn sie es mit keinem Wort erwähnt hatten, war jetzt und hier an dieser Stelle die Katze aus dem Sack.
Es hatte lange gedauert, bis er sich selbst seiner Gefühle der kleinen Davis gegenüber sicher geworden war. Also konnte er schlecht von ihr erwarten, dass sie sich schneller klarer darüber werden konnte als er. Wenn sie also noch mehr Zeit brauchte, dann würde er das respektieren und warten.
Als er sich dann nach einer Weile von ihr verabschiedet hatte, ging er grinsend und pfeifend zu den Quartieren der Angry Angels.
Es war lange, lange her, dass Donovan „Stuntman“ Cartmell so glücklich gewesen war. Er hoffte nur, dass dieses für ihn seltene Gefühl auch noch etwas weiter anhalten würde.
Cattaneo
Cattaneo
Ein scharfes Schwert
Schwerer Kreuzer Relentless, über Seafort, Sterntor-System
In der Offiziersmesse der Relentless ging es hoch her – zumindest, wenn man die eher zahmen Maßstäbe anlegte, die auf dem Schiff galten. Dass Mithel kein Fan von Alkoholexzessen und anderen eher ,derben’ Belustigungen war, war nur zu bekannt, ebenso, dass er dergleichen an Bord seines Schiffes nach Möglichkeit begrenzte. Und an diesem Tag war der Rahmen ohnehin nicht der richtige für ein derartiges Fehlverhalten. Heute präsentierte sich nicht nur der Kreuzer, sondern die ganze Schwadron 2.3 in möglichst makellosem Lichte. Es galt, die neue Flottenkommandeurin willkommen zu heißen.
Der dienstliche Absturz von früher-Flotten-CO-jetzt-nur-noch-Vizeadmiral Vanessa Girad war tief gewesen, obwohl sie gefürchtet hatte, sogar noch tiefer zu fallen. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, und wenn sie ehrlich war, sie hätte selbst im Wissen um die Konsequenzen noch einmal so gehandelt wie im Augenblick des konföderierten Verrats. Die Pflicht ging vor, auch wenn es die Karriere kosten mochte. Dennoch, es war bitter, statt einer kompletten Flotte nur noch einen Trägerverband kommandieren zu können. Wenn ein Bär einmal Honig gekostet hatte, schmeckten ihm bald keine Blaubeeren mehr, wie man so sagte. Vor allem, wenn man die Zurückstufung nicht als gerecht ansah.
Schon aus diplomatischen Gründen war es wohl wenig wahrscheinlich, dass sie so schnell wieder aufrücken würde. Was umso bitterer war, da die eigentlichen Verantwortlichen bei der ganzen Sache – der kaiserliche Admiral, der Hannover zusammenschießen ließ, und die Führung in der Colonial Confederation – wohl keine derartige Strafe zu erwarten hatten. Nun, zumindest in der Haut der letzten wollte sie auch nicht stecken, immerhin hatte ihr Entschluss die Konföderation an den Rand des Zerfalls gebracht.
Dennoch, ein wenig nagte die Ungerechtigkeit schon an ihr. Es war ja nicht nur der dienstliche Abstieg. Doch was man ihr an Stelle ihres alten Kommandos gegeben hatte, war nur noch dem Namen nach ein knochenharter Flottenverband. In Wahrheit hatte sie eine Flottille am Hals, die physisch, möglicherweise auch psychisch von Grund auf neu aufgebaut werden musste. Das zweite Kreuzergeschwader war nicht einmal ansatzweise einsatzbereit, der Kommandeur und viele Kapitäne waren tot, die meisten Schiffe zerstört. In Mithels Kreuzerschwadron bestand die Hälfte der Schiffe aus Neuzugängen, wenngleich wenigstens ein Teil der Kreuzer modernisiert worden war. Das Fregattengeschwader hatte noch keinen neuen Kommandeur und war ebenso stark dezimiert worden wie die Kreuzer. Auch die Zerstörerdivision sah nicht wirklich besser aus, auch wenn ihre Kommandeurin lebte und sogar belobigt und ausgezeichnet worden war. Und das Herz des Verbandes, die Columbia, hatte gerade erst einen neuen Kapitän erhalten, und das Bordgeschwader hatte ein gutes Drittel Neuzugänge zu verdauen. Kurz und gut, es gab eigentlich keinen Teilverband, der nicht mindestens zu einem Drittel aus Neulingen bestand, und nur wenige von ihnen hatte schon Einsatzerfahrung. Von den psychologischen Folgen, die ein solcher Aderlass auf die Männer und Frauen haben konnte, mal ganz abgesehen.
Auf der Plusseite stand einzig und allein, dass die Angry Angels immer noch den Ruf eines Elitegeschwaders hatten, und dass die überlebenden Großkampfschiffe wie die Verbandskommandeure Mithel und Janzek im wahrsten Sinne des Wortes kampfgestählt waren. Überragend war vor allem der Ruf dessen, was man Vanessa Girad übergeben hatte. Mit anderen Worten, man hatte ihr ein abgekämpftes, fast bankrottes, aber ruhmreiches Erbe hinterlassen – und erwartete, dass sie daraus wieder einen erstklassigen Kampfverband machte, so als habe es die schweren Verluste überhaupt nicht gegeben. Nach den Schlachten von Tukama und Karrashin würde die Hürde sehr hoch hängen. Wenn sie die nicht bewältigte, würde man IHR vorwerfen, den ruhmreichen Columbia-Verband verspielt und ruiniert zu haben. Und dann würde man ihre Karriere zerreißen, das Klo hinunterspülen und unter einem Felsmassiv begraben, darüber konnte kein Zweifel bestehen.
Sie hatte sich einen ersten Überblick über das gemacht, was ihr zu Verfügung stand – und sie sah die Haken in dieser ihrer zweiten, letzten Chance. Nichts, was dazu geeignet war, ihre Laune zu heben. Aber natürlich gab es keine Alternativen. Nicht nur, ja nicht einmal vor allem weil es ihre letzte Chance war. Sondern einfach weil es ihre Pflicht war. Ob man die Entscheidungen für gerecht oder nicht hielt, spielte keine entscheidende Rolle. Ungerechtigkeit kam von einzelnen Menschen – die Verantwortung galt der ganzen Institution und den eigenen Überzeugungen.
Aber von diesen wenig erfreulichen Gedanken abgesehen musste sie sich eingestehen, dass der Empfang an Bord der Relentless zumindest teilweise an die Art und Weise erinnerte, mit der man sie früher behandelt hatte. Ein kleines Trostpflaster, aber immerhin etwas.
Sie hatte Mithel bei einer Einsatzbesprechung getroffen – er hatte sich nicht wesentlich verändert seit ihrer ersten Begegnung. Zwar wirkte er inzwischen einiges älter, aber er war offenbar keinen Deut schwächer geworden, und seine direkte zupackende Art und die schonungslose Analyse des Zustandes der Flotte hatten den Punkt unangenehm genau getroffen.
Ihr neuer Stellvertreter hatte Vanessas Ankunft zum Anlass genommen, sie an Bord der Relentless einzuladen. Wie er ihr mitteilte, würde er sich glücklich schätzen, auf diese Weise ihre Kommandoübernahme wie auch die Einsatzbereitschaft seines Flaggschiffes und die Ankunft der letzten zwei Kreuzer des Geschwaders zu würdigen. Und sicher wolle sie ihre neuen Untergebenen etwas besser kennen lernen. Es wäre nicht gerade diplomatisch gewesen, abzusagen, obwohl sie nun wirklich genug zu tun hatte. Aber zum Führen eines Verbandes gehörte es ja auch, Kontakt zu den Untergebenen zu kultivieren – ein bisschen wie im Feudalismus, wo der König gelegentlich seine Lords und Ritter vor sein Angesicht rufen musste. Zumindest war das ratsam, damit sie nicht vergaßen, wem ihre Treue galt.
Ihr neuer XO hatte sich jedenfalls nicht lumpen lassen, und vor allem hatte er sich bei der Gästeliste nicht nur auf die Kapitäne und Ersten Offiziere der Kreuzer beschränkt. Anwesend war auch die neue Befehlshaberin der Columbia, ebenso Commodore Janzek von der Zerstörerdivision mit einigen Untergebenen, einige Überlebende der Fregatten – allesamt verdiente Kapitäne – kurz und gut, ein Großteil der kommandierenden Offiziere des Columbia-Verbandes. Oder besser derer, die überlebt hatten und weder verwundet oder verwaist* waren. Dazu kamen auch drei ,Außenseiter’ in der Runde der Dickschifffahrer in Gestalt der Kommandeurin der Angry Angels und ihrer Stellvertreterin und – auf persönlichen Wunsch und Einladung von Mithel – auch Ravens Vorgänger, Commander Lucas Cunningham. Insgesamt waren gut vier Dutzend Offiziere anwesend, keiner in geringerem Rang als dem des Commanders. Die ganze Schar war sorgfältig so choreographiert worden, dass die anderen Gäste in ihren Galauniformen im Hangar warteten, als die Admirälin landete – wobei Mithel das Warten mit einigen Snacks hatte versüßen lassen. Dann war man nach einer ersten Vorstellung zur Messe übergewechselt.
Die Küche war gut sortiert, wenn auch nicht übertrieben üppig. Es gab mehrere Gänge, Suppe, Fisch, Braten, aber auch vegetarische Gerichte, alles frisch und ausgezeichnet zubereitet. Da man sich im sicheren Hinterland befand, gab es auch Alkohol, wenngleich in Maßen statt in Massen. Die Flottenküche konnte im Hafen einmal mehr zeigen, dass ihr schlechter Ruf unbegründet war. Zumindest wenn es um Offiziere ging. Und auch die Messestewards waren offenbar gut ausgebildet worden – keine Überraschung, immerhin hatte die Relentless seit einigen Jahren die Aufgabe als Flaggschiff inne, und sie wie die Küche hatten schon mehr als eine Prüfung zu bewältigen gehabt.
Chris Mithel hatte seiner neuen Vorgesetzten ein Willkommen bereitet, das recht bezeichnend für seine manchmal fast etwas…taktlose…Gradlinigkeit war. Er hatte gleich zu Anfang des Empfangs Klartext gesprochen und erklärt, wie sehr er sich freue, dass eine so ruhmreiche und bewährte Kommandeurin die Nachfolge von Admirälin Wulff angetreten habe. Er hatte sich kurz bei den Verdiensten von Girads Vorgängerin aufgehalten – das war man ihr schuldig – dann aber vor allem das Loblied der neuen Kommandeurin gesungen, ohne es jedoch dabei zu übertreiben. Er hatte ausdrücklich nicht nur Vanessas reguläre Karriere, sondern auch ihre Aktionen gegen die Konföderation als vorbildhaft gewürdigt und verkündet, unter einer solchen Kommandeurin sei es sicher, dass der Columbia-Verband auch weiterhin energisch und aggressiv geführt werden würde, wie es die beste Tradition seit Graxxon und Corsfield war. Es sei dem Vorgehen der Vizeadmirälin zu verdanken, dass die Zweite Flotte eine halbwegs sichere Flanke habe, und man hätte der Colonial Navy über Hannover eine Kommandeurin wie sie gewünscht, dann wäre die Schlacht wohl anders verlaufen. Vor allem, wenn ihre Befehlshaber ein vergleichbares Verantwortungsgefühl gezeigt hätten, anstatt angesichts einer sicherlich schweren Niederlage die Ehre der gefallenen Kameraden auch noch mit Füßen zu treten. Und wenn die Colonials nicht gekniffen hätten, dann wäre es der TSN und CN sicher unter Girads Kommando gelungen, den Schlächter von Hannover in einer zweiten Schlacht zu erledigen.
Der Vizeadmirälin war so viel Lob schon fast peinlich gewesen, immerhin war ihr der Entschluss nicht leicht gefallen, die Colonials entwaffnen zu lassen. Und sie teilte nicht unbedingt die durchklingende Erbarmungslosigkeit gegenüber den Akarii. Nicht, dass sie ihrem XO Lobhudelei aus Karrieresucht unterstellte, oder populistische Schaumschlägerei. Chris Mithel glaubte, was er sagte. Er war ein Mann der Zweiten Flotte und hatte die Akarii nur als Feinde kennen gelernt, die ihm genug Grund gegeben hatten, sie zu hassen, auf eine kalte, wohlüberlegte Art und Weise. Die Colonials – Menschen wie Akarii – waren nie seine direkten Kameraden gewesen. Zu Beginn seiner Laufbahn waren sie ja ohnehin noch beinahe so etwas wie potentielle Gegner gewesen, so fiel es ihm vermutlich leichter, zumindest gegenüber den friedensbereiten Konföderierten auch emotional wieder auf Distanz zu gehen. Und Girad kannte den Briten und seine Art von Offizier gut genug um zu wissen, er hätte an ihrer Stelle oder unter ihrem Kommando ohne Widerspruch geschossen, auch auf ehemalige Verbündete.
Mithel hatte damit geschlossen, es sei eine Ehre, dass das Kreuzergeschwader 2.3 auch künftig im Rahmen des Columbia-Verbandes unter einer so fähigen Oberbefehlshaberin als Schwert und Schild der CBG 41 fungieren würde, in engster Waffenbrüderschaft mit den Zerstörern, Fregatten und Kampffliegern. Ganz gleich wo und unter welchen Umständen.
Für einen frischgebackenen Rear-Admiral war das teilweise ziemlich starker Tobak, und eine ganze Wagenladung an Vorschußlorbeeren für Vanessa Girad. Schließlich war die neue Verbandskommandeurin gerade erst für eben diese so hoch gelobten ,Verdienste’ zurückgestuft worden. Es war klar, dass viele Offiziere und Soldaten der TSN und sogar der ein oder andere Konföderierte voll und ganz hinter Vanessas Handlungen standen und ihre Degradierung für ungerecht hielten. Es war jedoch etwas anderes, das so öffentlich auszusprechen. Immerhin gab es auch nicht wenige Militärs, die Vanessa Girad vorwarfen, sie habe übereilt Bruderblut vergossen und die Colonial Confederation erst Recht in die Arme des Imperiums getrieben. Dies galt besonders, seitdem bekannt geworden war, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Kaiserreich und den ehemaligen Verbündeten inzwischen intensiviert wurden. Einige gaben die Schuld daran dem harten Vorgehen der TSN. Viele andere hingegen bezeichneten diese Geschäfte als Judaslohn des Imperiums für die Konföderierten. Es hatte sogar – und nicht nur in Offizierskasinos, sondern allen Ernstes –Vorschläge gegeben, Handelszerstörer auf diese zarten Geschäftsbande zu hetzen. Einzelne TSN’ler waren so weit gegangen, sich dafür auszusprechen, wie auf der Erde im Sechszehnten bis Neunzehnten Jahrhundert Kaperfahrer anzuheuern – private bewaffnete Schiffe oder gar echte Piraten mit präsidialem Pardon. Schließlich verwendete man ja auch Häftlinge in Bewährungseinheiten…
Dass die Friedensbewegung auf der Erde bei aller Abscheu gegen den Massenmord an der konföderierten Zivilbevölkerung durch die Truppen des Imperiums den relativ glimpflichen Friedensschluss als Beispiel für eine mögliche Verständigung bezeichnete, wenngleich man für Cochrane wahrlich nicht viel übrig hatte, machte die Sache nicht eben einfacher. Es mochte allerdings sein, dass auch jenseits des Pariser Pakts Politiker, einfache Zivilisten und wohl auch Militärs insgeheim so dachten.
Angesichts dieser eher ambivalenten Haltung war es ungewöhnlich, dass sich jemand so deutlich platzierte wie Mithel. Aber der Rear-Admiral war wohl der Meinung, er könne es sich leisten, oder er war für klare Verhältnisse. Und er wollte wohl deutlich machen, dass er voll und ganz hinter der Autorität der neuen Kommandeurin stand – eine Autorität, die wie die jedes Neuzuganges, erst recht nach einer vorherigen Degradierung, nicht vollkommen über jeden Zweifel erhaben war.
Vanessa Girad war sich darüber im Klaren, dass sie auch sonst kein leichtes Erbe antrat. Gleichgültig, was die Offiziere von ihr und ihren Taten hielten – natürlich waren sie alle besorgt um die Zukunft. Die letzten Schlachten hatten die kommandierende Admirälin, ihren ursprünglichen Stellvertreter, den Kommandeur des Fregattengeschwaders und zahlreiche andere kommandierende Offiziere das Leben gekostet. Ihr Ersatz war zwar keine Schar von Grünschnäbeln, sondern erfahrene Feldkommandeure, aber eben unbekannt. Niemand nahm das auf die leichte Schulter, die Siege – wenn es denn welche waren – waren zu teuer erkauft worden. Und vermutlich war auch nicht jeder froh, dass ausgerechnet Chris Mithel zu Admiral Girads Stellvertreter ernannt worden war, auch wenn dazu eigentlich keine Alternative bestanden hatte. Dennoch, er galt als fordernder Vorgesetzter, der höchste Leistungen verlangte. Und ein Maß an Selbstdisziplin und Einsatzbereitschaft, das nicht jedem Offizier gegeben war.
Im Moment und vor allem im Angesichts des frisch beförderten Rear-Admirals und der ebenso frisch degradierten Vizeadmirälin war von eventuellen Eifersüchteleien, gekränkten Befindlichkeiten und dergleichen jedoch nichts zu spüren, ebenso wenig von möglichen Differenzen zwischen Neulingen und Alteingesessen. In Anwesenheit ihrer neuen Befehlshaberin, welche die meisten nur flüchtig und eher vom Bildschirm als von Angesicht zu Angesicht kannten, befleißigten sich die Offiziere eines untadligen Benehmens. Dazu mochte auch beitragen, dass Mithel ein für ihn geradezu ungewöhnliches Maß an Feingefühl bei der Sitzverteilung bewiesen hatte. Statt eine traditionelle Tafel aufzubauen, bei der immer die Frage im Raum stand, wer oben und wer unten saß – Flottenoffiziere konnten da penibler und ehrpussliger sein als mittelalterliche Adlige oder die Teilnehmer an einem Galadiner – hatte er die Tische in einem Kreis anordnen lassen. Vanessa Girad dachte mit nicht geringem Sarkasmus, dass es zu Mithels antiquierter Art passen würde, wenn er hier die Anordnung der legendären Tafelrunde des legendären oder besser legendarischen Königs Artus oder eines der zahlreichen Nachahmungsordens belebte.
Doch bei einem zweiten Gedanken kam sie zu dem Schluss, dass das gar nicht so komisch war, und sie ihrem Stellvertreter wohl Unrecht tat. Wenn man es genau nahm, dann handelte es sich in der Tat um etwas Ähnliches – eine Versammlung eines elitären Zirkels, der sich mit einer gewissen Berechtigung als etwas Besonderes empfand, und auf dessen Schultern eine hohe Verantwortung lag. Jeder der kommandierenden Offiziere und auch viele der Stellvertreter waren hoch dekoriert, alle waren sie kampferfahren. Das traf auch für die Neulinge zu, die Mithel der Runde vorgestellt hatte. Zwei weitere Gesichter brachten die Zahl der Kreuzerkommandeure inzwischen auf zehn. Da war Pjotr Andrejewitsch Bereschkow, der die Enforcer kommandierte, einen schweren Kampfkreuzer. Er war Zerstörerkommandant gewesen, bevor er sein neues Kommando übernommen und den Kreuzer in mehreren Gefechten erfolgreich geführt hatte. Der Russe war vermutlich noch etwas älter als Mithel, und sein Haar war schon vollkommen weiß, das Gesicht wirkte ziemlich verwittert. Aber er hielt sich aufrecht, die Augen blickten klar, und obwohl er eine eher stämmige, gedrungene Gestalt hatte – im Unterschied zu der hageren Erscheinung seines neuen Kommandeurs – schienen sie sich in mehr als einer Hinsicht zu ähneln. Der zweite Neuzugang war ein rothaariger Hüne namens Taylor O’Stewell. Er und Mithel kannten sich vom Anfang des Krieges her, als O’Stewell erst Untergebener und dann Nachfolger des Briten gewesen war. Der Rear-Admiral schien sich über das Wiedersehen ebenso sehr zu freuen wie über den Umstand, dass der leichte Kreuzer Hydra, Mithels erstes Kriegskommando, jetzt Teil der Schwadron 2.3 war.
Vanessa Girad hatte kaum Möglichkeit gehabt, das Essen zu genießen. Sie neigte gewiss nicht zu ,Prüfungsangst’ oder einem anderen Phänomen stressbedingter Unsicherheit – man musste schon ein solides Ego haben, um so weit wie sie zu kommen. Aber angesichts der vielen Sorgen, die sie bedrückten, wollte bei ihr keine rechte Feierlaune aufkommen. Außerdem ging sie ohnehin davon aus, dass von ihr ein gemäßigt besorgtes Auftreten erwartet wurde. Sicher, niemand folgte einer Kommandeurin, die sich selbst den neuen Posten nicht so ganz zutraute. Sie durfte aber auch nicht ZU selbstsicher auftreten, denn das hätte arrogant und unsensibel gewirkt angesichts so vieler Verluste in ihrem neuen Kommando. Immerhin war eine angesehene Offizierin bei der Führung der Columbia-Flotte gefallen, eine Haltung von das-schaffen-wir-mit-links verbot sich selbstverständlich. Sie musste Zuversicht ausstrahlen, aber dennoch die Rückschläge und ihre Folgen ernst nehmen. ,Blöder psychologischer Eiertanz…’
Als sie sich erhob, richteten sich sofort alle Augen auf sie – weit über 500 Dienstjahre zusammengeballt. Nichts, was sie noch nervös gemacht hätte.
„Meine Damen und Herren, Offiziere der Carrier Battle Group 41. Ich danke Ihnen für diesen freundlichen Empfang – und natürlich für die vorzügliche Küche unseres Gastgebers, auch wenn dies das Staatsdefizit zweifellos noch etwas vergrößert hat.“ Einige Offiziere stimmten ein leises höfliches Gelächter an. Doch die meisten blieben ernst, wie auch Vanessa Girad: „Es ist eine Ehre für mich, einen so ruhmreichen Verband wie diesen zu übernehmen, auch wenn ich wünschte, dies wäre nicht unter so tragischen Umständen geschehen. Sie alle haben in den letzten Monaten Übermenschliches geleistet, und einmal mehr bewiesen, warum die Columbia-Gruppe als das wohl schärfste Schwert der Zweiten Flotten, vielleicht der ganzen TSN gilt. Diesen Ruf verdankt die Gruppe nicht allein den Angry Angels, nicht allein den Kreuzern, oder den leichten Kriegsschiffen, obwohl jeder für sich zu dem Besten gehört, was die Flotte der Republik aufzuweisen hat. Doch was aus Ihnen das Zünglein an der Waage in so vielen Entscheidungsschlachten machte, war vor allem die Zusammenarbeit so vieler Waffengattungen. Es war ein Verdienst meiner Vorgängerin, dass sie die Zusammenarbeit der verschiedenen Verbände so erfolgreich zu koordinieren verstand, wie es der Verdienst der Kapitäne und Jägeroffiziere war, ihre Schiffe und Einheiten mit überragendem Können in den Einsatz zu führen. Ihr Beispiel wird stets als Vorbild bestehen bleiben.“ Die Vizeadmirälin musterte ihre neuen Untergebenen einen Augenblick wortlos, ehe sie fortfuhr.
„Viele Männer und Frauen, die an den zahllosen Erfolgen einen hohen Anteil hatten, sind heute nicht unter uns. Sie haben für die Republik das höchste Opfer gebracht, und wir werden dies nie vergessen. Wir alle akzeptieren diese Gefahr, wenn wir den Eid auf die Republik schwören, doch das macht die Verluste nicht weniger schmerzhaft. Und doch – dass wir den Schmerz und das Risiko kennen, und dennoch bei der Fahne bleiben, das ist es, was uns zu dem macht, was wir sind.
An Stelle der Gefallenen sind verdiente Offiziere getreten, die in diesem Krieg in anderen Flottenverbänden bereits an so mancher Schlacht teilgenommen haben. Nun stehen sie bereit, um die CBG 41 zu verstärken. Es ist mir eine Freude – eine bittere Freude, gewiss, aber dennoch eine Freude – sie willkommen zu heißen. Ich weiß, sie werden ihre Pflicht ebenso unermüdlich und aufopferungsvoll erfüllen wie ihre Vorgänger.
Ich brauche hier nicht von den Verdiensten der Battle Group zu sprechen, weder zu den Veteranen, die diese Siege erkämpften, noch zu den neuen Kapitänen und Offizieren. Es war die CBG 41, die Prinz Jor als einen der Hauptverantwortlichen für diesen Krieg stellte, und die bei Karrashin einen übermächtigen Vorstoß der Akarii zurückwarf. Obwohl sie zusammen mit den Kampfverbänden der Wasp und Hongkong dem Feind zahlenmäßig unterlegen waren, stellte sie sich dem Feind – als das dünne blaue Band, an dem die Wogen der Vernichtung sich brechen. Sie alle haben damit ihre Pflicht in einer Art und Weise erfüllt, die an die entscheidenden Schlachten gegen Miles Cox** erinnern. Auch wenn die Opfer für diese Erfolge hoch waren – die Columbia-Kampfgruppe hat sich damit einmal mehr ruhmvoll in die Geschichte der TSN eingeschrieben, und dem Feind einmal mehr vernichtende Schlappen beigebracht. Nun ist mir die Aufgabe zugefallen, eine der geschlagenen Lücken auszufüllen, und Sie künftig zu führen. Dies ist eine hohe Verantwortung. Ich will Ihnen hier keine Versprechen abgeben, dass ich Admirälin Wulff ersetzen werde. Ein Mensch kann nie einen anderen vollkommen ersetzen, und Versprechen kosten nichts, sie besagen aber auch nicht viel. Doch ich kann Ihnen versichern, dass ich unermüdlich daran arbeiten werde, um die CBG 41 auch weiterhin so erfolgreich in die Schlacht zu führen, wie es meine Vorgängerin vermochte. Ich bin überzeugt, mit Ihrer aller Hilfe – die auch für Admirälin Wulff die eigentliche Vorausbedingung für jeden Sieg war – wird mir dies auch gelingen. Prinz Jor ist gefallen von Ihren Waffen, und…“ Sie dehnte den Augenblick noch ein wenig länger, ehe sie mit triumphierenden Ton fortfuhr: „…wie ich erst kürzlich erfahren habe, ist auch Eliak IX. gestorben, der Akarii, der diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat.“ Das schlug mit voller Wucht ein. Nicht einmal Mithel schien darüber empört, dass man eine Admirälin eigentlich nicht in ihrer ersten Rede vor versammelter Mannschaft unterbrach, obwohl er selber schwieg. Doch sein Lächeln sprach Bände, wenngleich er sich unter Kontrolle hatte. Seine Untergebenen hingegen hielt es kaum auf den Stühlen. Einige klopften sich enthusiastisch auf die Schultern, andere redeten aufeinander ein, freudig, überrascht, vereinzelt auch zweifelnd, ob es wirklich wahr seien könne. Captain Bereschkow hob sein Glas und neigte den Kopf vor der Admirälin, bevor er einen Schluck nahm. Er schien fast geneigt, in alter Sitte das Glas nach diesem denkwürdigen Augenblick zertrümmern zu wollen, doch er beherrschte sich. Erst nach einigen Augenblicken kehrte in der Messe wieder so etwas wie Ruhe ein. Vanessa warf den Offizieren ihre Freude nicht vor, obwohl sie nicht die Akarii als Rasse hasste. Doch Sympathie für den Kaiser hatte sie auch nicht: „Meine Damen und Herren – ich verstehe Ihre Freude über diese Nachricht nur zu gut, die von unseren Geheimdienstkreisen erst heute bestätigt wurde. Sie haben sich diese Freude wahrlich verdient. Denn auch wenn der Kaiser in seinem Palast verstarb – ich glaube nicht, dass es ein leichter Tod war. Was er gegenüber zahllosen Völkern der Galaxis zu verantworten hat – letzten Endes auch gegenüber seinem eigenen – das muss schwer auf ihm gelastet haben, wie auch der Tod seines Erben.“ Sie sah die Genugtuung – bittere, hämische, fast sadistische Genugtuung – in den Augen von vielen ihrer Untergebenen. Das war vielleicht nicht gerade die feine englische Art, aber es gab wenige Offiziere, die nicht frohlockten über den Tod eines alten Mannes, der sein Lebenswerk unter seinen Händen zu Asche zerfallen sah. Im Gegenteil. Vanessa Girad gehörte nicht zu den Menschen, die so dachten, aber sie war auch davon entfernt, anderen ihre geradezu natürlich zu nennende Reaktion übel zu nehmen. Sie fühlte nicht gerade Mitleid mit dem Kaiser und seinem Sohn – dazu hatte sie zuviel gesehen in den letzten Jahren. Aber sie fühlte weniger Freude als eine gewisse Bekommenheit wenn sie daran dachte, wie sich der Imperator in seinen letzten Jahren gefühlt haben musste, während immer mehr Blut und Leid auf seinen Schultern lastete. Wenn er nur einen Funken Gewissen gehabt hatte, musste ihm das jeden Atemzug zur Qual gemacht haben. Viele Offiziere waren sicher weniger empathisch. Manche Anwesende mochten sich genüsslich ausmahlen, wie die vernichtenden Niederlagen der imperialen Flotte den siechen Kaiser gefoltert haben mussten. Die Vizeadmirälin wollte diesen Moment nicht zu lange ausdehnen. Er erinnerte sie unangenehm daran, was Krieg aus Menschen – und Akarii – machte. So fuhr sie fort:
„Der Imperator und Prinz Jor sind tot – der Krieg mit dem Imperium geht weiter.“ Vanessa war ernst geblieben, und auch viele ihrer Zuhörer legten ihrer Freude wieder Zügel an: „Wir dürfen es nicht vergessen – es gibt andere, die den Platz der Toten einnehmen werden, auch wenn bisher die Nachfolge des Imperators nicht geklärt ist. Es gibt so manchen Anwärter auf Thron, und es gibt noch andere Kommandeure als Jor – Männer, die ihm an Skrupellosigkeit und Brutalität durchaus das Wasser reichen können, wie Kal Ilis, der Schlächter von Hannover. Es gibt andere Flottenverbände als die Korax ma Rah oder die Schiffe des Manticore-Verbandes, die Sie in die Knie gezwungen haben. So lange es so ist, wird es keinen Frieden geben. Die Schuldigen müssen zur Verantwortung gezogen werden, damit sie nicht von neuem die Republik oder andere Völker bedrohen können, die Flotten müssen geschlagen werden. Erst dann wird wieder Frieden sein, nicht nur für die TSN, sondern auch für alle anderen freien Völker, vielleicht auch für einige der Sklaven des Imperiums. Und um dies zu erreichen, braucht es Männer und Frauen wie Sie. Der Columbia-Verband wird ein scharfes Schwert sein, das dazu entscheidend beitragen wird, diesen Frieden herbei zu zwingen. Ich zähle auf Sie – und ich hoffe, Sie zählen auf mich. Ich danke Ihnen.“
Natürlich gab es keine Standing Ovations. Überschäumende Begeisterung für Kommandeure und ihre zündenden Reden war etwas für Filme, nicht für die Wirklichkeit – von einigen wenigen begnadeten Ausnahmen abgesehen. Doch als Mithel zu klatschen anfing, praktisch sobald Vanessa Girad geendet hatte, stimmten die anderen Offiziere sofort ein. Und der Applaus war alles andere als zurückhaltend oder kurzlebig. Das lag nicht daran, dass die Runde dem Vorbild Mithels folgte, sondern an Vanessa selbst und an ihrer Rede. Mochten einige die Dinge auch anders sehen, ein solcher Appell an die eigene Legende war wohl kaum zu ignorieren. Und angesichts der wunderbaren Neuigkeit vom Tod des Kaisers war eine positive Aufnahme ihrer Rede garantiert. Die Vizeadmirälin registrierte, wie sich ihr neuer XO leicht vor ihr verneigte – eine ganz persönliche Botschaft, und wohl auch ein Versprechen. Von seiner Seite würde sie jedenfalls keine Probleme zu erwarten haben.
* Slangausdruck in der TSN – ein Kapitän oder Besatzungsmitglied, das verwaist ist, hat das Schiff verloren.
** Miles Cox, letzter der wahrhaft großen Piratenkapitäne, geschlagen unter hohen Verlusten bei Regulus, vgl. „Das blaue Band“.
Cattaneo
Tyr
Irgendwo im republikanischen Raum
Das schrille Heulen der Alarmsirenen und die scharfe Stimme des Kommunikationsoffiziers schnitten durch die ‚natürlichen’ Laute, die das Leben an Bord normalerweise begleiteten, wie ein Messer durch eine gespannte Bogensehne: „GEFECHTSALARM! GEFECHTSALARM! ALLE MANNSCHAFTEN UND OFFIZIERE AUF DIE KAMPFSTATIONEN! ALLE PILOTEN ZU IHREN MASCHINEN! GEFECHTSALARM!...“
Überall an Bord des gigantischen Trägers stürzten aufgeschreckte Offiziere und Mannschaften aus ihren Quartieren, aus den Sporthallen, den Mannschaftsmessen und den Freizeiträumen.
Zahllose Stiefel – in manchen Fällen auch die nackten Füße derjenigen, die der Alarm im Schlaf überrascht hatte – hämmerten über die scheinbar endlosen Flure der gigantischen Kriegsmaschine, untermalt oder übertönt durch das drängende Schrillen des Gefechtsalarms, der gnadenlos zur Eile trieb, und düstere Ahnungen einer drohender Todesgefahr weckte. Zahllose Finger flogen über die Anzeigen und Knöpfe der Armaturenbretter, die Schalttafeln und Steuerkonsolen, mit denen man die Waffen, Schutzschilde und Maschinen des fliegenden Koloss dirigieren konnte.
„SCHILDE BEI HUNDERTZEHN!“
„MASCHINENRAUM AUF GEFECHTSBEREITSCHAFT!“
An zahllosen Stellen erwachten vielrohrige Raketenwerfer und schwere Geschützbatterien aus ihrem ohnehin nur leichten Schlummer, öffneten sich die Verschlussplatten der gigantischen Rohre, in denen die schweren Marschflugkörper auf ihren Einsatz warteten.
„PRIMÄRWERFER MELDEN EINSATZBEREITSCHAFT!“
„BATTERIE EINS UND ZWEI GEHEN ONLINE!“
Die Marineinfanteristen sammelten sich an den vorgeschriebenen Einsatzpunkten, den Körper geschützt von schweren Gefechtspanzern, die Schnellfeuerlaser gegen die Brust gepresst.
Die Piloten der Jäger, Jabos und Bomber strömten in die kathedralenartige Wölbung des Hangars wie eine Flut, die auffächerte, und zwischen den dräuenden Maschinen verrann, während sich gleichzeitig die Katapulte spannten, die die Kampfflieger ins All schleudern sollten.
„KATAPULT EINS – START!“
„KATAPULT ZWEI – START!“
Und das war noch längst nicht alles. Denn diese Szenen wiederholten sich zur gleichen Zeit dutzend-, ja hundertfach ringsum. Eine Flotte rüstete sich zum Kampf. Bereit, Tod und Verderben in jede Richtung zu säen, die derjenige wies, dem diese geballte Vernichtungsmacht unterstellt war. ‚Von all den Rängen und Posten, die ein normaler Sterblicher erreichen kann, ist keiner so nahe an der Macht der Götter, wie das Kommando über eine Schlachtflotte. Außer dem Thron des Kaisers. Und der Kaiser ist kein normaler Sterblicher mehr.’
„Kapitän Matir?“
„Wir sind gefechtsbereit, Admiral. Alle Waffen sind online, alle Werfer geladen. Die Katapultbesatzungen melden einhundertzwanzig simulierte Starts.“
„Die Flotte?“
„Berichte gehen ein…Admiral, ich melde die Kampfgruppe zu hundert Prozent einsatzbereit.“
„Wie lange, Matir?“
„Im Schnitt vier Minuten bei den Kreuzern und den Kleinkampfschiffen. Zehn bei den Trägern, einschließlich dem Start der Bordgeschwader.“
„Ausgezeichnet. Sie können sich entspannen, Matir. Das war hervorragende Arbeit. Wegtreten von Gefechtsstation.“
„Zu Befehl, Sir. Und – danke.“
„Das war nur die Wahrheit. Sagen Sie das den Männern.“ Der Admiral lächelte kurz: „Und den Frauen natürlich auch.“ Dann wandte er sich zu der jungen Akarii um, die bisher schweigend hinter ihm gestanden hatte: „Ich erwarte dann bis spätestens Morgen eine detaillierte Übungsanalyse, Captain Los.“
„Jawohl, Sir.“
„Matir, die Brücke gehört Ihnen.“
Der Trägerkapitän warf seiner ehemaligen Untergebenen einen kurzen Blick zu, und überlegte, wie weit er gehen konnte: „Das ist jetzt die dritte Alarmübung auf Flottenlevel. Einige Offiziere…“
Captain Los zuckte nonchalant mit den Schultern: „Sie wissen, was der Admiral damit bezweckt.“
„Hm. Es wird die Leute freuen, dass er endlich einmal mit den Zeiten zufrieden ist.“
Die Stabschefin lächelte kurz: „Hoffentlich denken die nicht, dass sie es jetzt ruhiger angehen lassen können.“
Der Kreuzerkapitän lachte jäh auf: „Vermutlich will der Admiral eher, dass wir beim nächsten Mal den Rekord unterbieten.“
****
Zehn Stunden später
Die meisten Träger verfügten neben dem komfortablen Kapitänsräumen und dem luxuriösen Quartier, das für einen eventuell an Bord befindlichen Admiral bestimmt war, auch noch über ein oder zwei weitere VIP-Luxussuiten, die allerdings meistens leer blieben. Im Flottenjargon hießen diese Räumlichkeiten meist ‚Kronprinzen-’, oder ‚Konkubinen-Suiten’.
Kurz nach der Formierung der Rikata-Kampfgruppe hatte Vizeadmiral Taran befohlen, eine dieser Zimmerfluchten nach seinen Wünschen umzubauen. Thera Los wusste nicht genau, was für Veränderungen er hatte vornehmen lassen, aber sie wusste, dass er nach dem Abschluss der Umbauten vor etwa drei Wochen einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit hier verbrachte.
Sie wusste auch, dass an Bord die verschiedensten Spekulationen darüber im Umlauf waren, welchem Zweck die Umbauten gedient hatten. Die Gerüchte variierten je nach Dienstrang und Neigung der Klatschmäuler und reichten von einem Quartier für eine (oder mehrere) heimlich an Bord geschmuggelten Akarii- oder gar T’rr-Gespielin über einen Freizeit- und Sportraum, eine Einsatzzentrale des Imperialen Geheimdienstes oder der Cha’kal-Kommandos, und einen Bet- oder Meditationsraum bis zu einem Ort, an dem Taran zur Erholung auf eine Gummipuppe des kürzlich verstorbenen Kronprinzen Jor einprügeln konnte.
Jetzt würde sie also endlich die Gelegenheit bekommen, diese Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Sie erwiderte flüchtig den Gruß der beiden Marineinfanteristen, die vor der Tür Wache hielten, und aktivierte das Türkomm: „Admiral Taran? Hier Captain Los.“
„Kommen Sie rein, Captain.“ Lautlos glitt die Tür auf. Captain Los straffte sich unwillkürlich – und betrat eine Miniaturausgabe der Kommandobrücke.
Sogar dieser recht großzügig bemessene Raum war natürlich deutlich kleiner, als die geräumige Gefechtsbrücke. Selbst die Sekundärbrücke hatte vermutlich einen doppelt so großen Rauminhalt. Aber dennoch…es gab eine Komm-Konsole, die üblichen taktischen Stationen…
‚Ziemlich vorhersehbar.’ Das hätte sie sich denken können. Für Männer wie Taran war der Dienst in den imperialen Streitkräften Ziel, Mittelpunkt und Erfüllung ihres Lebens.
‚Solange er natürlich nicht noch weitergehende Ambitionen hat.’ Immerhin machte sich Taran offenbar Sorgen, dass ihn jemand am imperialen Hof vielleicht ein paar Attentäter auf den Hals hetzen könnte, weil er kaiserliches Blut in den Adern, die jüngste Enkeltochter von Großadmiral Nahil Koo als Verlobte, und einen kompletten Raumsektor samt der schlagkräftigen Rikata-Kampfgruppe hinter sich hatte. Das war entweder ein Zeichen für eine latente Paranoia, ein recht präzises Wissen über die Intrigen und Grabenkämpfe am kaiserlichen Hof – oder das Resultat eines ziemlich schlechten Gewissens…
Der Vizeadmiral schien sich allerdings im Augenblick in einem der anderen Räume aufzuhalten, und machte keine Anstalten, ihr entgegenzukommen. Entweder war er beschäftigt, oder das war mal wieder eines seiner kleinen Psychospielchen. Thera Los warf einen flüchtigen Blick auf das Taktik-Display, das die mit Marschgeschwindigkeit vorrückende Rikata-Kampfgruppe zeigte, und erreichte die Tür, die auf der anderen Seite der ‚Brücke’ lag. Wieder öffnete sich das Schott fast lautlos. Thera Los trat über die Schwelle – und hielt überrascht inne.
Der Raum war in Dunkelheit getaucht, die nur andeutungsweise eine weitere Tür und zwei oder drei Kommandosessel enthüllte. In einem davon glaubte sie die schlanke Gestalt von Vizeadmiral Taran zu erkennen.
Doch was ihre Blicke anzog, war die kalt leuchtende Holographie der Galaxis, die in der Mitte des Raums langsam um die eigene Achse rotierte. Die Detailtreue und Präzision der Darstellung war atemberaubend. Es schien ihr, als würde diese Simulation jeden einzelnen Stern der Galaxie wiedergeben können. Sie glaubte sehen zu können, wo Akar lag. Und dort, irgendwo am Rande eines Spiralarms, musste auch ein trüber, ziemlich gewöhnlicher Stern durch das All taumeln, der von dem Planeten umkreist wurde, den die Menschen so furchtbar einfallslos ‚Erde’ nannten.
Sie musste sich zwingen, ihre Augen von dem fast hypnotischen, träge rotierenden Leuchten abzuwenden, um sich auf ihren Vorgesetzten zu konzentrieren. Der Vizeadmiral hatte sich entspannt zurück gelehnt, die Arme locker auf den Armlehnen aufgestützt, und die Hände vor der Brust gefaltet. Seine Augen waren halb geschlossen. Thera Los hatte ihren Vorgesetzten schon wütend, amüsiert und konzentriert erlebt, aber die merkwürdig bedrohliche Lässigkeit, die er jetzt ausstrahlte, war neu für sie. ‚Aber vielleicht liegt es ja auch nur an den Spezialeffekten.’ Sie blickte von Taran zu der Holographie und wieder zurück, runzelte leicht die Stirn…
„Beruhigen Sie sich, Captain. Ich bin keineswegs zu den Wahren Gläubigen der Götter der Sternenleere konvertiert. Und auch mein Ehrgeiz reicht nicht so weit, wie Sie jetzt vielleicht vermuten.“ Taran Stimme klang ruhig, fast verträumt, mit einer unterschwellig amüsierten Note, die sie inzwischen nur zu gut kannte.
„Also das haben Sie hier einbauen lassen, Sir.“
„Vielleicht nicht ganz so exotisch wie ein T’rr-Harem…“
„Einige Offiziere werden ziemlich enttäuscht sein.“
„Ich will doch hoffen, dass Sie den Mund halten können. Ein paar Mysterien verleihen mir eine…etwas geheimnisvollere Aura.“
Thera Los rief sich den ursprünglichen Grundriss dieser ‚Kronprinzen-Suite’ ins Gedächtnis: „Und was haben Sie in den anderen drei Räumen einbauen lassen?“
„Hauptsächlich die Kabel, Rechner und Geräte, die notwendig waren, um diese…Installationen zum Laufen zu bringen.“
„Hauptsächlich?“
Sie war sich sicher, dass es kurz um Vizeadmiral Tarans Mundwinkel zuckte: „Wie ich schon sagte…lassen Sie mir ein paar Geheimnisse.“
„Sir, Sie wollten die Berichte über…“
„Alles zu seiner Zeit. Befehl: Draned-Sektor, strategisch/politisch.“
Die Rotation der Galaxis schien sich kurz zu beschleunigen, dann wurde die Holographie durch eine detaillierte Darstellung des Draned-Sektors und der angrenzenden Weltraumregionen ersetzt. Subtile Einfärbungen erleichtern die Orientierung, zeigten, auf welchen Planeten Aufstände tobten, welche in der Hand von Separatisten waren, und wo die Frontlinien zwischen der Republik und dem Imperium verliefen.
„Können Sie sich vorstellen, was mir bei dem Anblick dieser Karte durch den Kopf geht, Captain?“
Thera Los überlegte kurz: „Wenn wir zurückkehren, werden wir einiges zu tun haben, Admiral.“
Taran schnaubte zynisch: „Sie sollten lieber ‚falls wir zurückkommen’ sagen. Allerdings haben Sie Recht. Wir müssen die Aufstände unter Kontrolle bringen – und die T’rr sind dabei nicht das einzige, nur das hartnäckigste Problem – Krieg gegen die Separatisten führen, und die Verbindung zum Kernimperium wiederherstellen.“
„Falls Großadmiralin Rians Offensivplan gelingt, dann könnte sich ein Großteil unserer Aufgabe auf einige Säuberungs- und Minenräumaktionen beschränken.“
„Diesmal haben Sie das richtige Wort gewählt. ‚Falls’.“
Thera Los hielt es für klüger, dazu keinen Kommentar abzugeben.
„Sie wissen natürlich, dass der Draned-Sektor zu den letzten Großprovinzen gehörte, die in das Imperium integriert wurden. Das ist jetzt etwa zweihundert Jahre her…die Frühphase der dritten interstellaren Expansionswelle. Alles was danach kam, waren vor allem…Arrondierungen. Frontbegradigungen. Kein kontinuierlicher Vormarsch, der in Dutzenden von Lichtjahren und Systemen gemessen werden konnte. Mit Ausnahme der Zerschlagung der Reiche der Tonari und Soridachi.“
Die Stabschefin fragte sich, was Taran ihr damit sagen wollte. Oder ob er nur mit sich selber sprach: „Danach stießen wir zunehmend an die Grenzen der CC und der Republik vor, Sir.“
„Ja, aber hat jemals zuvor ein Gegner das Imperium so lange stoppen und unseren Vormarsch aufhalten können?“ Natürlich wussten sie beide die Antwort.
„Ich verstehe nicht ganz…“
„Haben wir damals begriffen, dass wir einer völlig neuen Bedrohung gegenüberstehen? Erkannten wir, dass sich das Imperium nicht immer weiter ausdehnen konnte, ohne dass sich seine Streitkräfte verzetteln und überdehnen? Haben wir begonnen, den Glauben daran zu verlieren, dass wir die zur galaktischen Herrschaft bestimmte Rasse sind, deren Schicksal es ist, unsere überlegene Zivilisation bis an den galaktischen Rand und darüber hinaus zu tragen? Oder haben wir zwar nicht den Glauben verloren, aber den WILLEN danach zu handeln? War Jors Krieg ein Versuch, diesen alten Geist, diesen heiligen Glauben mit neuem Feuer zu beleben?“
Thera Los warf einen nervösen Blick zu der Decke des Holozimmers. Aber wenn sie sich bei Taran auf etwas verlassen konnte, dann darauf, dass zu den Umbauten dieser Räumlichkeiten auch eine Abschirmung gegen mögliche Lauschangriffe gehörte: „Es ist Ihnen doch klar, Sir, dass einige…missgünstigere Geister Ihnen vorwerfen könnten, dass Sie sich mit solchen Spekulationen gefährlich nahe am Rand der Gotteslästerung und des Hochverrats bewegen, wenn Sie die Borealis-Doktrin derart in Frage stellen? Außerdem…finden Sie nicht, dass Sie noch ein bisschen zu jung sind für solche Erwägungen?“
Der Vizeadmiral schien ein Auflachen unterdrücken zu müssen: „Wahrscheinlich haben Sie recht. In mehr als einer Hinsicht. Aber…Sie wissen natürlich, dass ich der Familie Koo recht nahe stehe.“
„Thera Los glaubte zu begreifen: „Der Großadmiral? Hat er…“
„Ich gehörte nicht gerade zu seinem engsten Freunden, aber zu einer Reihe junger Offiziere im Flottenstab, die von ihm...protegiert wurden.“
Thera Los konnte sich vorstellen, was das für Offiziere gewesen waren. Ehrgeizige, talentierte junge Adlige und Bürgerliche, die voller Verehrung zu dem Helden einer besseren Vergangenheit aufblickten, und unter den demütigenden Rückschlägen und Niederlagen litten, die die imperialen Streitkräfte in den letzten Jahren hatten hinnehmen müssen. Und die sehr genau wussten, wem sie dafür die Schuld gaben. Sie war bereit, ein Monatsgehalt darauf zu setzen, dass sie allesamt zu der Offiziersfronde gegen Prinz Jor gehört hatten.
Taran hatte in dieser Runde sicherlich eine herausragende Rolle gespielt. Ob wegen seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten, seiner Herkunft, oder aber seinem Verlöbnis mit Koos Enkelin Ciara, darüber konnte man freilich trefflich spekulieren.
Tarans Stimme klang ungewöhnlich nachdenklich, fast melancholisch: „In seinem letzten Jahr…sprach der Großadmiral viel von der Vergangenheit. Von den Kämpfen, an denen er teilgenommen hatte. Von Männern, die die dritte Phase unserer interstellaren Expansion erlebt hatten, und denen er noch persönlich begegnen konnte. Und von den Admirälen früherer Kriege. Er sah voller Sorge in unsere Zukunft.“
Die attraktive Kapitänin war sich nicht sicher, ob sie sich dadurch geschmeichelt fühlen sollte, dass der junge Admiral ausgerechnet sie zum Publikum für seine Überlegungen ausgewählt hatte. Einerseits konnte das natürlich bedeuten, dass er ihr vertraute. Immerhin, er hatte ihrer durch Jor torpedierten Karriere einen kräftigen Schub gegeben, und wusste sich mit Thera Los einig in der Ablehnung des verstorbenen Kronprinzen und seiner Entourage. Andererseits konnte es natürlich auch sein, dass Taran gegebenenfalls auch einer seiner Leibwächter – oder was das anging auch eine ZIMMERPFLANZE – als Resonanzkörper gereicht hätte.
‚Na, ganz so schlimm ist es wahrscheinlich auch nicht. Immerhin sind es nicht nur reine Monologe.’
„Er sprach voller Verehrung…und voller Sehnsucht von den großen Helden der Vergangenheit. Admiral Ranek, Großadmiral ‚Eisenklaue’ Tansar, ‚Feuerauge’ Dimen, Admiralin E’Kor, die ‚immer Siegreiche’…
Und er bedauerte es, dass es solche Männer und Frauen heute nicht mehr gibt. Nicht einmal wir konnten ihm sagen, dass er einst in einem Atemzug mit diesen Helden genannt werden würde. Vielleicht, wenn es uns gelungen wäre, Jor schon damals in die Schranken zu weisen. Dann…Verlorene Jahre…müßige Träume.“
„Nun, jetzt, da Rian das Kommando übernommen hat…“
„Hmm.“ Taran klang skeptisch. Sie wusste, dass er erhebliche Zweifel hegte, was ihren in seinen Augen allzu ambitionierten Offensivplan – und die Rolle, die die Rikata-Kampfgruppe dabei spielen sollte – anging: „Sie ist eine hervorragende Strategin. Wenn sie in einem früheren Zeitalter geboren worden wäre...Aber wir leben nun einmal nicht mehr in der guten alten Zeit. Die imperiale Flotte ist nicht mehr dieselbe, wie noch vor fünf Jahren. Wir haben viel verloren. Und damit meine ich nicht nur Schiffe, Planeten und Mannschaften. Ich meine die Gewissheit, dass wir vielleicht eine Schlacht verlieren können, doch niemals einen Krieg. Hoffen wir, dass sie nicht zuviel von der Flotte verlangt. Aber Rian ist zweifellos das Beste, was uns im Augenblick passieren konnte. Zumindest, wen man die Alternativen bedenkt.
Was meinen Sie, warum die Flottenführer der früheren Jahrhunderte einen derart legendären Ruf haben? Wir erzählen uns immer noch Geschichten und Sagen, haben sie fast in den Rang von Halbgöttern erhoben. Manchen von ihnen sogar noch mehr, als die Imperatoren, denen sie dienten.“
‚Worauf willst du hinaus, Taran?’ „Ich nehme mal an, wegen ihren militärischen Leistungen.“
„Natürlich waren sie genial…aber haben sie jemals gegen einen Gegner kämpfen müssen, dessen Militärmacht mit dem der Republik und der CC vergleichbar war? Ja, sie befehligten Millionen von Soldaten, und hunderte von Schiffen. Doch wenn es alleine um die Menge der in Marsch gesetzten Truppen, das Ausmaß der entfesselten Vernichtungskraft geht, dann stellt dieser Krieg sie alle in den Schatten.“
„Aber sie haben gesiegt. Und…vielleicht ist auch einfach genug Zeit vergangen, damit Sagen und Legenden entstehen konnten. Außerdem…ist die Vergangenheit immer großartiger, als die Gegenwart.“ ‚Vor allem für alte Männer und junge Träumer.’
Cattaneo
Tyr
Thera Los hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihr Vorgesetzter auch ihre unausgesprochenen Worte gehört hatte, aber falls das der Fall war, so nahm er sie offenbar nicht übel: „Vielleicht haben Sie da recht. Aber andererseits…viele der Sagen und Legenden entstanden bereits während der Lebenszeit dieser Kriegsherren.
Ich glaube, dass wir sie auch deshalb in den Rang von Legenden erhoben…weil sie noch auf sich alleine gestellt agieren konnten. Natürlich befolgten sie die Befehle ihrer Imperatoren. Aber vergessen Sie nicht, damals waren die Kommunikationsmöglichkeiten weitaus unzuverlässiger und langwieriger als heute. Es konnte Wochen und Monate dauern, bis ein Befehl von der Heimatwelt die Grenzen und Frontlinien erreichte. Wenn er sie erreichte. Häufig war man auf Kurierschiffe angewiesen. Und die Admiralität und der Generalsstab der Armee waren damals nicht viel mehr, als ein Beratungsgremium des Imperators. Wenn die Imperatoren nicht selber die Flotten führten, dann trafen die Kommandeure der Grenzflotten und Randsektoren eigene Entscheidungen. Sie entwarfen die Schlachtpläne. Manchmal begannen sie auch den Krieg und schlossen Frieden, und legten das Ergebnis dann dem fernen Kaiserhof zu Füßen. Gewiss, einige wurden hingerichtet, verbannt, degradiert weil sie versagten, den Willen ihres Herrschers falsch gedeutet hatten, weil sie zu mächtig wurden, oder gar selber nach dem Thron strebten. Aber das war kein zu hoher Preis…
Sie waren auf eine Art und Weise unabhängig, die in unseren modernen Tagen fast unvorstellbar erscheint. In den letzten zweihundert Jahren ist die Bedeutung der Admiralität, des Generalsstabs, des Kriegsministeriums – und der direkte und unmittelbare Zugriff des Imperators auf jeden Kriegsschauplatz – immer weiter ausgebaut worden. Ich sage nicht, dass das falsch ist – die Zeiten haben sich gewandelt – aber damit ging auch etwas verloren…
Ich glaube, auch Jor sehnte sich zu diesen Zeiten zurück. Oder jedenfalls zu dem, was ER für unsere glorreiche Vergangenheit hielt. Es war ihm nicht genug, Kronprinz und irgendwann einmal Imperator zu sein. Er wollte seinen Krieg – und einen triumphalen Siegfrieden, der seinen Namen trägt. Und er wollte ihn, solange er noch jung war. Darin ähnelte er den Sektorkommandeuren und Grenzadmiralen der Vergangenheit. Nur dass er das Kommando über die gesamte Flotte – und das GANZE Imperium – in seiner Hand vereinte. Er konnte es, und er hat keinen Augenblick gezögert. Weil es sein Geburtsrecht war. Das war seine größte Stärke. Das war seine größte Schwäche. Das war sein Untergang.
Er hatte die Macht, um gleichzeitig Kriegsherr und Staatslenker sein zu können. Die Macht eines der großen Imperatoren – doch ohne dessen Selbstkontrolle und Weisheit. Leider war er ein bestenfalls mittelmäßiger Soldat, und ein sehr schlechter Politiker. Und Relath Gor…hat sich seinen Verstand durch seinen Hass und seine eigenen Winkelzüge verwirren lassen. Beide waren unfähig zurückzustecken, und einen Fehler einzugestehen. Sie haben niemals den Unterschied erkannt zwischen dem, was wünschenswert, und dem, was möglich ist. Oder zwischen Wichtigem und Persönlichem.“
Auch wenn Thera Los insgeheim dieser Einschätzung zustimmte, war sie selbstkritisch genug, um zuzugeben, dass sie in dieser Sache nicht gerade unparteiisch war. Genauso wenig wie Taran. Immerhin hatte der Kronprinz sie aus seinem Stab entfernen lassen, und dafür gesorgt, dass sie als dritter Offizier an Bord der KAHAL Dienst schieben musste. Taran andererseits war nach dem Scheitern der gegen Jor gerichteten Offiziersverschwörung in den Draned-Sektor abgeschoben worden.
Sie fragte sich allerdings, in welche Richtung Tarans Gedanken noch gingen…: „Und wie beurteilen Sie dann Ihre eigenen Qualifikationen, Admiral?“
Die Antwort war ein kurzes Zähneblecken, das vielleicht ein Lächeln sein sollte: „Nun, wir werden bald sehen. Aber dieses Urteil überlasse ich doch lieber anderen. Man könnte mir Befangenheit vorwerfen. Außerdem habe ich natürlich nicht den Ehrgeiz, die Verantwortung für das ganze Reich und die imperiale Flotte zu übernehmen. Ein durch den Vormarsch des Feindes isolierter Raumsektor und eine Trägerkampfgruppe reichen mir.“ Thera Los war sich nicht ganz sicher, ob in diesen Worten nicht ein unausgesprochenes ‚noch nicht’ und ‚vorerst’ mitschwangen.
„Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht ganz verstehe, worauf Sie hinaus wollen, Admiral. Der Kronprinz ist tot, und Relath Gor auch…“
„Und das Imperium ist damit allemal besser dran. Aber darum geht es mir gar nicht. Ich weine keinem von beiden eine Träne nach. Und das sollte auch niemand anderes tun, dem das Wohlergehen des Reiches am Herzen liegt.
Aber dummerweise haben die beiden damit einer Einstellung Vorschub geleistet, die schon seit Jahrzehnten immer mehr Anhänger gewinnt.“
„Dass Abstammung eine zu wichtige Rolle am imperialen Hof spielt?“
„Na, na. Jetzt bewegen SIE sich gefährlich nahe am Hochverrat. Nein, das meine ich nicht. Selbst unsere fähigsten Bürgerlichen wissen doch, wer das Imperium regieren muss. Ohne die von den Traditionen und der Geschichte geheiligte Herrscherfamilie, ohne das kaiserliche Blut auf dem Thron, gibt es kein Imperium. Sondern bestenfalls einen Diktator oder eine Marionette, die sich an einen ziemlich unbequemen und überladenen Stuhl klammert. Und schlimmstenfalls ein Dutzend Raubtiere, die um diesen…Stuhl kämpfen.
Nein, ich meine die Entpolitisierung unserer Streitkräfte. In den alten Tagen war es selbstverständlich, dass ein hoher Offizier auch ein politisches Amt übernehmen konnte. Und die Grenzkommandeure…sie waren Generäle UND Politiker. Aber heute…viele jüngere Militärs sehen auf einmal in der Politik etwas…Schmutziges, was ihre blank geputzten Abzeichen und Orden beschmutzt. Sie dünken sich erhaben über die ‚unsoldatischen’ Niederungen der Politik, stilisieren den Krieg zu etwas Edleren, verachten die ‚Politiker’ wie eine niedere Kaste. Und auf der anderen Seite sehen viele unserer Zivilbeamten und Gouverneure in der Flotte und der Armee nicht mehr, als einen Haufen überbewerteter Idioten, die zuzuschlagen, wann und wo man es ihnen befiehlt, und denen jedes bisschen Verständnis für höhere Zusammenhänge fehlt. Und das wirklich Gefährliche ist, dass sie teilweise Recht haben könnten.
Wir mussten einen UNTEROFFIZIER – ach was, einen ZIVILISTEN – losschicken, um den Frieden mit der Konföderation zu schließen. Obwohl jeder außer ein paar versteinerten Betonköpfen doch erkennen musste, dass es das Beste war, das wir erreichen konnten – einen schnellen Frieden, der die CC neutralisiert, bevor die verbliebenen konföderierten Einheiten und Girads mächtige Vierte Flotte über die kläglichen Resten von Ilis Sturmverband hereinbrechen konnten, wie ein zusammenstürzendes Gebäude. Aber natürlich war sich die Flotte zu fein dazu. Ich wette, dass in diesem Augenblick ein halbes Dutzend dieser…Fossilien über die Schmach unserer ruhmreichen Flotte lamentieren, statt den Göttern und Prinzessin Linai auf den Knien für dieses Wunder zu danken. Ilis hatte total auf Va banque gesetzt. Nach jeder strategischen Gesetzmäßigkeit wäre er abgeschlachtet worden, wenn die CC die Nerven behalten hätte.
Wissen Sie eigentlich, dass die Menschen eine ähnliche Entwicklung wie wir durchlaufen haben? Der Gedanke ist ziemlich ernüchternd, finden Sie nicht? Fast obszön. Gut, bei uns hat es bisher noch nicht eine solche…degenerative Zivilisationserscheinung gegeben, wie diese irdische ‚Friedensbewegung’. Aber dennoch, der Gedanke, dass wir etwas mit diesen kurzlebigen…Glatthäuten gemein haben…
Oh, es gab auch bei ihnen ein paar kluge Köpfe, die erkannt haben, dass der Krieg die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln ist. Aber im Grund sehen sich ihre Streitkräfte vielfach auch als eine Art…Orden, der über der Politik steht.
Wissen Sie was ich meine?“
„Nur so ungefähr. Und ich verstehe nicht ganz, wohin Sie dieses Schiff eigentlich steuern wollen. Aber ich nehme mal an, dass Sie mir das noch sagen wollen.“
Der Vizeadmiral lachte leise: „Entschuldigen Sie meine Weitschweifigkeit. Das Privileg des Kommandos. Vermutlich liegt es auch daran, dass wir so lange unter Funkstille operieren. Ich hatte wohl zu viel Zeit, um zu grübeln.
Ich glaube, dass diese Einstellung ein Luxus ist, den wir uns nicht mehr leisten können. Bei den Menschen hat es dazu geführt, dass ihre größte Militärmacht von einer Handvoll barfüßiger Guerillas besiegt werden konnte, weil sie zu sehr fasziniert war von der eigenen Feuerkraft. Das ist ein Fehler, den ich nicht wiederholen will.“
Jetzt glaubte Thera Los zu begreifen. Endlich fielen die einzelnen Mosaiksteinchen an die richtige Stelle, und ergaben ein Gesamtbild: „Und damit sind wir wieder beim Draned-Sektor. Und den T’rr.“
„Ja. Die T’rr…die T’rr sind ein ernster Machtfaktor in diesem Sektor. Seit 200 Jahren sind sie offiziell Untertanen des Imperiums, und noch immer machen sie uns ständig Schwierigkeiten. Sie haben – einschließlich ihres Heimatsystems – immerhin sechs Systeme besiedelt, und ein weiteres zeitweilig besetzt. Das macht sie in diesem Sektor – von uns natürlich abgesehen – zu der wohl am weitesten verbreiteten Rasse. Acht Planeten und fünf Monde haben eine T’rr-Bevölkerungsmehrheit von mindestens achtzig Prozent. Nach der letzten Zählung bedeutet das fast zwanzig Milliarden. Und dazu kommen noch einige recht bevölkerungsstarke Enklaven auf anderen Planeten, etliche Millionen Exilanten im konföderierten Raum, weit über eine Million, die wir auf den Mond von Avon* deportiert haben, und eine unbekannte Anzahl, die sich dem Abschaum aus Dutzenden von Rassen angeschlossen haben, der in den dunklen Ecken und vergessenen Enklaven des Imperiums überlebt. Schmuggler, Piraten, Kriminelle…
Sie sind hervorragende Kämpfer, und im Krieg zutiefst gnadenlos. Bevor wir sie unterwarfen, haben sie bei ihrem eigenen Vormarsch die Dak’dak** praktisch ausgerottet. Und die Mon*** haben sie derartig massakriert, dass sie zu unseren loyalsten Untertanen im Draned-Sektor wurden, nachdem wir die T’rr-Besatzungstruppen zum Abzug zwangen.
Wir geben Monat für Monat Milliarden aus, müssen zahllose Soldaten, tausende Panzer, Schweber und Atmosphäreneinheiten, hunderte Raumjäger und Dutzende Kriegsschiffe einsetzen, um sie unter Kontrolle zu halten, und selbst das reicht nicht einmal annähernd. Ohne die Unterstützung der loyalen T’rr, und wenn die verschiedenen Guerillagruppen sich nicht gleichzeitig auch gegenseitig bekämpfen würden…
Und jetzt bekommen sie auch noch Unterstützung von den Menschen. Was, wenn die ihnen irgendwann moderne Massenvernichtungswaffen zur Verfügung stellen – zum Beispiel ein paar handliche, subtaktische Atomsprengköpfe?
Gleichzeitig aber können wir die T’rr auch nicht einfach sich selbst überlassen. Was wäre das für ein Signal an unsere anderen Untertanen? An unsere Feinde? Und an uns selbst? Ganz zu schweigen davon, dass wir dann ein im Kampf gegen uns gestähltes Volk hätten, das sich ebenfalls zur Herrschaft berufen fühlt. Sie würden bald anfangen, für neue Unruhe zu sorgen. Außerdem brauchen wir die T’rr-Planeten als Teil des Reiches. Auch aus strategischen Gründen. Es geht schließlich nicht nur um T’rr-Tabak und Taki-Fleisch. Auf den T’rr-Planeten gibt Bodenschätze, die für die Kriegs- und Friedenswirtschaft des Draned-Sektors von entscheidender Bedeutung sind.
Wir müssen einen Weg finden, diesen sinnlosen Schattenkrieg zu beenden, oder zumindest einzudämmen. UND gleichzeitig die T’rr als Teil des Imperiums erhalten. Am Besten wäre es natürlich, wenn wir dabei auch noch ihre Kampfkraft gegen unsere Feinde richten könnten. Aber wie können wir das machen, ohne uns zu viel zu vergeben – oder den T’rr zu wenig?“
„Nun zweifellos wird das Innen- oder das Kolonialministerium…“
„Sie verstehen nicht ganz…,“ Vizeadmiral Taran deutete auf das Hologramm, auf den breiten Streifen, den die TSN aus dem Imperium herausgeschnitten hatte, und der den Draned-Sektor vom Kernimperium trennte, „…die Ministerien, sogar der Imperator – wenn wir denn einen hätten – sie können im Augenblick in dieser Sache nur reagieren. Richtlinien vorgeben. Und – so hoffe ich – Entscheidungen absegnen, die HIER getroffen werden. Die Menschen haben unsere Transmitterstationen zerstört, und ich weiß nicht wie viele Spionagesatteliten ausgesetzt. Inzwischen sind unsere Codes nicht mehr sicher – außer einigen unserer besten militärischen und geheimdienstlichen Verschlüsselungen. Das heißt, dass viele Funksprüche bestenfalls verspätet eintreffen, und nicht als völlig sicher eingestuft werden können. Wirklich sensible Informationen und Befehle müssen wieder – wie vor Jahrhunderten – mit Kurierschiffen übermittelt werden. Eine ziemlich riskante und langwierige Methode, aber die einzig mögliche – wenn man nicht gleich einen schlagkräftigen Kampfverband losschickt, der sich notfalls den Weg freikämpfen kann.“
„Und das ist Ihnen nicht ganz unrecht.“
Thera Los Vorgesetzter warf ihr einen Blick zu, der zu entrüstet wirkte, um wirklich glaubhaft zu sein: „Was denken Sie denn von mir? Natürlich bin ich empört darüber, wie die Menschen es wagen können, den heiligen Boden des Imperiums zu entweihen, und sich der uns von den Göttern übertragenen Mission in den Weg stellen zu können.“ Sie war sich ziemlich sicher, dass bei diesen im formellen Duktus der alten kaiserlichen Erlasse formulierten Worten eine gehörige Portion Zynismus mitschwang. Aber im nächsten Augenblick war jede Spur davon aus Tarans Stimme gewichen: „Sobald ich endlich freie Hand habe, und über meinen Flottenverband wieder frei verfügen kann, wird es meine erste und vorrangige Aufgabe sein, die verräterischen Separatisten in ihrem eigenen Blut zu ertränken, und die Verbindung mit dem Imperium wiederherzustellen.“ Captain Los war sich sicher, dass Taran zumindest den ersten Teil verdammt ernst meinte. Gegenüber den T’rr und den anderen rebellischen Kolonialvölkern schien der Vizeadmiral fast so etwas wie widerwilligen Respekt zu empfinden. Die Menschen konnte er vermutlich als unterlegene Rasse, aber immerhin findige und hartnäckige Gegner akzeptieren. Und selbst die Akarii, die in der CC lebten, hasste Taran nicht aus tiefstem Herzen, auch wenn er sie verachtete. Wenigstens hatten sie keinen Eid auf den Imperator gebrochen. Aber wenn es etwas gab, was er abgrundtief und rückhaltlos verabscheute, dann waren das die Akarii, die dem Imperium in der Stunde der Not den Rücken zugekehrt hatten.
Aber offensichtlich hatte er auch bei dem zweiten Teil seiner Aussage nicht gelogen: „Solange nur ein einziges System in der Hand der Menschen ist, werden wir weiterkämpfen. Es sei denn, der Imperator entscheidet etwas anderes. Etwas anderes ist unvorstellbar. Und wir müssen die Verbindung zum Imperium wiederherstellen, oder wir stehen auf verlorenem Posten. Die Separatisten sind Narren. Sie begreifen nicht, dass der Sektor – und noch viel weniger ihre paar kümmerlichen Planeten – nicht auf sich alleine gestellt existieren können. Alles, was wir auf uns alleine gestellt mobilisieren können, ist nur Stückwerk. Wir brauchen Truppen, Nachschub, Schiffe. Wir brauchen das Imperium. Und wir brauchen die Autorität, die nur auf Akar zu finden ist.
Aber bis dahin…sollten wir das Beste aus unserem…fast autonomen Status machen, solange wir dazu die Möglichkeit haben. Verstehen Sie, was ich meine? Es ist allemal besser, um Entschuldigung zu fragen, als um Erlaubnis.“
„Wenn Akar dann nicht Ihren Kopf fordert, Sir.“
„Letzten Endes steht und fällt Alles natürlich mit dem Erfolg in der Schlacht UND am Verhandlungstisch. Wenn wir den Part spielen können, den die Großadmiralin uns zugedacht haben…WENN wir es auch wieder nach Hause schaffen…WENN ich diese verdammten Verräter in den Trümmern ihrer erbärmlichen Paläste begraben kann…und WENN wir irgendeine Übereinkunft mit den T’rr und einigen der anderen Rebellengruppen finden können…Dann wird Akar nichts anderes tun können, als das abzunicken, was geschehen ist.
Wenn ich jedoch scheitere…nun, dann werde ich mein Versagen wahrscheinlich so oder so mit dem Leben bezahlt haben, lange bevor ich mir um den Schiedsspruch des neuen Imperators, der Ministerien und der Admiralität Gedanken machen muss.“
„Ein hoher Einsatz.“
„Das ist der Krieg immer.“
„Und wenn Sie all das erreichen können, was Ihnen vorschwebt, und sich der Imperator – wer er auch sein mag – dafür entscheidet, Ihre Verträge mit den Rebellen zu kippen?“
„Dann werde ich wohl zugeben müssen, dass es offenbar jemanden gibt, der noch dümmer ist als Jor. Und hoffen, dass das Imperium das Blutvergießen überstehen wird, das den Draned-Sektor und die angrenzenden Regionen dann überrollen wird.“
Thera Los fixierte ihren Vorgesetzten scharf. Wollte er damit etwa andeuten…? ‚Das würde bedeuten, dass ich schon zum zweiten Mal bei jemandem gelandet bin, der größenwahnsinnig ist. Ja, er ist allemal angenehmer als Jor. Aber dennoch…Ziehe ich solche Leute etwa an?’
Nein, Unsinn. Selbst wenn Taran tatsächlich das eigentlich Undenkbare in Erwägung ziehen sollte, er würde es auf keinen Fall aussprechen. Auch nicht ihr gegenüber. Ganz klar, er meinte die Rebellionen, die unter den unterworfenen Völkern in einem solchen Fall zwangsläufig losbrechen würden. Natürlich, was sonst? Sie hatte sich durch das etwas unheimliche Ambiente verunsichern lassen, durch die beunruhigende Art und Weise, wie das schwache Licht des Hologramms Tarans Züge nur schattenhaft erhellte.
Diese Einschätzung wurde noch dadurch untermauert, dass jetzt wieder der vertraute, leicht selbstironische Ton in Tarans Worten mitschwang: „Entschuldigen Sie, dass Sie sich diesen ganzen Sermon anhören mussten.“
„Nicht doch, Sir. Es ist Ihr gutes Recht. Immerhin bezahlen Sie meinen Sold, sozusagen. Aber
womit habe ich mir dieses Vertrauen eigentlich verdient?“
Der Vizeadmiral lächelte wieder amüsiert: „Diese Frage sollte man eigentlich nie stellen, wenn man sich der Antwort nicht absolut sicher ist. Doch wenn Sie mich schon fragen…
Wen an Bord könnte ich denn sonst ins Vertrauen ziehen? Matir ist ein guter Soldat. Und ein guter Akarii. Zuverlässig, loyal, mutig, taktisch begabt. Aber damit ist auch schon alles über ihn gesagt. Es mangelt ihm ein wenig an Phantasie und einer gewissen…geistigen Beweglichkeit. Vor allem in politischen Dingen. Oh, er ist nicht so verknöchert, dass es für ihn nur die Borealis-Doktrin und die kaiserlichen Erlässe gibt, und dennoch…
Sie hingegen…Sie sind intelligent, flexibel – und Sie haben ein Gespür für politische Zusammenhänge und die Spielregeln des kaiserlichen Hofs. Wenn Sie einen höheren Rang oder blaueres Blut in den Adern hätten…dann müsste ich mich vor Ihnen hüten.“
„Ich nehme das als Kompliment.“
„Auf jeden Fall. Nun, genug damit. Sie haben die Berichte über die Performance der einzelnen Abteilungen und Stationen bei der letzten Alarmübung?“
„Ja, Sir.“
„Ausgezeichnet. Das war schnelle Arbeit. Lassen Sie hören. Beginnen wir mit dem Bordgeschwader…“
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* eine Akarii-Strafkolonie im Draned-Sektor, die vor allem mit renitenten T’rr aufgefüllt wurde. Auf dem Mond von Avon ist das Überleben nur in einer extrem schmalen Zone entlang des Äquators möglich, der Rest ist einfach viel zu kalt. Die ‚Einwohner’ werden weitestgehend sich selbst überlassen, die Akarii-Streitkräfte überwachen vor allem die Blockade des Systems, und halten ansonsten nur einige befestigte Punkte. Die Lebensbedingungen sind bestenfalls spartanisch zu nennen, da die Akarii weder Lebensmittel noch moderne Technik in ausreichender Menge zur Verfügung stellen.
** eine amphibische Rasse in dem gleichnamigen System. Ihren Eigennamen hielten die T’rr für unaussprechlich, weswegen sie den – ziemlich herablassenden – Namen Dak’dak prägten, der ungefähr dem irdischen ‚Barbar’ entspricht. Die halbnomadischen, steinzeitlichen Dak’dak wurden bei der Eroberung ihres Planeten fast ausgerottet. Von geschätzt mindestens 10 Millionen sind heute weniger als eine Million übrig geblieben, die in ‚Schutzzonen’ und unwirtlichen Regionen überleben. Dafür leben nun etwa zwanzig Millionen T’rr auf dem Planeten.
*** Diese reptiloide Spezies gehört zu den wenigen intelligenten Rassen, die nur ausnahmsweise den zweifüßigen Gang benutzen (teilweise wird der aufrechte Gang als Vorausbedingung für die Entwicklung echter Intelligenz angesehen). Vor ihrem ‚ersten Kontakt’ mit den T’rr waren die Mon bereits an die Grenzen ihres Sonnensystems vorgestoßen, hatten allerdings noch nicht den Überlichtflug entwickelt.
Cattaneo
Tyr
Sterntor-System
Kano blickte auf die aufgereihte Kampfflieger-Schwadron, und erlaubte sich ein seltenes Lächeln. Endlich hatte die Einheit wieder die volle Einsatzstärke. Und im Verlauf der nächsten Woche sollten dann auch die obligatorischen vier Ersatzmaschinen dazu stoßen, die zu einer Staffel gehörten.
Inzwischen zierten jede Maschine der Bärenkopf mit den wütend gebleckten Zähnen und die Tatzen mit den gebogenen Klauen, die an das Wappentier der Staffel erinnerten. Das gab den schweren Hochleistungsjägern nicht nur ein etwas archaisches, bedrohliches Flair, sondern ließ sie außerdem aus der Masse herausragen. ‚Wir haben auch keinen Grund, uns zu verstecken.’
Solche Maschinen zogen zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf sich. Bei den meisten Trid-Berichten über die Angry Angels bekam man mindestens eine Nighthawk der Butcher Bears zu sehen. Das hatte sogar für ein wenig Verstimmung gesorgt, aber die Schwarze Staffel bestand auf ihrem ‚Recht’.
***
Die Butcher Bears war seit nunmehr gut einer Woche wieder auf voller Einsatzstärke, und einige ihrer Piloten begannen bereits so etwas wie Ermattungserscheinungen zu zeigen. Kano hatte nicht zuviel versprochen, als er seinen Leuten die Hölle auf Erden in Aussicht gestellt hatte.
Er hatte mit einer Reihe von Simulatorübungen begonnen, die dazu dienten, die ‚Neuen’ auf Herz und Nieren zu prüfen, und sie an die Standards der Angry Angels – und der Butcher Bears – zu gewöhnen. Kurz darauf waren dann die ersten Übungsflüge hinzugekommen.
Keiner der Piloten kam frisch von der Akademie, und selbst die, die bisher noch keinen Kampfeinsatz geflogen waren, hatten bereits hunderte Stunden Übungs- und Patrouilleneinsätze hinter sich. Natürlich war das kein Ersatz für Kampferfahrung, aber es gab den Piloten mehr Routine und Sicherheit, als sie viele ‚Frischling’ besaßen.
Kano hatte sich bei den Übungsflügen um Abwechslung bemüht. Ein paar Mal hatten sie sogar auf der Oberfläche von Seafort Bodenangriffe geübt. Dazu kamen Langstreckeneinsätze, Formationsflüge, Gefechtsübungen in Flight-, in Sektions- und in Staffelstärke, wenn er eine andere Schwadron dazu überreden konnte, 'mitzuspielen'. Allerdings hatte er vorerst darauf verzichtet, bei den Jokers anzufragen. Im Augenblick war er nicht allzu gut auf die Blauen zu sprechen. Und ganz bestimmt wollte er nicht, dass einer seiner Untergebenen – oder, wahrscheinlicher, einer von Chips Rasselbande – diese Gelegenheit für irgendwelche Muskelspielchen missbrauchte.
Jede Simulator- oder ‚echte’ Übung wurde von einer gnadenlosen Manöverkritik‚gekrönt’, bei der Kano mit Tadel freigiebig, mit Lob aber sehr sparsam war. Und er hatte auch sehr deutlich klar gemacht, dass ein zu spektakuläres Versagen in der Übungsphase sich durchaus auch als Eintrag in der Dienstakte niederschlagen konnte. Allerdings war er klug genug gewesen, sich selber nicht aus der Kritik auszuschließen. Nichts war so tödlich wie übertriebene Selbstsicherheit. Und niemand so sehr verhasst wie ein Mann, der keine Fehler machte, oder sie nicht eingestehen konnte.
Kano hatte allerdings auch schnell lernen müssen, dass er immer noch ziemlich weit unten in der allgemeinen Hackordnung stand. Ob es um die Wartung der Maschinen, die Nutzung der Simulatoren, oder die Freigabe von Flugrouten und Übungsflächen ging, nicht selten musste er warten, wurde vertröstet – oder man ließ ihn ganz einfach auflaufen. Dinge, die Darkness, Lone Wolfe und Monty mit einem Kommruf abwickeln konnten, kosteten ihn wertvolle Zeit. Zeit, die er eigentlich nicht hatte. Selbst der ‚Heldenbonus’ der Angry Angels half da nur selten.
Wenigstens war er nicht der einzige Staffelchef, der mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die Blaue und die Grüne Staffel zum Beispiel wurden ernstlich durch das ‚Verschwinden’ ihrer Kommandeure gehandicapt. Niemand schien genau zu wissen, wo Lilja und Ace abgeblieben waren.
Einige Witzbolde hatten das Gerücht in Umlauf gebracht, dass die beiden nach einem ‚Frontalzusammenstoß’ noch immer nicht aus dem Bett gefunden hatten. Imp hatte daraufhin angedroht, ihrer Freundin eine Namensliste dieser Spinner zukommen zu lassen, sobald sie wieder zurück war. Die Gerüchte war natürlich Unsinn, doch Ravens wenig ergiebige Bemerkung über einen ‚verdammten Sondereinsatz’ heizte die Spekulationen noch weiter an.
Immerhin, Imp schien durchaus fähig, ihre Vorgesetzte und Freundin zu vertreten. Bei Chip war sich Kano hingegen nicht so sicher. Die Ergebnisse der Blauen waren wirklich nicht so großartig, dass der Staffel-XO es sich leisten konnte, seine Zeit mit nicht kriegsrelevanten Spielchen zu verplempern. Aber das war ja jetzt hoffentlich ausgestanden.
Und die neu aufgestellte Gelbe Staffel hatte wahrscheinlich noch einen wesentlich längeren Weg vor sich, bis sie wieder ihrem – für die Angry Angels allerdings nur mittelmäßigen – Ruf gerecht werden konnte. Aber wenn man bedachte, was sie alles in der letzten Zeit hatten einstecken müssen, dann holten sie erstaunlich schnell auf. Blackhawk mochte vielleicht nicht mehr der Jüngste sein, aber das schien seiner Entschlossenheit keinen Abbruch zu tun.
Jedenfalls sah Kano keinen Grund, den Druck zu lockern. In anderen Staffeln hätte der gnadenlose Drill inzwischen wahrscheinlich zu einer Rebellion geführt. Aber die ‚Alten’ der Butcher Bears waren durch die anspruchsvolle Schule von Darkness, Monty und Lone Wolf gegangen. Und sie kannten Kano. Marat hatte einmal aufgemuckt, doch er war von Kano vor versammelter Mannschaft derart gnadenlos zusammengefaltet worden, dass er wahrscheinlich erst einmal genug hatte. La Reine wäre wohl nicht so einfach einzuschüchtern gewesen, aber sie stand immer noch ‚wegen der Sache mit dem angedrohten Blue-on-Blue’ in Kanos Schuld.
Und was die Neuen anging…
Phoenix als ehemaliger Marineinfanterist schien mit Kanos Führungsstil keine Probleme zu haben – er war wahrscheinlich Schlimmeres gewöhnt. Außerdem wäre dieser Mann auch mit bloßen Füßen über Rasierklingen gelaufen, wenn ihm das nur die Möglichkeit gab, Akariis zu töten.
Was Spacer betraf, so halfen ihm sein Enthusiasmus und seine Heldenverehrung für die Angry Angels, diese ‚Besten der Besten’, das ‚Geschwader der Entscheidungsschlachten’, den Druck auszuhalten. Bisher jedenfalls.
Jimmy und Flyboy hatten nicht das Zeug zum Rebellen. Beide erledigten ihren Dienst nach Vorschrift, nicht mehr und nicht weniger. Ansonsten schien Jimmy vor allem daran interessiert zu sein, eine ruhige Kugel zu schieben, und Flyboy war offenbar froh, wenn sie mit keinem ihrer Kameraden mehr als ein paar Sätze pro Tag wechseln musste. Sie war nicht direkt abweisend, oder gar unhöflich – aber so zurückhaltend und scheu, dass das Ergebnis fast dasselbe war. Immerhin, als Pilotin hatte sie eindeutig Potential – das zu aktivieren allerdings Kano bisher noch etwas die Zeit gefehlt hatte.
***
Der Staffelchef drehte sich zu seinen Untergebenen um. Jetzt war sein Gesicht wieder die inzwischen auch den Neuen vertraute, ausdruckslose Maske: „Unsere Einsatzparameter sind klar. Wir starten, nehmen die Staffel Bronze auf, und eskortieren sie bis zu den Übungskoordinaten. Dort decken wir ihren Angriff auf die KAMI und die HAGEN VON TRONJE, und unterstützen sie nach besten Kräften. Fragen?“
„Wie lange wird der Flug dauern?“ kam es von La Reine.
„Wir absolvieren noch ein paar Flugübungen auf dem Weg, deshalb sollten Sie mit etwa einer Stunde rechnen.“
„Hin- und Rückflug?“ schaltete sich von Crusader ein.
„Im Prinzip, ja. Aber wir werden nicht auf der Station landen.“
„Ist die COLUMBIA endlich bezugsfertig?“ Das war Phoenix. Er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass die Werftabteilung für seinen Geschmack immer noch viel zu langsam bei der Instandsetzung des Trägers arbeitete.
Kano lächelte flüchtig: „Sie werden sich noch etwas gedulden müssen, Jeanpierre. Wahrscheinlich noch einige Wochen. Nein, wir fliegen zur DERFLINGER. Es wird Zeit, dass wir auch einmal wieder auf einem echten Träger landen und starten.“
Das sorgte für etwas erhöhte Aufmerksamkeit. Selbst erfahrene Piloten bekamen nicht häufig die Möglichkeit, einen anderen Träger zu besuchen. Außerdem hatte der Flying Circus – das Bordgeschwader der DERFLINGER – einen ziemlich guten Ruf.
Huntress hob den Arm, und schaffte es trotz des Einsatzanzuges irgendwie, diese eigentlich harmlose Geste provokant wirken zu lassen: „Und mit wem dürfen wir diesmal spielen?“
„Eine Staffel des Flying Circus gibt den Kreuzern Deckung.“
„Schade. Ich hatte gehofft, ein paar Jungs von den Blauen den Arsch aufreißen zu können.“
Damit hatte Agyris mal wieder den Lacher auf ihrer Seite. Kano lächelte nicht einmal. Stattdessen warf er der Pilotin einen warnenden Blick zu: „Sie werden darüber hinwegkommen.“ Nachdem Raven ein Machtwort gesprochen hatte, hegte er die Hoffnung, dass diese lächerliche Angelegenheit bald nur noch Schnee von Gestern sein würde. Er wollte nicht, dass ausgerechnet Agyris jetzt eine Neuauflage inszenierte.
***
Dennoch, alles in allem hatte ihn Huntress positiv überrascht. Sie stellte seine Autorität vorerst nicht in Frage, und im Gegenzug tolerierte er ihre kleinen Spielchen und anzüglichen Bemerkungen. Bisher hatte das erstaunlich gut funktioniert. Allerdings war sie natürlich auch erst seit kurzem an Bord. ‚Vielleicht braucht sie etwas Zeit, bevor sie dann voll durchstartet.’ Bei diesem Gedanken hätte er beinahe gegrinst. Aber sie schien tatsächlich bereit zu sein, seine Anweisung betreffs 'der Sache mit den Blauen' zu befolgen. ‚Na ja, vorerst zumindest.’ Er war nicht sicher, wie lange ihre guten Vorsätze vorhalten würden.
Ansonsten schaffte Huntress es, in jeder Runde den Mittelpunkt zu bilden, und in jedem Raum die Blicke auf sich zu ziehen. Ihr provozierendes, fast aggressives Selbstbewusstsein und ihre Schlagfertigkeit forderten das fast genauso sehr heraus, wie ihr Aussehen und ihre ziemlich illustre Herkunft. Es waren nicht gerade viele Leute an Bord, deren frei verfügbares Barvermögen etliche Millionen Real schwer war, und deren Eltern und Verwandten bei milliardenteuren Rüstungs- und Privatwirtschaftsdeals mitmischten. ‚Wenn sie ihre Fähigkeiten darauf fokussieren würde, eine Einheit zu führen…eine ziemliche Verschwendung.’ Aber diese Einschätzung behielt er für sich.
Falls Agyris inzwischen einen weiteren ‚Abschuss’ erzielt hatte, so hatte er nichts davon gehört, und es war ihm auch ziemlich egal.
****
„Sonst noch Fragen? Gut. Aufsitzen.“
Wenige Minuten später waren die Maschinen der Butcher Bears im All. Noch ehe Kano einen entsprechenden Befehl geben konnte, forderte ihn die barsche Stimme eines offensichtlich unter Minderwertigkeitskomplexen leidenden Raumlotsen auf, seine Einheit gefälligst aus dem Start- und Landekorridor der Station zu bewegen. Während Kano die Staffel auf eine sichere Position führte, informierte ihn ein weiterer Funkspruch, dass der Start der Bronzestaffel um eine halbe Stunde verzögern würde.
Der Staffelchef der Butcher Bears verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, informierte seine Untergebenen, und machte es sich so bequem wie möglich. Auch wenn die neuen Raumanzüge leistungsfähiger und sicherer waren, angeblich dem Träger bis zu zehn Tage im Weltraum überleben ließen – wirklich angenehm zu tragen waren auch sie nicht. Aber wenigstens war das Panorama sehenswert.
Als eine der fünf größten Raumstationen der Republik stellte Victoria selbst die Perseus-Station in den Schatten. Sie bot Werften und Liegestationen für alle möglichen Einheiten von leichten Frachtern bis zu ausgewachsenen Flottenträgern, und fungierte außerdem als Sektoren-HQ der 3. Flotte. Zivile und militärische Raumschiffe wimmelten um sie herum, wie Fische um ein gigantisches Unterwasserriff, wobei die Träger und schweren Kreuzer die Haie waren. Die hier versammelte Militärmacht war selbst für einen Veteranen wie Kano beeindruckend – selbst ohne die Außenpatrouillen, die Raumstationen, die Masters umkreisten, und die an den Sprungpunkten positionierten stationären Verteidigungsstellungen waren noch nicht einmal mit eingerechnet. Im Vergleich dazu wirkte ein Dutzend Nighthawks geradezu winzig.
Irgendwo dort drüben musste auch die CAULAINCOURT im Dock liegen. Der Flottenzerstörer hatte bei den letzten Gefechten einige heftige Schläge einstecken müssen. Dazu kamen Waffensysteme der vorletzten Generation, und eine Maschinenanlage, die inzwischen gefährlich nahe am Rand ihrer Lebenserwartung operierte. Irgendjemand weiter oben hatte deshalb die Entscheidung getroffen, den alternden Zerstörer gründlich überholen zu lassen, statt sich wieder nur auf Flickwerk zu beschränken. Soviel Kano von seinem Bruder gehört hatte, waren der Einbau neuer Maschinen und die Modernisierung der Bordwaffen geplant. Das würde allerdings auch eine Liegezeit von mindestens sechs Monaten bedeuten – wenn sich die Werft einmal an ihre Termine hielt. Ein Teil der Mannschaft würde aussteigen oder durch Neuzugänge ersetzt werden. Kanos Bruder Tarro hatte das Glück gehabt, sich für einen Qualifikationslehrkurs melden zu können. Wenn er dabei nicht zu schlecht abschnitt, dann war sein nächstes Karriere-Etappenziel – der Posten eines Zweiten Offiziers – endlich in greifbare Nähe gerückt. Ob das nun auf der CAULAINCOURT, einem anderen Zerstörer – oder vielleicht auch nur einer Fregatte sein würde.
Ein paar der Piloten lästerten über die Crusader-Piloten, auf die ‚man doch immer warten musste’, und Huntress wurde in einen kurzen Schlagabtausch mit Phoenix verwickelt, als sie einige drastische Vermutungen über die sexuellen Vorlieben von Marines äußerte. Also das Übliche. Kano hörte dem Geplänkel nur mit halbem Ohr zu, und wartete darauf, dass sich die andere Staffel endlich hinzugesellen würde.
Nun ja, wenigstens hatte Trisha McGill den nötigen Dienstrang, um renitenten und saumseligen Mitgliedern der Bodencrew ordentlich Feuer unter dem Hintern zu machen.
******************
Eine ganze Weile später, und etliche zehntausend Meilen entfernt
„Dein Junge ist aber nicht gerade einer von der schnellen Truppe.“ Bobcats Stimme klang neckend, aber einige der anderen Dorniers nahmen die Wartezeit nicht so humorvoll. Ein paar Flüche waren bereits laut geworden.
Helen Mitra schnaubte kurz: „Du hast den Funkspruch gehört. Offenbar ist mal wieder etwas mit den Startfreigaben durcheinander geraten.“ Dann wandte sie sich an Commander Rubenbauer: „Sir, ich bin immer noch der Meinung…“
„Nein. Es bleibt dabei. Wir geben den Kreuzern Nahsicherung. Ich werde den Sicherungsschirm weder ausdünnen, noch überdehnen. Ihre…persönlich Erfahrung in allen Ehren…“ Irgendjemand kicherte spöttisch.
Tja, das war der Nachteil der ziemlich familiären Atmosphäre an Bord der DERFLINGER. Inzwischen wusste wahrscheinlich jeder im Geschwader, das sie etwas mit dem Chef der Butcher Bears hatte.
„Keine Chance, Kali. Der Häuptling hat gesprochen.“, Bobcat schien sich keine Sorge zu machen, dass ihr recht respektloser Tonfall sie in Schwierigkeit bringen würde. Das allerdings war ein Vorteil an Bord der DERFLINGER. Keiner bestand so eisern auf die Einhaltung der Umgangsformen und Dienstprotokolle. „Sag mal…wie ist dein Japs eigentlich so?“ Diese auf einem offenen Kanal gestellte Frage sorgte für ein Gelächter, was Bobcat dazu veranlasste, ihre Frage zu präzisieren: „Ich meine jetzt, als Pilot und Einheitsführer.“
„Ihr seid echt eine Bande von Komikern, das ist euch wohl klar?“
„Yup.“
„Was deine Frage angeht…“, Helen Mitra überlegte kurz. Trotzdem sie seit nunmehr fast vier Jahren im selben Geschwader wie Kano flog, trotzdem sie weit mehr als nur Kameradschaft verband, sie war nur selten an seiner Seite geflogen. Ein paar mal hatten sie im Simulator oder bei Übungsmanövern gegen ihn gekämpft. Das war natürlich etwas anderes, als der Ernstfall. Aber sie hatte ihm zugehört. Sie hatte die Aufzeichnungen gesehen, und sie kannte einige von denen, die mit ihm zusammen gekämpft hatten. Mit plötzlich ernst gewordener Stimme fuhr sie fort, „…im Kampf kennt er keine Angst.“ ‚Das ist falsch.’ „Oder…jedenfalls zeigt er sie nicht. Wenn es sein Auftrag ist…dann wird er angreifen. Egal wie die Chancen stehen. Ich kenne nur wenige, die so kompromisslos fliegen. Also glaub nicht, dass er das jetzt nur tun wird, weil das hier eine Übung ist. Ich glaube, für ihn gibt es so etwas wie ‚nur eine Übung’ nicht. Ohka sucht am liebsten den Kurvenkampf – aber ihn in einem Head on Head herauszufordern ist die beste Chance, die eigene Maschine in Klump geschossen zu bekommen. Sicher, es gibt bessere Schützen, vor allem mit den Raketen, aber die Kanonen beherrscht er. Und da er weder zögert noch ausweicht, geht so ein Versuch meistens ziemlich schlecht für den Herausforderer aus. Seine meisten Abschüsse hat Ohka aus nächster Nähe erzielt. Wenn er erst mal in deinem Nacken hängt…dann bist du wirklich in Schwierigkeiten. Dann wirst du ihn nicht mehr los. Er handhabt seine Nighthawk wie eine Falcon – ich kenne vielleicht noch drei, vier Piloten die ihre Maschine ähnlich gut beherrschen. Nur eine, die genauso rücksichtslos kämpft. Und keinen, der so instinktiv fliegt. Es ist richtig unheimlich. Manchmal könnte man meinen, dass er voraussehen kann, was der Gegner tun wird. Deshalb geht sein Killscore so schnell in die Höhe. Und deshalb wird er so häufig aus seiner Maschine geschossen.“
„Also ist er ein Raufbold, der aus dem Bauch fliegt, willst du das sagen?“
„Nein, das ist nicht das richtige Wort. Er fliegt…kalt. Gnadenlos. Ich habe noch nicht selber gesehen, wie er sich als Staffelchef schlägt… Aber jedenfalls hat die Schwarze Staffel bei Karashin verdammt gut abgeschnitten. Wir sollten ihn nicht unterschätzen.“
„Du meinst also, dass es falsch ist, hier Nahsicherung zu schieben?“
„Die Butcher Bears haben ihr Staffelwappen ziemlich gut gewählt. Sie bilden sich etwas darauf ein, den Gegner an der Gurgel zu packen, und ihn zu zerfetzen. Sie kämpfen ziemlich brutal – vielleicht nicht so elegant wie die Grünen, und nicht so blutarm wie die Blauen. Aber sie erzielen Erfolge. Auf keinen Fall werden die sich darauf beschränken, die Bronze-Staffel im Nahflug zu eskortieren. So kämpfen sie nicht – und so tickt Ohka nicht. Sie werden versuchen, uns schon im Vorfeld abzufangen, uns in einen Clinch zu verwickeln, und ein Loch für die Bomber zu schlagen. Das wird kein Abtasten oder Zögern werden – sondern ein schneller, brutaler Schlag.“
Jetzt schaltete sich wieder Conti in die Unterhaltung ein. Er klang ein wenig ungehalten: „Ich habe es doch gesagt, wir bleiben hier. Hier können wir BEIDE Kreuzer abschirmen, und wir bekommen Flak-Unterstützung durch die KAMI und die HAGEN. Also hör auf, hier Greuelpropaganda zu verbreiten. Wir werden schon noch sehen, wie gut diese Bärenbrüder sich schlagen.“
Kali glaubte zu begreifen. Auch wenn Conti froh über die hochkarätige Unterstützung seiner Staffel war, vermutlich war er auch ein klein wenig eifersüchtig. Vielleicht nicht unbedingt auf sie selber – aber ganz bestimmt auf die Angry Angels, die als die ‚Besten der Besten’, als das ‚Geschwader der Entscheidungsschlachten’ galten.
„Mach dir nichts draus, Kali. Unser Sonnenschein…HEH! Was ist denn mit diesem Frachterheini los?! Pennt der?! Noch ein paar Klicks, und er ist mitten in der Übungszone!“
Tatsächlich war ein alter ALTAIR-Frachter dem Übungsgebiet gefährlich nahe gekommen.
„Vermutlich sind die Jungs und Mädels von der Handelsmarine einfach neugierig.“
Conti schnaubte: „Ja. Oder es ist eine Spionage-Raumer der CC oder der Akarii, der rauskriegen will, warum die Angry Angels solche Superfighter sind.“
„Sag mal, Conti, sollen wir ein bisschen vor seinem Bug rumballern, um ihn zu verscheuchen?“
„Rumballern dürfte wohl kaum unserem Sprachgebrauch entsprechen, Bobcat.“
„Ja, aber wir könnten…“
„Genug gespielt. Achtung. Ich erfasse unsere Freunde! Sie kommen.
Achtung, ich rufe die KAMI und die HAGEN. Es geht los!“
Kurz darauf hatte auch Kali das erste Mal Radarkontakt. Sie runzelte verwirrt die Stirn: „Die stören unseren Empfang.“
„Die Bronze-Staffel muss ein oder zwei Rafales dabei haben. Ich zähle zwanzig bis vierundzwanzig Radarkontakte. Die Jäger…offene Dreiecksformation. Beschleunigen.“
‚Das hätte ich dir auch sagen können.’
„Achtung, Kontakt in zwanzig Sekunden. Zeigt ihnen, warum man uns den Flying Circus nennt!“
Keine halbe Minute später begann die Schlacht.
*************
Ungefähr zwanzig Minuten später
Helen ‚Kali’ Mitra lehnte sich in ihrem ‚wrack geschossenen’ Jäger zurück, und hörte mit einer Mischung aus milder Frustration und dem grimmigen Gefühl, Recht behalten zu haben, wie sich ihr Staffelführer mit Trisha McGill stritt: „Hören Sie mal, McGill, das war aber nicht regulär, dass Sie zwei ihrer Crusader hinter diesem Frachter versteckt haben.“
Der Überraschungsangriff dieser beiden Bomber hatte wahrscheinlich letztendlich den Ausschlag gegeben. McGills Stimme klang amüsiert. Offenbar erfüllte es sie mit beträchtlicher Befriedigung, einmal mehr beweisen zu können, dass sie noch nicht ‚zum alten Eisen’ gehörte: „Was denn, wollen Sie das im Ernstfall dann auch den Akarii sagen? Im Weltraum gibt es so wenig Deckung, dass Sie das Beste aus dem machen müssen, was sie haben. Asteroidenfelder, der Ortungsschatten eigener – und feindlicher Einheiten...Ich habe mehr als einmal erlebt, wie ein paar von unseren Jungs ein vorrückendes TSN-Kriegsschiff oder sogar einen Akarii-Raumer als Deckung benutzt haben, um sich an ihr Ziel anzuschleichen. Es ist verdammt riskant. Aber es hat funktioniert.“
Oh ja, das hatte es. Die Dorniers hatten sechs ‚Totalverluste’ erlitten, und zwei weitere Jäger – darunter Kalis Maschine – waren als schwer beschädigt aus dem Spiel genommen worden. Im Gegenzug hatten sie und die Flugabwehrkanonen der Kreuzer vier Maschinen ‚ab-’, und eine weitere ‚zusammengeschossen’.
Das Ergebnis wäre vielleicht noch ganz akzeptabel gewesen – immerhin hatten sie gegen die doppelte Anzahl Maschinen kämpfen müssen – wenn nicht McGills schwere Bomber auch noch die KAMI vernichtet, und die HAGEN VON TRONJE immerhin leicht beschädigt hätten. Ein anderer Bomberchef hätte vielleicht versucht, beide Dickschiffe abzutakeln, aber McGill war auf Nummer sicher gegangen, und hatte alles auf die KAMI konzentriert. Die gut siebzig Mavericks, die die Bomber auf den Kreuzer ‚abgeschossen’ hatten, hatten dem Hybridschiff keine Chance gelassen.
‚Das hätte ich dir sagen können, Rubenbauer.’ Trisha McGill war vielleicht keines von den Spitzenassen oder legendären Großschiffknackern, und auch nicht mehr die Jüngste. Aber man wurde nicht so alt, ohne den ein oder anderen Trick zu lernen.
„Kano, bist du das, den ich da zusammengeschossen habe?“
Der japanische Pilot lachte kurz auf. Nun gut, seine Einheit hatte ihren Auftrag erfüllt, er konnte sich den Humor leisten: „Guter Schuss, Helen. Aber immerhin, meine Maschine hätte es noch nach Hause geschafft. So gesehen…“
„Hmm. Und wer hat mir den sicheren Abschuss versaut?“
„Bedank dich bei Flyboy. Ziemlich gelungene Leistung, oder?“
„Er hat Potential.“
„Danke, Lieutenant Mitra.“ Kali zuckte kurz zusammen. Die Stimme von Kanos Katschmarek war eindeutig weiblich. ‚Ja, wir sind echt ein witziger Verein, wir Piloten.’
Inzwischen hatte sich Conti offenbar davon erholt, vorgeführt worden zu sein: „Also, das Programm sieht einen Verbandsflug zur DERFLINGER vor. Anschließende Manöverkritik. Ihr OPS-Offizier ist ja schon an Bord. Dann zwei Stunden für Essen und Ausruhen – und dann beginnen wir mit dem Start- und Landetraining. Und da Sie uns geschlagen haben, geben wir einen aus.“
„Was denn, im Dienst?“ McGill klang eher amüsiert als schockiert.
„Nur einen Drink, und nichts Härteres. Das läuft unter Kontaktpflege.“
„Hört sich gut an.“
Kali aktivierte wieder ihre Funkverbindung zu Kanos Flieger: „Hast du das gehört?“
„Laut und deutlich. Wir sehen uns dann am Boden.“
**********
Wiederum einige Stunden später, DERFLINGER
Die Messe des leichten Trägers konnte sich natürlich nicht mit den entsprechenden Einrichtungen der COLUMBIA messen. Sie war sogar etwas kleiner, als die Messe der längst vergangenen doch nicht vergessenen REDEMPTION – wenn auch deutlich besser in Schuss.
Aber für das knappe hundert Männer und Frauen reichte der Platz allemal.
Mehr als die Hälfte der Anwesenden gehörten zu den Angry Angels, wobei die Bomberflieger diesmal ausnahmsweise in der Überzahl waren. Der Rest waren Piloten der Dornier-Schwadron, einige gerade dienstfreie Mitglieder anderer Staffeln, und ein paar Schiffsoffiziere. Auch wenn man sich an die vorgegebene Richtlinie – keine harten Sachen, nur ein Drink – hielt, war die Stimmung einigermaßen aufgeräumt, jetzt wo der offizielle Teil erst mal vorbei war.
Die meisten Gespräche drehten sich um die üblichen Themen – Maschinen, den Dienst, Kriegsgeschichten, und Flottenklatsch.
Ein paar Piloten der DERFLINGER revanchierten sich für die Niederlage mit dem Hinweis, dass sie jedenfalls die Ersten sein würden, die wieder an die Front gingen – eine freundschaftliche Stichelei, der zumindest Phoenix aus tiefstem Herzen zustimmte. Die Art und Weise, wie der Ex-Marines und Legionär-ehrenhalber sich über ‚diese lahmarschigen Werftheinis’ ausließ, garantierte ihm ein beachtliches Publikum.
Huntress und Bobcat hingegen sahen sich von ein paar ,Bewunderern’ eingekreist, und hatten eine zeitweilige Allianz gebildet, um die reichlich zweideutigen Komplimente zurückzuschlagen.
Trisha McGill befand sich in einem vorsichtig ausgetragenen Schlagabtausch mit Lone Wolf Cunningham, der durch die Frage eines Flying Circus-Piloten ausgelöst worden war, wie es denn hatte passieren können, dass der alte Geschwaderchef auf den Posten des OPS-Offiziers abgerutscht war. Irgendein Witzbold hatte auf seinem Sitz einen sorgfältig verpackten Baby-Strampelanzug platziert. Allerdings gab es auch genug Leute, die ihre Glückwünsche für den erwarteten Familienzuwachs auf eher traditionelle Art und Weise abstatteten. Manche Dinge machten ziemlich schnell die Runde in der Flotte.
Auf jeden Fall fand der ehemalige Kommandeur der Angry Angels eine ganze Reihe von Bewunderern unter den Piloten der DERFLINGER. Mochten auch andere Mitglieder der Angry Angels einen gewissen – mehr oder weniger berechtigten – Ruf haben, als Träger des Flying Cross in Silber war Lone Wolf eine lebende Legende im Fliegerkorps der TSN.
Vielleicht wäre Kano als ein ernstzunehmender Aspirant auf diese Auszeichnung ebenfalls in die Runde mit einbezogen worden – mit neununddreißig Abschüssen in vier Jahren näherte er sich der Zielgeraden mit beachtlicher Geschwindigkeit – aber der Staffelchef der Butcher Bears glänzte durch Abwesenheit. Er war kurz nach der Beendigung des offiziellen Teils fast unbemerkt verschwunden. Genauso wie die XO der Dorniers.
Die meisten, denen das auffiel, enthielten sich eines Kommentars. Irgendeiner der Dorniers stellte dann aber doch eine entsprechende Frage.
Bobcat, die das zufälligerweise mitbekommen hatte, lachte kurz auf: „Hast du vorhin Conti nicht gehört? Das läuft unter Kontaktpflege.“
„Ja. Und was hat sie vorhin über ihren Japs gesagt? Er steht auf Nah- und Kurvenkämpfe.“
*********
„Erst kommst du mit dieser ‚Huntress’ an, und dann schießt du auch noch meine neue Staffel zusammen. Du sammelst ganz schön Minuspunkte, das ist dir doch hoffentlich klar.“ Trotz ihrer Worte klang Helens Stimme eher amüsiert, als wütend oder drohend.
Kano schnaubte kurz, und fuhr ihr spielerisch durch die verschwitzten Haare, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten: „Das mit Agyris hatten wir doch schon mal. Und was hättest du wohl mit mir gemacht, wenn ich dich hätte gewinnen lassen? Wir haben immerhin einen Ruf zu verlieren.“
„Vermutlich hätte ich dich auf dem Fußboden schlafen lassen.“
„Nicht, dass es uns ausgerechnet ums Schlafen gegangen wäre.“
Kali schlug ihm spielerisch die Hand beiseite, die jetzt an einer anderen Stelle gelandet war: „Ich fürchte, zu einer weiteren Runde haben wir keine Zeit mehr. Die werden sich sowieso schon das Maul zerreißen.“
Kano verzog kurz das Gesicht, zuckte dann aber mit den Schultern: „Zum Teufel mit Ihnen. Wie es aussieht weiß es doch sowieso jeder.“
„Das sind ja ganz neue Töne. Du scheinst es aber nötig zu haben…“
„Vielleicht hatte ich auch einfach genug Zeit, nachzudenken. Und außerdem…na ja, zumindest Lone Wolf ist ja wohl kaum in der Position, sich aufzuspielen.
Außerdem sind wir jetzt nicht mehr auf demselben Schiff.“ Bei den letzten Worten verzog er kurz den Mund, und der unbeschwerte Tonfall war auf einmal aus seiner Stimme verschwunden.
„Denk dran, es ist ja nicht für immer. Und…wer weiß? Vielleicht schicken sie ja die DERFLINGER als Unterstützung zu unserer…ich meine, zur COLUMBIA-Kampfgruppe. Gibt inzwischen nur noch wenige Aufgaben, zu denen sie einen Flottenträger ohne weitere Trägerschiffe einsetzen.“
„Ja. Vielleicht…“
„Komm schon. Nimm es wie es ist, und mach das Beste daraus. Und jetzt komm. Zeit, dass wir uns wieder etwas in Schale werfen. Ich würde doch zu gerne diese Schnepfe kennenlernen, die unbedingt Julianes Callsign haben wollte.“
„Zum letzten Mal, die hat es nicht gewollt, sondern es mitgebracht.“
„Egal. Ich will mal sehen, was sie für ein Typ ist. Und, willst du dabei sein?“
Kano rollte sich von dem Bett, und bückte sich, um Hemd und Uniformjacke aufzuheben: „Ganz ehrlich? Lieber würde ich Raven mal fragen, ob sie nicht den Platz für jemanden räumen will, der ein besserer Pilot ist.“
Cattaneo
Tyr
Seafort
Es war nur wenigen Besuchern bewusst, dass Seafort auch eine weniger angenehme Seite hatte. Die meisten der Soldaten und Flottenangehörigen, die sich zeitweilig in dem System aufhielten, sahen in Seafort nur eine weitere Station auf dem Weg von oder zur Front – oder eine letzte Gelegenheit, ordentlich auf den Putz zu hauen. Meistens kamen sie mit der ‚anderen’ Seite des Planeten nur dann in Kontakt, wenn sie irgendetwas ziemlich Dummes taten. Seit fast zehn Stunden gehörte auch Tiburon zu dieser Gruppe.
Die Zelle war nicht einmal vier Quadratmeter groß. Ein Fenster fehlte – dafür bestand die eine Seite nicht aus einer Wand, sondern nur aus einem schweren Metallgitter. Kontrolle einhundert, Privatsphäre null Prozent. Ansonsten gab es nur noch eine Metalltoilette, und eine Gummimatte auf dem Boden. Das war alles. Deckenleuchten verbreiteten ein grelles, kaltes Licht, das selbst dann in die Augen stach, wenn man sie geschlossen hielt.
Vermutlich war die spartanische Einrichtung auch dazu gedacht, die Insassen zu zermürben, aber zumindest bei Tiburon verfehlte sie dieses Ziel. Er war einfach zu fertig, um sich zu langweilen. Wenn es noch einen Knochen in seinem Leib gab, der sich NICHT anfühlte, als hätte man ihn gebrochen, dann war er ihm jedenfalls bisher entgangen. Seine Augen waren derart zu geschwollen, dass er nur noch verschwommen sehen konnte.
„Sie sehen richtig Scheiße aus, Lieutenant.“
Die Stimme ließ ihn zusammenzucken, was sein Körper sofort mit einer neuen Schmerzwelle quittierte. Er unterdrückte ein Aufstöhnen, und blinzelte angestrengt, um den Sprecher zu erkennen. Offenbar handelte es sich bei seinem Besucher um einen hoch gewachsenen, schwarzhäutigen Mann in den Vierzigern. Er hielt sich sehr gerade, und trug die Uniform eines Lieutenant Commanders mit unspektakulärer Selbstverständlichkeit.
„Entschuldigen Sie…dass ich nicht aufstehe, Sir.“
„Liegen Sie bequem, Pallardo.“
„Sind Sie…mein Rechtsbeistand?“
Der Mann schmunzelte kurz: „Dann hätte ich aber einiges zu tun. Nein. Mein Name ist George ‚Blackhawk’ Lincoln. Ich übernehme die Gelbe Staffel.“
„Oh Scheiße. Verzeihung, Sir.“
„Warum denn? Sie haben ja Recht. Sie sitzen ziemlich tief in der Scheiße, Lieutenant. Seine Rechnungen nicht zu bezahlen, das spricht schlimmstenfalls von schlechten Manieren. Aber dann auch noch drei Angestellte Ihres Hotels zusammen zu schlagen…Nach allem, was ich gehört habe, hätten Sie den einen beinahe umgebracht.“
„Ich…“
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dabei hatte es so gut angefangen. Die Zeit mit Cara war toll gewesen. ‚Zu gut, um wahr zu sein.’ Aber jetzt war es natürlich zu spät für solche Erkenntnisse. Wie hatte er nur so dumm sein können? Die Antwort war natürlich einfach – er hatte nicht mit dem Kopf gedacht.
Der Traum von der jungen, verführerischen Edelnutte, die seine Hilfe brauchte, war vorbei gewesen, als er eines Nachmittags mit brummenden Schädel und einem seltsam verschwommenen Gefühl erwachte. Und feststellte, dass er fast einen ganzen Tag verloren hatte. Und dass Cara verschwunden war. Oh, die meisten ihrer Sachen hatte sie dagelassen. Dafür hatte sie es irgendwie geschafft, sein Konto bis an die Grenzen des Überziehungskredits zu belasten.
Das war schon schlimm genug gewesen, aber als dann einer der Hotelangestellten ihm süffisant grinsend den Ratschlag gegeben hatte, sich in Zukunft lieber an eine der billigen Straßennutten zu halten, und seinen Verlust als Lehrgeld zu betrachten…da war irgendetwas in ihm ausgerastet.
Er erinnerte sich nicht mehr genau, was danach passiert war, nur dass ihn dann die Sicherheitsleute von dem Typen wegzerrten, worauf er die mit Elektroschockern und Schlagstöcken bewaffneten Männer angegriffen hatte. ‚Ich muss verrückt gewesen sein.’ So einen Stunt erwartete man vielleicht von Skunk. Aber…er hatte irgendwie nicht aufhören können. Er hatte nicht aufhören können. Alles war in einem blutigen Nebel verschwunden – bis zu dem Augenblick, als dann die Schatten über ihm zusammenschlugen. Und dann…nichts mehr.
Oder? War da etwas gewesen, am Rande der Bewusstlosigkeit? Was…
„Entspannen Sie sich. GANZ so schlimm war es nun wieder auch nicht. Aber der Typ wird in den nächsten Wochen erst mal Ruhe halten müssen. Und er sollte sich wohl besser von einem Spiegel fernhalten.
Sie haben die MP übrigens ziemlich überrascht. Die dachten, Sie wären auf Demon Dust. Vielleicht wäre das nicht mal das Schlechteste für Sie gewesen. Aber in Ihrem Blut war nichts – nur ein wenig Alkohol und die Reste eines Betäubungsmittels.“
„Komme ich vor ein Militärgericht?“
Blackhawk zögerte kurz: „Verdient hätten Sie es, nach dem was Sie hier abgezogen haben. Herrgott noch mal, Sie sind doch nicht der erste Pilot, der von einer Nutte abgezogen wurde. Mussten Sie deswegen gleich Amok laufen? Und das auch noch in einer Anlage, die angeblich von der hiesigen Mafia zum Geldwaschen verwendet wird. Können Sie sich vorstellen, was das für einen Eindruck macht? Ganz abgesehen davon, dass es verdammt dumm ist, SOLCHE Leute zu verärgern.
Und dann ist da auch noch dieser Eintrag in Ihrer Dienstakte. Dass Sie es geschafft haben, Nakakura derart auf die Palme zu bringen…“
„Dieser dämliche…“
„Halten Sie bloß den Mund. Sie können ihm dankbar sein, dass er Sie nicht wirklich vor ein Kriegsgericht geschleift hat. Aber was Ihre Frage angeht…
Es wurde noch keine Anklage erhoben. Die R&R-Einrichtungen von Seafort zerren nur sehr ungern ein Mitglied der Streitkräfte vor den Kadi. Das ist nicht die Publicity, die sie wollen. Außerdem kriegen sie so ihr Geld auch nicht schneller. Sie sind Geschäftsleute, und da man Sie ja rausTRAGEN musste, haben sie ihren Standpunkt wohl auch so recht deutlich gemacht. Und ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder andere nicht will, dass der JAG oder die Polizei zu genau in ihre Bücher schaut. Oder in den Lebenslauf und die…Nebeneinnahmen ihrer Angestellten. Stattdessen haben sie ihre ziemlich blau geprügelten Reste einfach bei der nächsten MP-Station abgeladen. Ihr Glück, dass ihre neuen 'Bekannten' aus der Unterwelt keinen Ärger mit den Streitkräften wollen. Man hätte Sie schließlich auch einfach irgendwo in einer Baugrube verklappen können. Tja, inzwischen wissen wir zwar so ziemlich, was im Einzelnen passiert ist...“
„Heißt das, ich kann…“
„Ich weiß nicht. Können Sie? Mir fehlt noch ein Pilot. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Nakakura Ihnen schon beim letzten Mal eine Standpauke gehalten hat. Und Sie scheinen sich seine Worte nicht gerade zu Herzen genommen zu haben.“
„Es wird nicht wieder vorkommen!“
„Das wäre ja noch schöner. Aber ich fürchte, das wird nicht ganz reichen. Wissen Sie, wenn man Sie immer mit einem blauen Auge davonkommen lässt, dann gewöhnen Sie sich noch daran. Und dann GIBT es ein nächstes Mal. Nur diesmal vielleicht mit einem Toten. Und zwar einem Mitglied der Streitkräfte. Oder wie war das mit Ihnen und Cartmell?“
„Woher…“
„Sie denken doch wohl nicht, dass Sie nach Ihren diversen Schaueinlagen, nachdem Sie sogar Ohka zur Weißglut getrieben und haarscharf an einem Kriegsgericht vorbeigeschrammt sind…dass Sie sich dann mit dem am wenigsten beliebten Piloten des Geschwaders anlegen können, ohne dass das die Runde macht?“
„Aber der Scheißkerl hat angefangen!“
Blackhakw schnaubte kurz: „Was sind Sie, ein Baby? So eine Entschuldigung habe ich von meinem Jungen das letzte Mal gehört, als er sechs Jahre alt war. Kann ja sein, dass Noname die Prügelei angefangen hat. Aber er hat keinen Doppeleintrag in seiner Akte, die ihn für den JAG zum Freiwild macht.“
Tiburon fühlte, wie er rot wurde. Das schlimmste war, dass Blackhakw nicht mal bösartig klang. Oder diesen kaltschnäuzig arroganten Ton anschlug, den Kano so gut beherrschte. Blackhawk klang eher…enttäuscht: „Ich will Ihnen nicht denselben Sermon um die Ohren klatschen, den Nakakura Ihnen schon verpasst hat. Auch wenn er Recht hat. Ich glaube, Sie wissen, dass Sie Scheiße gebaut haben. Sie sind schließlich nicht blöd. Immerhin wurden Sie schon als Kandidat für den First Lieutenant gehandelt. Ich glaube, Sie müssen sich nur genug am Riemen reißen, um sich auch mal entsprechend zu VERHALTEN.“
Es waren weniger die Worte, als der Tonfall. Und das Gefühl, als würde Blackhakw nicht so sehr zu einem Untergeben, als einem jüngeren Kameraden sprechen. Es war kein Anbiedern…es war…Vertrauen.
„Ich…danke.“
„Eins muss Ihnen klar sein. Ich habe mit Ihnen nicht viel Spielraum. Sie haben sich ziemlich ins Aus manövriert – und ich werde nicht wegsehen, wenn Sie wieder Scheiße bauen. So funktioniert meine Staffel nicht. Aber Sie haben den meisten Mist gebaut, als ich die Einheit noch nicht übernommen hatte. Deshalb – und weil ich der Meinung bin, dass jeder eine zweite Chance verdient – gebe ich Ihnen vielleicht die Möglichkeit, noch mal von Vorne anzufangen. Was Sie daraus machen, ist dann Ihre Sache. Wie klingt das für Sie?“
„Und was würde das bedeuten, Sir?“
„Sie behalten die Einträge in Ihrer Akte. Ich werde die Autorität eines Kollegen nicht in Frage stellen. Ich kenne Nakakura. Vermutlich besser als Sie. Damit werden Sie fertig werden müssen. Aber ansonsten…sind Sie für mich ein unbeschriebenes Blatt. Ich werde Ihre Leistungen darüber entscheiden lassen, ob Sie Flightleader werden können. Und ob Sie das Zeug zum First Lieutenant haben.“
„Aber wenn das Hotel doch Anklage erhebt?“
„Dann sitzen Sie wirklich in der Scheiße. Dann kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen, außer Ihnen einen guten Anwalt zu besorgen. Aber wenn Sie Glück haben…
Wenigstens ist die örtliche Polizei nicht so hinter Sache her. Und die MP auch nicht. Also werde ich sehen, was ich für Sie tun kann. Eins muss Ihnen aber klar sein – Sie werden zahlen müssen. Sie allein. Das Schmerzensgeld und die Reparaturkosten für den von Ihnen angerichteten Schaden wird ausschließlich aus Ihrer Tasche kommen. Keine Chance, dass die TSN da für Sie einspringt. Nicht, solange Sie das Ganze unter der Hand geregelt sehen wollen. Das würde wahrscheinlich bedeuten, dass Sie für die nächsten Jahre den größten Teil Ihres Soldes brav überweisen werden müssen.“
„Jahre?!“
„Sie haben wohl nicht gesehen, was Sie da angerichtet haben? Das Foyer sieht aus, als hätte jemand eine Splittergranate gezündet. Und dieser arme Teufel, den Sie da so zugerichtet haben…Ich wusste ja gar nicht, dass Sie auch beißen, Lieutenant.“ Blackhakw grinste spöttisch, und pfiff kurz durch die Zähne: „Außerdem wollen unsere Jungs von der MP, dass Sie mindestens noch für weitere zweiundsiebzig Stunden ihr Gast bleiben. Dann kann ich sie mitnehmen. Und soll Sie gefälligst für die gesamte Liegezeit aus ihrem Einsatzgebiet raushalten. Und wenn wir hier noch ein halbes Jahr liegen – jeder Ausgang ist für Sie ersatzlos gestrichen. Die MP wollen weder, dass Sie noch mal Ärger machen, noch Ihre Leiche irgendwann in irgendeiner miesen Seitengasse auflesen. Das versaut ihnen sonst die Statistik.“
„Drei Tage wollen die mich hier behalten?!“
„Die könnten Sie auch eine ganze WOCHE einbunkern. So gesehen kommen Sie noch gut weg.“
Tiburon schüttelte den Kopf, in dem vergeblichen Versuch, einen klareren Kopf zu bekommen. Die Stimme seines Vorgesetzten hallte ungenehm laut in seinen Ohren wieder. Fast schien es, als würde sie ein seltsam unheimliches Echo werfen: „Und…danach?“
„Was denken Sie denn? Wie gesagt, bis auf weiteres haben Sie Ausgangssperre. Und Stubenarrest. Daran dürften Sie ja inzwischen gewöhnt sein. Nicht, dass Sie soviel Zeit in ihrem Quartier verbringen werden, denn ich will Sie – ich will JEDEN in der Staffel – im Simulator oder in seiner Maschine sehen. Aber Ihre Hilfsarbeit im Hangar ist fürs Erste ausgesetzt. Wir haben Wichtigeres zu tun. Ich will, dass die Gelben so schnell wie möglich wieder voll einsatzfähig sind. Und dabei zähle ich auch auf Sie. Wenn Sie sich nicht gerade mal wieder prügeln müssen, sind Sie ein verdammt guter Pilot. Aber dennoch…sind auch ein paar Runden mit dem Psychologen fällig.“
„Was?!“
„Beruhigen Sie sich. Sie sind in den letzten Wochen – wie oft? – viermal aufgefallen. Drei Prügeleien, zwei davon mit Mitgliedern des Geschwaders. Wissen Sie, was die Leute denken? Entweder, dass Sie sich nicht im Griff haben, oder, dass Sie ganz einfach bösartig sind. Und wenn Sie erst mal den Ruf weghaben, dann ist Ihre Kariere ein für alle mal gestorben. Dann bleiben Sie bestenfalls Second Lieutenant. Oder aber, man schiebt Sie irgendwann ab. Außer natürlich, Sie bauen RICHTIG Scheiße. Dann landen Sie wieder in diesem System. Aber in Fort Kent. Ohne Rückflugkarte.“
Fort Kent war eine der der beiden im All gelegenen Hochsicherheits-Haftanstalten der TSN. Es befand sich auf und in einem Asteroiden am äußeren Rand des Belts, einem Asteroidengürtel, der ansonsten nur noch für die Erzförderung genutzt wurde. Fort Kent – oder die Terran Space Navy Diciplinary Barracks, wie der vollständige Name der Anstalt lautete – beherbergte zurzeit etwa zweihundertfünfzig Strafgefangenen, die zu der ‚Creme de la Creme’ der straffällig gewordenen Marineangehörigen gehörten. Mehrfache Mörder, Vergewaltiger, Meuterer, Verräter. Darunter sechs, die zum Tode verurteilt, deren Urteilsvollstreckung aber vorläufig rausgesetzt worden war.
„Aber wenn in meiner Akte steht, dass ich zu einem Seelenklempner musste, dann ist meine Kariere genauso im Eimer!“
„Kommen Sie schon, wir leben nicht mehr im Mittelalter. Ein Besuch beim Psychologen macht sich jedenfalls besser, als noch ein Eintrag wegen Befehlsverweigerung oder einer Schlägerei. So sieht es wenigstens so aus, als würden Sie sich BEMÜHEN, sich wieder in den Griff zu kriegen.
Und außerdem wird Ihnen diese kleine Seelenbeschau nur dann nachhängen, WENN sie in Ihrer Akte auftaucht. Und wären wir schon wieder auf der COLUMBIA, dann ließe sich das auch nicht vermeiden. Aber auf Victoria Station…
Sagen wir mal so, ich habe meine Möglichkeiten. Das heißt also, ich brauche meine Kollegen – oder auch die Geschwaderführerin, der Sie auch schon ziemlich auf die Nerven gegangen sind – nicht anzulügen, wenn die mich fragen, was ich eigentlich unternehme, um Sie an die Kandare zu kriegen. Aber andererseits kann ich diese kleine Episode aus Ihren Papieren heraushalten. Klingt das besser?“
Es gefiel ihm nicht, kein bisschen, aber Tiburon war klug genug, um zu erkennen, das er keine echte Wahl hatte: „Also wenn Sie es so sagen, Sir…“
„Kommen Sie aber nicht auf die Idee, das nur als eine Freizeitveranstaltung zu sehen. Ich will, dass Sie dem Doc zuhören. Und Sie sollten es auch wollen. Es sei denn, Sie sind der Meinung, dass Ihre Schaukampfeinlagen es wert sind, dass Sie Ihre Kariere ins All schießen.“
Da war sie wieder – diese verborgene, eiserne Härte, die unter Blackhawks ruhiger, kameradschaftlicher Fassade schlummerte.
Tiburon konnte natürlich nicht wissen, dass es noch andere Gründe für Blackhawks Nachsicht gab. Und dafür, einen Psychologen einzuschalten. Denn es gab da diesen Zusatz zu Tiburons Dienstakte, der vor ein paar Wochen von einer gewissen Doktorin Eriksen, einem Mitglied des NSC im Rang eines Lieutenant Commanders, über den ‚kleinen Dienstweg’ zugeschickt worden war. Ein Zusatz, der davor warnte, dass Lieutenant Pallardo vielleicht zeitweilig unter gewissen Stimmungsschwankungen leiden könnte. Hätte ein gewisser TIS-Commander von dieser durch ihr Gewissen diktierten Tat Eriksens gehört, er wäre vermutlich vor Wut an die Decke gegangen.
„Ich…verstehe, Sir.“
„Gut. Ich wusste doch, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Versuchen Sie zu schlafen. Dann geht die Zeit schneller rum.“
Der Pilot blickte seinen Vorgesetzten überrascht an: „Haben Sie etwa…“
„Ich war auch einmal jung.“ Mit einer schnellen Handbewegung warf Blackhawk Tiburon einen Tablettenstreifen zu: „Nehmen Sie zwei davon. Sie sehen so aus, als würden Sie ziemliche Schmerzen haben.“
„Danke, Sir.“
„Kleinigkeit. Sorgen Sie nur dafür, dass ich Sie niemals wieder rausholen muss.“ Der ältere Offizier tippte an den Schirm seiner Mütze, und wandte sich zum Gehen.
Es dauerte einige Minuten, bevor Tiburon die Energie aufbrachte, die Tabletten zu schlucken. Allerdings fühlte er sich sofort danach deutlich besser. Na ja, vielleicht lag es auch an der Aussicht, doch nicht vor ein Militärgericht zu kommen. Irgendwo gab es offenbar doch noch einen Schutzengel, der auf ihn aufpasste. Auch wenn er Cara immer noch am liebsten erwürgen würde, wenigstens hatte die dämliche Nutte nur sein Geld geklaut, und nicht auch noch seine Karriere zerstört. ‚Scheißweiber. Die bringen nur Pech.’ Wegen so einem Miststück hatte der alte Commander sich das Gehirn gegrillt, und was war die Folge gewesen? Die Gelben waren aufgelöst worden, und er war ausgerechnet in der Schwarzen Staffel gelandet. Und wegen dieser verdammten Hure wäre er jetzt beinahe so weit gewesen, es dem Alten nachzumachen.
‚Egal. Ich komme hier raus. Und ich kann wieder fliegen. Alles andere zählt nicht.’ Während die Schmerzmittel zu wirken begannen, schloss Lieutenant Pallardo die Augen, und versuchte, Schlaf zu finden. Und das seltsame Wispern zu ignorieren, das an seinem Bewusstsein kratzte, wie eine wunde Stelle. ‚Halt doch die Schnauze! Ich will schlafen.’
Großartig. Jetzt redete er schon mit sich selber. Am Ende hatte er diesen Psychodoc wirklich nötig.
‚Aber klar doch. Am Besten du erzählst ihm auch noch diesen Traum von MEDUSA. Feuer und Aliens, da geht ihm wahrscheinlich einer ab. Vermutlich will er mir dann verklickern, dass das daher kommt, dass ich meine Schwester vögeln wollte. Oder so.’
Cattaneo
Cattaneo
Spuren I
Seit dem etwa chaotischen Auftakt der Untersuchungen im Medusa-System waren inzwischen vier Tage vergangen. Seit drei Tagen liefen die Untersuchungen und Bergungsarbeiten auf vollen Touren, auch wenn das Ausmaß des Enthusiasmus von Person zu Person stark schwankte. Einige der Marines zum Beispiel wirkten alles andere als übereifrig, auch wenn ihre Vorgesetzten sie an gewohnt kurzer Leine führten. Unter den Marineinfanteristen schien vielmehr eine unterschwellige Unzufriedenheit zu schwelen. Vermutlich ängstigte sie noch immer das, was sie in der geborgenen Rettungskapsel vorgefunden oder darüber gehört hatten. Soldaten waren nun einmal sowohl abergläubisch als auch Klatschtanten, daran hatte sich nichts geändert. Ihr Verhalten war zu einem gewissen Maß erklärlich, wenn man bedachte, dass sie den Großteil der physischen Arbeiten bei der Bergung der so heiß begehrten Trümmerstücke zu erledigen hatten. Keine sehr beruhigende Perspektive, denn so waren sie immer wieder draußen, und kamen mit in unmittelbaren Kontakt den Artefakten, die vielleicht den Tod der Besatzungsmitglieder der Mary C verursacht hatten. Natürlich sollten ihre Anzüge sie schützen. Theoretisch…
Die Umstände der Unterbringung trugen noch zur Unzufriedenheit der Bilgengäste bei. Die Marines kultivierten zwar üblicherweise eine Selbstdarstellung als die Härtesten der Harten – ob zu Recht oder Unrecht, das war Ansichtssache – die von Außenstehenden oft kurz und bündig als Höhlenmenschenattitüde bezeichnet wurde. Aber nichts desto trotz waren sie Menschen des 27. Jahrhunderts, und weitaus mehr das Leben auf relativ komfortabel eingerichteten Raumschiffen gewöhnt, als die Zustände auf der Emerald Jade. Ihre Dusche funktionierte inzwischen nur noch notdürftig, das Wasser war meist kalt oder nicht ganz sauber, und die Chemieklos waren jedenfalls nicht gerade geruchsdicht. Es machte sich bemerkbar, dass Jayhawker sich konsequent für die billigsten Angebote entschieden hatte. Privatsphäre gab es im Laderaum quasi keine mehr, das Essen nahmen die Marines in einer Atmosphäre ein, die noch einiges unbequemer war als in der Messe. Freizeitmöglichkeiten gab es auch kaum, und IHNEN hatte keiner etwas erklärt, nicht einmal ihr unmittelbarer Vorgesetzter. Das 217. hatte zudem nur sehr geringe Erfahrungen und Routine mit ausgedehnten out-of-area-Missionen. Sie waren gewöhnt an „Hüpfer“, die zwar körperlich fordernd und hochgradig gefährlich waren, bei denen man aber spätestens nach ein, zwei Tagen wieder in bequemen Quartieren schlafen konnte. Langfristige Feldeinsätze gehörten weniger zu ihrem Missionsprofil. Deshalb verärgerte sie die Unterbringung noch mehr als eine reguläre Fronteinheit der Armee, des Marinescorps oder gar der Fremdenlegion. Bei anderen Vertretern der Besatzung und Passagiere zeigten sich ähnliche Symptome, wenn auch in milderer Form, nicht zuletzt weil sie besser betreut wurden. Kapitän Jayhawker war – zumindest im Moment – nicht an Eskalation interessiert. Und die TSN-Offiziere genossen wenigstens das zweifelhafte Privileg, zu wissen, worum es ging. Zudem hatten sie bessere Quartiere.
Doch ungeachtet aller möglichen Befürchtungen und einer vielfach nicht gerade guten Stimmung waren katastrophale oder auch nur mysteriöse Ereignisse bisher weitestgehend ausgeblieben, sah man von der etwas beunruhigenden Gesamtatmosphäre ab. Das Sturmshuttle der Marines, eskortiert von den Falcons, war damit beschäftigt, Trümmerteile aus dem Asteroidengürtel im Umfeld des zweiten Mondes des dritten Planeten zu bergen. Angesichts der gewaltigen Ausdehnung des Feldes war es natürlich nur ein Herumstochern. Eine gründliche Untersuchung hätte Wochen gedauert. Dafür war kaum genug Zeit, so dass man sich auf vermeintlich lohnende Ziele konzentrierte, die mittels der Sensoren des Shuttles angepeilt und dann geborgen wurden. Die Arbeit an den Sensoren übernahm Lieutenant Commander Fuchida. Das war an und für sich schon keine leichte Arbeit, denn die Strahlungswerte Medusas störten die Geräte und waren auch sonst eine konstante Beunruhigung. Zudem war das Shuttle eigentlich nicht für solche Einsätze geeignet, auch wenn seine Greifvorrichtungen umfunktioniert werden konnten. Aber besonders für die Feinarbeiten mussten immer wieder Marines in Bergungsanzügen raus. Angesichts des Schicksals, das den „Spaziergänger“ von der Mary C ereilt hatte, waren diese Einsätze ganz besonders unbeliebt. Die Marines wussten zwar nicht, WIE spektakulär der Mann in Wirklichkeit abgetreten war, doch sie wussten, dass er nicht überlebt hatte.
Die geborgenen Einzelteile wurden zumeist in versiegelten und speziell gesicherten Behältern aufbewahrt und im Laderaum gestapelt. Dr. Georges hatte mit Fuchidas Hilfe zwar Tremane die Erlaubnis abschwatzen können, einzelne Kleinstartefakte untersuchen zu können – Jayhawker musste man jedoch extra bestechen, ehe sie der Öffnung auch nur des kleinsten Probebehälters zustimme. Doch auch wenn der TIS’ler in diesem Fall kulant gewesen war, er hatte einem Ansinnen des Wissenschaftlers barsch widersprochen, seine Erkenntnisse an Bord bekanntmachen zu dürfen, oder diese gar nach Sterntor zu funken. Vermutlich konnte unter den Bedingungen auf der Emerald Jade ohnehin nicht viel untersucht werden – ein gut ausgerüstetes chemisch-metallurgisches Labor gehörte nicht zur Grundausstattung des Frachters.
Dr. Eriksen hatte normalerweise – wenn sie nicht gerade die Besatzung und Passagiere untersuchte, woran man sich wohl oder übel gewöhnt hatte – beide Arme bis zum Ellenbogen in einer Leiche von der Mary C. Auch diese „Artefakte“ lagerten luftdicht verstaut im Laderaum, was zu einigen sehr unfeinen Witzen geführt hatte, die allerdings bei den Marines auf wenig Gegenliebe stießen.
Lilja lehnte neben dem Einstieg zu ihrem Jäger. Sie rieb sich mit einem Erfrischungstuch über die Stirn, um sowohl das schmierige Gefühl des halb eingetrockneten Schweißes als auch den Geruch loszuwerden. Eigentlich wäre sie gerne unter der Dusche verschwunden, mindestens eine Stunde lang, aber sie zweifelte daran, dass sie soviel Zeit haben würde. Auch wenn sie weder bei der physischen Bergung noch bei der Untersuchung von Proben oder Artefakten direkt eingebunden war, hatte sie nicht weniger gearbeitet als irgendjemand anderes an Bord, und sogar mehr als einige. Nach dem Flugplan von „Andrew dem Gnadenlosen“, wie einige Tremane inzwischen insgeheim nannten – wenn sie nicht noch wesentlich unfeinere Namen benutzten – würde sie wohl gleich noch mal rausmüssen, denn nach den unerklärlichen Ereignissen betreffs der Mary C war grundsätzlich Jägerbegleitung für das Shuttle angeordnet worden, und außerdem mussten sie und Ace bei der Aufklärung helfen. Anders als die Marines konnten die Piloten der Jäger nicht ausgewechselt werden. Die Shuttlebesatzung der Sturmfähre wurde gelegentlich von zwei Besatzungsmitgliedern der Emerald vertreten, auch wenn sich der Enthusiasmus von Yin und Yang in Grenzen hielt. Als Geschützmeister der Emerald hatten sie ja auch eine gute Entschuldigung. Aber es gab wenigstens EINE Alternative – für Lilja und Ace gab es keinen Ersatz.
Die Russin unterdrückte mühsam ein Gähnen. Sie vermutete, dass sie außer während einiger Großkampftage noch niemals in diesem Krieg so viele Flugstunden in so kurzer Zeit angesammelt hatte, wie in den letzten 72 Stunden. Und dabei waren noch nicht mal die 24 Stunden davor dabei, die sie zum größten Teil in ihrem Jäger abwarten musste, bis sie und Ace wieder Landeerlaubnis erhielten. Tremane war offenbar fest entschlossen, in dieser Art weiterzumachen. Tatsächlich stand auf Liljas Flugplan noch eine Überwachung einer Bergungsoperation – diesmal ein besonders großer Brocken der „Panzerungsreste“, der huckepack außerhalb des Frachters mitgeführt werden sollte. Die bisher geborgenen Artefakte waren kleine und mittelgroße Stücke aus unterschiedlichen Stellen des Asteroidengürtels, doch jetzt war man nach größerer Beute aus. Und als wäre das nicht genug, warte auf sie anschließend noch ein ausgedehnter Flug tiefer in den Asteroidengürtel hinein, um nach Anomalien unter den Trümmern zu suchen und den Mond selber auf Einschlagsmuster zu scannen. Dank ihrer Aufklärungspods sollte sie zumindest einige Daten mitbringen können. Das Ganze klang ja direkt nach etlichen Stunden Spaß und Spannung. In etwa wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt…
Sie dachte gerade darüber nach, ob die Zeit wenigstens für etwas Essen und Trinken ausreichen würde. Die Verpflegung war so…gewöhnungsbedürftig…wie zu Anfang geblieben, aber sie war wenigstens reichlich und machte satt. Nur kam sie vor lauter Arbeit kaum dazu, sich ausreichend voll zu stopfen, und folglich hatte sie häufig einen leeren Magen. In diesem Moment bemerkte sie Quicksilver, die mit einem Tablett unterwegs war. Die junge Raumfahrerin sah wie fast immer etwas derangiert-desperat aus. Auf Grund der niedrigen Temperaturen in weiten Teilen des Schiffs hatte sie sich eine zwei Nummern zu große Jacke über den Overall geworfen, ihre widerborstigen Haare wurden von einer Mechanikerkappe bedeckt – bei der Arbeit an Maschinen eine ratsame Sicherheitsmaßnahme. Dazu kamen solide Handschuhe und eine großkalibrige Projektilfaustfeuerwaffe im Gürtel, die gar nicht zu dem zierlichen Mädchen-für-alles passen wollte.
Doch Lilja interessierte sich nicht für die Waffe, die vor ein paar Tagen noch nicht da gewesen war. Seit dem Zwischenfall bei der Bergung der Rettungskapsel lief eigentlich jeder an Bord bewaffnet herum. Keiner gab es zu, und keiner sprach andere darauf an, aber alle fühlten sich mit der trügerischen Sicherheit einer Waffe besser. Vermutlich war das Tremane gar nicht so Recht, aber der TIS’ler hatte keine Handhabe, Faustfeuerwaffen zu verbieten. Für die Soldaten gehörten sie zur Grundausstattung – und auf die Befindlichkeiten der Zivilisten musste er zumindest ETWAS Rücksicht nehmen. Vor allem handelte es sich nur um halbwegs legale Schießprügel.
Was die Russin jedoch weitaus mehr beschäftigte, war die Fracht auf dem Tablett. Es handelte sich um Becher, eine Thermoskanne und etliche Teller voller grauer Scheiben mit rötlichem Belag – Kunstbrot mit einer Art Konzentrat aus Geschmacks- und Aromastoffen, Eiweißen und Fetten, die als Fleischersatz firmierten. Es sah nicht so aus, als ob Lilja das primäre Ziel der Raumfahrerin war, aber Quicksilver wich auch nicht aus, als sich die Russin auf einen Abfangkurs begab.
Die Pilotin kam gleich zur Sache: „Was muss ich tun, um mich bedienen zu können?“ fragte sie. Quicksilver grinste: „Hm, eigentlich ist es ja für meine hart arbeitenden Kameraden…“ Mehrere Besatzungsmitglieder der Emerald waren im Moment damit beschäftigt, die Halterungen für externe Fracht auf Vordermann zu bringen.
Auf Liljas bittenden Blick ließ sich die Raumfahrerin jedoch erweichen, erstaunlicherweise sogar ohne der Pilotin dafür einen Gefallen aus dem Kreuz zu leiern: „Na schön, nimm dir was.“ Die Grundversorgung an Bord war wenigstens noch umsonst, denn am liebsten hätten wohl die Kapitänin und ihre Truppe desperater Glücksritter auch daraus noch Kapital geschlagen. Überhaupt verhielt sich die Crew in letzter Zeit erstaunlich kooperativ, wenn man bedachte, das Jayhawker strikt gegen das ganze Abenteuer war, und ihre Untergebenen zumeist die Militärs nicht gerade mochten. Aber vermutlich hatten sie sich zu der Schlussfolgerung durchgerungen, dass alles umso schneller überstanden wäre, je eher die Arbeit getan war. Besser sie halfen, als die Emerald durch unkooperatives Verhalten noch zusätzlich festzuhalten. Obwohl sie nicht schlecht dabei verdienten.
Doch Lilja gehörte nicht zu denen, die zu Überpreisen „echtes“ Essen kauften. Sie war schon vollauf zufrieden, als sie zwei Scheiben Brot hinunterwürgte und mit einem Becher Kaffeeersatz nachspülte – obwohl sie das Getränk auf der Columbia wohl nicht mal zum Mundausspülen verwendet hätte. Aber hier war eben alles etwas anders. Die Flüssigkeit war heiß und stark gesüßt, genau die Art Treibstoff, die sie brauchte. Quicksilver war sogar so großzügig, und rückte sogar noch mit einem Proteinkeks mit künstlicher Süße heraus, was Lilja zu der Bemerkung veranlasste, heute falle wohl Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag zusammen. Sie hätte es nicht ohne weiteres zugegeben, aber sie genoss es, einfach nur dazusitzen und mit Quicksilver zu plaudern. Die Raumfahrerin war nicht Imp oder Sokol, aber trotzdem fiel es Lilja leicht, mit der jungen Frau zu reden. Mehr noch als mit jedem anderen an Bord, mehr als etwa mit Ace, der sie viel zu oft missverstand und vor allem in mancherlei Hinsicht so verdammt rechthaberisch und komisch sein konnte. Nicht zuletzt, weil er anscheinend unterschwellig noch mehr Vorurteile gegenüber Bodengeborenen hatte als Quicksilver, die doch viel mehr ihrer Herkunft treu geblieben war.
Doch dieser schöne Augenblick endete viel zu schnell, wie so vieles in den letzten Tagen. Mit einem Fauchen öffnete sich das Druckschott zum benachbarten Shuttleport. Lilja und Quicksilver waren zwar durch einen Kistenstapel von dem Geschehen getrennt, aber sie hörten das Durcheinander und die Befehle. Sergeant Torben Johannesson schien zu der Sorte Marines zu gehören, die für die wenig schmeichelhafte Bezeichnung „Brüllaffen“ für die Unteroffiziersgrade des Corps verantwortlich war. Seine Lautstärke war jedenfalls entsprechend: „Corporal Haddamar – lassen Sie die Proben verstauen, Kleinknecht, Thornhouse und Östrand, helfen Sie dabei! Munoz und Minahuntra – Ausrüstung des Squads und Bergungsanzüge checken. Hull – Sie sprechen mit Dr. Eriksen, wann die Überprüfungen fällig sind. Bewegung gefälligst, wir müssen noch mal raus!“
Der Befehl wurde mit dem obligatorischen „Jawohl, Sir!“ quittiert, und offenbar machten sich die Männer und Frauen gleich an die Arbeit – was für Lilja bedeutete, dass sie wohl bald wieder hinausmusste. Dieses Squad würde zwar auf der Emerald bleiben, doch dafür würde das andere ausrücken, sobald das Shuttle überprüft und wieder betankt war. Und die Russin würde Geleitschutz geben müssen. Sie seufzte leise, ausnahmsweise ohne sich Gedanken darüber sie machen, dass Quicksilver es mitbekam.
Anscheinend war sie nicht die einzige Unzufriedene. Einer der Marines murrte nicht eben leise: „Wir kriegen ja wohl überhaupt keine Ruhe mehr! Sollen die Zivilisten doch mal ordentlich anpacken, wo sie uns schon hier in der Scheiße wohnen lassen. Ich habe den Kragen gestrichen voll von diesem ganzen…“ Offenbar aber hatte er die Entfernung zu seinem Vorgesetzten oder die Qualität von Johannessons Ohren falsch eingeschätzt. Der Sergeant brüllte mit noch einmal erheblich gesteigerter Phonzahl los: „SCHNAUZE, DU KLEINER SCHWANZ! Da du ja noch genug Kraft zum meckern hast, machst du sofort 24 Liegestütze – KLAR?“
„SIR, JAWOHL SIR!“
Offenbar zufrieden mit dieser Zurschaustellung seiner Führungsqualitäten entfernte sich der Unteroffizier, und auch die meisten anderen Marines trollten sich. Sie rumorten in einiger Entfernung herum – im Laderaum war nie vollkommene Ruhe, aber zugleich sorgte diese Kulisse dafür, dass man nicht alles von einem Ende bis zum andern hörte. Lilja verdrehte die Augen gen Decke. Immer dieses Dominanzgehabe! Doch dann zuckte sie zusammen und spitzte die Ohren, wohl wissend, dass Quicksilver das ebenfalls tat.
Munoz und noch ein Marine waren zurückgeblieben. Und ungeachtet der eben erteilten Lektion konnten sie ihren Mund nicht ganz im Zaun halten, während sie die Ausrüstung und die Bergungsanzüge checkten – zumindest Munoz nicht.
„Dieser verfickte aufgeblasene Affe meint wohl, er müsse sich beweisen, weil er auf der Giap angeballert wurde und sonst nichts vorzuweisen hat! Jetzt markiert er hier den Zackigen, als ob es dafür was zu gewinnen gibt. Dabei sitzt er ebenso in der Scheiße, wie wir alle. Stangenhaltung, Schweinefraß und dann dieser Gestank, langsam reicht’s mir.“
Der andere Marine schien allerdings über etwas anderes beunruhigt, als über Quartier und Verpflegung: „Halt lieber dein Maul, sonst gibt es noch was als Zugabe. Außerdem, diese Schweißquartiere sind meine geringste Sorge. Wenn der Sarge sich aufspielt, lass ihn doch. Muss er eben was beweisen – vielleicht will er nur den schneidigen Kerl vor dem Spiegel markieren. Denkt vielleicht auch, dann könnte er eine der Bräute an Bord nageln. Nicht, dass es so viel Auswahl gibt.“
Munoz lachte prahlerisch: „Also diese schwarzhaarige kleine Raumfahrerin, die hätte ich gerne mal alleine im Shuttle. Da könnte sie die Sterne mal richtig singen hören…“
Lilja machte angesichts dieser Worte schon Anstalten aufzustehen – nicht so sehr aus Beschützerinstinkt gegenüber Quicksilver, die vermutlich ganz gut auf sich selbst aufpassen konnte, sondern auch weil solche Töne in ihren Augen eine Schande für das Militär der FRT waren. Selbst wenn es nur um Marines ging. Doch die Raumfahrerin fasste die Russin am Arm und legte einen Finger auf den Mund.
Munoz’ Kamerad sprach inzwischen weiter: „Kannst du eigentlich nur ans Ficken denken? Also das ist meine letzte Sorge! Mach dir mal lieber Gedanken darüber, dass wir immer noch nicht wissen, was die Kerle auf der Kapsel umgebracht hat. Du hast doch gehört, was die anderen erzählt haben! Der Kerl im Anzug ist auch abgekratzt, und trotzdem schicken sie uns Tag für Tag in ganz ähnlichen Dingern raus. Und wir wissen auch nicht, wo die Mary C hin ist. Schiffe verschwinden nicht so einfach! Irgendetwas geht da vor sich, und die da oben sagen uns nicht mal die Hälfte! Und mit jeder Fuhre da draußen können wir dasselbe an Bord holen, was die Leute von der Mary C umgebracht hat!“
Munoz schien – wenn auch sonst nach Liljas Meinung ein Schwein und ein Widerling – weniger abergläubisch: „Wovor hast du Angst? Die Doktorin hat uns doch alle gründlich genug untersucht – übrigens auch jemand, den ich gerne mal richtig auf der Matte hätte – und nichts gefunden. Wenn, dann würde es doch die Chalks als erstes erwischen, die in der Kapsel waren. So schnell wie die Schmuggler abgekratzt sind, müsste doch schon längst die Hölle los sein, wenn es eine Krankheit gewesen wäre. Oder ein Gift oder so was. Also krieg dich wieder ein.“
Der andere Marine schien nicht überzeugt: „Na, ich weiß nicht. Irgendwas hat denen das Gehirn zum Schmelzen gebracht. Samantha hat ein paar Mal bei den Obduktionen mitgeholfen, und sie sagt, Eriksen wolle es zwar geheim halten, aber sie hätte doch was mitgekriegt. ALLE sind sie an Gehirnschlag krepiert. Nur dass es dafür keine natürlich Erklärung gibt! Und jetzt liegen die Leichen gleich nebenan – ja, sie sind eingewickelt. Aber wer sagt uns, dass das reicht? Und ich bin nicht der einzige, der so denkt. Und es ist nicht nur das! Das ganze Schiff wird mir langsam unheimlich. Levi behauptet, er sei todsicher, vor zwei Nächten jemand rumschleichen gesehen zu haben, aber als er hinleuchtete, war da keiner.“
Munoz lachte: „Wird wohl einer von der Crew gewesen sein. Vielleicht hatte es ja eines von den Weibern nötig.“
Drüben klatschte es – offenbar kassierte Munoz einen Klaps vor die Stirn: „Blödsinn! In deinen Träumen vielleicht. Levi sagt, von dort wo der Typ rumschlich, gab es keinen Aufgang. Und er glaubt auch nicht, dass es eine Frau war. Oder ein Mann. Und keine Möglichkeit, von dort wegzukommen. Ich hab’ rumgefragt. Gordon, Jacob, Lisa und Salvatore haben jeder auch was gesehen. Und alle sagen, das sei kein Mensch gewesen – jedenfalls nicht mehr…“
Munoz lachte nur: „Huuuuuuuh… Da habe ich aber Angst. Was denn sonst? Ein Geist? Ein Weltraumvampir? Oder die verlorene Unschuld von jemand? Vielleicht kam der Geist direkt aus `ner Flasche…“
„Ach sag doch, was du willst. Manchmal, aus den Augenwinkeln, glaube ich selbst, was zu sehen. Oder zu hören. Diese verfickten Schatten hier überall. Als gestern diese zwei Katzen hier rumstrichen, hätte ich beinahe losgeballert. Aber ich schwör dir, auf einmal, da hauten sie ab, als ob der Leibhaftige hinter ihnen her sei!“
„Na, da wird wohl einer gefurzt haben. Kein Wunder bei dem Fraß.“
„Ja, lach nur. Wirst noch sehen, was dir das bringt. Ich sage dir, du wirst es auch noch sehen. Je länger wir hier bleiben, desto schlimmer wird es. Wir sollten hier verschwinden, aber mit unseren Chefs ist ja nicht zu reden – und mit den Flottenheinis schon gar nicht. Wir sollten uns langsam überlegen, was man dagegen tun…“
Doch an dieser Stelle reichte es Lilja endgültig. Ohne auf die wortlosen Proteste Quicksilvers zu achten, die gerne noch etwas gelauscht hätte, sprang sie auf und umrundete schnellen Schritts wenn auch möglichst leise den Kistenstapel. Ihr „Stillgestanden!“ peitschte durch die leisen Hintergrundgeräusche des Hangars und war so scharf wie ihr geliebtes Stiefelmesser.
Egal was die Männer auch denken mochten – die Reaktion auf das Erscheinen eines höheren Dienstgrades war ihnen anerzogen worden. Folglich sprangen sie reflexartig auf und nahmen wie befohlen Haltung an. Die Russin baute sich vor den zweien auf: „Soldaten, es war nicht zu überhören, worüber Sie geredet haben. Sie beide haben sich im höchsten Maße unsoldatisch verhalten. Sie sind Angehörige der Streitkräfte, und das erfordert ein gewisses Benehmen. Sowohl untereinander, als auch gegenüber Vorgesetzten und Zivilisten. Ich hege langsam meine Zweifel, dass das 217. seinen Ruf verdient, wenn seine Angehörigen wegen kalter Suppe, Notgeilheit, verräucherter Quartiere oder gar wegen Geistergeschichten anfangen zu jammern.“
Die Männer schwiegen. Wohl nicht unbedingt aus Scham, aber was sollten sie auch sagen? Einem Vorgesetzten – und Lilja bekleidete mindestens das Gegenstück zum Rang eines Kompaniechefs – widersprach man eben nicht.
„Nun denken Sie vielleicht, es sei Ihr gutes Recht zu reden wie Sie denken, wenn sonst niemand dabei ist. Als Soldat haben Sie das Recht, auch mal zu meckern. Aber es gibt Grenzen, und die sollten Sie sich sehr deutlich machen. Ehe jemand sie Ihnen ZEIGT! Ich verzichte darauf, mich bei Ihrem Vorgesetzten zu beschweren, aber ich erwarte, dass das Verbreiten von Gespenstergeschichten künftig unterbleibt. Oder irgendwelche sexuell herabsetzenden Kommentare über Zivilisten oder Höherrangige. Ist das klar? Ja? Ausgezeichnet.“ Und weil sie sowohl im Kampf wie auch sonst gerne nachtrat, wenn jemand schon am Boden lag, fügte die Russin mit herablassender Stimme hinzu: „Doch wenn Sie es für notwendig halten, kann ich – um Ihnen die Verlegenheit zu ersparen – anregen lassen, die Leichen der Schmuggler in Ketten zu legen. Oder hätten Sie lieber eine Selbstschussanlage zwischen sich und den Kadavern? Am besten geeicht auf Bewegung von Körpern ohne Eigenwärme? Nur für den Fall, dass die geborgenen Trümmerteile die Toten in Weltallzombies verwandeln, die hinter Ihrem Hirn her sind – keine sehr reichliche Beute, will ich vermuten.“ Ihre Worte troffen geradezu vor Hohn, und die beiden Männer liefen rot an – weniger vor Verlegenheit. Aber hinnehmen zu müssen, wie sich eine mindestens zwanzig Kilogramm leichte und einiges zierlichere Frau über sie lustig machte…
Und dann war da noch das Prusten und Kichern hinter dem Kistenstapel – Quicksilvers Selbstdisziplin war offenbar auch nicht die beste, und selbst ihre diplomatische Ader versagte mitunter, obwohl sie unsichtbar blieb.
Lilja nickte, als sei nun alles geklärt: „Dachte ich mir, dass Sie das doch nicht für nötig halten. Also dann – weitermachen!“ Sprach’s, und entschwand.
Auf der anderen Seite empfing sie Quicksilver mit den hoch gestreckten Daumen beider Hände. Die junge Raumfahrerin brach immer wieder in leises Kichern aus und hatte Mühe, nicht laut loszulachen. Ihre Augen funkelten vor Spott: „Gute Einlage, Commander. Aber ich würde künftig auf meinen Rücken aufpassen. Und auch noch auf sonst einiges…“ Die Russin grinste nur verkniffen. Innerlich brodelte in ihr einiges an Ärger über diese dummen Râdovojs, diese einfachen Soldaten. Was für ein Quatsch – Geister und solcher Unfug. Oder Gejammer wegen dem Essen und den Quartieren. Sicher, die Marines HATTEN es unbequem, aber dafür waren sie ja schließlich ausgebildet worden! Und dann auch noch Gemecker hart an der Grenze zum Aufruf zur Befehlsverweigerung. Das mochte noch mal Ärger geben, wenn solche Ansichten weiter verbreitet waren. Vielleicht sollte sie doch mal mit Tremane sprechen, egal was sie diesen Marines versprochen hatte.
„Ich denke, ich frag’ mal lieber bei McKenna an, wann er sein Squad und das Shuttle einsatzbereit hat.“
Quicksilver lachte wieder los: „Wenn ihn nicht die Weltraumbestie geholte hat…“
Eine Stunde später schwebte Lilja in ihrem Jäger am Rand des Asteroidengürtels. Unweit von ihr war das Sturmshuttle der 217. beschäftigt. Vier Marines waren in klobigen Bergungsanzügen ausgestiegen und installierten Schlepptrossen an einem Asteroiden – oder Trümmerstück einer vor Jahrtausenden zerstörten riesigen Kampfstation, je nachdem, welche Geschichte man glauben mochte – der eine Fläche von gut 100 Quadratmetern bei einer Dicke von mindestens zwei Metern hatte. Vielleicht war es auch mehr. Der Brocken musste bei der hohen Dichte des unbekannten Materials viele Tonnen wiegen. Und seine besonderen Eigenschaften machten es nicht gerade leicht, die Trossen zu verankern. Folglich zog sich die Arbeit hin.
Die Gedanken der Russin waren immer noch bei den kürzlich zurückliegenden Ereignissen an Bord. Sollten sich solch defätistische Gedankengänge verbreiten, dann würden sie bald ernste Probleme haben. Es gab keine Garantie, dass nur die Marines – falls in diesem Fall ein „nur“ überhaupt angebracht war – davon betroffen waren. Lilja hatte sich bisher eher Sorgen gemacht, dass Kapitänin Victor etwas unternehmen könne. Die Raumfahrerin hatte aus ihrer Haltung zu der Expedition keinen Hehl gemacht. Und ihre Besatzung war mit Sicherheit nicht bereit, für die Republik ein zu hohes Risiko einzugehen. Nicht, dass Jayhawker eine offene Meuterei wagen würde. Nicht gegen zwei Squads Marines und zwei Raumjäger. Aber zum Beispiel jetzt, während das eine Squad vermutlich erschöpft in seinen Kojen lag und das Sturmshuttle mit dem zweiten Suqad weit draußen war, einer der Jäger es begleitete und der andere – Ace – am Rand des Asteroidengürtels Aufklärung flog…
Lilja wollte Jayhawker nichts direkt unterstellen, schon gar nicht ohne einen Beweis. Eigentlich fand sie die Kapitänin sogar ziemlich sympathisch. Vermutlich weil ihr die Art imponierte, sich in einer selbst heute überwiegend männlich besetzten Domäne durchzuboxen, und ihr mürbes Schiff zusammenzuhalten. Aber sie war sich sicher, dass die Interessen der Crew und natürlich die eigenen für die rothaarige Raumfahrerin immer an oberster Stelle standen. Obwohl die Russin selbst ganz andere Prioritäten setzte, verstand sie die andere Frau auch ein bisschen. Für etwas Geld ging diese ein beträchtliches Risiko ein, und durfte sich zudem noch von Außenstehenden herumschubsen lassen. Es wäre kein Wunder, wenn Jayhawker insgeheim Groll und düstere Gedanken hegte. Und so wie sie die Frachterfahrerin einschätzte, kämpfte diese nur fair, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Allerdings – gerade diese Sorge um die Interessen der Crew waren es auch, die Lilja eine relative Sicherheit gaben. Zum einen war Jayhawker wohl keine wirkliche Killerin, außer in Notwehr. Und außerdem – man konnte nicht einfach mal so anderthalb Dutzend Marines, ein Shuttle und mehr als ein halbes Dutzend Offiziere „verlieren“, und dann weitermachen wie bisher. Die Emerald wäre auf jeder schwarzen Liste zwischen Terra und Hannover aufgetaucht, und das würde die Kapitänin sicherlich nicht riskieren. Doch wenn sich selbst bei Teilen der Passagiere gewisse Gedanken verbreiteten… Vielleicht hatte sie die Gefahr bei der vollkommen falschen Stelle gesucht.
Man stelle sich nur vor, in dieser Situation würde ein schwerer Unfall passieren. Oder ein paar Passagiere zeigten vielleicht Anzeigen von Verstrahlung, oder auch nur eine simple GRIPPE. Bei der augenblicklichen Lage konnte das leicht zu Panik führen, wenn einige Männer und Frauen „höhere“ Mächte oder die „Mary C Seuche“ verantwortlich machten. Wie leicht konnte dabei eine kritische Masse erreicht werden…Und wenn das erst mal passierte – nun, die Naturwissenschaft diktierte, was die Konsequenzen in einem solchen Falles waren.
Ja, es war sicherlich angebracht, die Sache im Auge zu behalten. Vielleicht sollte sie Tremane und McKenna wirklich einmal darauf ansprechen. Und auf jeden Fall auch Ace, immerhin bemühte er sich ja, jedermanns Liebling zu sein, und verbrachte aus unerfindlichen Gründen viel Zeit mit den Marines.
Mit diesem Gedanken legte Lilja das Problem vorerst wieder zu den Akten. Mehr konnte sie sowieso im Moment nicht tun – abgesehen davon, nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen, dass alles glatt ging und weiter Grund für Gerede gar nicht erst aufkam. Mit einem lautlosen Seufzen öffnete sie einen Funkkanal: „Jadesohn Eins an Jadetochter Zwei. Wie gehen die Arbeiten voran?“
Die Antwort kam vom Piloten, Second Lieutenant Givou. Lieutenant McKenna war sicher draußen bei seinen Männern – der Offizier war ehrgeizig und ging Probleme gerne direkt an.
„Sie verankern die Trossen gerade. Dürfte nur noch eine Viertelstunde dauern.“ Die Russin murmelte etwas Nichtssagendes, denn sie traute der Einschätzung nicht ganz, fügte dann aber hinzu: „Gut. Ich behalte die Strahlungsentwicklung und eventuelle Irrläufer im Asteroidenfeld im Auge. Sieht aber bisher harmlos aus. Sie haben sich mit der Emerald abgesprochen wegen dem Dockmanöver?“ Die Stimme des anderen Piloten klang fast amüsiert: „Natürlich, Lieutenant Commander.“ Was nichts anderes hieß: ,Was soll die blöde Frage? Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie ich meine Arbeit mache?’
Tatsächlich waren nur zwanzig Minuten später alle Trossen verankert und die Arbeitscrew bootete wieder ein. Ein Mitflug wäre nicht ratsam gewesen, immerhin hatten die Raumzüge keine integrierten Trägheitsdämpfer. Das Shuttle setzte sich behutsam in Bewegung, während zugleich auf dem Asteroiden Minitriebwerke aufflammten. Die Idee dabei war, dass er selbstständig beschleunigen und abbremsen könnte, was die Trossen etwas entlasten würde. Die „Triebwerke“ stammten aus Raumanzügen. Viel Wirkung hatten sie bei so einem riesigen Brocken zwar auch gekoppelt nicht, waren aber besser als nichts. Eine Idee von McKenna, ziemlich innovativ für einen Marine.
Lilja hielt sicherheitshalber Abstand und warf immer wieder einen argwöhnischen Blick auf ihre Anzeigen. Dank des Sensorpods – der ihr später während des Aufklärungsflugs helfen sollte – hatten sie eine Reichweite, die weit über der des Shuttles lag. Aber weder Piraten, noch Akarii, Weltraummonster oder die zu einem Gespensterschiff voller Geister oder Zombies mutierte Mary C ließen sich blicken.
Sobald sich das Shuttle der Emerald näherte, zündeten wieder die Triebwerke auf dem Asteroiden. Doch weder sie noch die Trossen würden die Hauptarbeit beim Abbremsen und Arrangieren des Bergungsguts übernehmen. Hier kam der Traktorstrahl des Frachters zum Einsatz. Er war stark genug, und die Crew hatte bewiesen, dass sie ihre Arbeit verstand. Der Strahl ergriff das Trümmerstück, während das Shuttle ebenfalls abbremste und wieder Marines in Bergungsanzügen ausschleuste. Sie wurden bereits erwartet.
Zwei Crewmitglieder hatten auf der Außenseite der Emerald Position bezogen. Zusammen mit den Marines unterstützten sie die Maßarbeit des Traktorstrahls und bugsierten das Trümmerstück zu den vorgesehenen Haltung. Dann griffen magnetische Metallklammern, und hefteten die Beute an der Flanke des Frachters. Es gab keinerlei Komplikationen, und bald gaben die Marines die Bestätigung, dass alles in trockenen Tüchern sei, womit auch Liljas Aufgabe erledigt war. Zumindest dieser Teil. Die Russin runzelte dennoch die Stirn. Mehr als sich Gedanken machen konnte sie ja im Moment nicht. Es gab leider genug Grund. Bedachte sie die Paranoia einiger Leute, dann würden diese vermutlich fürchten, der „Fluch von Medusa“ würde sie auch durch einen halben Meter Panzerung und Bordwand treffen…
Nun gut, der Programmpunkt war also erledigt. Blieb nur noch…
Sie bemerkte einen Punkt auf ihrer Ortung, sah genauer hin. Dann öffnete sie eine Verbindung: „Jadesohn zwei – wurde auch Zeit, dass du dich blicken lässt.“ Ace Stimme klang aufgeräumt. Was immer ihn auch auf dem Hinflug geplagt hatte, inzwischen war es offenbar überwunden: „Was denn, hattest du dir Sorgen um mich gemacht? Oder hattest du Sehnsucht?“ Liljas Stimme blieb trocken. Unsichtbar für den anderen Piloten verdrehte sie die Augen. Sie stand nicht so auf Smalltalk via Funk, wenn es nicht gerade nötig war. Oder wenn sie selber anfing, was selten genug vorkam: „Weder, noch. Aber jetzt kann ich dir die Verantwortung für unsere Rostlaube übergeben und selber auf Entdeckungsfahrt gehen. Irgendetwas Besonderes gefunden?“
Die Antwort überraschte sie nicht: „Nein, nichts. Eine Menge Aufnahmen von Trümmerstücken, Strahlungsdaten – aber nichts, was wir nicht schon längst. Und keine Spur von der Mary C.“ Lilja grunzte: „Vermutlich wurde die ja von Weltraumgeistern entführt!“
Ace lachte: „So wird’s sein. Pass auf dich auf.“
Die Russin runzelte die Stirn: „Keine Protektionismus, wenn ich bitten darf. Ich kann gut genug auf mich aufpassen – außerdem gibt es hier nichts Gefährlicheres als in einem x-beliebigen Asteroidenfeld.“ Sie zögerte, schwächte ihre Worte dann etwas ab. Immerhin war es wenigstens diesmal nicht Ace, auf den sie wütend war: „Ich pass’ schon auf. Halte aber auch selber die Augen offen. Und sieh zu, dass du eine Mütze Schlaf bekommst. Jadesohn Eins Ende.“ Dann wendete sie ihren Jäger und nahm wieder Kurs auf den Asteroidengürtel.
Cattaneo
Cattaneo
Spuren II
Diese einsamen Aufklärungsflüge waren mit Sicherheit gewöhnungsbedürftig. Lilja war vertraut mit schier endlosen Patrouillen, bei denen stundenlange Untätigkeit und Langeweile binnen Sekundenbruchteilen in einen Kampf um Leben und Tod umschlagen konnten. Immerhin hatte sie schon in Friedenszeiten und dann während des ganzen Krieges Abfangjäger geflogen, die wegen ihrer großen Geschwindigkeit gerne für Aufklärung und Überwachung eingesetzt wurden. Doch so gut wie immer hatte man die Piloten paarweise hinausgeschickt. Wenn es zu einem Kampfkontakt kam, hatten zwei Jäger nicht nur doppelt, sondern mindestens drei- bis vierfach so große Überlebenschancen. Ein einzelner Jäger konnte auch viel leichter einem technischen oder menschlichen Versagen zum Opfer fallen. Denn wenn keine zweite Maschine vor Ort war, um Hilfe zu leisten oder wenigstens das Mutterschiff zu rufen, war der Pilot des Havaristen meist verloren, im wahrsten Sinne des Wortes. Und das Geschwader konnte dann Streichhölzer ziehen, was mit dem Verschollenen geschehen war. Und versuchen, seine Position mit einem Pendel zu bestimmen.
Eigentlich hätten die Bedingungen im Medusa-System Doppelpatrouillen zwingend notwendig gemacht. Aber dafür fehlten einfach die Mittel. Mindestens ein Jäger musste das Sturmshuttle absichern, und falls man die Jäger nur dann auf Aufklärung schickte, wenn beide verfügbar waren, dann würde sich der Zeitplan ins Unendliche verlängern. Und deshalb mussten es eben Einzelflüge tun. Die schlanke Silhouette und klaren Linien der Falcon wurde durch die voluminösen Zusatztanks etwas ruiniert. Zusätzlich bestand die Zuladung aus dem Aufklärungspod unter dem Rumpf, dazu kamen zwei Amraam- und zwei Sidewinder-Raketen. Weniger Feuerkraft, als Lilja lieb war. Sie mochte ihre Probleme mit Ace haben, aber in dieser Situation wären ihr seine Gegenwart und vor allem die Waffen seines Jägers lieb gewesen – in Ermanglung einer besseren Alternative. Aber sie hätte lieber ihre Zunge verschluckt als Tremane gegenüber zuzugeben, dass das System gehörig an ihren Nerven zehrte. Die Marines mochten langsam anfangen zu spinnen – ihr war von Gespenstern bisher nichts aufgefallen – aber in einem Punkt hatten sie Recht. Irgendetwas stimmte hier ganz bestimmt nicht. Andererseits glaubte sie nur an Dinge, die natürlichen Ursprungs waren. Und wenn sie das waren, dann konnten ihre Schilde sie davor schützen – und auf viele konnte sie mit ihren Waffen schießen. Das musste reichen.
Der Aufklärungsflug bot zunächst wenig Überraschung. Wie es inzwischen schon fast Routine war, wurde die Kommunikation mit der Emerald schon bald durch Interferenzen gestört, die zunahmen, je weiter der Jäger in den Asteroidengürtel um den zweiten Mond des dritten Planeten vorstieß. Zunächst konnten die Störungen durch die extreme Strahlung herausgefiltert werden. Aber dann wurde der Kontakt immer sporadischer und brach schließlich fast vollkommen ab, abgesehen von extrem starken Sensorimpulsen, die sie in regelmäßigen Abständen sendete und die ihre Position angaben. Gezielte Kommunikation war nicht mehr möglich. Verdammtes Glücksspiel…
Mit einem leichten Schaudern beobachtete die Russin die Oberfläche des milchig grünen Gasriesen, dem sie sich noch ein gutes Stück genähert hatte. Der Ausblick bot sich zwar auch von der Emerald Jade aus, aber aus dem Cockpit des Jägers wirkte es gleich noch etwas unheimlicher. Die Marmorierungen und Flecken in der obersten Gasschicht, die in ständiger Bewegung waren und an Größe vermutlich ganze Kontinente, Monde oder gar Planeten übertrafen, hatten fast eine Art von bedrohlicher Schönheit an sich. Aber es war dieselbe Schönheit wie ein Feuerspuckender Vulkan, wie ein Lavastrom, wie eine gewaltige Flutwelle, die sich vor einem Schiff oder Strand aufbaute. Sie war nicht wirklich NAH an dem Planeten – die Mondumlaufbahn war einiges weiter als die von Luna um die Erde, immerhin rund 600.000 Kilometer. Aber angesichts der Größe von Medusa III machte das wenig Unterschiede.
Mit einiger Mühe zwang sich die Pilotin dazu, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie war doch kein Neuling, kein verdammter Zivilist, der sich durch so etwas nervös machen ließ!
Die nächsten anderthalb Stunden kreuzte sie mit wechselndem Kurs und einer mittleren Marschgeschwindigkeit durch den Asteroidengürtel. Ihre Augen wanderten ständig über die Anzeigen, während sie immer wieder mit klarer, monotoner Stimme Einträge ins Computerlogbuch hinzufügte. Schon bald war ihr Gesicht – ganz zu schweigen vom Rest des Körpers – wieder schweißbedeckt. Egal was Tremane vorhatte, nach dieser Mission würde sie mit Sicherheit erst einmal in der Dusche verschwinden, und wenn sie ihn k. o. schlagen musste!
Aufklärung bedeutete hier gefährliche Maßarbeit. Sie musste nicht nur ihren Kurs im Auge behalten – immerhin schwebten hier unzählige kleine, mittelgroße und große Asteroiden, die von den Sensoren dank der starken Strahlung oft erst mit Verspätung erfasst wurden. Na gut, angeblich waren es ja gar keine Asteroiden sondern Trümmer, je nachdem, wem man glaubte. Spielte im Grunde keine Rolle, wenn sie einen der größeren rammte, war sie in beiden Fällen Geschichte.
Zugleich musste sie zusätzlich auf Anomalien achten, die anzeigten, ob sich einige der Asteroiden in der Zusammensetzung und Form von anderen unterschieden, und deshalb von besonderem Interesse waren. In dieser Umgebung musste man die Reichweiten aller Sensoren halbieren, wenn das mal reichte. Sie war dazu aufgefordert worden, auch selbst ein wachsames Auge auf die Anzeigen zu behalten. Zwar würde man die Informationen später aus den aufgezeichneten Daten rekonstruieren können – wenn die Strahlung nicht die Aufzeichnungen störte – aber Tremane wollte natürlich gleich eine Vorortbesichtigung, wenn möglich. Wenn etwas von den eingespeicherten Parametern deutlich abwich, war es einen zweiten Blick wert.
Und schließlich hieß es, die Strahlung selbst im Auge zu behalten, nur für den Fall, dass sie auf einmal gefährlich anstieg. Gerade der letzte Punkt war alles andere als beruhigend, denn selbst ihr neuer Raumanzug würde nur für begrenzte Zeit Schutz bieten, falls sie aussteigen musste. Zwar war kein Sturm von Medusa aus zu erwarten – der wäre lange vorher zu orten gewesen. Aber immerhin war der Asteroidengürtel selbst weit über normal belastet, aus welchem Grund auch immer, und diese Strahlung war nicht überall gleich stark.
Doch nichts passierte. Die Strahlung war zwar hoch, aber die Fluktuationen hielten sich im Medusa-typischen Rahmen. Und die Trümmerstücke waren weitestgehend einheitlich und gehörten zu den bisher üblichen Grundtypen. Lilja hatte von Georges aufschnappen können, dass es neben den angeblichen „Panzerungsstücken“ noch leichtere Legierungen gab, belastungsfähig, aber weitaus weniger stabil als die anderen Stücke. Der gute Doktor nahm das als Beweis für die These von der Raumstation, als Teile der Innenstruktur, und träumte jetzt wohl davon, Teile der Verschalung für einen antiken Reaktor zu finden. Denn wenn die Station so riesig war, wie die Menge an Trümmern vermuten ließ, dann musste sie ein mächtiges „Herz“ gehabt haben.
,Aber klar doch. Warum nicht gleich das Tagebuch des Stationscommanders…’ Lilja hielt das ganze immer noch für Unsinn. Eine Raumstation oder gar ein Schiff dieser Größe war praktisch undenkbar und sprach gegen alles, was über existierende oder bereits untergegangene Zivilisationen bekannt war. Statt von der vergangenen Pracht eines „Vielleicht“ zu träumen, sollte man sich lieber auf das „Ist“ konzentrieren.
Andererseits, wenn das hier wirklich eine Station oder ein Habitat gewesen war…Das würde viel erklären. Wer so etwas schuf, der konnte sicher auch ein Imperium errichten, das so groß war wie das Imperium, die Bundesrepublik und Konföderation – die kleineren Reiche meinetwegen gleich eingeschlossen – zusammen. Doch was oder besser WER sollte so ein Reich herausfordern und schließlich vernichten? Denn was hier stattgefunden hatte – WENN hier einmal eine Raumstation bestanden hatte und WENN sie von einem Angriff zerstört wurde – musste es eine wahrhaft gewaltige Schlacht gewesen sein.
Die Russin schnaubte. Wenn man zu lange darüber nachdachte, wurde man ganz verrückt. Der menschliche Verstand war eben nicht immer so rational und geordnet, wie es wünschenswert gewesen wäre. Bloß gut, dass sie nicht schon anfing zu spinnen wie die Marines!
Mit einem Blick auf die Treibstoffanzeigen ließ sie ihren Jäger elegant beidrehen. Genug für heute die Asteroiden durchstöbert – jetzt war ML-II, der Mond selber, an der Reihe. Ihr Treibstoff reichte natürlich nicht für eine detaillierte Untersuchung. Immerhin hatte Medusa-Lunar-II, der etwas kleiner als der Erdmond war, immer noch eine Oberfläche von über 30 Millionen Quadratkilometern. Aber dank ihrer überlegenen Sensoren konnte sie – allen Störungen zum Trotz – in mittlerer Höhe den Mond einige Mal auf unterschiedlichen Routen überfliegen, ihn dabei kartographisieren und nach Anomalien suchen.
Die Russin grinste zynisch vor sich hin, als sie daran dachte, dass sie wohl die erste war, die den Himmelskörper genauer untersuchte, zumindest seit einigen hundert oder eher tausend Jahren. Es war nichts darüber bekannt, dass eine imperiale oder menschliche Expedition sich das System gründlich angeschaut hatte. Die Forschungsdrohen hatten es niemals so weit geschafft, und Schiffe waren nicht bis zum Mond geflogen. Die Rechte der „Vormieter“ dürften wohl als verfallen gelten, wenn es jemals welche gegeben hatte.
,Das heißt wohl, ich habe hier bestimmte Privilegien. Hätte ich ja direkt eine Fahne mitnehmen können! Wenn der Mond auch nur etwas Luna ähnelt, dann gibt es dort genug Krater und Täler, die man nach uns benennen kann. Am besten halte ich mal die Augen offen. So billig bekommt man Unsterblichkeit wohl niemals sonst, und wenn ich großzügig gestimmt bin, gebe ich noch ein paar Landmarken an andere weiter…’
Mit diesem Gedanken begann sie, den Mond abzusuchen. Die Landschaft, das erkannte sie ohne weiteres, war in der Tat in etwa so, wie sie es erwartet hatte. Der Himmelskörper hatte wohl nie eine Atmosphäre gehabt, geschweige denn eigenen Lebensformen Raum geboten. Selbst vor der Entstehung des Asteroidengürtels war er Ziel von so manchem kosmischen Bombardement geworden. Und auch zahlreiche der „Trümmerstücke“ des umgebenden Gürtels dürften in den letzten Jahrtausenden aufgeprallt sein. So waren die Hoch- und Tiefebenen, die Täler und Berge von einem dichten Netz von Pockennarben überzogen. Die Russin lächelte schief – wenn man sagte, dass Narben dem Gesicht Charakter verliehen, dann hatte dieser Mond eine Menge Charakter. Doch sie vergaß trotz ihrer nicht immer professionellen Gedanken nicht ihren Auftrag und behielt die Anzeigen misstrauisch im Auge.
Zunächst ging alles glatt. Ihre Kameras und anderen Sensoren tasteten die Oberfläche des Himmelskörpers ab, berechneten automatisch ein auf den Mond zugeschnittenes Koordinatensystem aus Längen- und Breitengraten und legten es über die Aufnahmen, so dass man später einen anvisierten Punkt wieder finden konnte. Lilja hatte dabei eigentlich nicht viel zu tun, hielt aber dennoch die Augen offen. Die Russin amüsierte sich angelegentlich, indem sie sich überlegte, welchen Punkt man nach wem benennen konnte.
,Dieser gewaltige Kraterberg, der würde sich sicher als Mount Tremane eignen, ausreichend für das Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen das Ego, unseres Chef-TIS’lers ist er ja…Dieses malträtierte Tal ist sicher mehr als gut genug für McKenna...Ja, dieser Krater da wirkt so regelmäßig als wäre er künstlich, das wäre doch was für Georges, der darin sicher ein Amphitheater oder Raumhafen seiner „Ältesten“ sehen kann…Und diese Hochebene, die im Licht des fernen Sterns leuchtete und strahlend und scheinbar unangreifbar dasteht, die reserviere ich für mich selbst…Also, Imp, Lightning und Sokol habe ich schon bedacht. Und schauen wir mal, was für Ace übrig bleibt, und womit wir der Kapitänin unserer Rostlaube eine Freude machen können…’ Es war natürlich offen, ob man ihre Inanspruchnahme und Benennung später billigen würde, aber man konnte es ja versuchen…
Doch wie sie schon fast befürchtet hatte, es blieb nicht beim bloßen Vermessen. Den ersten Hinweis, dass hier wie eigentlich überall im Medusa-System einiges nicht mit rechten Dingen zugehen mochte, bekam sie beim dritten Überflug. In der Nähe des Nordpols registrierte sie eine Kette von Tälern. Sie zogen sich über viele Kilometer hin, und waren durch zahlreiche Einschläge verunstaltet, also waren sie wohl mindestens einige Jahrtausende als. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches. Täler gab es auf dem Mond mehr als genug. Doch irgendetwas war hier merkwürdig…
Dann bemerkte sie es – die Vertiefungen waren zu gerade, wirkten fast wie parallel zueinander angelegt. Sie fingen auf derselben geographischen Breite an, und endeten auch auf derselben Breite. Und sowohl an ihren Enden als auch den Flanken waren riesige Halden von Gestein aufgeworfen – Gestein, das sich schon optisch eindeutig von dem anderen Material an der Oberfläche unterschied. Als hätte jemand mit einem riesigen Rechen Furchen in den Sand gezogen. Das erinnerte sie an etwas…ach ja, richtig!
Die Russin runzelte die Stirn. Der Gedanke, der ihr in den Sinn kam, gefiel ihr ganz und gar nicht. Offenbar war sie schon zu lange allein hier draußen! Sie begann inzwischen auch schon, Gespenster zu sehen. Sicher, es sah genau so aus wie Spuren, die sie schon früher mehr als einmal gesehen hatte. Deliak IV, ihre erste Garnison, war ein kleiner Außenposten gewesen. Ein kleiner Außenposten, an dem aber bereits Bergbau betrieben worden war. Nur waren die dortigen Abbaugebiete und Halden Zwerge im Vergleich zu dem gewesen, was sie hier vor sich sah. Und das war nicht die einzige Erfahrung dieser Art gewesen. Überall hatte es so ähnlich ausgesehen. Konnten das hier tatsächlich ebenfalls Spuren von Bergbau sein? Sicher, im Weltraum „verwitterte“ oder „erodierte“ kaum etwas. Aber das hier war einiges größer als alles, was sie kannte oder wovon sie gehört hatte. Andererseits, gewissermaßen wäre es nur logisch. WENN hier jemand gelebt und gebaut hatte, wäre es nur folgerichtig, wenn er die Rohstoffe vor Ort abbaute, anstatt sie zu importieren. Aber das würde ja heißen, dass an den wilden Theorien von Tremane und Georges zumindest etwas dran wäre…
Lilja rang einen Moment mit sich, doch Pflichtgefühl siegte über ihr Unbehagen und Unglauben. Sie drosselte die Geschwindigkeit des Jägers, bis die Falcon im Vergleich zu ihrer üblichen Geschwindigkeit nur noch dahin kroch, und ging tiefer. Zweimal überflog sie das Ziel, machte Aufnahmen, scannte die Täler und Halden. Ihre Stimme klang monoton, ohne dass sie sich etwas von ihren Gedanken anmerken ließ: „Ein System von gradlinigen Tälern, ausgerichtet fast perfekt von Norden nach Süden. Unter Berücksichtigung von Verzerrungen durch Asteroideneinschläge schätze ich die mittlere Tiefe auf fünf Kilometer unter dem Normalniveau, die Täler durchschneiden zusätzlich auch einen Berggrat von fast drei Kilometern Höhe. Lokalisierung Medusa-Lunar-Koordinationensystem…sie liegen exakt bei 20 Grad 15 Minuten östliche Länge, Ausdehnung von nördliche Breite vom 80 Grad sieben Minuten bis…“ Sie biss sich auf die Lippen, fuhr dann aber fort, während sie die Anzeigen angestreckt musterte: „Die Täler sind vermeintlich parallel ausgerichtet und haben identische Ausmaße. Die Sensoren weisen auf folgende Anomalien hin – das in den benachbarten Feldern aufgeworfene Material unterscheidet sich signifikant von anderem Oberflächengestein. Analogien bestehen zu aufgeworfenem Material im Bereich des großen Zentralkraters bei 22 Grad 10 Minuten südliche Breite, 45 Grad 20 Minuten östliche Länge, vermutlich geschlagen durch größeren Himmelskörper. Keine Strahlungsanomalien. Setze Suche fort.“ Nach dieser Meldung drehte sie ab, mit einem nagenden Gefühl der Unsicherheit. Der Asteroidenkrater, der größte den sie bisher gesichtet und den sie nach ihrem gefallenen Wingman Chang Ming benannt hatte, war von einem Kranz aus geschmolzenem und empor geschleuderten Material umgeben gewesen, das aus mehreren Kilometern Tiefe stammte. Der Einschlag musste eine Kraft von vielen Megatonnen entfaltet haben. Aber die Zusammensetzung des Materials dort ähnelte sehr stark den „Halden“. Was bedeutete…nun, sie wollte nicht wirklich wissen, was das bedeuten konnte. Sie glaubte nicht – wollte eigentlich nicht so richtig glauben – was sie sah. Oder was sie meinte zu sehen. Aber wenn da etwas war, dann mochten die anderen sich einen Reim daraus machen.
Wenn sie nicht schon vorher wachsam gewesen wäre, dann hätte sie spätestens dieser Zwischenfall aufgeweckt. Wie sie es sich gedacht hatte, mit diesem Mond stimmte etwas nicht, wie mit dem ganzen System. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte die Russin ihre Patrouille fort. Jetzt dachte sie sich keine Namen mehr für die Krater, Täler und Hochebenen auf. Der Spaß und die Aufregung der Entdeckerin waren ihr erst einmal verdorben. Dafür war – wenn überhaupt – später noch Zeit. Als die nächste Stunde ohne Zwischenfall verlief, beruhigte sie sich wieder etwas. Selbst wenn dort einmal Bergbau betrieben worden war – na und? Das konnte ja schließlich jeder gewesen sein. Medusa war erst seit einigen tausend Jahren so lebensfeindlich, nach allem was sie wusste. Irgendeine benachbarte Zivilisation, die inzwischen vermutlich seit Jahrzehn- oder Jahrhunderttausenden, vielleicht auch Jahrmillionen, unter Schutt und Staub begraben war, hatte hier eben geschürft. Das bedeutete doch letztendlich NICHTS. Und hatte nichts mit dem Schicksal der Mary C zu tun. Oder mit irgendwelchen kosmischen Schwarzen Männern, die bei jeder intelligenten Rasse zwischen Terra und Akar ihre schattenhaften Finger im Spiel hatten. Tremane und Georges hatten einfach eine zu blühende Phantasie. Und fertig!
Mit diesen Gedanken blickte sie prüfend auf ihre Anzeigen. Ausgezeichnet – der Planet war inzwischen zu drei Vierteln oberflächlich erfasst. Nur noch ein paar Überflüge, und sie war hier fertig. Dann könnte sie nach Hause fliegen, essen, sich waschen und – welch Luxus – vielleicht mal sechs Stunden am Stück durchschlafen. Und wenn Tremane was dagegen hatte, würde sie ihm sagen, was er sie mal konnte, Commander hin oder her…
Das Aufheulen ihrer Sensoren durchbrachen diese tröstlichen Gedanken. Liljas Hände legten sich unwillkürlich über die Feuerknöpfe, aber sie erkannte sofort, dass es kein Feindalarm war. Sie hatte Strahlungsanomalien geortet – fast genau am Äquator, bei ziemlich genau zwei Grad nördliche Breite und 100 Grad westliche Länge. Und die hatten es in sich. Die Russin fluchte unflätig – wohl wissend, dass die Wanzen, die ihr Tremane sicher untergejubelt hatte, das vermutlich für die Nachwelt aufzeichneten – und ging sicherheitshalber etwas höher. Dann korrigierte sie ihren Kurs. Sie hatte eigentlich überhaupt keine Lust, ihre Mission auch nur um eine Minute zu verlängern. So pflichtgetreu wie sie im Allgemeinen war, langsam hatte sie genug! Aber das war natürlich nur ein mentales Aufbegehren. Schließlich war SIE kein fauler, pingeliger oder abergläubischer Marine. Das hier war das, wonach sie Aussicht halten sollte, also musste sie sich darum kümmern. Außerdem – wenn sie es nicht tat, würde Tremane todsicher sie oder Ace noch einmal rausjagen. So gut kannte sie den TIS’ler inzwischen.
Mit einem zweiten, noch schlimmeren Fluch drückte sie ihren Jäger wieder tiefer.
Es war eine Tiefebene, ein Mare, wie man sie auch auf dem Mond oder Mars fand, und wie auch ML II sie reichlich aufwies. Sie erstreckte sich über gut 800 Kilometer von einem Ende zum anderen, war damit nicht einmal besonders groß, und nicht gerade regelmäßig geformt. Schroffe Bergketten schlossen einige Seiten des Mare ein, das ansonsten spiegelglatt aussah. Hier war vor Jahrmillionen, als der Himmelskörper noch einen heißen Kern hatte, Lava ausgeströmt und hatte sich verteilt. Zwar war die Ebene auch von einigen Asteroideneinschlägen gezeichnet, doch das war bei weitem nicht das auffälligste. Die Strahlenwerte lagen hier weit über normal – so stark, dass sie selbst für ihre Schilde eine Herausforderung darstellten, vor allem im Osten der Tiefebene. Ein Aufenthalt mit einem Raumanzug, selbst einer Bergungsversion, war hier vollkommen ausgeschlossen. Lilja erkannte bald, dass sich die Strahlung besonders auf einen Sinus – eine halbkreisförmige „Bucht“ der Tiefebene – konzentrierte, der selber gut 100 Kilometer Durchmesser aufwies. Und für die hohe Strahlung boten sich einige mehr als offensichtliche Erklärungsansätze an. Hintereinander liegend waren zwei gigantische Krater in die Ebene gerissen worden. Selbst wenn Lilja nur mehr oder minder gestörte Bilder durch ihre hochauflösenden Kameras im Sensorpod bekam – es schien so, als ob das Gestein rings um die Krater auf viele Kilometer buchstäblich GLASIERT worden war, und die Krater waren sicher mehrere hundert Meter tief. Das Material war nicht einfach nur empor geschleudert, vielleicht nicht einmal nur durch kinetische Energie geschmolzen worden, sondern…
Ehe Lilja diesen Gedanken zu Ende denken konnte, bemerkte sie den dritten Krater. Er lag in einer Linie mit den zwei anderen – zusammen bildeten die drei eine Kette, die nicht einmal fünf Grad Abweichung aufwies. Doch der dritte Einschlag hatte nicht den Sinus selbst, sondern eine der umgebenden Bergketten getroffen und einen Gipfel einfach abgesprengt. Die umliegenden Gipfel waren von den Energien des Aufpralls – oder war es doch etwas anderes gewesen? – erschüttert, zum Teil mit Trümmern bombardiert, oder wie der Boden des Mare glasiert worden. Wenn das Asteroiden gewesen waren, dann mussten sie mit ungeheurer Geschwindigkeit und bemerkenswerter Präzision aufgeschlagen sein. Aber was noch verstörender war – die Krater waren die Zentren der Strahlung, die den ganzen Sinus, oder besser das ganze Mare in eine stille, schweigende Hölle verwandelten. Und das hieß…
Lilja fuhr sich mit der Zunge über ihre aufgesprungenen Lippen. Sie fühlte sich auf einmal, als habe sie wahnsinnigen Durst – oder kam das trockene Gefühl im Hals nicht doch von etwas anderem? Konnte es wirklich sein, dass sie hier drei in perfekter Linie platzierte Treffer mit schweren Atomwaffen vor sich hatte? Einschläge, die sogar das übertrafen, was sie während des Krieges oder beim Überflug von scharfen Schießplätzen der TSN gesehen hatte? Waffen, die weit über der Feuerkraft der Exocet-II Raketen lagen, die doch eine ganze Großstadt binnen Sekunden auslöschen konnten? Wenn ja, wann war das geschehen? Und wer steckte dahinter?
Die Russin kniff die Augen leicht zusammen. Wenn das stimmte, dann mochten das tatsächlich Spuren des Gefechtes sein, das für die „Trümmerstücke“ und die Verstrahlung des Asteroidengürtels war. Und es musste hier etwas gegeben haben, das eine gezielte Beschießung wert gewesen war – während sie bisher nirgendwo auf dem Mond ähnliche Spuren gefunden hatte.
Aber das führte nur zum nächsten Problem. Die Strahlung war hier so hoch, dass die Reichweite ihrer Sensoren noch stärker als ohnehin verringert worden war, die Aufzeichnungen mussten zum Gutteil beeinträchtigt sein. Wenn überhaupt etwas aufgezeichnet werden sollte, musste sie näher heran. Sollte dabei jedoch etwas schief gehen, dann war sie Geschichte. Hier war ein Ausstieg Selbstmord. Andererseits, wenn sich hier eine Erklärung fand…
Die Pilotin überprüfte ihre Anzeigen. Ein Überflug war möglich – sehr viel mehr aber nicht. Sie konnte unmöglich ihren Jäger riskieren, indem sie hier kreuzte, bis sie oder gar ihr ehrgeiziger Vorgesetzter zufrieden war. Es war auch so schon nicht ganz ungefährlich. Wenn die Strahlung einzelne Systeme überlastete, oder wenn sogar sie selbst etwas abbekam…
Sie konnte natürlich zurückkehren und durchsetzen, dass sie mit einem Shuttle oder mit beiden Jägern zurückkehrte. Aber das hieße, dass sie noch länger im System würden bleiben müssen – denn heute war weder ihr noch Ace ein so langer Flug zuzumuten. Und das Shuttle war auch ziemlich eingeplant. Und morgen noch einmal herfliegen würde zusätzliche Risiken beim Flug durch das Asteroidenfeld bedeutet. Je länger sie hier blieben, desto wahrscheinlicher würde an Bord was schief gehen, oder die Akarii oder sonst wer könnte aufkreuzen… Konnte sie diese Risiken eingehen allein aus Angst um sich selbst? Wenn hier etwas schief ging, dann war ihr ohnehin nicht mehr zu helfen. Wer im Mare oder gar im Sinus abstürzte, war erledigt.
Einer Eingebung folgend überprüfte sie ihr Atemgerät. Dann stellte sie die Versorgung auf die autonomen Reserven des Anzugs um. Selbst wenn die Strahlung über den Normalwert stieg, im Anzug war sie relativ sicher. Für eine kleine Weile…
Für einen Moment zögerte sie noch, doch dann zuckte sie mit den Achseln. Das war der Krieg. Man kam zu nichts, wenn man nichts riskierte. Sie überprüfte routinemäßig ihre physischen Werte – Atmung und Puls beschleunigt, Pupillen leicht geweitet…natürlich, die langen Flüge und der Dauerstress zeigten Wirkung. Sie biss sich kurz auf die Lippen, doch dann aktivierte sie das integrierte Medkit, das ihr innerhalb des Anzugs ein Aufputschmittel verabreichen konnte. Sie spürte sofort, wie ihre Aufmerksamkeit wieder wuchs, Müdigkeit, Durst und Hunger waren mit einem Mal verschwunden. Ihre Hand legte sie auf den Nachbrennerknopf, um nötigenfalls mit einem Blitzstart reichlich Abstand zwischen sich und dieses antike Schlachtfeld bringen zu können, obwohl es natürlich alles andere als ratsam war, in einem Asteroidenfeld den Nachbrenner zu aktivieren. Dann atmete sie noch ein paar Mal tief durch – und drückte den Steuerknüppel nach vorne, tauchte ab.
Erstaunlicherweise hatte Lilja später nur noch etwas vage Erinnerungen an ihren Flug. Das Heulen der Warntöne, die vor dem konstant steigenden Strahlenniveau und der Belastung der Schilde warnten, verschmolz mit dem Licht der Armaturenleuchten, dem Knirschen der gestörten Radargeräte, dem Flackern der visuellen Aufzeichnungen und den Tönen und Bildern der übrigen Scanner zu einem geradezu psychedelisch anmutenden akustischen und optischen Gesamteindruck, der für eine ermüdete, leicht dehydrierte und ausgehungerte Pilotin auf Drogen fast zuviel war – wäre sie nicht so erfahren gewesen und eine Spezialistin in der Kunst, ihren Körper unter Kontrolle zu behalten. Und wenn sie sich nicht zusätzlich aufgemöbelt hätte. Die Anzeigen der Sensoren flackerten, erloschen, dann wieder waren sie für einige Sekunden mit fotographischer Klarheit zu erkennen. Es gab kein erkennbares Muster, keine Gesetzmäßigkeiten – hier reagierte das Chaos, das Medusa seit gut 5.000 Jahren im Griff hielt, vielleicht schon länger. Doch Lilja hielt ihre Maschine im eisernen Griff, als sie das Mare und dann den Sinus überflog – der Linie von Einschlägen folgend. Kein Staub oder Atmosphäre beeinträchtigte ihre Sicht, das Panorama draußen war von einer fast klinischen Leblosigkeit, als sei es zu einer Momentaufnahme erstarrt. Sie musste sich fast dazu zwingen, zu zwinkern, damit ihre Augen nicht austrockneten, so gebannt starrte sie auf das Szenario, das sich ihr bot.
Angesichts der üblicherweise ebenen Oberfläche der Tiefebene waren Unregelmäßigkeiten leicht zu erkennen. Direkt an die nördliche Felswand des Sinus anschließend zeichnete sich so etwas wie eine Struktur in Form eines gewaltigen Halbkreises ab, mit einem Durchmesser von mehreren Kilometern. Lilja war sie sich nicht sicher, was es war – konnte es ein weiterer Einschlag sein, verursacht von einem Asteroiden oder einer Waffe, vielleicht auch eine natürliche Felsformation? Oder war es doch das, woran sie zuerst gedacht hatte, eine gigantische Kuppel, geschaffen aus ähnlichem Material wie die „Trümmer“, die von der Crew der Expedition seit einigen Tagen geboren wurden? Wenn es eine Kuppel gewesen war, dann hatten Asteroiden oder der Beschuss sie schon vor langer Zeit zusammenbrechen lassen, doch einstmals musste sie wahrhaft gigantisch gewesen. Dafür sprachen nicht zuletzt ein paar von…Hügeln…die inmitten der Struktur aufragten. So angestrengt Lilja auch auf die Anzeigen starrte und dann auch wieder nach unten blickte, während sie gegen alle Vernunft eine Schleife flog, sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Waren das wirklich zwei gigantische dreiseitige Pyramiden, sicher gut doppelt so massiv wie die Cheops-Pyramide auf der Erde, oder waren es doch nur natürliche Formationen? Zeichneten sich dort auf den Bauwerken Spuren eines erbarmungslosen Beschusses, oder hatte Asteroiden diese Wunden geschlagen?
Und in diesem Augenblick spürte sie, dass sie noch aus einem anderen Grund schwitzte als wegen Anstrengung, der Wirkung der Aufputschmittel oder körperlicher Erschöpfung. Es musste eine Sinnestäuschung sein, aber ihr war mit einmal, als würde sie von da unten etwas anstarren. Oder vielleicht HATTE auch nur einmal von dort unten einmal etwas ins All gestarrt, mit kalten, erbarmungslosen Augen. Etwas, von dem ein Echo zurückgebliebenen war, so wie manche Menschen meinten, in einem Raum noch den spüren zu können, der ihn eben verlassen hatte.
Was auch immer es war, sie selbst spürte es immer noch. In diesem Moment begriff sie, was die Marines fühlen mussten.
Für einen Augenblick erwog sie, noch tiefer zu fliegen, aus einem Gefühlwirrwarr zwischen Faszination, Neugier, aber auch der Anziehungskraft, die ein gähnender Abgrund auf viele Menschen ausübte. Sie musste wissen, ob sie sich das alles nur einbildete, musste noch einmal alles scannen...
Doch das rote Licht in ihrem Cockpit brachte sie wieder zu Verstand. Nein, wenn sie nicht hier schnell verschwand, riskierte sie ernsthafte Beschädigungen. Die Stärke ihrer Schilde schwand konstant. Sie musste…Für einen Augenblick starrte sie auf ihre Hand, die sich nicht bewegen wollte, als würde ein anderer Wille als der ihre sie festhalten. Dann biss sie sich auf die Lippen, zwang ihren Arm zurück. Sie drehte ab, beschleunigte. Der Jäger steuerte die Bresche in der Felswand an, die von der dritten Explosion – oder dem dritten Asteroiden – geschlagen worden. Ihre Bildschirme flackerten wie wild. Während sie ihren Jäger hochzog war sie sich für einen schier endlosen Augenblick sicher, dass da noch etwas gewesen war. Etwas, das hier nicht hätte sein dürfen.
Die Kraterwand war von einem bizarren Muster von Furchen verunziert, als hätten riesige Hobel oder Messer den Fels abgeschliffen und zerschnitten, als wäre er nur aus mürbem Sandstein. Gewaltige Platten waren in die Tiefe gestürzt und lagen dort, wo sie vor Jahrtausenden aufgeschlagen waren. Inmitten des Chaos standen sie an der Felswand, eine lange Reihe von Erhebungen. Verstand, Unglaube und Furcht rangen in Lilja miteinander, als sie versuchte zu verarbeiten, was sie sah oder zu sehen meinte. Das konnten doch nicht…doch, das mussten Statuen sein. Die meisten wohl nur noch Ruinen, Beinstümpfe, geborstene Torsos, viele zermalmt von Trümmern oder dem geheimnisvollen Angreifer. Aber zwei oder drei erhoben sich noch – Statuen von der Art, wie sie Georges beschrieben hatte.
Vage humanoid, vornüber gebeugt, die Gesichter unter Helmen, einer Art Kuppelsturz oder etwas ähnlichem verborgen, die Arme vor der Brust verschränkt oder in einer Geste der Abwehr oder Drohung ausgestreckt. Und hinter ihnen, freigelegt von der atomaren Explosion, die einige Kilometer über dem Bodes des Mares und den Statuen gewütet hatte, war in dem gefolterten und verunstaltetem Felsmassiv ein Gewimmel von Ameisengängen zu erkennen, die tief in den Felsen getrieben worden waren, vielleicht Kilometer weit – endlose Hallen, verzweigte Tunnel, gewaltige Höhlen.
Der Druck, der auf ihrem Kopf lastete, nahm immer mehr zu. Da war dieses Gefühl des beobachtet-werdens wieder, noch stärker, unmittelbarer. Sie fühlte, wie sich ihre Hände verkrampften…Dann stieg ihr Jäger empor und ließ den Mond hinter sich zurück.
Wie eine Saite, die unerträglich weit gespannt worden war und, einmal durchtrennt, wie eine Peitsche durch die Luft schnellte, spürte sie den Rückschlag der Anspannung.
Für einen Augenblick versuchte sie sich noch dagegen zu wehren – doch vergeblich. Würgend beugte sie sich vornüber und übergab sich. Es kam nur etwas Magensäure und Wasser – natürlich, es war Stunden her, dass sie etwas gegessen hatte. Keuchend schnappte sie nach Luft. Mehr aus dem Unbewusstsein heraus als überlegt gab sie Gegenschub und stoppt den Jäger. Sie konnte nicht riskieren, in diesem Zustand durch den Asteroidengürtel zu fliegen. Es war wie damals im Gefecht über Karrashin, als sie trotz ihrer Verwundung noch einmal geflogen war, fast noch schlimmer. Ihr Puls raste wie wild, und sie wusste nicht, ob sie fror oder schwitzte – oder eher beides. Mühsam hielt sie den Steuerknüppel mit beiden Händen umklammert. Sie brauchte fast fünf Minuten, bis sie es wagte, langsam wieder Schub zu geben. Ein, zwei Mal leuchteten ihre Schilde auf, als sie kleineren Asteroiden nicht rechtzeitig genug auswich. Ihre Arme fühlten sich wie Blei an – und ihre Augenlider auch. Aber mit einer geradezu masochistischen Verbissenheit zwang sie die lauernde Ohnmächtigkeit zurück. Dann, nach einer scheinbaren Ewigkeit, verließ sie den Asteroidengürtel. Der Mond, die Asteroiden, Medusa III lagen hinter ihr – vor ihr der offene Raum und die Emerald. Sie hatte es geschafft.
Erst jetzt wurde ihr klar, in welchem Zustand sie eigentlich war. Ihr Helm stank nach Magensäure, und ihr Gesicht war verschmiert. Im Mund hatte sie ein taubes Gefühl, und ihre Zunge fühlte sich an wie ein ausgewrungener Lappen. Doch es war nicht gerade ratsam, sich jetzt und hier zu säubern, denn aus dem Anzug würde sie erst klettern, wenn sie sicher war, dass ihr Cockpit keine Überdosis Strahlung abbekommen hatte. Ihr Körper musste mit Spuren von eingetrocknetem Schweiß verunziert sein, und das Zittern ihrer Glieder hatte nur nachgelassen, nicht aber aufgehört. Puls und Atmung waren deutlich außerhalb der normalen Parameter. Und sie war sich nicht klar, inwieweit sie in der nächsten Stunde oder so in der Lage seien würde, einen vernünftigen Satz herauszubringen. Kurz und gut – sie würde sicher ein schönes Bild bieten, wenn sie erst einmal ankam. Immerhin brachte sie noch die Kraft für einen Fluch heraus. Einen Fluch für Tremane, aber auch für dieses ganze verdammte System. Langsam hatte sie den Kanal gestrichen voll vor all den Rätseln und Omen!
In ihrer Wut fand sie wieder etwas Kraft. Und vor allem – wenn sie genauer darüber nachdachte, dann lieferte gerade ihr Zustand eine Erklärung für das, was eben ihr passiert war. Nüchtern katalogisierte sie ihre Erinnerung und befragte ihr Gedächtnis zu früheren Erlebnissen. Im Grund war alles ganz einfach und vor allem nachvollziehbar. Sie hatte die letzten vier Tage kaum ausreichend geschlafen. Sie hatte nicht immer genug gegessen oder getrunken, dafür aber reichlich Aufpuschmittel und Antistrahlenpillen geschluckt. Und sie war ständig im Einsatz gewesen, was mehr verlangte als nur einfach WACH zu sein, sondern immer wieder höchste Konzentration erforderte. Vermutlich hatte ihr Körper ihr mal wieder ihre Grenzen aufzeigen wollen – es war ja nicht das erste Mal. Das erklärte auch dieses ominöse Gefühl, das sie verspürt hatte. Über diesem Mond, einsam, ausgelaugt, mit den ganzen Geschichten von Georges im Hinterkopf und die Altmännergeschichten der Marines, hatten einfach ihre Nerven ihr einen Streich gespielt. Das war gefährlich genug, konnte sogar tödlich enden. Aber ihre Ausbildung und Entfahrung hatten sie wieder einmal gerettet – zusammen mit ihrem treuen Jäger und dem neuen Anzug. Da war in Wahrheit kein mentaler Druck, kein Echo der früheren Bewohner gewesen – und vermutlich auch überhaupt keine Kuppel, keine Pyramiden oder Statuen. Das war wahrscheinlich nicht mehr als ein Zufall der Natur und eine optische Täuschung. Selbst wenn dort etwas war, dann war es nicht mehr als eine Ruine, wie die Pyramiden, der Hadrianswall, die chinesische Mauer, Machu Picchu oder Chichén Itzá auf der Erde. Monumental, ergreifend, vielleicht auch tragisch – aber nicht mehr als das. Den Sensoren, nun, denen war hier auch nicht gerade zu trauen…
Mit diesem Gedanken beruhigte sie sich. Es war mehr als offensichtlich – sie hatte sich ganz einfach überanstrengt. Das war zwar nicht ihr eigener Entschluss und damit ihre Schuld gewesen, doch sie hatte Tremane auch nicht ausreichend widersprochen. Nun bekam sie eben die Rechnung präsentiert. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie nur in ihren Anzug gekotzt und nicht als Trümmerhaufen auf dem Mond gelandet war. Lilja nahm sich fest vor, eine bessere Rotation von Erholung und Einsätzen zu erzwingen. Selbst dieser TIS’ler musste einsehen, dass es zu einem katastrophalen Zwischenfall kommen konnte, wenn sie weitermachten wie bisher. Nicht wegen irgendwelcher Geheimnisse, nicht durch mehr oder weniger ominöse Feinde, sondern ganz einfach durch die besonders lebensfeindlichen Bedingungen im System.
Mit dieser Erkenntnis betätigte sie den Wasserspender ihres Anzuges und spritzte sich etwas in den Mund. Ein Glück, dass der Anzug auf tagelange Aufenthalte im Weltraum vorbereitet worden. Mit einer Grimasse spülte sie ihren Mund aus und spuckte die Mischung in ihren Helm. Sie dachte lieber nicht daran, wie sich das Gemisch anfühlte oder roch, als es ihren Hals hinab lief. Jetzt war keine Zeit für Befindlichkeiten. Die Sauerei war ja ohnehin schon angerichtet, aber so konnte sie wenigstens wieder sprechen. Blieb nur die Frage, wie sie ihren Schwächenanfall überspielte. Aber bei dem Betrieb an Bord der Emerald dürfte das so schwer nun wieder auch nicht sein. Sie würde den Anzug gründlich säubern müssen, aber so eingespannt wie alle waren, würde das keinem auffallen. Und erzählen würde sie es gewiss niemanden. Blieb nur zu hoffen, dass sie bei der nächsten medizinischen Überprüfung nicht auffiel. Aber ein Problem nach dem anderen…
Lilja atmete ein paar Mal durch, dann öffnete sie eine Funkverbindung. Und, oh Wunder, sie kam auch direkt durch: „Jademutter? Hier Jadesohn Eins. Folgendes…“
Cattaneo
Ace
Als es an der Tür klopfte, sah Conti nicht mal auf. "Herein, Kali."
"Sie wussten, dass ich es bin?", fragte die indische Pilotin.
"Diese Mischung aus Wut und mühsamer Beherrschung beim Klopfen konnte nur von Ihnen sein. Außerdem ist es beinahe Zeit für die Analyse. Wenn Sie noch mit mir sprechen wollten, dann war es höchste Zeit." Randy Rubenbauer sah auf und lächelte jungenhaft. "Und Sie wollen mit mir sprechen."
"Na ja. Nun. Ja. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Wenn ich Ihr XO sein soll, Conti, dann sollten wir hier und jetzt ein paar Regeln festlegen. Wichtige Regeln."
"Das habe ich erwartet.", murmelte Conti und legte die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und bildete damit auf der Tischplatte vor sich eine Pyramide. "Sie sind sauer, Kali. Sauer, weil wir die Übung gegen die Butcher Bears verloren haben. Sauer, weil ich nicht auf Sie gehört habe. Sauer, weil Sie von den Angry Angels kommen, und ich nur Staffelkommandeur beim Flying Circus bin. Was, verdammt noch mal, fällt mir kleinem Würstchen ein, den Rat eines kampferfahrenen Piloten unserer absoluten Elite zu ignorieren? War es etwa das, was Sie mir sagen wollten, Kali?"
Die Inderin wirkte konsterniert. "Vielleicht nicht ganz in diesen Worten, aber, ja, Conti, das wollte ich Ihnen an den Kopf werfen."
"Setzen Sie sich, Kali. Wenn Sie mein XO sein wollen, sollten wir hier und jetzt ein paar Regeln festlegen."
Gehorsam nahm Kali Platz und beobachtete interessiert, wie das jugendliche Gesicht durch die ernste Miene einiges an Reife gewann. Vor allem die Augen, die immerzu von hinten beleuchtet zu sein schienen, wirkten nun reifer, ernster und hatten mehr gesehen, als es für einen Einzelnen gut war. Aber sie war nicht wegen einer Analyse hier. Sie war hier, um mit diesem Mistkerl irgendwie doch noch auszukommen.
"Ich werde die nächsten zehn Minuten nutzen, Kali, um Ihnen einiges zu erklären. Danach entscheiden wir, wie wir zwei weiter machen, okay?" "Einverstanden."
"Sehen Sie, Kali, ich weiß, dass Sie ein Spitzenpilot sind. Ich weiß, dass Sie Stellvertretender Staffelchef der Red Sun Spirits waren. Ich weiß, dass Sie im Geschwader dienen, seit es aufgestellt wurde. Ich kenne Ihre Krankenakte in- und auswendig. Als ich hörte, dass Ihnen beinahe der Arm abgerissen wurde, Sie aber wieder in den Dienst zurückkehren wollten, da wollte ich Sie haben. Sie und keinen anderen Piloten der COLUMBIA. Sie sind ein zähes Luder mit Biss, Kali. Und Sie haben dabei nicht Ihr Herz vergessen wie zum Beispiel diese Eistante, die die Grünen führt."
"Pawlitschenko,", half Kali automatisch aus. "Ihr Name ist Tatjana Lilja Pawlitschenko."
"Ah, danke. Alleine an den Namen hätte ich mich nicht gewöhnen können. Abgesehen davon, dass ein Stellvertreterposten für sie logischerweise nicht in Frage gekommen wäre. Papa Bear hat mir da ausnahmsweise keine Steine in den Weg gelegt, sondern sich nach Leibeskräften bemüht, Sie loszueisen. Die Gelegenheit war günstig. Sie wurden noch nicht wieder als flugfähig geführt, und Papa Bear hatte noch die Kiste mit Tausch-Scotch. Den Rest wissen Sie ja."
Conti stellte zwei Tassen auf den Schreibtisch und füllte sie mit Kaffee. "Milch oder Zucker?"
"Milch, bitte. Zucker ist ungesund."
"Sagte die Kampfpilotin." Ein flüchtiges, sympathisches Lächeln huschte über sein Gesicht, während er ihr Milch eingoss. Seine Miene wurde wieder ernst. "Sie wissen, dass Papa Bear und ich nicht das beste Verhältnis haben. Um ehrlich zu sein beruht das auf Gegenseitigkeit. Wir hassen uns inbrünstig, und Papa Bear hätte es zu gerne gesehen, wenn ich bis zum Abflug ein Krankenhausbett hüte und Sie die Staffel bekommen. Und um noch mal ehrlich zu sein, ich hätte diese Entscheidung nicht bereut. Ich glaube, dass Sie mehr als in der Lage sind, eine Nighthawk-Staffel zu leiten. Ich zweifle zwar daran, dass Bobcat ein guter XO wäre, aber Sie hätten sicher einen tollen Job gemacht. Der Haken bei der Geschichte ist nur, dass ich es hasse, krank im Bett zu liegen. Deshalb habe ich mich beeilt, wieder gesund geschrieben zu werden, meine Flugtauglichkeit zu bekommen und mein Kommando wahr zu nehmen."
"Das kann ich besser nachvollziehen als Ihre Entscheidung bei der Übung gegen die Butcher Bears. Darf ich fragen, warum Papa Bear und Sie sich hassen, Conti?"
Wieder huschte dieses Lächeln über sein Gesicht. "Ich habe ihre kleine Schwester entjungfert."
"Sie haben was, bitte?"
"Ich bin ein gesunder, sexuell aktiver Mann, der ungebunden ist und keine Frauen zum Ehebruch verführt. Allerdings mag ich Frauen sehr gerne, und wenn sie legal sind, dann schlafe ich auch mit ihnen. Beiderseitiges Einverständnis vorausgesetzt. Bei Papa Bears kleiner Schwester wusste ich allerdings nicht, welche verwandtschaftlichen Verhältnisse sie hatte. Sie feierte ihren achtzehnten Geburtstag in einer Fliegerdisco auf Markham Fields, und ich hatte gerade einen Auffrischungslehrgang für die Hydra-Werfer. Sie hielt mich für einen Flugschüler und hat mich aufgerissen. Den Rest ihres Geburtstages haben wir dann im Bett verbracht. Und raten Sie mal, was dann passierte."
"Ah, ich ahne es. Papa Bear hat Sie geweckt."
Conti grinste von einem Ohr bis zum anderen. "Sie war damals meine Ausbilderin. Den kleinen Hüpfer mit Schwesterchen hätte sie mir eventuell noch verziehen, aber ich hätte sie eventuell nicht zu einem flotten Dreier einladen sollen."
Prustend begann Kali zu lachen, bevor sie sich beherrschen konnte. "Das ist nicht Ihr Ernst."
"Mein voller Ernst. Ich war ja auch geladen wie eine Kanone. Und seien wir doch mal ehrlich, ich würde Papa Bear nicht von der Bettkante stoßen. Allerdings falle ich nicht in ihr Beuteschema, wie es scheint. Jedenfalls wäre ich fast von der MP abgeholt worden, wenn Sharon nicht eingegriffen hätte. Sie hat ihrer Schwester eine Riesenszene gemacht und ihr ewigen Hass versprochen, wenn sie mich nicht in Ruhe lässt. Seither ist das schwesterliche Verhältnis etwas angespannt, und mir gibt Papa Bear die Schuld, anstatt sich langsam mal an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihre kleine Schwester erwachsen ist. Ich meine, jetzt erst Recht. Für ihren Geburtstag habe ich trotz Betrunkenheit tief in der Trickkiste gekramt. Wenn ich das nächste Mal auf dem Mars bin, wartet sicher ein vorgewärmtes Bett auf mich."
"Das erklärt einiges. Und wider Erwarten macht Sie das eine ganze Ecke sympathischer, Conti. Ich mag keine Typen, die aalglatt sind. Sie brauchen schon ein paar Kanten hier und da."
"Gut. Wir sind einen Schritt weiter. Jetzt wissen Sie, warum die promiskuitive Geschwaderchefin, die alles nimmt, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, mir meine kleinen Affärchen so vorwirft. Ich kann nichts dafür, dass ich jünger aussehe und attraktiv bin."
Widerwillig musste Kali nicken. Conti war nicht ihr Typ, aber er war sicher nicht hässlich. Wäre sie eine Frau, die auf den kleiner Bruder-Typus stehen würde, wäre Conti sicher allererste Wahl. "Schon klar."
"Gut. Dann klären wir mal den technischen Teil." Er öffnete seine Schublade und zog die Kampagnen- und Ordensleiste hervor, die normalerweise am Diensthemd getragen wurde. "Was sehen Sie hier, Kali?"
"Sie waren bei Jollahran dabei? Manticore? Beta Borealis? Trontein? Beachtlich."
"Ich gehöre zu den armen Säuen, die es damals knapp aus dem System geschafft haben. Ich war Flugschüler. Wir hatten eine provisorische Staffel aufgestellt und wurden furchtbar zusammen geschossen. Der letzte Träger nahm die letzten fünf von dreiundvierzig Flugschülern auf, bevor er aus dem System sprang. Danach wechselte ich auf die MAJESTIC zu den G-Men, bevor wir in Jollahran das Geschwader und den Träger verloren haben. Ich selbst bin an Bord eines SAR-Shuttles raus gekommen, nachdem ich schwer verwundet hatte aussteigen müssen. Danach kam ich auf die DERFLINGER als zweiter Stellvertreter der Dorniers. Vor drei Jahren wurde ich zuerst Stellvertreter, und ein Jahr später Staffelchef. Sehen Sie noch mehr, Kali?"
"Das silberne Raumfahrtabzeichen. War zu erwarten gewesen. Dazu das bronzene Flying Cross. Wie weit sind Sie von Silber entfernt, Conti?"
"Ich bin näher dran als Sie, Kali. Mir fehlen noch neun Abschüsse. Ich hoffe, sie mir holen zu können, sobald Sie mir die Sorge um die Staffel etwas leichter machen. Ich hasse es, Leute zu verlieren, und das vielleicht für einen dämlichen Abschuss. Weiter, Kali."
"Verwundeter Löwe in Silber mit vier Spangen. Sie sammeln beinahe so fleißig Wunden wie mein F... Der neue Chef der Butcher Bears."
"Es war etwas viel los in letzter Zeit. Weiter."
"Zweimal der Bronce Star?"
"Es hätte Silber sein sollen, aber mein ROM war fehlerhaft. Deshalb wurde ich nur für das ausgezeichnet was ich bewiesenermaßen geleistet habe. Nicht für das, was ich erreicht haben musste, was aber nicht auf den ROM zu finden war. Würden Sie mir zustimmen, dass ich nicht der grüne Junge bin, nach dem ich aussehe, Kali?"
"Ja, Sir, das würde ich."
Zufrieden registrierte Conti zum ersten Mal die respektvolle Anrede "Sir" von Kali. Es konnte doch noch was aus ihnen beiden werden. "Gut. Dann stellen Sie jetzt Ihre Frage."
"Warum wollten Sie nicht auf mich hören, Conti? Wenn wir die Dorniers aufgestellt hätten wie ich es vorschlagen wollte, dann hätten wir mehr Butcher Bears abgeschossen, vielleicht die Übung für uns werten können."
"Und was wäre dann geschehen, Kali?"
"Was? Ich verstehe nicht..."
"Und genau das ist auch das Problem. Sie haben in meiner Rekonvaleszenz hervorragende Arbeit geleistet. Sie haben die Jungs und Mädels gut trainiert und ihnen ein paar neue Tricks beigebracht. Ich bin hochzufrieden mit Ihrer Arbeit. Aber gerade Sie sollten wissen, dass Erfolg ein zweischneidiges Schwert ist. In letzter Zeit lief es etwas zu gut für die Dorniers. Kaum Verluste auf der letzten Feindfahrt, ein Angry Angel als neuer XO, ein paar neue Manöver und Kniffe... Ihr Selbstbewusstsein ist geradezu durch die Decke geschossen. Kurz und gut, sie mussten wieder auf den Teppich. Sie brauchten eine Niederlage."
"Sie brauchten eine Niederlage?" Kali dehnte diese Worte in Gedanken und rollte sie wie in einem Whiskyschwenker das Eis. "Inwiefern?"
"Arroganz ist für einen Piloten eine furchtbare Eigenschaft. Man bekommt sie mit den Schwingen im Übermaß verliehen. Gegen Arroganz ist nichts zu sagen, solange sie sich beweist. Aber wenn man arroganter ist, als man sich eigentlich leisten kann, fliegt man mit einem Bein schon den Sarg. Jetzt sind die Jungs und Mädels wieder etwas abgekühlt. Sie haben Fehler gemacht, und die Butcher Bears haben uns ordentlich eingeseift. Sie sind jetzt wieder in der Realität angekommen. Und sie sind alle ein bisschen sauer. Sie sind aufnahmefähig. Sie sind bereit, sich ihre Fehler anzusehen. Meinen Sie, Kali, das wären die Dorniers gewesen, wenn sie die Butcher Bears geschlagen hätten? Oder wenn sie ein Patt erreicht hätten?"
"Ha. Sie würden prahlen, dass sich die Balken biegen, und..." Nachdenklich sah Kali ihren Vorgesetzten an. "Sie sind ein gefährlicher Mann, Conti."
"Ich habe einen gewissen Ruf zu verteidigen, ja." Er erhob sich und trank seinen Kaffee aus. "Die Analyse, Kali."
"Ja, Sir." Sie trank ebenfalls aus und stand auf. Eine Medaille hatte tatsächlich zwei Seiten, und sie musste sich eingestehen, dass sie bei Conti bisher nur die Rückseite gesehen hatte, so wie Papa Bear sie geschildert hatte. Ihre Zeit beim Flying Circus würde wohl doch recht interessant werden, auch ohne dass sie ihre eigene Staffel bekam. Noch nicht.
Cattaneo
Ironheart
Sektion B-356, Provisorische Unterkünfte der Angry Angels
Victoria Station, Im Orbit um Seafort
Sterntor-System
Donovan wurde unsanft aus seiner Kajüte geklingelt. Als er an die Tür geschlurft war, stand vor ihm eine vor Wut schnaubende Mantis und blickte ihn so abfällig an wie immer.
„Du bist nicht an deinen Kommunikator gegangen.“
„Guten Morgen, Mantis. Schön dich zu sehen. Und nein, bin ich nicht, denn ich habe ja auch frei.“ Donovans Hochgefühl hielt seit nun einigen Tagen an, vor allem da sich er und Jean so häufig wie es ihre Dienstpläne erlaubten trafen. Natürlich nur unter dem Vorwand, dass er ihr beim Lernen half, doch das störte ihn überhaupt nicht und er freute sich auch den heutigen Abend mit ihr.
„Jetzt nicht mehr. Ich habe einen Auftrag für dich.“
Schwupps. Schon war das wohlige Gefühl wieder weg.
„Das kannst du nicht machen. Mir stehen noch etliche Stunden Rekreationszeit zu. Wenn das der Flight-Boss mitkriegt, könnte das ärgerlich werden, wenn Du verstehst, was ich meine.“
„Drohst du mir etwa?“
Donovan grinste breit. „Was ICH? Niemals… Würde mir nicht im Traum einfallen, wo denkst du hin, habe ich nie, werde ich nie und…“
„Klappe jetzt. Und lass das dämliche Grinsen…!“ Mantis schielte ihn schief von der Seite an. „Was ist eigentlich los mit dir? Du benimmst dich schon seit Tagen so merkwürdig. Wenn ich nicht genau wüsste, was du hier für eine jämmerliche Existenz fristest, würde ich meinen, du wärst gut gelaunt.“
Donovan antwortete nicht. Sein Lächeln wurde jetzt nur noch breiter. „Hach, liebe Nicole, ich bin tatsächlich gut gelaunt, sonst nichts.“
„Jaja, wer´s glaubt wird selig. Wahrscheinlich bist du nur wieder besoffen. Würde auch so zu dir passen. Und das obwohl wir Bereitschaft haben. Weißt du überhaupt was Bereitschaft ist?“
Jetzt wurde es Donovan doch zu bunt, gute Laune hin, gute Laune her. „Sülz mich nicht voll, Mantis. Ich weiss was Bereitschaft heisst. Komm zum Punkt und sag, was du von mir willst!“
„Hör mal gut zu, Affenclown.“ Seit dem Foto und seinem neuen Callsign benutzte Mantis diesen Ausdruck äußerst gerne, vor allem wenn sie sauer auf Donovan war. Und das kam ziemlich häufig vor. „Ich lass dich gleich in den Bau stecken und deinen Rausch ausschlafen…“
„Klingt gut.“
„Reiz mich nicht, Donovan. Glaub nicht, dass Du machen kannst, was Du willst, nur weil Lone Wolf gerade auf Manöver ist.“
Donovan wusste, dass Mantis es nicht bis zum äußersten treiben wollte, bedeutete so etwas ja auch, dass es schlecht auf ihren Führungsstil zurück fiel, wenn sie ihn arretieren liesse. Aber Donovan durfte seine zur Gewohnheit gewordenen Sticheleien auch nicht übertreiben, denn irgendwann würde der Bogen überspannt sein und er vielleicht doch noch im Bau landen.
„Also, fürs Logbuch, ich bin nicht besoffen und nun raus damit, was willst Du?“ Donovan wappnete sich innerlich auf schauerlich langweilige Schreibarbeiten und andere Absonderlichkeiten. Und er legte sich innerlich schon einige Ausreden zurecht, um diesen drögen Tätigkeiten entgehen zu können.
„Wir kriegen heute endlich unsere letzten Neuzugänge und ich will, dass Du sie abholst und rumführst.“
Jetzt wollte er ihr doch spontan auf das Hemd kotzen. „Ich soll Babysitter für dich spielen? Warum machst du das nicht selbst?“
„Ich hab schon genug zu tun.“
„Und Too-Tall?“
„Auf Patrouille“
„Artist?“
„Checkt die Maschinen durch.“
„Was ist mir der Neuen?“
„Titan?“
„Ja, die! Warte lass mich raten, sie lackiert sich grad die Fußnägel!“
„Quatsch, aber die ist selber noch neu bei uns. Und du gehst jetzt gleich die Frischlinge abholen, oder ich schicke dich auf Patrouille, Flight-Boss hin oder her, wenn du nicht in 15 Minuten fertig bist und dich auf dem Weg zu Hangar 27 machst. Haben wir uns verstanden?
Donovan verzog das Gesicht. Pest oder Cholera. „Ja, Ma´aaaaaaam.“
Mantis ignorierte die ironische Ansprache und liess den fluchenden Donovan in der offenen Tür zurück.
Doch kaum war sie um die Ecke, kehrte auch schon das Lächeln in Donovans Gesicht zurück. Was soll´s, würde er halt den Babysitter spielen. Hauptsache er konnte heute den Abend wieder mit Jean verbringen.
***
Shuttle-Hangar 27
Victoria-Station, Im Orbit um Seafort
Sterntor-System
2nd Lieutenant Anthony „Arrow“ Gant schulterte seinen Seesack und verließ das Shuttle, welches ihn von Seafort hierher befördert hatte. Der 24jährige, von New Boston stammende, und mit 1,88 recht hochgewachsene Pilot blickte sich kurz im Hangar um und schritt dann mit sicherem Schritt an die Wegweisetafeln, die im Hangar den Weg zu den Stationssektionen wiesen.
Als er die Tafel nach seinem Zielort, der Sektion B-356 absuchte, hörte er ein leises Gemurmel neben sich.
„B-356, B-356…“
Arrow drehte sich um und blickte einem halben Kopf kleineren, unscheinbar wirkenden jungen Mann ins Gesicht. Der Jüngling, dem Arrow vom reinen Aussehen her keine Volljährigkeit zugestanden hätte, trug eine bei Fliegern seit Jahrhunderten traditionell übliche Fliegerjacke aus Leder über seiner Uniform. Den Abzeichen auf dem Ärmel entnahm er, dass er es mit einem Absolventen der Jobana Space Flight Academy – einer unbedeutenden Raumjägerakademie eines ebenso unbedeutenden Provinzplaneten – zu tun hatte. Offensichtlich hatten sie beide dasselbe Ziel: Die Angry Angels!
Der junge Pilot bemerkte, dass er beobachtet wurde und blickte jetzt zu Arrow hinüber, freundlich lächelnd. „Kann ich helfen?“
Auch wenn Arrow es nicht zugeben wollte, war das Lächeln irgendwie ansteckend. Er nickte knapp zurück. „Sektion B-356? Angry Angels?“
Das Lächeln des anderen Piloten, dessen Namensschild ihn als 2nd Lt. J. Scott ausgab wurde noch eine Spur breiter. „Ja, Angry Angels. Willst du da etwa auch hin?“ Arrow nickte knapp. „Mannomann, was für ein Zufall, oder? Das wir uns hier schon treffen? Ich bin Josiah, Josiah Scott, Callsign Sonnyboy.“
`Na das war doch mal ein passender Name` dachte Arrow.
Gerade als er sich vorstellen wollte, sprach sie noch jemand von der Seite an. „Entschuldigung…" Arrow brauchte nur dieses eine Wort zu hören, um zu wissen, dass der Neu-Ankömmling aus Deutschland stammen musste, oder zumindest deutschstämmig war. Das schnarrende, abgehackte Englisch war unverkennbar. „Habe ich gerade richtig gehört, dass ihr beide auch zu den Angry Angels wollt?“
Sonnyboy war wieder in seinem Element. „Ja, oh Mann, noch Einer! Gibt´s ja gar nicht.“
Der Deutsche stellte sich als Kai „Dog“ Schäfer vor und Arrow hatte das Gefühl, dass nicht viel fehlen würde, und die beiden würden sich um den Hals fallen.
„Und welche Staffel?“ fragte Sonnyboy, nur um dann fast schon in Jubel auszubrechen, als Dog mit einem „Rote“ antwortete. „Whoaw, ich auch. Und Du, auch Rote Staffel?“
Arrow seufzte. „Ja, ich auch Rote Staffel.“
Sonnyboy formte eine Faust und rief „Yes!“, als ob er einen Preis dafür gewonnen hätte.
Aus der Sicht einer Mehrzahl der Menschen um ihn herum, war Sonnyboy einfach nur super nett. Doch nicht aus Arrows Sicht. Für ihn war der junge Pilot entweder einfach nur naiv, hyperenthusiastisch oder minderbemittelt. Oder auch alles zusammen. Bei seinem Glück würde er sein zukünftiger Zimmerpartner werden. Doch bevor er sich noch weitere Gedanken darüber machen konnte, meldete sich schon wieder eine weitere Stimme.
„Hey Guys, ich stör ja ungerne bei eurer Familienzusammenführung, aber hab ich da grade was von den Roten der Angry Angels gehört?“
Arrow war gar nicht überrascht, dass Sonnyboy den weiteren Neuankömmling ebenfalls überschwänglich begrüßte. Der vierte im Bunde hieß Billy „The Kid“ Laramy und schien seinem Akzent nach zu vernehmen aus den ehemaligen Südstaaten des nordamerikanischen Kontinents auf Terra zu kommen. Dieser Eindruck wurde noch verschärft durch den lächerlichen Cowboy-Hut, den der Pilot trug.
Arrow betrachtete seine drei neuen Staffelkameraden aufmerksam und hörte ihnen zu wie sie sich gegenseitig vorstellten und ihre Nervosität durch Geplapper zu kaschieren versuchten. Die Fakten, die sich bei Arrow sofort einprägten waren die folgenden:
2nd Lt. Josiah „Sonnyboy“ Scott, der jüngliche Sonnenschein, der ihn als erstes begrüßt hatte, war fast 1,8 groß, 21 Jahre alte, stammte aus irgendeinem kanadischen Kaff von Terra und gab soger freimütig zu, dass er es nur an die Jobana Space Flight Academy geschafft hatte, da er für die anderen Academies zu schlecht gewesen war. Sonnyboy kam nun direkt von der Akademie, was ihn noch eher zum Kanonenfutter machte, da er damit keinerlei Kampferfahrung mitbrachte. Wie er unter diesen Aspekten es geschafft hatte einen Platz bei den Angry Angels zu bekommen, war Arrow ein Rätsel. Es schien so, dass selbst Elitestaffeln wie die AA nicht mehr nur die Besten bekamen. Auf der anderen Seite war das Arrow auch wieder Recht. Je mehr unterdurchschnittliche Piloten es gab, umso eher würde er seinem Ziel einer schnellen Karriere folgen können.
Als Mensch war Sonnyboy aber sicher der Traum einer jeden Schwiegermutter! Er schien ein freundlicher, ausgeglichener, ehrlicher, höflicher und lustiger Kerl zu sein, der die natürliche Gabe zu besitzen schien sich mit jedem schnell anzufreunden.
2nd Lt. Kai „Dog“ Schäfer stammte aus Neu Lübeck von der Janos Kolonie. Der deutschstämmige Schäfer schien ebenfalls ein höflicher, sehr hilfsbereiter, kameradschaftlicher junger Mann zu sein, allerdings nicht ganz so euphorisch wie Sonnyboy. Kai gab nicht ganz so viel von sich preis, nur noch das er von der Nimitz kam und bislang noch keinen Abschuß vorzuweisen hatte. Auf seine Frage, warum Dog von der Nimitz weggegangen war, erhielt Arrow keine Antwort. Auch das war in seinen Augen nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Somit stufte Arrow auch diesen Piloten als höchstens durchschnittlich ein.
Der dritte Pilot war 2nd Lt. Billy “The Kid” Laramy, 22 Jahre, 1,75 groß, und stammte tatsächlich aus Texas, Terra, von einer Ranch, daher auch der Name Billy The Kid. Aufgrund seiner Herkunft wurde er auch häufig Space Cowboy genannt und kommentierte mit breitem Grinsen, dass die damit einhergehenden Vorurteile auch voll und ganz zutreffen würden. Um das gänzlich zu unterstreichen, schlug er direkt ein Texas Hold´em Poker Spiel vor, sobald sie sich eingelebt hätten.
Aus Arrows Sicht schien Billy ein simpel gestrickter, bodenständiger, geselliger Typ zu sein, der zwar wohl nicht der allerhellste zu sein schien, aber offenbar immerhin noch schlau genug um einen Raumjäger fliegen zu dürfen. Wie gut er war, war sicher noch abzuwarten, aber alles in allem war auch Kid nur Durchschnitt.
Arrow schoss ein Gefühl der Enttäuschung durch den Kopf. Er hatte sich etwas anderes vorgestellt, als er seinen Wunsch zu einer Elitestaffel gehen zu dürfen geäußert hatte. Wenn nun schon ein Viertel seiner neuen Staffel durchschnittlich war, mussten die übrigen Mitglieder der Staffel schon außergewöhnlich gut sein, um das wieder rausreissen zu können.
Die drei anderen Piloten hatten sich nun zu ihm umgedreht un schauten ihn neugierig an, begierig nun auch von Ihm einen kurzen Abriss seines Lebenslaufes zu hören.
Arrow seufzte, war ihm doch bewußt, das er die alberne Neugier seiner Staffelkameraden früher oder später ohnehin befriedigen mußte. Also konnte er sie auch jetzt gleich einweihen, mit wem sie es zu tun haben würden.
Anthony Gant erwähnte, dass er 24 Jahre alt war und von New Boston stammte. Das er mit seinen 1,88 alle übrigen Piloten um mindestens einen halben Kopf überragte, brauchte er nicht zu erwähnen, denn das sahen die übrigen ja sicher selbst.
Gant war sich seiner Überlegenheit in allen Belangen gegenüber seinen drei zukünftigen Staffelkameraden bewußt, und diese Überlegenheit wurde durch ein sehr gutes Aussehen und einen drahtigen, gut durchtrainierten Körper noch unterstrichen.
Einzig im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen hatte Arrow seine größte Schwäche. Seine überragende Intelligenz und sein überdurchschnittlicher Fleiß hatten ihn während seiner akademischen Ausbildung stets eine Aussenseiterrolle zufallen lassen. Er war als Klugscheisser, Pauker und arroganter Streber verschrien und Anthony hatte sich auch nie Mühe gegeben, diesen Eindruck durch vorgetäuschte Geselligkeit zu zerstreuen. So ließ sich letztlich auch sein Callsign erklären, welches für sich allein gestellt keine Besonderheit darstellte, de facto war es eines der häufigsten in den Streitkräften. Aber in Kombination mit seinem Nachnamen gesehen, konnte man erkennen, dass er unter seinen Kameraden nicht sonderlich beliebt gewesen war.
Doch das alles behielt er für sich, wahrscheinlich würden das seine neuen Kollegen ohnehin sehr bald herausfinden und ihn mit dergleichen Mischung aus Neid und Missgunst ablehnen.
Also blieb er bei den reinen Fakten. Offiziersausbildung in West Point, Abschluß Summa cum Laude. Die anschließenden zahlreiche Angebote von Stabspositionen in der Verwaltung der Streitkräfte hatte er ausgeschlagen, weil er wusste, dass er nur wirkliche Karriere würde machen können, wenn er auch Kampfeinsätze vorweisen könnte. Und wenn er vor drei Jahren in den Stabsdienst gegangen wäre, hätte er keine Garantie haben können, dass der Krieg überhaupt noch so lange dauern würde.
Auf der anderen Seite war aber eine seiner anderen Leidenschaften die Fliegerei und der Weltraum, und die Aussicht auf den Adrenalin-Kick eines Jagdpiloten brachte ihn schliesslich zur seiner einzigen möglichen Alternative, auch wenn diese ihn ebenfalls drei Jahre vom Krieg fern hielt. Also absolvierte er eine Ausbildung zum Raumpilot auf den Markham Fields, die er fast schon erwartungsgemäß als Jahrgangsbester abschloss. Er war zwar nicht der beste Pilot gewesen, auch wenn er diesen Punkt unter den Top 10 abschloß, aber in Kombination mit seinen überragenden akademischen Fähigkeiten katapultierte er sich auf den ersten Platz und hatte sich als Belohnung seine zukünftige Einheit aussuchen dürfen. Natürlich lagen die Elitestaffeln der TSN auf seiner Wunschliste ganz oben, und damit auch die berühmten Angry Angels. Diese waren allerdings nicht seine allererste Wahl gewesen. Zum Beispiel hätten ihn die Ravens, Marauders oder Death Merchants mindestens genauso gereizt. Doch diese Einheiten waren im Moment auf Feindfahrt und die Angels waren gerade von einem blutigen Einsatz – der sie über Tukama und die Karrashin-Doppelschlacht geführt und ihren Ruhm noch weiter verstärkt hatte – nach Sterntor zurückgekehrt. Jetzt brauchte die Einheit dringend neue Piloten, doch wie es schien waren sie leider nicht ganz so wählerisch, wie er es gehofft hatte.
Anthony Gant war sich seiner Gedankengänge nicht vollends bewußt, sonst wäre ihm vielleicht aufgefallen, wie sehr seine Callsign-Namenskombination auf ihn zutraf. Aber es wäre ihm wohl auch so egal gewesen. Bisher hatte er keinen Kameraden getroffen, der seinen Respekt verdient hatte. Und selbst bei seinen bisherigen Ausbildern war kaum einer dabei gewesen. Wie sollte er auch jemanden respektieren können, der ihm unterlegen war. Und aufgrund seiner Intelligenz, seines Fleisses und seines Ehrgeizes waren das nun mal 99% aller Menschen, die ihm bislang begegnet waren. Der einzige Ausbilder auf Markham, der sich seinen Respekt verdient hatte, war Blackhawk gewesen, der als Staffelführer zu den Angels gegangen war. Auch wenn Blackhawk sich nicht offensiv dafür eingesetzt hatte, Gant zu den Angels zu holen, war das dennoch ein weiterer Grund für ihn die Angels zu wählen.
Als Arrow seine Vorstellung beendet hatte, blickte er seine neuen Kameraden in Erwartung der üblichen Reaktion aus Neid und Missgunst an.
Es war Sonnyboy, der als Erster etwas sagte. „Du hast West Point und die Markham Fields abgeschlossen? Beide mit Auszeichnung?“
Arrow nickte knapp und erwartete die übliche Ablehnung. Und wurde daher von der tatsächlichen Reaktion des anderen Piloten vollkommen überrascht. Sonnyboy trat an ihn heran und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. „Wow, das ist ja beeindruckend. Es wird mir eine Ehre sein, mit dir zu fliegen.“
Arrow war perplex und seine Augen schlossen sich einen Augenblick zu Schlitzen. Er versuchte Ironie oder Sarkasmus aus der Miene von Sonnyboy zuerkennen, doch wie es schien, war dieser tatsächlich hoch erfreut. Entweder das oder er war ein verteufelt guter Schauspieler. Aber vielleicht war Sonnyboy auch einfach nicht ganz normal.
Daher glitt Arrows Blick hinüber zu Dog und The Kid, doch die beiden lächelten ihn auch einfach nur freundlich an. „Wenn jemand mit deinen Abschlüssen, mit uns fliegt, dann brauchen wir uns ja um die Zukunft der Angels keine Sorgen zu machen.“ grinste The Kid, der zwar nicht ganz so euphorisch wie Sonny war, aber zumindest trotzdem Respekt vor Gants Leistung zeigte.
„Wichtig ist nicht, welche ABSCHLÜSSE er hat, sondern ob er ABSCHÜSSE hinkriegt.“ Die dunkle Stimme, die aus ihrem Rücken kam, liess die vier Piloten umdrehen und direkt salutieren, als sie erkannten, dass sie es mit einem First Lieutenant in der schlichten Arbeitsuniform der Angry Angels zu tun hatten. Der ältere Offizier – Arrow schätzte ihn auf mindestens Mitte Dreissig – trug einen Drei-Tage-Bart und auch sonst entsprach sein äußeres Erscheinungsbild mit der leicht zerknitterten Arbeitsuniform nicht gerade dem eines Vorzeigeoffiziers. Doch der stahlharte Blick und die harten Gesichtszüge ließen keine Zweifel daran, dass dieser Pilot durch einige Schlachten gegangen war, viel erlebt haben musste und wahrscheinlich einer der Veteranen der Angels sein musste.
Er schritt die vier stramm stehenden Männer der Reihe nach ab und musterte jeden von Ihnen für einen kurzen Augenblick.
Arrow war sauer auf sich, dass ihm und den anderen der zuhörende First Lieutenant in ihrem Rücken nicht aufgefallen war. Das verstärkte sich noch eher als der Pilot mit dem Namensschild Cartmell fortfuhr.
„Rühren! Wer von Ihnen kann mir erklären, warum sie hier ein spontanes Schwätzchen halten, anstatt direkt zu den Quartieren der Angry Angels zu marschieren?“
Keiner der vier Piloten antwortete und alle behielten den starren, in die Ferne gerichteten Blick bei.
Nach dem ein paar unbequeme Sekunden verstrichen waren, entschloss Gant zu reagieren, wie es schien waren die anderen soundso zu unsicher um zu antworten.
„Sir, wir wurden instruiert hier auf einen Vertreter der Angels zu warten. Wenn wir gewußt hätten, dass es Ihnen lieber gewesen wäre, Ihnen entgegen zu gehen, hätten wir dies getan.“
Das entsprach zwar nicht vollends der Wahrheit, denn sie waren schliesslich erwachsene Männer und ausgebildete Piloten, die durchaus in der Lage waren auch alleine den Weg zu finden. Und es hatte ihnen auch niemand gesagt, dass sie abgeholt werden würde. Aber da ja offensichtlich jemand den verärgerten 1st Lieutenant hierher geschickt hatte, schien es durchaus im Rahmen des möglichen zu stehen, dass Arrow mit dieser Behauptung durchkommen konnte.
Cartmell blickte Gant einen Augenblick durchdringend an, „Ist das so?“
`Jetzt nicht die Nerven verlieren.` Gant starrte weiter gerade aus und liess sich nicht locken. Er hoffte jetzt nur, dass seine Kameraden da mitziehen würden und ihm jetzt nicht in den Rücken fallen würden.
„Ja, Sir.“ antworteten Dog, Kid und Sonnyboy unisono und zogen damit mit Gant mit statt ihm in den Rücken zu fallen. Gant war erleichtert und begann sich zu Fragen, ob diese neuen Staffelkollegen doch anders als die bisherigen Kameraden waren, die er auf den Akademien gehabt hatte? In einer Kampfstaffel gab es sicher auch Rivalitäten, vor allem wenn es um die Karriereleiter ging. Aber es hing ja – anders als auf der Akademie – ihr gegenseitiges Leben voneinander ab. Und das konnte vielleicht auch stärkere Kameradschaft mit sich bringen? Das war zwar noch eine Sache, die sich würde zeigen müssen. Doch Gant nahm sich vor in Zukunft etwas milder in seinem Urteil über diese vier Piloten zu sein.
Inzwischen blickte der 1st Lieutenant die vier noch einmal an, zuckte dann aber mit den Schultern, jetzt mit einem Lächeln im Gesicht. „Na gut, was soll´s, belassen wir es dabei. So habe ich wenigstens schon jede eurer Lebensgeschichten gehört. Ich bin Donovan Cartmell, Callsign No… ähm… Stuntman. Willkommen bei den Angry Angels, Männer!“
Sonnyboy trat vor und schüttelte Cartmell enthusiastisch die Hand. „Danke, dass Sie uns abholen, Sir. Ich bin Josiah Scott, Callsign Sonnyboy. Ich kann es kaum erwarten mehr von den Angels zu erfahren. Waren Sie bei Tukama dabei? Und bei Karrashin? Und haben Sie…“
Gant konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, und blickte sich zu Dog und The Kid um, die beide zurück grinsten und die Augen verdrehten, während sie hinter Lt. Cartmell und Sonnyboy zu den provisorischen Quartieren der Angry Angels gingen.
The Kid zwinkerte Gant an und flüsterte leise: „Danke, dass Du unseren Hintern gerettet hast!“
„Danke, dass ihr mir den Rücken freigehalten habt!“
The Kid lächelte zurück und Gant war sich sicher, dass ihnen kaum etwas passieren könnte, wenn sie auch im All so zusammen halten würden.
Er konnte noch nicht wissen, wie sehr er sich damit irren würde.
***
`Mein Gott, was bin ich alt geworden!?`
Nachdem der erste Fragenschwall von Sonnyboy abgeklungen war, hatte sich Donovan nochmal ein kurzes Bild über seine neuen Staffelkameraden gemacht. Als Donovan mit den neuen Piloten der Roten Staffel in Richtung ihrer Quartiere ging und er in ihre jungen Gesichter blickte, fiel ihm das erste Mal seit langem wieder auf, dass er mit seinen 35 Jahren deutlich älter als dieser Haufen Frischfleisch war. Die Bewegungen der vier waren durchaus nervös, aber vibrierten förmlich voller Ennergie und Tatendrang. In ihren Mienen erkannte einen Hauch von Sorge und vielleicht auch Angst – auch wenn sie es nie zugeben würden – aber auch eine gehörige Portion Optimismus und Zuversicht. In ihren Augen entdeckte er eine gewisse jugendliche Naivität aber dennoch ein gehöriges Maß an Selbstbewußsein und – vor allem in Arrows Blick – eine ordentliche Portion Arroganz.
Auf der einen Seite war er froh, das alles schon seit langer Zeit hinter sich zu haben. Und dennoch war er neidisch auf ihre schier unbändige Energie. Donovan war auch einmal so gewesen, auch wenn es Jahrhunderte her zu sein schien, aber er konnte sich noch gut an seine ersten Tage auf der Gallipoli unter Lone Wolf als Wingleader erinnern. Doch wo waren seine Energie, seine Zuversicht und sein Selbstbewußtsein bloß hin.
`Zerschlagen von Piraten, Zerstört durch die Navy, Zerrieben von der Zeit` dachte er bitter. Doch im nächsten Augenblick schüttelte er lächelnd den Kopf. `Ach was soll´s, sollen doch die anderen Karriere machen.`
Er hatte im Augenblick nur zwei Ziele: Er wollte Jean Davis für sich gewinnen und diesen verfluchten Krieg überleben. Alles andere war ihm nicht mehr wichtig. Und diese Erkenntnis half ihm den Tag positiv zu sehen, denn heute Abend würde er Jean Davis wieder sehen. Und was sollte ihm im Sterntor-System schon passieren?
Donovan konnte es in diesem Augenblick nicht wissen, aber es würde noch die Zeit kommen, in der er bei beiden seiner Ziele empfindliche Rückschläge erleiden würde.
Auch wenn Donovan dachte, dass das Schicksal ihm nicht mehr viel antun konnte, war das Schicksal ein höllisches Biest, das ihn mal wieder nicht so leicht davon kommen lassen wollte.
Cattaneo
Tyr
Die ewige Stadt von Pan'chra, Akar
Pan’chara war schon groß gewesen, lange bevor der erste Akarii die Grenzen seiner Heimatwelt hinter sich gelassen hatte. Groß und uralt, noch bevor die Imperatoren alle Kontinente und Länder von Akar unter einem Banner vereinigten. Wer Pan’chra betrat, der ATMETE Geschichte – imperiale Geschichte.
In den alten Sagen aus der Frühzeit des Imperiums waren die Straßen der Hauptstadt mit Gold gepflastert. Oder mit Dolchen.
‚Gold sehe ich jeden Tag genug. Und was die Dolche angeht…die brauche ich nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie blankgezogen wurden.’
Ciara Koo war nach ihrer Privataudienz bei Prinzessin Linai nicht wieder auf ihren Posten auf Damar Zwei zurückgekehrt. Stattdessen hatte die Regentin sie ohne weitere Erklärung in ihr Gefolge übernommen, und dafür gesorgt, dass sie auf einen respektablen Posten im Kolonialministerium versetzt wurde. Allerdings handelte es sich dabei Ciaras Meinung nach um einen jener Karriereposten, die dazu dienten, die nur mittelmäßig talentierten Sprösslinge wichtiger Familien zu versorgen. So hatte sie im Augenblick ziemlich viel freie Zeit.
Linais Entscheidung hatte Ciara überrascht, und sie war immer noch nicht so ganz sicher, was die Regentin zu diesem Schritt bewogen hatte. Wollte sie demonstrieren, dass die Koo-Familie bei ihr jetzt wieder hoch im Kurs stand? Das wäre ein Signal gewesen, das nicht nur Ciaras Familie, sondern auch einige mit dieser verbündete Häuser und eine ganze Anzahl ehemaliger Frondeure durchaus positiv aufgenommen hätten.
Oder wollte die Prinzessin ein jederzeit verfügbares Faustpfand – nicht nur gegenüber der Koo-Familie, sondern auch gegenüber Linais entfernten Verwandten, Vizeadmiral Taran? Gewiss, Taran hatte ihr seine Loyalität versichert. Aber solche Schwüre waren schon in der Vergangenheit immer wieder gebrochen worden.
Wollte sie einfach zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?
Oder verfolgte sie irgendein anderes, weniger offensichtliche Ziel?
Ciara wusste es nicht. Nur eins wusste sie ganz genau. Linais Entscheidung war jedenfalls nicht nur das Ergebnis einer Laune gewesen.
Nicht, dass sie wirklich unzufrieden mit der Entwicklung war. Auch wenn man Damar Zwei die ‚Blumenwelt’ nannte, mit dem mondänen, luxuriösen, und gleichzeitig doch von jahrhundertealten Traditionen und dem grimmigen Stolz des alten Imperiums getränkten Flair Pan’chras konnte Damar nicht mithalten. Hier war Ciara groß geworden, hier hatte sie ihre schönsten Jahre verbracht.
Und auch wenn die Arbeit als Stellvertreterin des Vizegouverneurs sowohl interessant, als auch ihrer Karriere förderlich gewesen war, mit einem Platz so nahe am Puls der Macht war sie nicht zu vergleichen. Zumindest jetzt nicht, in diesem Augenblick, da die Karten neue verteilt wurden, und das Spiel der Clans begonnen hatte.
Der Thron des Imperiums war leer. Eliaks Tod hatte eine Leerstelle hinterlassen – und die Natur hasste Lücken. Sie mussten aufgefüllt werden.
Dieser Gedanke jagte ihr immer noch einen kalten Schauer über den Rücken. Sie war im Schatten zweier großer Männer geboren worden – ihrem Großvater, und dem alten Imperator. Beide hatten so lange die Geschicke des Reiches bestimmt, dass es Ciara – und zahllosen anderen Bewohnern des Imperiums – fast unmöglich schien, sich einen Anderen auf dem Thron und an der Spitze der Streitkräfte vorzustellen. Jors Intermezzo als Großadmiral war nur flüchtig gewesen, überschattet von zu vielen Katastrophen und Rückschlägen, und von dem beinahe Unvorstellbaren – Offizieren, die sich gegen den designierten Imperator verschworen, und dann mit dem Gestus und dem Selbstverständnis von Patrioten in die Verbannung oder an die Front gegangen waren.
Als Jor dann in dem vom Reich abgeschnittenen Draned-Sektor verschollen war, mussten selbst die größten Optimisten erkennen, dass sich seine Ära dem Ende zuneigte. Ein Oberbefehlshaber, der von dem Gegner gejagt wurde wie angeschossenes Wild…
Und Lay Rian…was Rian bringen mochte, das wussten nur die Götter. Mancher mochte fürchten, dass es unter ihr noch schlimmer werden würde. Andere sahen in ihrer Berufung einen Hoffnungsschimmer – und sei es nur deswegen, weil sie nicht Jor war. Für andere verkörperte sie – wie der alte Imperator, wie Nahil Koo – eine frühere, eine bessere Epoche, die im Rückblick wie ein Goldenes Zeitalter erscheinen musste. Eine Zeit, da es noch unvorstellbar schien, dass die imperiale Flotte und Armee jemals eine Schlacht – oder gar einen Krieg – verlieren könnte.
Der heutige Tag war dem Gedenken an die Thronbesteigung des verstorbenen Imperators gewidmet. Eigentlich hätte dieser Tag mit großem Pomp und jedem nur erdenklichem Luxus begangen werden sollen, so wie in jedem Jahr. Der Tod des Herrschers hatte diesen Plänen und Erwartungen ein jähes Ende gesetzt.
Dennoch hielt es die Regentin offenbar für nicht zweckmäßig, den Tag ungenutzt verstreichen zu lassen. Die öffentlichen und die ‚privaten’ Holokanäle widmeten sich überwiegend mehr oder weniger gelungenen Elegien des verstorbenen Herrschers, doch eine ganze Anzahl von Kameras – und Millionen, wahrscheinlich Milliarden von Augen – waren auf Regentin Linai Thelam gerichtet. Offenbar hatte sie vor, sich ins Gespräch zu bringen, indem sie Andere nach vorne schob.
Wenn schon über ganz Pan’chra der Atem der Geschichte wehte, dann gab es einige Orte und Gebäude, an denen er besonders stark war. Die alte imperiale Triumphstraße war einer dieser Orte, gleich nach dem kaiserlichen Palast. Die Straße durchschnitt die Stadt wie mit dem Lineal gezogen. Auf ihrem harten Pflaster durften keine Fahrzeuge fahren. Selbst Imperatoren betraten sie nur zu Fuß – oder in einer Sänfte, wenn ihre Gesundheit das erforderte. An den Rändern der acht Schritte breiten Prachtstraße reiten sich in schier endloser Folge all jene Herrscher, die jemals auf dem imperialen Thron gesessen hatten. Einige der ältesten Statuen waren nur Kopien längst verschollener Kunstwerke. Und einige der Männer, die aus kalten Steinaugen auf die Passanten herabstarrten, hatten möglicherweise niemals regiert, außer in den Sagen und Legenden der Antike. Sicherlich idealisierten einige der Bildnisse die Männer, die auf dem Thron gesessen hatten. Manche von ihnen hatten nur wenige Tage, in einem Fall sogar nur ein paar Stunden regiert. Einige waren über die Leichen ihrer Vorgänger auf den Thron gelangt, durch Verrat, Intrigen und blutige Kriege. Dennoch standen sie hier Seite an Seite. Die Straße hatte sie alle gesehen, und die Herrschaft das Imperiums war seit Jahrtausenden so gefestigt, dass sich die Herrscherfamilie den Luxus leisten konnte, ALLEN Imperatoren die Ehre der Ewigkeit zu gewähren – selbst wenn einige dieser Männer ihr Leben unter den Waffen und Richtschwertern eben jener Familie verloren hatten, die nun den Thron innehatte.
Im Gegensatz zur Triumphstraße war der Park der siegreichen Schlachten, der Toten-doch-Unvergessenen kein Ort für Paraden und Massenprozessionen. Kein Triumphzug passierte ihn auf seinem Weg zum Palast. Und doch träumte jeder, dem jemals ein Triumph gewährt worden war, dass seine Statue eines Tages den Park zieren würde.
Der Park war sehr weiträumig gehalten, und erstreckte sich über verschwenderische sechzehn Quadratkilometer. Man hatte davon abgesehen, die Landschaft zu zähmen. Hügel, Wasserläufe, Baumgruppen und Sträucher boten ein erstaunlich natürliches Bild, in das sich die Statuen, die dem Park seinen Namen gegeben hatten, mehr oder weniger harmonisch einfügten.
Allerdings war der gebräuchlichste Name dieses Ortes – ‚Park der Siegreichen Schlachten’ - etwas irreführend. Es reichte nicht, eine Schlacht gewonnen zu haben, um hier Aufnahme zu finden. Oh ja, der Name jedes Generals oder Admirals, der im Verlauf einer siegreichen Schlacht oder Kampagne mehr als fünfzigtausend Feinde getötet hatte, wurde in eine Platte aus Titanstahl gemeißelt, und in die drei Schritt hohe Mauer eingelassen, die den Park umschloss. Doch das war nur eine Unsterblichkeit aus dritter Hand. Angeblich war diese Form der Ehrung überhaupt erst von einem längst verblichenen Imperator eingeführt worden, der es nicht ertragen konnte, dass sein geliebter, in einer Schlacht gefallene Sohn weder als Imperator noch als ‚Toter-doch-Unvergessener’ im Gedächtnis bleiben würde.
Denn es bedurfte weitaus mehr als eines Sieges, damit man sich der Gruppe jener zugesellen konnte, die unvergessen blieben. Im Park selber fanden nur diejenigen Aufnahme und ewiges Gedenken, die einen Krieg gewonnen hatten. Hier waren all jene Kriegsherren, Admiräle und Generäle versammelt, die eine Schlacht geschlagen hatten, die Bezeichnung ‚Entscheidungsschlacht’ verdienten.
Einige dieser Schlachtenlenker konnte man auch auf der imperialen Triumphstraße finden.
Imperatoren, die zu einer Zeit gelebt hatten, da es für den Herrscher des Imperiums noch möglich, ja selbstverständlich war, einen Krieg nicht nur zu befehlen, sondern auch selber zu führen.
Kronprinzen, die sich als geniale Generäle verewigt hatten, bevor sie den Thron bestiegen – und sich in mindestens drei Fällen als katastrophale Herrscher erwiesen.
Und Kriegsherren, denen das Adelsforum später den Thron angetragen hatte, die von früheren Imperatoren adoptiert und zum Erben bestimmt worden waren – oder die mit der Macht des Siegers nach dem Thron gegriffen, und auch diesen Feldzug zumindest zeitweise gewonnen hatten.
Der Park war denkbar ungeeignet für Massenveranstaltungen und pompöse Zeremonien. Aber möglicherweise war das auch Absicht gewesen. So wurde vermieden, dass das Gedenken an jene, die die Kriege gewonnen hatten, mit der Erinnerung an jene konkurrieren konnte, die ihnen befohlen hatten, in die Schlacht zu ziehen. Nicht wenige der Feldherren waren aus dem niedrigen Adel, oder gar der einfachen Bevölkerung emporgestiegen. Mindestens zwei waren sogar ehemalige Sklaven gewesen.
Die Weisheit von Imperator Aran hatte dafür gesorgt, dass man sich an diese Männer und Frauen erinnerte, ohne sie auf eine Stufe mit den von den Göttern erwählten und durch ihre kaiserliche Macht geheiligten Herrscher zu stellen. Der Park war ein Ort für ein stilles, individuelleres Gedenken, für Spaziergänger und Schulklassen. Relativ nahe am Palast gelegen, war dieser Ort außerdem ein beliebtes Ausflugsziel für die Palastjugend geworden. Man traf sich ‚bei der Wegkreuzung der vier Generäle’, ‚bei Threats Statue’, bei ‚Schiefmaul’ oder ‚Zweiklaue’. In diesem Park übten die jungen Männer – und auch nicht wenige Frauen – des Adels den Umgang mit dem Drehh und dem Sirash. Und unter den kalten, steinernen Augen der Toten-doch-Unvergessenen wurden bis in die Gegenwart blutige Duelle arrangiert – wobei es als Gipfel der Dekadenz und des schlechten Geschmacks galt, sich mit Feuer- oder gar Energiewaffen zu duellieren.
Meistens allerdings diente der Park wesentlich unblutigeren Aktivitäten. Ciara Koo erinnerte sich an gut ein paar ganz besondere Gelegenheiten, als sie den Park zusammen mit ihrem Verlobten erkundet hatte. Es gab hier eine ganze Reihe sehr verschwiegener Ecken…
Nicht, dass sie viel Gelegenheit gehabt hatten, sich besser kennen zu lernen.
Aber der heutige Anlass war ein weitaus ernsthafter. Vorsichtig beugte sie sich vor, und drapierte die einzelne, weiße Blüte auf dem steinernen Sockel. Dann richtete sie sich vor, verschränkte die Hände vor der Brust, neigte den Kopf, und schloss die Augen. Sie war zwar nur eine laxe Gläubige, doch einige Gelegenheiten verlangten einfach nach einem Gebet. Außerdem konnte es natürlich sein, dass jemand sie sah. Und als Enkeltochter eines Großadmirals, der einer der ältesten Familien des Hochadels entstammte, musste sie gewisse Erwartungen erfüllen. ‚Was würdest du sagen, wenn du wüsstest, wie es um uns steht, Großvater? Wärst du froh zu hören, dass Lay Rian deine Nachfolge angetreten hat? Dass wir die Konföderation geschlagen haben? Du hättest es verdient, mit Zuversicht im Herzen zu sterben.
Und was würdest du empfinden, wenn du von Jors Tod erfahren hättest? Freude? Trauer?’ Nun ja, wenn man den Worten der Priester und den Überlieferungen glaubte, dann würden Jor Thelam und Nahil Koo sich wieder begegnen, jenseits der Sternenleere.
Sie strich mit ihrem Handrücken kurz über den kalten, unnachgiebigen Stein, in den Nahil Koos Name eingemeißelt worden war. Der Großadmiral hatte verfügt, dass man nach seinem Tod die Asche in dem Sockel der Statue zur ewigen Ruhe bettete, wie es sein traditionelles Recht war. ‚Wo du auch bist, Großvater, ich hoffe, dass du auf uns aufpasst. Auf das Imperium. Auf deine Familie. Auf `Kas. Ich weiß, du hast ihn gemocht.’
Ciara blickte sich um. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, hier Yelak Taran zu treffen, den jüngeren Bruder ihres Verlobten. Sie hatte gehofft, unter vier Augen erfahren zu können, ob es Neuigkeiten aus dem Draned-Sektor gab. Aber er schien sich zu verspäten. Das passte so gar nicht zu ihm.
„Erwarten Sie jemanden, Lady Koo?“ Die joviale, ein klein wenig spöttische Stimme ließ sie unwillkürlich zusammen zucken. Sie hatte diese Stimme schon einmal gehört.
Rallis Thelam war etliche Jahre älter als sein Cousin Jor, und hatte wie dieser die Militärakademie von Akar besucht. Aber damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf.
Zum Beispiel war Rallis noch am Leben. Außerdem hatte er nach dem Abschluss seiner militärischen Ausbildung und einem weitestgehend ereignislosen Intermezzo im Verwaltungsstab der Flotte sehr schnell die Streitkräfte hinter sich gelassen, und Karriere im Wirtschaftsministerium gemacht. In informierten Kreisen galt es als fast sicher, dass er spätestens in ein paar Jahren zum kaiserlichen Minister aufsteigen würde. Gewiss, er hatte nicht so eine steile Karriere wie Jor absolviert, und einige mochten ihn eher für ein politisches Mittelgewicht halten, dem noch etwas an Erfahrung in einer echten Kommandorolle fehlte – aber dafür hatte er sich auch nicht so viele Feinde gemacht, wie der Kronprinz.
Jor war hoch gewachsen gewesen, schlank und arrogant. Rallis hingegen war bestenfalls von durchschnittlicher Größe, und massig gebaut, ohne jedoch fett zu wirken. Er schien immer ein Lächeln auf den Lippen zu tragen, und galt als gewandter Schwerenöter. Eigentlich nicht die Sorte von Mann, mit der eine junge, unverheiratete Adlige allein sein sollte. Nicht, dass sie wirklich alleine waren…
Denn der Thronprätendent, der die prunkvolle, reich verzierte Staatskleidung eines Mitglieds der kaiserlichen Familie trug, wurde eingerahmt von zwei Soldaten der kaiserlichen Garde. Trotz der schweren, in Machart und Schnitt an die Rüstungen antiker Krieger erinnernden Schutzpanzer, trotz der Bewaffnung mit Laserpistolen, Schnellfeuerlasern und Drehhs bewegten sich die Männer flüssig, fast elegant, während die unter den Visieren ihrer Helme verborgenen Augen zweifelsohne die Umgebung pausenlos nach möglichen Gefahrenquellen absuchten.
„Entschuldigen Sie den dramatischen Auftritt. Aber an einem solchen Tag erwartet man auch von mir ein gewisses Maß an…Repräsentanz.“ Rallis bedeutete seinen Begleitern mit einer knappen Handbewegung, zurückzubleiben, und schloss zu Ciara auf: „Falls Sie auf Ihren zukünftigen Schwager warten sollten, offenbar wurde er verhindert. Vermutlich irgendeine wichtige Stabsangelegenheit. Aber natürlich werde ich Ihnen gerne das Geleit geben, falls Sie sich doch entschließen sollten, der Zeremonie beizuwohnen, die meine Cousine für heute geplant hat.“
„Ein freundliches Angebot, Hoheit. Und natürlich werde ich mich dem Gefolge der Regentin anschließen. Aber soviel ich weiß sollte die Zeremonie erst in einer halben Stunde beginnen. Die Kronregentin wird erst noch erwartet.“
Rallis lächelte kurz, und trat an ihre Seite. Schweigend musterte er die Statue des verstorbenen Großadmirals, die einzelne Blüte auf dem Sockel. Und die Enkeltochter von Nahil Koo. Es war nicht unbedingt ein anzüglicher oder drohender Blick, doch Ciara fühlte sich trotzdem nicht unbedingt wohl: „Kannten Sie meinen Großvater?“
„Wer hätte Ihn nicht gekannt? Einen der letzten großen Schlachtenlenker…“ Sie war sich nicht ganz sicher, wie sie den Unterton einordnen sollte, der in Rallis Stimme mitschwang. Spott? Zynismus? Bedauern? „Auch er hat sich so sehr gewünscht, wie Ihr Großvater einen Platz in diesem Park zu finden.“
„Pardon, Hoheit?“
„Mein geliebter Cousin Jor, der viel zu früh den Heldentod in der Schlacht sterben musste. Es war ihm wohl nie genug, nur aufgrund der Thronfolge eines Tages seinen Platz auf der Triumphstraße einzunehmen. Er wollte auch durch eigene Leistung unsterblich werden.“
Wieder dieses seltsame Lächeln: „Nun, auch wenn er weder das eine noch das andere geschafft hat, zweifellos hat er sein Ziel dennoch erreicht. Seine…Leistung wird unvergessen bleiben. Noch in tausend Jahren wird man sich an ihn erinnern.“
„Hoheit?“
„Oh, beachten Sie mich gar nicht. Das sind nur müßige Gedanken eines alternden Imperialen…“ Das war natürlich Unsinn. Nichts an Rallis Worten war müßig. Oder zufällig. Genauso wenig wie ihr Treffen hier: „Vielleicht zieht Ihr es vor, mit Euren Gedanken alleine gelassen zu werden. Ich denke, ich sollte…“
„Aber nicht doch. Immerhin ist das das Denkmal Ihres Großvaters. Ich will Sie nicht vertreiben. Bleiben Sie, ich bestehe darauf.“
Das ließ ihr natürlich keine Wahl: „Danke, Hoheit.“
„Es muss schwer für Sie sein. Sicherlich vermissen Sie ihren Verlobten.“
Ihr gefiel Rallis Ton nicht. Irgendeine Mischung aus Anzüglichkeit und Spott. Außerdem hatte er leider Recht. Sie hatte nun wirklich keine dreijährige Verlobungszeit geplant. ‚Aber das hat `Kas sicherlich auch nicht.’ Sie hatten nicht mal genug Zeit gehabt, um richtig ausprobieren zu können, ob es mit ihnen klappen mochte. Und von der Ungewissheit mal abgesehen, ob und wann ihr Verlobter aus diesem Krieg zurückkehrte…sie hatte schließlich auch gewisse Bedürfnisse.
Aber eine junge Verlobte aus dem Hause Koo hatte bestimmte Erwartungen zu erfüllen. Sie war nicht verheiratet, und sie war auch nicht Prinzessin Linai. Und das bedeutete, dass eine Affäre nicht in Frage kam, selbst WENN ein passender Kandidat in greifbarer Nähe gewesen wäre. ‚Hmm. Will sich Rallis etwa anbieten? Passen würde das zu dem alten Schwerenöter. Also wirklich, er könnte fast mein Vater sein.’ Sie hatte fast das Gefühl, dass Rallis ihre Gedanken erahnen konnte. Dieses seltsame, ein klein wenig lauernde Lächeln blieb auf seinem Gesicht wie angeklebt. Sie suchte und fand die passende Antwort: „Wir beide wussten, dass die Pflicht am Imperium immer an erster Stelle kommen muss.“
Es zuckte um Rallis Lippen: „Das Imperium…die Pflicht. Oh ja, ich weiß, wie ernst Mokas Taran diese Dinge nimmt. So wie so viele unserer jungen Offiziere...“
‚Und was meinst du jetzt damit? Redest du jetzt von der Verschwörung gegen Jor?’
„…aber es muss Ihnen doch bewusst sein, Maylady Koo, dass er seine Pflicht gegenüber dem Imperium auch an einer anderen Stelle ausüben könnte. Einer, die näher an Akar liegt. Einer, die mit wesentlich mehr Prestige verbunden ist.“
„Ich bin sicher, dass Taran mit dem Platz zufrieden ist, an den ihn das Oberkommando gestellt hat.“
Wieder zuckte es um Rallis Mundwinkel, während kurz ein seltsames Glitzern in seinen Augen aufleuchtete: „Vielleicht haben Sie Recht. Eins muss Ihnen aber klar sein. Der Platz, auf den ihn das neue Oberkommando gestellt hat…ist nicht der Draned-Sektor.“
„Was?“
„Wussten Sie nicht, dass sämtliche frei verfügbaren Operativeinheiten des Draned-Sektors – und noch ein paar mehr – in Marsch gesetzt wurden? Ich konnte bisher noch nicht in Erfahrung bringen, wohin. Haben Sie vielleicht…“, der Thronprätendent musterte Ciara Koo ein paar Augenblicke schweigend, und nickte er dann, als würde er einen Punkt auf einer Liste abhaken, „Nein. Sie wissen es also auch nicht. Schade.
Admiral Taran ist ein talentierter, ehrgeiziger junger Mann. Ein Mann, der es weit bringen kann. Admiral ersten Ranges, Kommandeur der Heimatflotte, eines Tages vielleicht auch Großadmiral. Wer weiß. Außer natürlich…
Was meinen Sie, wo sieht Mokas Taran seinen Platz für die Ewigkeit? Hier, oder...an einem anderen Ort?“
Ciara Koo presste die Lippen zusammen, um ein Aufkeuchen zu vermeiden. Das war es, was ihr Verlobter am meisten fürchten musste, seitdem die Nachricht vom Tod des Imperators die Runde gemacht hatte. ‚Will Rallis damit andeuten…Nein. Würde er das glauben, er würde es nicht ausgerechnet mir gegenüber erwähnen. Niemals. Aber wenn er nicht glaubt, dass `Kas sich ebenfalls für den Thron interessiert, warum deutet er es dann an?’ Ihre Stimme aber blieb ausdruckslos: „Ich bin sicher, mein Verlobter sieht – so wie jedes Mitglied seiner Streitkräfte – seine Pflicht dort, wohin ihn das Imperium befielt.“
„War es das Imperium, das ihm auch befahl, sich gegen seinen Befehlshaber zu stellen?“
„Ich glaube, dass Ihr diese Frage weitaus besser beantworten könnt, als eine junge Frau mit nur begrenztem strategischem und politischem Sachverstand.“
Rallis lächelte anerkennend: „Ich glaube, dass ein ehrgeiziger und talentierter Mann, der sich in erster Linie dem Imperium verpflichtet fühlt, einen gefährlichen aber ehrenvollen Pfad beschreitet, der ihn weit bringen kann. Ob ich der einzige bin, der der Meinung ist, dass das Kommando über einen Sektor und einen Großverband eine Verantwortung ist, für das der Rang eines Admirals Erster Klasse angemessener wäre?“
‚Nicht gerade subtil, Hoheit. Aber anderseits, Worte sind billig, wenn die einzigen Zeugen eure Leibwächter sind.’„Darüber entscheidet die Admiralität.“
„Oder der Imperator.“
Das war jetzt allerdings keine Überraschung mehr. Immerhin war Rallis ein Thelam, und Jors Verwandter.
„Ich bin kein Mitglied des Adelsforums. Ebenso wenig wie mein Verlobter. Es liegt jenseits meines Horizonts, wann oder was das Gremium entscheiden wird.“
Rallis Thelam neigte leicht den Kopf: „Sie sind ebenso klug wie schön, Lady Koo. Sie sollten sich nicht kleiner machen, als Sie es sind. Deshalb spreche ich auch so offen mit Ihnen.“ Er hielt kurz inne, und schien auf eine lautlose Stimme zu lauschen: „Offenbar sollten wir uns langsam auf den Weg machen. Die Prinzessin wird in wenigen Minuten eintreffen. Ich bin sicher, Sie wollen ihren Auftritt nicht verpassen.“
Der Adlige trat einen Schritt zur Seite, und streckte mit einem freundlichen Lächeln seinen Arm aus. Natürlich blieb Ciara nichts anderes übrig, als sich einzuhaken: „Danke, Hoheit.“
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“
Als sie den kleinen Hain verließen, der Nahil Koos Denkmal umgab, tauchten zwei weitere Gardisten auf, die zusammen mit ihren beiden Kameraden mit der Eleganz jahrelanger Übung eine lockere Abschirmformation einnahmen, die gleichzeitig der Repräsentanz, wie dem Schutz diente.
Es war das erste Mal, dass Ciara Koo sich von Mitgliedern der kaiserlichen Garde beschützt sah, und unter anderen Umständen hätte sie das Gefühl wahrscheinlich genossen. Wie wahrscheinlich viele andere junge Akariimädchen hatte sie früher einmal davon geträumt, einen kaiserlichen Prinzen zu heiraten. ‚Aber an dich habe ich ganz bestimmt nicht gedacht, Rallis.’
Allerdings benahm sich dieser wie ein perfekter Edelmann. Er passte seine Schritte mühelos den ihren an, und hielt genau den richtigen Abstand.
Allerdings stand ihm der Sinn offenbar nicht nur nach Small Talk: „Sie hatten natürlich Recht. Letzten Endes liegt es am Adelsrat. Ein auf faszinierende Art und Weise anachronistisches Element unserer Verfassung. Der Imperator oder Kaiser regiert praktisch unumschränkt, mit der Billigung der Götter – aber es ist das Adelsforum, das den Imperator anerkennen muss. Man fragt sich, wie es sich letztendlich entscheiden mag.“
Sie wartete darauf, dass er in dieser Hinsicht konkreter werden würde, aber sie wurde enttäuscht. Den Rest des Weges hüllte sich Rallis Thelam in Schweigen.