Cattaneo
Tyr
Offenbar war der Thronprätendent gut informiert. Tatsächlich waren die meisten der eingeladenen Gäste bereits eingetroffen. Es war keine allzu große Menge – vielleicht etwas mehr als tausend Akarii – aber die hier versammelte Macht ließ die Zahl bedeutungslos erscheinen. Zeremonielle Amtskleider, Schmuck, Uniformen und Orden blitzten in der Sonne. Die ebenfalls vertretenen Medien hielten diskreten Abstand. Da die Prinzessin noch nicht eingetroffen war, vertrieb man sich die Zeit mit mehr oder weniger oberflächlichem Geplauder. Die Szenerie wurde von einem fast vier Meter hohen, verhüllten Monument beherrscht, das immer wieder Blicke auf sich zog. Auch wenn die meisten natürlich wussten, wem dieses Denkmal gewidmet sein würde.
Mit einem eher gemischten Gefühl registrierte Ciara Koo, das ihr Erscheinen sehr wohl bemerkt wurde. So wollte sie nicht unbedingt in die Medien kommen.
Der Thronprätendent nickte ihr noch einmal freundlich zu, tätschelte ihren Oberarm, und schlenderte davon. Seine Leibgarde fiel wieder zurück, und binnen weniger Sekunden ballte sich eine Traube von Männern und Frauen um Jors Cousin. Andere hingegen fassten seine Begleiterin ins Auge, und mit einem leichten Gefühl der Panik sah Ciara Koo zwei oder drei deutlich höher stehende Personen auf Abfangkurs. ‚Wenigstens ist Vater nicht hier.’
Yelak Tarans Erscheinen rettete sie in letzter Sekunde. Als ihr zukünftiger Schwager gehörte er quasi zur Familie, und hatte damit das größte Anrecht auf ihre Aufmerksamkeit. Während sie sich bei dem Offizier unterhakte, dirigierte er sie an den Rand der wartenden Menge.
Als das erste Mal Gerüchte über eine Verbindung zwischen den Häusern Koo und Taran die Runde gemacht hatten, hatte Ciara insgeheim die Möglichkeit erwogen, dass Yelak ihr zukünftiger Ehemann sein würde. Er war Dreißig, fast drei Jahre jünger als Mokas, und damit nur fünf Jahre älter als Ciara. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, der eher schlank, fast schlaksig wirkte, war Yelak breitschultrig und muskulöser. Und ein hervorragender Schwertkämpfer. Er war witzig, freundlich, intelligent. Was ihm allerdings leider fehlte, waren der Ehrgeiz und der politische Instinkt, die Mokas auszeichneten. Yelak war erst im Vorjahr zum Captain befördert worden, und schien nicht daran interessiert, seinen Posten im Flottenstab gegen einen Kommandoposten zu wechseln. Er war nicht weniger ehrenhaft als Taran, aber etwas weniger wagemutig. Deshalb – und weil er damals nur ein Commander gewesen war – war er im Gegensatz zu Taran bei der Verschwörung im Flottenstab nur am Rande beteiligt gewesen, und hatte seinen Posten behalten dürfen. ‚Hoffentlich erfährt keiner von den beiden, dass nach `Kas Verbannung die Möglichkeit einer Umverlobung im Raum gestanden hat.’
Letztendlich hatten Ciaras Eltern eben doch Yelaks älteren Bruder den Vorzug gegeben. Eine Entscheidung, die sich anscheinend als die richtige erwiesen hatte. Ihr selber war dieses heimliche Hin und Her allerdings ziemlich peinlich gewesen.
Wie dem auch sei, im Augenblick war ihr Yelaks Anwesenheit jedenfalls hochwillkommen. Ciara unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen: „Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet.“
Yelak warf dem entschwindenden Rallis einen nicht allzu freundlichen Blick zu: „Ich wurde aufgehalten. Admiral Lann wollte mit mir reden.“
„Lann? Ist der nicht…“
„Ja, vom Flottenbeschaffungsamt. Mit besten Verbindungen zum Wirtschaftsministerium. Rallis Mann.“ Der junge Offizier musterte sie wachsam: „Hat diese alte Steinkröte* etwa…“
„Ich kann sehr gut auf mich selber aufpassen, danke der Nachfrage. Er hat sich wie ein Edelmann benommen.“
Yelak schnaubte kurz. Sogar er war nicht so naiv: „Was hat er gewollt?“
„Nichts und Alles. Jors verfehlte Ambitionen, `Kas zukünftige Karriere, Pflicht, Ehre…“
„Er fischt im Dunkeln.“
„Ja. Fragt sich nur, nach was. Und mit welchem Köder. Und er hat vom Adelsforum geredet.“
Yelak Taran runzelte verwirrt die Stirn: „Warum sollte er das tun? Du hast keinen Sitz im Forum.“
„Ich habe ihn nicht gefragt. Aber er schien eine sehr staatsmännische Sorge über die Zukunft des Imperiums auszubrüten.“
„Immer noch besser, als wenn er versuchen würde, dich in sein Schlafgemach zu locken.“
„Würdest du bitte damit aufhören?“
Yelak grinste kurz, dann straffte er sich unwillkürlich: „Die Regentin.“
Auch wenn Linai Thelam ganz sicherlich die Strecke, die zwischen dem Palast und dem Park der Siegreichen Schlachten lag, nicht zu Fuß zurückgelegt hatte, hatte sie es dennoch für angemessen gehalten, für den letzten Teil ihres Weges ihr Shuttle oder Fahrzeug zurückzulassen.
Auch die Prinzessin wurde von einer Abteilung kaiserlicher Gardisten begleitet, und wie Rallis trug sie vollen Staatsornat. Wo allerdings Rallis sich trotzdem umgänglich geben konnte, wirkte die Prinzessin ernst, fast ein klein wenig einschüchternd. Allerdings mochte das auch an ihrer Entourage liegen.
Natürlich wurde sie von ihrem Ehemann begleitet, auch wenn Tobarii Jockham etwas die majestätische Aura fehlte, die seine Frau wie eine unsichtbare Schleppe begleitete. Dennoch, er war der Kriegsminister, und damit die zweit- oder drittmächtigste Person im Imperium. Mancher mochte vielleicht hinter vorgehaltener Hand über den ‚gelehrten’ Kriegsminister spötteln, aber man durfte ihn nicht unterschätzen.
Dann war da eine ganze Reihe hoher Flottenmitglieder. Admiral zweiten Ranges Jal Keelan, von denen jeder am Hof wusste, dass er so etwas wie Großadmiralin Lay Rians Gesandter und Beobachter am kaiserlichen Hof war. Was allerdings niemand so genau wusste – oder, falls er es wusste, es jedenfalls nicht sagte – war die Antwort auf die Frage, was die Großadmiralin mit der Entsendung dieses jungen, auf dem politischen Parkett ein wenig unsicher wirkenden Manns bezweckte.
Admiral ersten Ranges Reiik Latasch. Der alte Admiral hatte zwar kein aktives Feldkommando, aber es ging das Gerücht um, dass er um ein Haar Lay Rians Posten als Großadmiral erhalten hätte. Falls an den Gerüchten etwas daran war, und der alte Mann das seiner Kollegin übel nahm, dann verbarg er es jedenfalls gut. Latasch gehörte – so wie Nahil Koo, so wie die Großadmiralin – zu einer früheren Generation, die zusammen mit dem verstorbenen Imperator alt geworden waren, und deren Loyalität in erster Linie dem Reich gehörte. So hieß es jedenfalls.
Admiral Kern Ramal. Es war ein offenes Geheimnis, dass er Karrek Thelam nahe stand, und deshalb war es jetzt ein ziemlicher Schock, ihn im vertraulichen Gespräch mit Herzog Meliac Allecar zu sehen, der von seinem Sohn und designierten Nachfolger Dero begleitet wurde.
Ciara zuckte leicht zusammen, als sie hörte, wie Yelak halblaut etwas murmelte. Es war ein Fluch, und zwar ein reichlich obszöner.
„Was ist denn mit dir los?“
„Erklär ich dir später, Schwägerin.“
Falls Prinzessin Linai Thelam vom Erscheinen ihres Cousins Rallis überrascht wurde, so zeigte sie es jedenfalls nicht. Stattdessen begrüßte sie ihren Verwandten freundlich. Und Rallis…
Er erwiderte den Gruß artig, ja ehrerbietig. Er war die reinste Höflichkeit gegenüber dem Kriegsminister. Er verbeugte sich respekt- und doch würdevoll vor den Angehörigen der Flotte. Und er ließ auch Herzog Meliac Allecar einen Gruß zukommen, der ihn als fast ebenbürtig willkommen hieß.
Dero Allecar hingegen…schien er irgendwie übersehen zu haben. Es war fast ein wenig peinlich anzusehen, wie sich Rallis durch Linais Entourage arbeitete, ohne dabei dem Anwalt, Ex-Unteroffizier, Sonderbotschafter und designierten Herzog auch nur einen Blick zuzuwerfen. Erst ganz zum Schluss schien dem Thronprätendenten seine Auslassung einzufallen. Beiläufig drehte er sich um, und ließ Dero Allecar ein Nicken zukommen, das in seiner Knappheit und Reserviertheit nur haarscharf an einer Beleidigung vorbeischrammte. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die fast ebenso knappe Erwiderung zu registrieren, sondern wandte sich sofort seiner Cousine zu, die mit undeutbarer Miene diesem Schauspiel zugesehen hatte.
„Rallis ist doch keine Steinkröte, er ist ein alter Rewar**. Wenn er hier so eine Schau abzieht, dann hat er todsicher etwas vor. Man brüskiert nicht ohne Grund den designierten Herzog Allecar. Und damit natürlich auch seinen Vater.“
„Vermutlich weil er die beiden sowieso als hoffnungslos einschätzt. Sie halten fest zu Linai und Jockham.“
„Tobarii, pah! Nach allem was ich gehört habe, würde ich die lieber nicht in einem Atemzug nennen.“
„Was hast du eigentlich gegen unseren Kriegsminister?“
Yelak Taran presste die Lippen zusammen, und senkte seine Stimme: „Der Mann ist eine Schande für seinen Posten. Hast du gehört, was er sich geleistet hat? Er hat sich einen Schoß-Kriegsgefangenen zugelegt, den er jetzt überall herumzeigt.“
„Einen Menschen?!“
„Wenn es das nur wäre. Dann wäre es nur ein exotisches Haustier. Nein, dieser…er hat sich irgendeinen bedeutungslosen Leutnant unserer Streitkräfte ausgesucht, der sich von den Menschen gefangen nehmen ließ, und den sie dann irgendwann wieder laufen ließen, weil er sich bei ihnen angebiedert hat. Und was macht er mit diesem Feigling? Statt ihn in ein Frontkommando zu schicken, wo der Mann seine Schande mit Blut abwaschen kann, befördert ihn unser Kriegsminister. Ich frage mich mal, wofür? Und jetzt schickt er diesen halben Verräter herum, damit er uns erzählt, wie edel die Menschen sind! Als ich das das erste Mal gehört habe, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll! SO ETWAS soll uns im Krieg führen!“
Ciara Koo musterte ihren zukünftigen Schwager überrascht. Bei Yelaks sonnigem Gemüt vergaß man schnell, dass er ein Mann mit starken Überzeugungen war. In manchen Punkten wahrscheinlich sogar mehr als sein Bruder, auch wenn Yelak sich an der gegen Jor gerichteten Fronde nur am Rand beteiligt hatte: „Entspann dich. Lay Rian führt den Krieg. Tobarii…“
„Tobarii könnte unser nächster de facto-Imperator werden, wenn er es mal schaffen würde, seine Frau zu schwängern.“, Yelak stockte, und räusperte sich, „Entschuldigung.“
„Für wen hältst du mich, für eine Palastblüte? Ich habe schon Schlimmeres gehört.“
„Wenn Linai wenigstens ein Mann wäre. Dann wäre es nicht so schlimm, dass sie so ein…altes Weib…geheiratet hat.“
„Pass auf, was du sagst. Rallis scheint sich jedenfalls keine derartigen Sorgen zu machen, so überschwänglich, wie er Tobarii begrüßt hat.“
„Außer, das war genau der Eindruck, den er erwecken wollte. Ich hasse diese Spielchen.“
Ciara registrierte, wie Linai und Rallis Thelam die Köpfe zusammen steckten. Sie fragte sich, was die beiden zu besprechen hatten. Eine mögliche Antwort auf diese Frage erhielt sie, als die Prinzessregentin kurz den Kopf zur Seite drehte, und in ihre Richtung blickte. Die Miene der Prinzessin blieb ausdruckslos. ‚Was hast du gesagt, Rallis?’
Yelak entging dieser kurze Austausch offenbar, während er leise die Intrigen des kaiserlichen Hofs verfluchte. Er war eben doch nicht sein Bruder. Mit einem lautlosen Seufzen wandte sich Ciara wieder ihrem zukünftigen Schwager zu: „Letzten Endes wird das Adelsforum entscheiden.“
„Ja, aber für wen? Linai ist eine Frau. Als Regentin ist sie ja noch akzeptabel, aber das ist eben nur eine Übergangslösung. Und solange sie keinen Sohn hat, hat sie nichts in der Hand. Wenn doch bloß Jor einen Sohn gehabt hätte. Wenigstens einen illegitimen. Aber er liebte nur seine Macht, den Krieg, und sich selbst.“
„Und mit nichts davon kann er einen Erben zeugen. Obwohl er es vielleicht mal versucht hat.“
Yelak lachte jäh auf, hustete dann, und warf ihr einen ungläubigen Blick zu: „Das war jetzt aber ziemlich gewagt.“
„Entspann dich. Wie ich bereits gesagt habe. Ich bin keine Palastblüte.“
Yelak schmunzelte kurz: „Du und `Kas, ihr passt wirklich gut zusammen.“ Er wurde übergangslos ernst: „Dann wäre da noch Karrek. Er hat eine Menge Befürworter im Militär, und beim jungen Adel. Viele von denen, die Jor folgten…“
„Ja, er wäre ja auch ein zweiter Jor. Arrogant, selbstverliebt…Ein paar der älteren – und der weiseren – Adligen und Militärs dürften aus diesem Grund ziemliche Zahnschmerzen haben, wenn sie sich Karrek auf dem Thron vorstellen.“
„Lisson und Navarr…warum sollte die jemand wollen, außer wegen ihrem Blut, und weil sie so schwach wären? Lisson hat keinen politischen Ehrgeiz, keine Hausmacht auf die er sich stützen kann. Er ist ein Thelam, aber das sind die anderen auch. Er ist ein Gelehrter – aber was ist das schon wert?
Und Navarr…hat noch nicht mal die Militärakademie abgeschlossen. Ja, er ist jung und dynamisch, der Lieblingsneffe unseres vergöttlichten Herrschers, aber das reicht nicht. In Friedenszeiten könnten wir uns vielleicht so jemanden leisten. Aber jetzt…“
Ciara vergegenwärtige sich die Lektionen, die sie von ihrem Vater, ihrer Mutter, in ihren Jahren am Hof und der Kolonialverwaltung erworben hatte: „Aber vielleicht ist das genau ihre Chance. Es hat mehr als einen Imperator gegeben, der nicht deswegen erwählt wurde, weil er stark – sondern weil er schwach war.“
„Ja, aber wer sollte diese Wahl treffen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Adelsforum eine Fraktion gibt, die stark genug ist, einen der beiden durchzusetzen. Und die Flotte…Unterstützt entweder Karrek, oder steht hinter Lay Rian. Und diese wiederum unterstützt wahrscheinlich Linai. Immerhin hat die ihre Rückkehr durchgesetzt. Außer natürlich, sie findet jemanden, der ihr noch mehr versprechen kann. Dankbarkeit ist leider eine Währung, die in diesem Spiel nicht allzu viel zählt. Aber warum sollte der alte Drache sich hinter eine Marionette stellen? Sie hat ja schon eine – Tobarii. Und eine Regentin, die niemals den Thron einnehmen kann. Selbst WENN Linai einen Erben hätte, bis der volljährig ist, wäre seine Mutter immer noch auf die Unterstützung der Streitkräfte angewiesen.
Und dann ist da Rallis.“
„Ja. Er ist vielleicht kein großer Krieger, aber im Gegensatz zu Jor – und zu Karrek – hat er sich nicht so viele Feinde gemacht. Im Wirtschaftsministerium hat er angeblich immer die Linie der Streitkräfte unterstützt, und er hat gute Kontakte zum Finanz- und Kolonialministerium. Und zur Flotte, da er einige ihrer Lieblingsprojekte unterstützt hat.“
„Du meinst, es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und Karrek.“
„Ich würde darauf wetten. Aber Rallis ist der klügere von den beiden. Nimm Heute. Ich sehe weder Karrek, noch Lisson oder Navarr. Vielleicht war ihnen diese Sache hier nicht so wichtig, oder sie wollten bei keiner Veranstaltung mitmachen, bei der ihnen die Regentin die Schau stiehlt. Rallis ist hier. Er hat keine solchen Bedenken. Entweder er ist sich seiner selbst sehr sicher, oder er hat irgendetwas vor. Außer, Dero Allecar zu brüskieren.“
„Psst. Es geht los.“
Tatsächlich war die Prinzessregentin an das Rednerpult getreten. Ein paar Augenblicke schwieg sie, musterte mit ernster Miene die nun ebenfalls schweigende Menge, schien nach etwas zu suchen. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme leise, aber klar: „In einer anderen, besseren Zeit wäre dieser Tag ein Tag der Freuden und des sorglosen Feiern gewesen. Aber wir alle wissen, dass die Zeiten keine Sorglosigkeit erlauben. Mein Vater ist von uns gegangen, und so müssen wir diesen, seinen Tag ohne ihn begehen…“
Ciara Koo sprach leise, ohne den Kopf zu bewegen: „Gibt es Neuigkeiten aus dem Draned-Sektor?“
„Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht sagen. Das sind militärische Geheimnisse…“
„Es geht immerhin um meinen Verlobten. Und um deinen Bruder. Oder glaubst du, dass ich ein verkappter terranischer Spion bin?“
Yelak seufzte lautlos, und unterdrückte den Impuls, sich nervös umzusehen. Eigentlich galt es als ziemlich unhöflich, sich während der Rede einer kaiserlichen Prinzessin zu unterhalten. Deshalb bewegte er kaum die Lippen, und seine Stimme war nur ein Flüstern: „Sie haben Mokas Kampfgruppe in Marsch gesetzt…“
„Das weiß ich. Offenbar bist du nicht der einzige, der Militärgeheimnisse weitererzählt.“
„Wer…Rallis.“
„Weißt du, wohin ihn der alte Drache geschickt hat?“
„Das liegt über meiner Freigabestufe. Ich weiß nur, dass es jedenfalls mehr als ein kurzer Vorstoß ist. Die Rikata-Kampfgruppe operiert irgendwo hinter der gegnerische Front...“
Diesmal war es Ciara Koo, die einen reichlich obszönen Fluch murmelte.
„…aber das ist noch nicht alles. Im Draned-Sektor hat es Kämpfe gegeben.“
„Menschen? Rebellen?“
„Akarii. Diese verdammten Separatisten. Offenbar ist es zu einer regelrechten Raumschlacht zwischen ihren Verbänden und den Schiffen des Interims-Militärkommandeurs Vorcas gekommen. Es gab wahrscheinlich weit über hundert Tote auf beiden Seiten. Jetzt lecken sie ihre Wunden. Aber letztendlich war es ein Sieg für die Separatisten, denn Vorcas wollte einen Konvoi mit loyalen Bodentruppen auf eine der Separatistenwelten durchbringen, und das ist gescheitert. Er hat einfach nicht genug Schiffe, um sich auf einen regelrechten Krieg mit den Verrätern einzulassen.“
„Schickt das Oberkommando einen neuen Befehlshaber in den Draned-Sektor? Oder Schiffe?“
„Weder noch. Keiner reißt sich um die Aufgabe, gegen Akarii Krieg zu führen. Das ist ein bitteres Brot. Und es wird zwar ein Verstärkungsverband für den Draned-Sektor aufgestellt, aber das dauert. Uns fehlen die Schiffe. Bis die Verstärkung eintrifft, dürfte `Kas schon wieder zurück sein. Also überlassen sie ihm die Aufgabe, die Separatisten zu Paaren zu treiben. Soll er sich die Hände dabei blutig machen.“
‚Wenn er zurückkehrt.’ Aber das sprach sie nicht laut aus. Aber offenbar musste Yelak doch etwas gemerkt haben – im Zwischenmenschlichen zeigte er eine Aufmerksamkeit, die ihm beim Politischen fehlte. Das war einer seiner liebenswerten Charakterzüge. Er drückte kurz die Hand seiner zukünftigen Schwägerin: „Es wird schon alles gut gehen.“ Ciara nickte halbherzig, und konzentrierte sich wieder auf die Stimme der Regentin.
„…Umso leuchtender muss deshalb der Sieg erscheinen, der in diesen Zeiten der Not und der Trauer an der Front zur Konföderation erzielt wurde. An einer Kriegsfront, an dem sich seit nunmehr vier Jahren unsere und die feindlichen Streitkräfte in einem erbitterten Stellungskrieg verbissen hatten, und auf dem wir nach triumphalen Siegen auch bittere Verluste hinnehmen mussten. Doch der Angriff unser glorreichen Streitkräfte traf den Gegner mitten ins Herz, und besiegelte sein Schicksal. Geschlagen, ausgeblutet und verzweifelt blieb ihm nichts anderes übrig, als um Frieden nachzusuchen.“
Yelak verzog kurz die Lippen: „Ausgeblutet sind unsere Streitkräfte auch. Dass eine Frontlinie wegfällt nützt nicht allzu viel, wenn danach keine Truppen mehr übrig sind, die wir an andere Brennpunkte werfen können. Ein paar Kreuzer, einige wenige Zerstörer- und Fregattendivisionen…das ist alles, was frei wird. Es gibt da einen Witz im Flottenstab. Was ist die schnellste Methode, zwei Flottenträger zu verlieren…“
Linai Thelam vertrat allerdings offenbar eine andere Linie: „…Es ist schon fast zwanzig Jahre her, dass das Adelsforum, die Admiralität, der Generalsstab, und der kaiserliche Rat einen Mann oder Frau für würdig empfanden, in die Reihe der Unvergesslichen aufzunehmen. Doch das Urteil war ebenso einhellig wie berechtigt. Im Namen meines Vaters, Imperator Eliak IX. – möge sein Gedenken ewig währen – verkünde ich, dass Admiral Kal Ilis aufgenommen werden soll in den Kreis jener, die sich durch ihre Leistungen im Krieg unvergesslichen und unsterblichen Ruhm erworben haben. Er soll in einem Atemzug genannt werden mit den großen Namen der Vergangenheit, eingedenk der Tatsache, dass das Imperium ewig bestehen wird, solange wir Schlachtenlenker wie ihn haben. Sein Geschick, sein Wagemut und seine taktische Brillanz entschieden nicht nur eine Schlacht um einen Planeten – sie entschieden einen Krieg!“
Und bei diesen Worten fielen die Stoffbahnen, die das Monument verborgen hatten, und enthüllten die Statue für die Blicke der klatschenden und jubelnden Menge. Kal Ilis stand hoch aufgerichtet da, die Arme in einer Geste überlegener Ruhe vor der Brust verschränkt, gekleidet in die schlichte Dienstuniform eines imperialen Admirals ersten Ranges. Der Sirash an seiner Seite entsprach allerdings nicht den Bekleidungsvorschriften für den Dienstbetrieb.
Dass Kal Illis nicht anwesend war, um diese hohe Ehrung persönlich zu erhalten, entsprach der Tradition. Angeblich brachte es Unglück, wenn der Geehrte bei der Enthüllung seiner Statue anwesend war. Aus dem gleichen Grund war es unüblich, dass er später sein Denkmal besuchte. Inzwischen wusste niemand mehr, warum das so war, aber nur wenige wagten, dagegen zu verstoßen.
Es sorgte für einige Überraschung, als der nächste Redner nach Vorne trat. Denn dabei handelte es sich nicht um den Kriegsminister, oder um einen der Flottenoffiziere – sondern um den jungen Dero Allecar.
Ciara Koo überlegte kurz, dann glaubte sie den Grund gefunden zu haben. Auch wenn Dero Linais Sonderbotschafter gewesen war, und den Friedensvertrag mit der CC ausgehandelt hatte, es war absolut undenkbar, ihm ein Denkmal zu setzen. Unterhändler und Diplomaten waren nun einmal keine Schlachtenlenker, keine Kriegsherren. Aber anderseits wollten Linai – oder einige Männer hinter ihr – nicht, dass Deros Rolle in Vergessenheit geriet. ‚Oder will sie nur der Eitelkeit ihres Jugendfreundes – oder der seines Vaters – schmeicheln? Nein, das kann es nicht sein.’
Rallis Thelam jedenfalls wirkte nicht überrascht, allenfalls pikiert, so wie er sich mit einem bestickten Ärmeltuch reichlich geziert die Schnauze abtupfte, was bei einigen der in seiner Nähe stehenden Hochadligen und Offizieren für Getuschel und – häufiger noch – Grinsen zu sorgen schien. Vermutlich hatte er das auch beabsichtigt.
Für einen Mann, der niemals die Militärakademie besucht, oder auf dem Parkett des Hofes geglänzt hatte, machte Dero seine Sache nicht schlecht. Immerhin war er als Anwalt in der Tradition der großen Redner der Vergangenheit ausgebildet worden, nach deren Maxime es bei einem Plädoyer auf drei Dinge ankam: Erstens – den Vortrag. Zweitens – den Vortrag. Und Drittens – den Vortrag.
Er war auch klug genug, seine eigene Rolle nicht zu sehr herauszustreichen. Das wäre an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt wohl nicht gut angekommen. Ohnehin schien nicht nur Rallis Thelam etwas pikiert, dass ein derart ‚funktionsloser’ Mann so in den Vordergrund treten durfte. Deros Status als Sonderbotschafter war bereits wieder erloschen, und sein Anwalts- oder gar sein Unteroffiziersrang galten den meisten der Anwesenden weniger als gar nichts. Wenigstens war er der designierte Nachfolger seines Vaters. Ansonsten…
Doch als der ehemalige Sonderbotschafter nach einer verbalen Verbeugung vor Admiral Kal Ilis seine Aufmerksamkeit dem Frieden mit der Konföderation zuwandte, einem Frieden, der auf gegenseitigen Respekt, ja Freundschaft aufbauen sollte, schien ein Windhauch der Missbilligung durch die Anwesenden zu gehen.
Nach Ciaras persönlicher Einschätzung waren das Töne, die mindestens die Hälfte der Anwesenden nicht hören mochten. ‚Aber wie viele von ihnen tun nur so, als sähen sie die Ehre der Streitkräfte geschändet? Und wie viele von den anderen sehen es genauso, wollen aber Linais Günstling nicht vor ihren Augen schneiden? Und wie viele würden ihm schon für die – in ihren Augen unverdienten – Ehren, die er jetzt erfährt, kalt lächelnd ein Messer in die Rippen jagen?’
Rallis Thelam jedenfalls machte kein Geheimnis aus seiner Einstellung. Er hatte sich halb von der Tribüne abgewandt. Noch ein wenig mehr, und er hätte Dero ganz den Rücken zugekehrt. Immer noch das Taschentuch in der Hand, als wolle er einen üblen Geruch fortwedeln, unterhielt er sich ostentativ mit Admiral Lann, während Rallis Adjutant Dan Qau, ein junger Neffe des amtierenden Kanzlers, mit einem merkwürdig kränklichem Gesichtsausdruck hinter den beiden stand.
Yelak Taran hustete, als müsste er ein Auflachen unterdrücken: „Rallis zieht aber alle Register. In einer anderen Zeit hätte so ein Verhalten zu einer Duellforderung geführt. Schau dir mal den alten Allecar an. Er findet das offenbar gar nicht komisch.“ Tatsächlich durchbohrten die harten Augen des alten Herzogs Rallis Thelam regelrecht, auch wenn Melliac seine Miene eisern unter Kontrolle hielt. Linai war überhaupt nichts anzumerken, so als würde sie das ostentative Gebaren ihres Verwandten gar nicht wahrnehmen.
Admiral Latasch allerdings…Vielleicht täuschte Ciara sich, aber ihr schien es fast, als wenn seine Mundwinkel ein- oder zweimal zuckten.
Ciara wandte sich ihrem zukünftigen Schwager zu, der ziemlich unverhohlen grinste: „Und was ist es, was du gegen den kaiserlichen Sonderbotschafter hast?“
„Im Gegensatz zu meinem lieben Bruder bin ich niemals mit Dero und seinen Chaoten herumgestreunt. Und ich habe gehört, dass er sich neuerdings für den von den Göttern bestimmten Boten hält, der der Galaxis den Frieden bringen kann. Außerdem ist er nicht besser als Jockham, was seine Einstellung zu den Menschen angeht. Wenn ich daran denke, dass seine Familie zwei Generäle für Xias den Blutigen stellte…Bah! Davon ist nicht mehr viel übrig. Frieden, Freundschaft, Respekt…Man könnte meinen, man hätte ihnen die Cen’chan*** herausgeschnitten! Kein Wunder, dass Linai noch nicht schwanger ist.
Entschuldigung.“
„Ich gewöhne mich langsam daran.“
Als Dero zum Schluss kam, waren der Applaus und die Jubelrufe deutlich schwächer, als bei Linai. Natürlich, dafür, dass er nicht zur kaiserlichen Familie gehörte, und angesichts seiner wenig…angemessenen…Karriere war es immer noch ein beachtlicher Erfolg. Aber mindestens ein Drittel der Anwesenden rührte keinen Finger, oder applaudierte so halbherzig, dass sie es genauso gut auch hätten sein lassen können.
Dem Blick zufolge, den Dero Allecar dem deutlich älteren Rallis Thelam zuwarf, wusste der junge Adlige auch ziemlich genau, wem er dafür unter anderem zu danken hatte.
Admiral Lataschs Rede hingegen wurde mit wesentlich einmütigerem Enthusiasmus aufgenommen. Auch wenn der alte Mann mit seiner Beschwörung von Ehre, Stärke, und den traditionellen Werten des Imperiums wenig Neues bot, sein Alter und sein Ansehen hoben diese Worte über ihre eigentliche Bedeutung hinaus. Und sein Versprechen künftiger Siege, sein gegenüber der imperialen Führung und Großadmiralin Lay Rian geäußertes Vertrauen, hatte Gewicht.
Yelak Taran lächelte kurz: „Das wird Jockham und Linai den Rücken stärken. Eine derart offen geäußerte Unterstützung, an diesem Ort, von einem Mann der alten Garde…Diese Worte werden die Runde machen. Ich frage mich, wie Rallis DAS gefällt.“
Falls der Thronprätendent sich über Lataschs Stellungsnahme ärgerte, so verbarg er es allerdings meisterhaft. Nachdem er der Rede aufmerksam gelauscht hatte, spendete er reichlichen Beifall.
„War es das?“
„Offenbar noch nicht. Sieh dir das an.“ Zu der Überraschung der meisten Anwesenden war es nun Rallis Thelam, der ans Rednerpult trat. Das war so nicht vorgesehen gewesen, aber ein Mitglied der kaiserlichen Familie konnte sich natürlich ziemlich bedenkenlos über das Protokoll hinwegsetzen. Linai jedenfalls schien wenig überrascht, und da sie auf ihrem Platz ausharrte, machte auch sonst niemand Anstalten, sich zu entfernen.
Ihr Verwandter ließ kurz seine aufmerksamen, ein klein wenig verschmitzt blitzenden Augen über die Menge schweifen, während ein feines Lächeln um seine Lippen spielte: „Ich kann dem, was Regentin Thelam und Admiral Latasch bereits gesagt haben, wenig hinzufügen. Ich muss zugeben, dass ich zu jenen gehörte, die die Größe des Sieges überraschte, die unsere Streitkräfte erzielten. Einen Feind zusammenbrechen zu sehen, in den wir uns seit nunmehr mehr als vier Jahren verbissen hatten, das übertraf die kühnsten Erwartungen, die ich bei der Nachricht von der neuen Offensive zu hoffen wagte. Dass ein einziger Schwertstreich dieser Bestie den Kopf vom Rumpf trennen konnte, hätte ich nicht erwartet.
Und es war ein Zeichen kluger Beherrschung und weiser Zurückhaltung, in diesem Augenblick sich nicht von dem teuer erkauften Triumphgefühl, von dem Rausch des Sieges mitreißen zu lassen. Statt der Hoffnung auf einen totalen Krieg nachzujagen, beherzigten wir den klugen Rat unserer Vorfahren, im Augenblick des Sieges Frieden zu schließen.
Ich habe Stimmen gehört, die behaupteten, dass unsere Flotte über Hannover den Sieg verspielte, in dem sie Frieden schloss. Dass wir statt dem Tribut und den Reparationen die uns zustehen nur leere Worte und ausgebrannten Stahl erhielten.
Aber ich sage, dass diese Stimmen nicht die Klugheit und Besonnenheit begriffen, die das Handeln der Regentin lenkten. Sie wusste, dass wir in dieser Situation alle unsere Kräfte auf unseren wahren Feind konzentrieren müssen, einen Feind, der immer noch tief in unserem Territorium steht.
Wie die großen Regenten der Vergangenheit erkannte Linai Thelam, dass wir in dieser Situation den Frieden mit der Konföderation schließen MUSSTEN, auch wenn einige meinen mögen, dass es dazu zu früh war. Auch wenn es Stimmen gibt die sagen, wir sollten diesen Krieg noch einmal – und diesmal bis zum Ende – ausfechten. Die Zeit ist noch nicht reif dafür. Und keiner sollte aus einer kurzfristigen Verärgerung derjenigen die Anerkennung verweigern, die diesen Frieden erst möglich machte. Regentin, ich neige den Kopf vor Eurer klugen Zurückhaltung.“ Rallis Thelam senkte den Kopf, während er sich Linai zuwandte. Die Hände hatte er halb geschlossen, und presste sie gegen seine Brust. Seinen Worten fehlte es weder an Pathos noch an – scheinbar aufrichtiger – Bewunderung. Allerdings…vielleicht mochte Ciara sich täuschen, doch irgendwie schien er, als ob in Rallis Stimme auch ein irgendwie patriarchalisch-wohlwollender Ton mitschwang, als wäre ER das Oberhaupt der kaiserlichen Familie. Als wäre er der Imperator, der seiner ersten Dienerin dankte. Aber vielleicht kam das auch daher, dass Rallis auf dem Rednerpult etwas erhöht stand, und deshalb zwangsläufig auf Linai herabblickte.
„…Denn es ist die oberste Pflicht und Aufgabe eines Regentin, das Reich zu bewahren und zu erhalten in einer oft schwierigen und ungewissen Übergangszeit. Und wann war der Übergang jemals schwieriger und ungewisser, als in diesen Tagen?
Doch mit einer klugen Regentin, einem einigen Adel, einem Volk, das niemals das Vertrauen in das Reich und in die Zukunft verloren hat, mit einer Flotte und einer Armee, wie sie einmalig in dieser Galaxis ist – werden wir diese Phase der Ungewissheit bald hinter uns in den Nebeln der Zeit verschwinden sehen. Die dunkle Nacht ist vorbei, und der Morgen naht…“
„Woher kommen mir diese Worte bloß bekannt vor?“ Yelak runzelte verwirrt die Stirn, und tippte sich mit den Fingern nachdenklich gegen das Kinn.
Ciara Koo überlegte, dann lächelte sie frostig: „Die Inaugurationsrede von Calim I. Einer der großen Texte antiker Rhetorik.“
So wie Linai Thelam ihren Cousin musterte, schien sie jedenfalls nicht der Meinung zu sein, dass Rallis rein zufällig ausgerechnet aus DIESER Rede zitierte. Der Bürgerkrieg, den Calim beendet hatte, galt immerhin eines DER Schlüsselereignisse des frühen Ersten Imperiums. Erst vor ein paar Wochen hatte Ciara selber auf diese Epoche Bezug genommen, als sie der Regentin Tarans Loyalität versichert hatte. ‚Und jetzt bringt Rallis das ins Spiel…’
„Das Adelsforum ist zusammengetreten. Wie auch immer es wählen wird, es wird eine Entscheidung sein, die von Weisheit und unseren besten Traditionen bestimmt sein wird. Und wenn…“
‚Sag jetzt nicht, ‚wenn ich Imperator bin’. Damit würdest du alles ruinieren. Zeig, was für ein gerissener Spieler du bist.’
„…endlich wieder ein Imperator auf dem Thron sitzt, so darf und kann er niemals vergessen, wem er die Gelegenheit verdankt, das Reich zum endgültigen Sieg zu führen. Unserem Volk. Unserem Adel. Unseren Streitkräften. Und der Regentin!“
Wieder absolvierte Rallis Thelam seinen Gruß an Linai, und Jubel brandete auf. Wie ernst gemeint er war, das konnte man unmöglich präzise quantifizieren. Aber eine derartige Hymne auf ein regierendes Mitglied der Kaiserfamilie verlangte ganz einfach einen gewissen Verhaltenscode.
Als der Jubel etwas abebbte, wandte Yelak Taran seinen Kopf einmal mehr zu seiner zukünftigen Schwägerin: „Erklär mir das doch mal. Warum lobt er ausgerechnet LINAI so in den Himmel.“
„Weil sie eine Frau ist. Und Frauen werden nun einmal nicht Kaiser oder Imperator. Also ist sie keine wirkliche Gefahr. Das sind nur die Männer hinter ihr. Und indem er den Übergangscharakter ihrer Regentschaft betont, bringt er die richtige Botschaft unter die Leute. Außerdem wirkt er souverän, wenn er ihre Leistungen lobt. Es wäre wohl kaum sehr willkommen, wenn er das Erreichte offen madig machen würde. Dafür bleiben immer noch die Hinterzimmer und Geheimtreffen.“
„…Heute haben wir uns vor allem versammelt, um Admiral Ilis zu feiern, und den Sieg, den unsere Streitkräfte erzielt haben. Auf diesen Sieg werden wir aufbauen, wenn wir eine neue Zukunft errichten.
Es liegt nicht in meiner Hand, Kal Ilis eine Ehrung zu überreichen, deren Bedeutung an die Aufnahme in die Reihen der Unvergessen heranreicht. Doch es ist in meiner Hand, wenigstens im Kleinen dazu beizutragen, den Sieg unvergesslich zu machen.
Zur Ehre des Triumphs von Hannover soll aus meinem Vermögen eine Gedenkmünze geprägt werden, als eine bescheidene Dankesgeste des Reiches gegenüber den Soldaten und Offizieren, die diesen Sieg erfochten. Ich habe dem Finanzministerium, dem Kanzler und der Regentin dieses Angebot gemacht, und es wurde bereits bewilligt.“ Vermutlich war es das gewesen, was er vorhin seiner Cousine hatte mitteilen wollen.
„Und ich möchte hiermit außerdem bekunden, dass ich einen Preis stiften möchte, der künftig alljährlich an denjenigen Schüler unserer Militärakademie vergeben werden soll, dessen Arbeit nach dem Urteil einer unabhängigen Prüfungskommission am Besten den Idealen gerecht wird, die den Sieg von Hannover möglich machten. Entschlossenheit, Wagemut, und taktische Brillanz – Werte, die unser Imperium groß gemacht haben, und unseren Truppen auch künftig den Sieg schenken werden!“
Mochte der Applaus auch geringer sein als der, den Linai erzielt hatte, nach Ciara Koos Meinung hatte sich Rallis Thelam einen guten zweiten, oder vielleicht schlimmstenfalls dritten Platz gesichert. Natürlich konnte das auch daran liegen, dass er ein Mitglied der kaiserlichen Familie und Thronprätendent war. Dennoch…
„Das war es nun aber wirklich.“
Ciara kicherte leise: „Außer Dero oder Meliac fordern Rallis gleich hier und jetzt zu einem Duell heraus. Nein, das nun wohl doch nicht.“
„Vermutlich werde ich ein paar Tage brauchen, um die ganzen Unterströmungen und Anspielungen zu sortieren, die man uns heute um die Ohren gehauen hat.“
„Ich mag dich trotzdem, Schwagerherz. Aber ich bin sicher, die anderen sind da wesentlich schneller. Kommst du noch zu der Schiffstaufe?“
„Dazu bin ich nicht hochrangig genug. Diese Zeremonie ist nur für ein auserlesenes Publikum bestimmt, und ein einfacher Captain gehört nicht dazu. Wie hast du es eigentlich geschafft…“
„Ich habe gar nichts gemacht. Die Einladung kam aus dem Büro der Prinzessin.“
„Ich frage mich, was sie dir damit mitteilen will. Oder deiner Familie. Oder `Kas.“
„Du lernst sehr schnell.“
„Schnell genug, um zu begreifen, dass die Ausarbeitung eines fünfstufigen Offensivplans mehrerer Trägerkampfgruppen EINFACH ist, im Vergleich zu diesem Spiel. Dabei sticht dir wenigstens niemand einen Dolch in den Rücken. Wie kommst du nach Oben?“
„Vielleicht nehme ich eines der Palast-Shuttles. Oder einer der geladenen Gäste nimmt mich mit.“
„Frag doch Rallis. Er würde dir bestimmt einen Platz in seinem Privatshuttle freimachen.“
Die junge Adlige verpasste ihrem künftigen Schwager einen nicht allzu sanften Schlag gegen den Oberarm: „Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst damit aufhören! Und wenn du deine Witzchen in der Gegenwart meiner Geschwister, unseren Eltern, oder gar `Kas reißt…“
„Mokas müsste mich dann wohl fordern. Auch wenn er keine Chance hätte. Aber schon gut, ich bin schon still.“
Auf jeden Fall – und auch weil sie wusste, dass nicht alle Lästermäuler so leicht zum Schweigen zu bringen waren, wie Yelak Taran – war Ciara Koo erleichtert, dass Rallis Thelam keine Anstalten machte, noch einmal auf seine neue Bekanntschaft zurückzukommen. Vielmehr war er in ein intensives Gespräch mit Tobarii Jockham verstrickt, bei dem der temperamentvoll gestikulierende Rallis offenbar einen Großteil der Unterhaltung bestritt. Dafür registrierte Ciara, dass es in der Menge eine ganze Anzahl ihr bekannter Gesichter gab – Gesichter, die sie bisher sträflich vernachlässigt hatte.
Mit einem lautlosen Seufzen verabschiedete sie sich von Yelak, und machte sich daran, das Versäumte nachzuholen. Eine junge Adlige aus dem Hause Koo hatte nun einmal gewisse Erwartungen zu erfüllen…
Cattaneo
Tyr
Ein wenig später
Rallis Thelams Privatshuttle war tatsächlich mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet, genauso wie die Gerüchte es behaupteten. Allerdings fehlte momentan die zu den schlüpfrigeren dieser Gerüchte gehörende Schar hübscher Akarii-Mädchen. Der Thronprätendent räkelte sich alleine in der bequemen Polsterung, einen in Gold gefassten Kristallkelch mit hundertjährigem Wein in der linken Hand, an dem er ab und zu mit sinnender Miene nippte.
Ihm gegenüber saß Dan Qau, der allerdings wesentlich weniger entspannt und zufrieden wirkte: „Hoheit, ich verstehe das nicht. Nachdem Sie Dero Allecar, der den Frieden immerhin ausgehandelt hat, wie einen Aussätzigen behandelt haben…warum parlieren Sie dann im nächsten Augenblick mit Jockham darüber, inwieweit das Finanz- und Wirtschaftsministerium den privaten Handel mit der Konföderation fördern, und die Ausformulierung von Handelsverträgen beschleunigen kann?“
„Natürlich verstehst du das nicht, mein lieber Dan. Deshalb kann ich ja auch Imperator werden, und du nicht.
Es ist ganz einfach. Tobarii hat offenbar an der Idee einen Narren gefressen, dass wir den Krieg mit der Konföderation vergessen werden, wenn wir nur genug Tabak und Schokolade importieren. Es kann natürlich auch sein, dass er dabei an die Profite seiner Familie denkt. Es ist völlig unwichtig, was ich von diesem Frieden halte, es ist nun einmal die Pflicht des Wirtschaftsministeriums, die Privatwirtschaft zu fördern, und die Einnahmen des Imperiums zu mehren. Und vorteilhafte Handelsbeziehungen könnten für unsere reichlich leeren Kassen ein wahrer Segen sein. Vor allem, wenn wir die nötigen Verträge aus einer Position der Stärke schließen können. Natürlich sollten wir dabei nicht zu gierig sein, wir müssen langfristig denken…
Davon profitiert auch das kaiserliche Finanzministerium, und wer diesen mächtigen Verbündeten im Rücken hat, der hat auch gegenüber dem Innenministerium, den Streitkräften und der Kolonialverwaltung einen guten Stand.
Es würde mir nichts bringen, wenn ich Tobarii schneide, im Augenblick säße er als Kriegsminister und Ehemann meiner ebenso geliebten wie willensstarken Cousine sowieso am längeren Hebel. Wenn er sich denn mal dazu durchringen könnte, diesen Hebel zu benutzen. Aber wozu sollte ich das riskieren? Indem ich ihm zuarbeite mache ich deutlich, dass ich nicht GRUNDSÄTZLICH gegen diesen Frieden bin, wie einige unserer geliebten Betonköpfe im Militär. Denn die sind ja wohl eher Karreks Klientel. Bei denen kann ich nicht punkten. Und warum ich Dero so von Oben herab behandelt habe…
Bei ihm kann ich mir das auch LEISTEN, Dan.
Die hecken irgendetwas aus, Meliac und sein missratener Sohn. Aber jede Verbindung hat ihre Sollbruchstelle. Und ich denke, ich denke…Dero und Tobarii, das könnte so eine Bruchstelle sein. Ich habe ohnehin so meine Zweifel, ob unser lieber, harmloser Tobarii genau weiß, was sein ehrgeiziges Frauchen so alles am Laufen hat.
Tobarii ist ungefährlich. Der alte Meliac hingegen…der ist alles andere als harmlos.
Ja, natürlich huldigen Dero und Tobarii momentan beide diesem Seid-nett-zu-den-Menschen-Unsinn…Aber das dürfte auch alles sein, was sie verbindet. Als Kitt für eine Allianz ist das dünn. Vor allem…“, Rallis Thelam grinste anzüglich, „…hm. Vielleicht fragt sich Tobarii ja irgendwann mal, ob eine Meinung ALLES ist, was er mit Dero teilt. Unser junger Gefreiter und die Prinzessin…“
„Aber Jockham und Linai leben doch seit Jahren quasi getrennt. Jeder vermutet, dass die Prinzessin einen Geliebten hat. Genauso wie ihr Mann.“
„Was, du meinst, dass ihr Mann einen GELIEBTEN hat? Ha!
Aber das verstehst du nicht. Eine heimliche Affäre ist das eine. Solange sie geheim bleibt, ist sie praktisch nicht passiert. Aber deswegen wäre Tobarii noch lange nicht bereit, mit dem Geliebten seiner Frau eine Allianz einzugehen. Denn da kommt seine Ehre ins Spiel. Er würde sich zum Gespött des gesamten Hofs machen…
Hm…vielleicht wäre es auch an der Zeit, den armen alten Tobarii auf einige unangenehme Wahrheiten hinzuweisen.“
Der arme alte Tobarii Jockham hatte ein mindestens ebenso großes Privatvermögen wie Rallis, und war ein paar Jahre jünger.
„Sie wollen dem Kriegsminister…“
„Natürlich nicht! Wie kommst du denn nur auf diese mondsüchtige Idee?! Niemand liebt den Boten, der unangenehme Wahrheiten verkündet. Ich denke eher an ein Gerücht, ein Hauch…ein Flüstern im Schatten…“
Der Thronprätendent versank in Schweigen, und Dan Qau hütete sich, ihn zu stören. Nach ein paar Minuten lachte Rallis leise auf, und schien wieder in die Gegenwart zurückzukehren: „Was hältst du von Ciara Koo?“
„Nun, sie ist sehr hochgeboren, wohlerzogen, gut aussehend…“
„Das gilt auch für die Haustiere meiner Tante. Gib dir ein bisschen mehr Mühe, Dan.“
„Ich verstehe nicht ganz, warum Sie ihr so viel Aufmerksamkeit widmen. Sie ist doch nicht wichtig. Sie hat keinen Einfluss auf ihre Familie. Keine wichtige Funktion in der Verwaltung. Nur ein hübsches Gesicht…“
„Entspann dich, Dan, ich bin nicht in DER Hinsicht an ihr interessiert. Eine Affäre mit einem Koo-Mädchen, deren hochadliger Verlobter an der Front steht, und der gute Beziehungen zu den traurigen Überresten der Offiziersverschwörung hat…das wäre wirklich der Gipfel der Dummheit.
Natürlich, unter anderen Umständen, und wenn ich zehn Jahre jünger wäre…“
„Dann wärt Ihr allerdings immer noch älter als ihr Verlobter, Hoheit. Und der ist immerhin acht Jahre älter als sie.“
Rallis Thelam lachte schallend, wurde aber schnell wieder ernst: „Mag sein, dass sie nur eine weitere Palastblüte ist, die unsere tapferen jungen – oder auch nicht mehr ganz so jungen – Offiziere an ihre Revers heften. Vielleicht auch nicht. Das ist nicht wichtig.
Wichtig ist aber, wer ihr Großvater war. Und was ihr Verlobter gerade im Draned-Sektor treibt. Nach allem was ich gehört habe, ist der junge Mokas Taran im Begriff, ein paar hundert Jahre Kolonialpolitik auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.“
„Aber davon hat sie doch sicherlich keine Ahnung…“
„Wer weiß…Sie ist immerhin eine Koo. Außerdem ist Mokas Taran ein junger Mann. Und junge Männer reden. Mit ihren Geschwistern, ihren Eltern, ihren Verlobten…“
„Wir wissen immer noch nicht, wohin Großadmiralin Rian die Draned-Flotte geschickt hat.“
„Zumindest ist der junge Taran anscheinend nicht auf dem Weg hierher, um die Regentschaft meiner geliebten Cousine zu zementieren, Tobarii oder – HA – von mir aus auch sich selbst auf den Thron zu heben.
Indem ich der jungen Koo einmal die Ehre meiner Aufmerksamkeit zukommen lasse – in aller Ehre natürlich – kann ich ihrer Familie und Taran ein dezentes Signal geben.“
„Und was, wenn sie der Prinzessin erzählt, wie sehr Ihr euch für die Karriere von Mokas Taran erwärmen könntet, Hoheit?“
„Umso besser. Dann muss sie sich fragen, mit wem ich noch gesprochen habe. Und ob sich der junge Taran am Ende für meine Offerte interessieren könnte. Oder warum ich auf so…vordergründige Art und Weise mein Interesse am Draned-Sektor zeige…“
„Da wir schon einmal dabei sind…ich möchte, dass du ein paar diskrete Treffen unter vier Augen arrangierst. Mit deinem Onkel, mit Latasch, und mit den Ministern. In dieser Reihenfolge. Ach ja, und sieh auch zu, ob dieser viel versprechende junge Offizier, den unsere Großadmiralin an den Hof geschickt hat, ein wenig Zeit für einen alten Imperialen hat.
Und mach die Treffen bitte nicht ZU diskret. Nur so, dass sie eben…diskret wirken. Verstehst du?“
„Ich bin nicht völlig sicher…“
Rallis Thelam seufzte kurz: „Vielleicht sollte ich dir ein Schaubild zeichnen.
Vor allem muss ich mich auch noch mit Karrek treffen. Dezent, aber nicht zu unauffällig.
Und mit Navarr. Das Treffen mit ihm sollte aber WIRKLICH diskret sein. Jedenfalls eine kleine Weile lang.“
„Warum…“
„Ich vermute, Karrek wird sich zieren. Nur Stärke, kein bisschen Subtilität. Zur Not kannst du das ein wenig verschleppen. Aber das mit Navarr hat Priorität. Wenn er sich zu sehr sperrt…
Dann deutest du vielleicht an, dass ich ja auch nicht mehr jünger werde, und dass ich keinen legitimen Erben habe. Was ein gefährlicher Zustand für einen Imperator ist. Dass ich aber schon an einen gewissen, sehr viel versprechenden jungen Mann gedacht habe…“
„Navarr ist nicht dumm. Er weiß, dass er in einem solchen Fall Jahrzehnte warten müsste.“
„Nun, wenn er ein wenig Jor spielt – also die Stimme der Vernunft ignoriert – dann könntest du vielleicht…ganz vage…die Möglichkeit andeuten, dass auch der Titel eines Großkanzlers auf Lebenszeiten für mich vielleicht einen gewissen, verführerischen Klang haben könnte.“
Dan Qau der sich eben mit einem etwas schlichteren Kelch bewaffnet hatte, verschluckte sich, und rang hustend nach Atem: „Was?! Meint Ihr das ernst?!“
„Dass du das im Notfall andeuten sollst? Aber natürlich. So schlecht ist meine Aussprache nun wieder auch nicht. Aber vergiss nicht…von einer Möglichkeit, einer vagen Andeutung…ist es ein weiter Weg bis zum IST. Da kann noch so manches passieren.“
„Also ist das eine Lüge?“
„Dan, Dan, so ein hartes Wort. Ich will doch Navarr nicht belügen. Ich will nur der Möglichkeit Rechnung tragen, dass die Zukunft…ständig im Fluss ist. Verstehst du? Ich habe die besten Absichten mit dem lieben Navarr. Aber dennoch…“
„Würdet Ihr eventuell wirklich auf den Thron verzichten?“
„Hm…Wer weiß. Mein geliebter Cousin Jor wollte immer Alles – oder Nichts. Und genau das ist es auch, was er bekommen hat. Alles. Und jetzt Nichts. Karrek hat zu viel von Jor, um einen passablen Bündnispartner abzugeben. Man kann einen T’rr vielleicht häuten. Aber man kann ihn nicht zähmen.
Navarr allerdings…Er ist noch…formbar. Und er ist jung, beliebt, gut aussehend. Das Volk hat junge Prinzen schon immer bewundert. Das könnte am Ende den Ausschlag geben. Und im Zweifelsfall, wenn es gar nicht anders geht…bin ich lieber der Mann hinter dem Thron, als der, der zu den Füßen des Imperators sitzt, und um ein paar Krumen bettelt.“
Kurz glaubte Dan Qau einen anderen Rallis Thelam zu sehen. Einen Mann, dem durchaus bewusst war, dass ihm im Vergleich zu solch ‚strahlenden’ Gestalten wie Jor und Karrek etwas fehlte – nämlich militärische Ehren und der Glanz eines jungen Helden. Der sich darüber im Klaren war, dass seine Jugend vorbei war, und dass er nur diesmal und nur jetzt die Chance haben würde, sich den Thron – oder den Platz hinter dem Thron – erkämpfen zu können. Den eiskalten, planenden Verstand, der hinter der jovialen, gutmütigen Fassade schlummerte.
„Ach noch etwas, mein lieber Dan. Ich brauche so bald wie möglich eine Liste der heiratsfähigen Damen unseres Hofadels. Vorzugsweise jung, hübsch, und mit halbwegs einnehmenden Wesen, falls sich das arrangieren lässt.“
„Hoheit? Erwägt Ihr etwa…“
Rallis lachte laut auf: „Zeit wäre es. Denn Jor und meine geliebte Cousine Linai haben uns ja verdeutlicht, dass die Erblinie gefährlich ausgedünnt ist. Hätte Jor einen Erben, wäre Linai mit einem Sohn schwanger…das alles wäre wahrscheinlich niemals passiert, die Thronfolge stände wohl außer Frage.
Aber da beide ihre Pflichten gegenüber der Dynastie so sträflich vernachlässigt haben, wäre es vielleicht WIRKLICH an der Zeit, etwas für künftige Generationen von Thelams zu tun.
Aber nein, ich dachte da nicht in erster Linie an mich. Sondern an unseren jungen, unverheirateten Navarr…“
Rallis Thelam lehnte sich wieder zurück, und überließ sich seinen Gedanken. Bald würde der Zeitpunkt gekommen sein, da jeder am Hof Stellung beziehen musste, da die Banner entrollt, und die Fronten klar sein mussten. Aber bis dahin war noch Alles in der Schwebe. Alles möglich. Und nie war das Spiel der Häuser und der Clans lebendiger, als in diesen Augenblicken.
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* eine harmlose Amphibie auf Akar. Der Name kommt wegen der grauschwarzen, warzigen Musterung der Haut. Die bis zu zwei Kilogramm schwere Kröte gilt als ziemlich schwerfällig, gefräßig, und extrem fruchtbar. Ihr Verzehr gilt allgemein als bäuerlich.
** Rewar – auch Raubechse genannt, ein einheimisches Raubtier von Akar. Etwa zwei Meter lang, für eine Echse recht hochbeinig, schnell, und ein guter Schwimmer. Leicht giftig, gilt als aggressiv und hinterhältig.
*** eine Drüse im unteren Hüftbereich, die nur bei männlichen Akaraii zu finden ist. Galt in der antiken Heilkunde und Organlehre als Sitz männlicher Tatkraft und Entschlossenheit (weswegen auf einige Verbrechen die Entfernung der Drüse stand – eine Prozedur, die allerdings nur die Hälfte der Verurteilten überlebte). Neuere Forschungen haben ergeben, dass die Drüse tatsächlich einige Hormone produziert, die bei der Fortpflanzung eine – allerdings nur nebensächliche – Rolle spielen.
Cattaneo
Cattaneo
Entscheidungen
Raumfrachter Emerald Jade, Medusa-System
Commander Andrew Tremane hatte es kommen sehen. Der Gesichtsausdruck von Dr. Eriksen hatte bereits während des Abendessens Schwierigkeiten angekündigt. So war er wenig überrascht, dass ihn die Ärztin nach Ende der Mahlzeit abfing: „Commander? Wir müssen reden.“
Natürlich blieb das nicht ganz unbemerkt – auf diesem verdammten Schiff blieb einfach gar nichts geheim. Die Kapitänin des Frachters lauschte zwar nicht offensichtlich, aber es war klar, dass sie sowohl Gesichtsausdruck als auch Worte der Gesprächspartner genauestens verfolgte, auch aus zehn Schritt Entfernung, während sie auffällig unauffällig die Inneneinrichtung des Flurs betrachtete. So wie Tremane sie einschätzte, las sie sogar von Lippen ab.
Deshalb nickte er Dr. Eriksen nur unverbindlich zu: „Reden wir in der Krankenstation!“
Er registrierte, dass ihn Jean Falkner mit einem fragenden Augenaufschlag musterte, schüttelte jedoch leicht den Kopf. Für ein Gespräch mit der Ärztin konnte er ja nun wirklich auf ein Druckmittel wie die Gegenwart der TIS-Feldagentin verzichten. Was natürlich nicht hieß, dass Falkner nicht lauschen würde, immerhin war auch die Krankenstation längst verwanzt worden.
Die Bezeichnung ‚Krankenstation’ für Eriksens Arbeitszimmer war inzwischen nur noch bedingt zutreffend. Natürlich behandelte sie hier kleine Beschwerden – schwere Verletzungen waren bisher glücklicherweise ausgeblieben – und führte die routinemäßigen Untersuchungen an Crew und Passagieren durch. Aber der Raum diente zugleich als Obduktionslabor, eine Bestimmung, für die er bei Beginn der Mission ganz gewiss nicht vorgesehen oder eingerichtet worden war. Zudem handelte es sich um Obduktionen, die eigentlich unter höchster Geheimhaltung und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden sollten. Infolge dessen stank es nach starken Desinfektionsmitteln, und vor den Schlitzen der Belüftungsanlage waren Zwischenfilter angebracht worden – wenngleich das eine ziemlich provisorische Schutzmaßnahme war. Auch die aufgestapelten gepanzerten Quarantäneboxen, in denen präparierte Schnitte und Proben – meist Gehirnsubstanz der Toten von der Mary C, aber auch Blut und anderes Material – aufbewahrt wurden, waren nicht zu übersehen. Sich mit diesem Wissen auf den Behandlungstisch zu legen, würde so manchen wohl einiges an Überwindung kosten. Eine Überwindung, die vielleicht nicht jeder aufbringen konnte.
Der TIS-Commander ließ sich von dieser Atmosphäre wenig beeindrucken. Trotzdem er selber kein Feldagent war, hatte er schon an ganz anderen Orten gearbeitet, und hatte ganz andere Sorgen. Lieutenant Commander Pawlitschenko war nach ihrem letzten Aufklärungsflug noch wortkarger als sonst gewesen, hatte es aber für notwendig befunden, ihm – und nur ihm – gesonderte Meldung zu machen. Es war der jungen Pilotin anzusehen gewesen, dass sie sich bei jedem Wort geradezu zwingen musste, weiterzureden. Doch sie hatte ihren Bericht heruntergebetet und darüber hinaus seine Fragen scheinbar ausführlich beantwortet. Sie war wenigstens so klug gewesen, weder Georges noch einem anderen Idioten etwas von ihren Beobachtungen zu erzählen, doch ihr Bericht war auch so schon beunruhigend genug. Andrew Tremane war inzwischen daran gewöhnt, dass er Dingen nachjagte, die so schwer aufzuspüren waren wie Phantome. Aber was ihm auf dieser Mission geboten wurde, das war schon ein Fall für sich!
Diese ganze Sucherei hier diente vor allem dem Zweck, mehr über das Schicksal der Copernicus zu erfahren, oder über das von Schiffen wie der Motronos und Stardancer, die das Pech gehabt hatten, ihren Weg zu kreuzen – und jetzt vielleicht auch über das der Mary C. Und er war sich immer noch nicht sicher, in wie weit das mit Georges geheimnisvoller Superrasse zusammenhängen sollte. Zwar hielt er selbst sie ebenfalls für verdächtig, doch das hieß nicht, dass er in jeder Hinsicht mit dem NSC’ler übereinstimmte. Tremane hatte einige eigene Theorien, aber die waren alles andere als reif. Vor allem ging ihm der Wissenschaftler mit etwas zuviel Begeisterung und etwas zuwenig gesunder Paranoia an die Sache heran. Und wenn er sich jetzt mit einer Suche in die falsche Richtung verzettelte…
Pawlitschenko teilte offenbar sein Unbehagen, wohl auch weil sie Angst hatte, als Phantastin oder Spinnerin zu gelten. Bei ihrer Akte war das auch kein Wunder. Aus eigenem Antrieb würde sie mit Sicherheit niemandem etwas sagen. Schon gar nicht, nachdem er ihr das noch einmal ausdrücklich verboten hatte. Besonders frustrierend war, dass die Aufzeichnungen ihrer Sensoren bestenfalls unvollständig zu nennen waren. Und sie hatte sich standhaft geweigert, sich festzulegen, ob sie nun etwas gesehen hatte, oder nicht. Die exotische Strahlung des Systems hatte ganze Arbeit geleistet. Es blieb bei einem riesengroßen Vielleicht. Viele der Aufzeichnungen und Bilder, besonders diejenigen von den geheimnisvollen Strukturen im Mare Prizraki – man konnte nicht sagen, dass diese Russin nicht einen ziemlich schrägen, um nicht zu sagen perversen Sinn für Humor hatte* – waren kaum zu gebrauchen. Futter für Spekulationen boten sie mehr als genug, Gewissheiten wenige. Hatte sie sich getäuscht oder war da wirklich etwas? Zwar saß jetzt Lieutenant Commander Fuchida an den Aufnahmen – noch ein Mitwisser – aber auch der Flottenoffizier würde wohl nicht viel herausbekommen. Wenigstens wusste der Sensorspezialist, was sich gehörte. Zumindest im Augenblick, solange nicht ein noch höherer Dienstgrad ins Spiel kam.
Aber so oder so würde er die anderen einweihen müssen – jedenfalls wenn er die Ruinen, oder was immer auch dort war, genauer untersuchen wollte. Und er musste es bald tun, bevor sich doch noch jemand verplapperte und aufgebauschte Gerüchte die Runde machten. Selbst mit Befehl und Drohung ließ sich auf einem Schiff wie diesem kaum etwas dauerhaft unter Verschluss halten. Dafür gab es zuwenig Abstand und zuviel neugierige Augen und Ohren.
Außerdem – die Untersuchung von Pawlitschenkos Fund ließ sich nicht mit einem Jäger erledigen. Und die Drohnen, die sie mitführten, waren auch kaum ausreichend. Wollte man aber alle Register ziehen, musste man mehr Leute einbeziehen. Und das hieß, Georges würde sehr wahrscheinlich im Quadrat springen, wenn er erst einmal von den Neuigkeiten erfuhr. Jayhawker und Eriksen würden wieder Bedenken anmelden – und die Marines würden eine Neuauflage des alten Klassikers ‚Meuterei auf der Bounty’ hinlegen, mit ihm als Captain Bligh. So eloquent hatte es Falkner ausgedrückt, deren Aufgabe unter anderem die Überwachung der Abhörvorrichtungen war. Unter den Soldaten gärte es, und McKenna und sein Vize bekamen es kaum mit. Gerechterweise durfte man ihnen dafür kaum einen Vorwurf machen, denn sie hatten mehr als genug Arbeit. Außerdem stand so eine Situation nicht im Handbuch, und das ersetzte oder belegte bei den Marines ja bekanntlich 90 Prozent der Hirnmasse. Andererseits war die Unruhe unter den Soldaten schon so gut zu spüren, dass selbst die russische Pilotin argwöhnisch wurde. Vermutlich lag ihr eine latente Paranoia im Blute.
Dabei war das noch nicht einmal das einzige Problem. Wenn Georges auch nur einen Hinweis erhielt, dass hier möglicherweise endlich handfeste Beweise für seine geliebte Superrasse zu finden waren, würde Tremane ihn buchstäblich mit Gewalt vom Funkgerät wegprügeln müssen. Vor allem, da eine gründliche Erforschung Material und Personal erforderte, das weit über den Möglichkeiten dieser Expedition lag. Der NSC’ler würde Morgenduft wittern, mit SEINEN Leuten ganz groß zuschlagen, vielleicht gar die ganze Erforschung übernehmen zu können. Das hier wäre für ihn nicht nur die Gelegenheit, all seine Kritiker auf Dauer mundtot zu machen, es konnte ihm sogar wissenschaftliche Unsterblichkeit bringen. Und es war nicht zu erwarten, dass er die Risiken und möglichen Implikationen der Situation auch nur annähernd überschaute. Doch wenn erst etwas nach Sterntor durchsickerte, dann bedeutete das todsicher Aufmerksamkeit der falschen Sorte. Bestenfalls würde irgendein hohes Tier beim NSC die Gelegenheit sehen, die eigene Karriere kräftig zu boosten. War der Rangunterschied erst einmal hoch genug, dann konnte selbst so ein Schreibtischtäter Tremane übergehen. Schlimmstenfalls wurde jemand darauf aufmerksam, was für Strippen Tremane alles hatte ziehen müssen, um die Mission zu ermöglichen, und wie viele Vorschriften er…sagen wir kreativ ausgelegt hatte.
Andererseits gab es da noch andere Faktoren, die es zu berücksichtigen galt. Pawlitschenko hatte auch ihm nicht alles erzählt. Angesichts ihres Hintergrundes war es wenig überraschend, dass sie sich in Bezug auf ihren physischen und psychischen Zustand nicht sehr mitteilsam gab. Sie war aber glücklicherweise so töricht gewesen, eine private Zusammenfassung ihrer Erlebnisse anzufertigen, eine möglichst detaillierte und zeitlich geordnete Analyse ihres Erkundungsflugs, die sie unter ihre Musikaufzeichnungen geschmuggelt hatte – einschließlich ihrer ominösen „Gefühle“. Sie konnte natürlich nicht wissen, dass jedes ihrer Worte auch an Falkners Ohr gelangte. Und was die Pilotin gesagt hatte, klang gar nicht gut. Was er jetzt nicht gebrauchen konnte, waren Untergebene, die durchdrehten – oder, viel schlimmer, tatsächlich Einflüssen ausgesetzt waren, die er nicht kontrollieren konnte.
Aus diesem Grund täuschte Tremane nicht einmal Freundlichkeit vor, als er die Tür der Krankenstation hinter sich schloss: „Was ist, Doktor? Ich habe zu tun.“ Doch die junge Doktorin hatte anscheinend etwas die Furcht vor ihm verloren, jedenfalls blieb sie gelassen, ja sogar schnippisch: „Die Zeit sollten Sie sich schon nehmen, immerhin war die ganze Mission Ihre Idee. Oder wollen Sie, dass Ihnen später ein Problem im Gesicht explodiert, bloß weil Sie jetzt zu beschäftigt waren?“ Der Geheimdienstler maß sie mit einem Blick, der sie normalerweise hätte auf Zwergengröße zusammenschrumpfen lassen. Aber drei Tage in der Gesellschaft von Leichen hatte entweder Eriksens Kampfgeist geweckt, oder ihren Selbsterhaltungstrieb abgestumpft. Sie hielt den Blick ihres Vorgesetzten stand, bis Tremane vorerst klein beigab – immerhin hatte er keine Zeit für eine Machtprobe: „Also, was ist nun? Und kurz bitte.“
Nun, nachdem sie sich behauptet hatte, wurde die Ärztin wieder geschäftsmäßig: „Es geht um einige Details, die mir bei meiner letzten Untersuchung aufgefallen sind. Es betrifft Lieutenant Commander Pawlitschenko.“ Andrew spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. ,Nicht noch mehr Komplikationen.’
Dank seiner Erfahrung bewahrte er jedoch ein Pokerface: „Was ist mit ihr, dass ich es unbedingt wissen muss? Hat sie sich schwängern lassen und darf deshalb nicht länger raus?“ Solche vulgären Sprüche waren eigentlich nicht seine Art, aber inzwischen zeigte wohl jeder an Bord Nerven.
Die Ärztin musterte ihr Gegenüber mit gerunzelter Stirn. Offenbar argwöhnte sie, dass ihre Neuigkeit gar keine solche war, und dass der Geheimdienstler nur davon ablenken wollte, dass er ahnte, woher der Wind kam. Doch dann fuhr sie lediglich fort: „Pawlitschenkos Gehirnmuster sind ja ohnehin von erheblichem Interesse – ich würde sie gerne gründlicher studieren.“ Tremane unterdrückte eine Grimasse. Es war ja vollkommen in Ordnung, Menschen allein als Werkzeuge zu betrachten. Aber diese Mediziner mit ihrer Attitüde des ,schauen wir mal, wie es funktioniert’ …
Die Ärztin fuhr ungerührt fort: „Dank ihrer Kooperation habe ich über sie relativ gute Vergleichdaten. Und anhand dieser kann ich feststellen…“ Dr. Eriksen rief einige Bilder auf ihren Messgeräten auf: „Hier – sehen Sie sich diese Anomalien an. Die Aufnahme ist von gestern, die daneben von vorgestern. Der neuere Scan zeigt zwar bei weitem nicht solche Ausschläge wie bei dem Mann im Raumanzug. Und es gibt auch keine Hinweise auf Hirnschädigungen wie bei den anderen Toten. Aber in anderer Hinsicht…“
Die Ärztin gestikulierte und rief einige weitere Bilder auf – Aufnahmen der zwei Nighthawk-Piloten, die ihre ersten Untersuchungsobjekte gewesen waren: „Hier, schauen Sie, die Daten der Angry Angels, die zuerst im Asteroidengürtel gewesen sind. Pawlitschenko weist jetzt deutlich gesteigerte Ausschläge in ihrem so genannten Traumsektor auf. Dabei hat sie ohnehin bereits leicht anormale Werte – vermutlich Folgen eines Kriegstraumas. Aber ihre neuen Werte gehen deutlich darüber hinaus. Mindestens so stark wie bei Pallardo und Nakakura. Vermutlich sogar noch stärker.“
Der TIS’ler kniff seine Augen leicht zusammen. Die Übereinstimmung musste sogar einem Laien wie ihm auffallen. Er erinnerte sich natürlich ebenso wie die Ärztin daran, wie der Schiffbrüchige ausgetickt war: „Ist das gefährlich?“ Dann sah er sich genötigt zu präzisieren: „Ich meine – für uns oder die Mission.“
Dr. Eriksen warf ihm einen kaum verhohlenen frustrierten Blick zu. Natürlich missbilligte sie seine Einstellung, das Wohl des Einzelnen grundsätzlich hintan zu stellen. Doch dann schüttelte sie leicht den Kopf: „Ich glaube es nicht. Dass sie psychotisch reagiert, kann ich im Moment ausschließen, und auch für ihre Leistungsfähigkeit sehe ich geringe Risiken. Am ehesten ist es gefährlich für Pawlitschenkos Nachtruhe – vielleicht wäre es ratsam, ihr einige Psychopharmaka zu verabreichen. Mehr als Schlafstörungen erwarte ich vorerst nicht, wenn das kein Beginn eines eskalierenden Prozesses ist. Deshalb muss sie auf jeden Fall weiterhin gründlich untersucht werden. Nichts deutet jedoch vorerst auf ein gefährliches Ausmaß hin, und körperlich ist sie auch in Ordnung – von gewissen Stressfaktoren abgesehen. Das Faszinierende ist, und das sollte Sie beruhigen, dass in ihrem Reflexzentrum – das bei ihr ähnlich gut entwickelt ist wie bei den anderen Piloten – praktisch keine Anomalie festzustellen ist.“
Andrew konnte seinen Zynismus kaum verbergen: „Faszinierend. Und was ist daran so bedeutsam? Wenn sie nicht zu einer Gefahr wird…“ Insgeheim arbeitete sein Verstand. Dies deutete darauf hin, dass vielleicht doch etwas an der Strahlungs-These dran war. Oder ein anderer Reiz, der nicht über Kontakt übertragen wurde…
Die Ärztin starrte ihn an, als hätte er gegackert: „Aber verstehen Sie nicht? Wir haben jetzt eine Vergleichsperson, bei der wir genaue Daten vorher, während, und nach der Beeinflussung haben. Und wir wissen detailliert, welchen Faktoren sie zwischen den einzelnen Untersuchungen ausgesetzt gewesen ist. Damit kommen wir die Frage, was die anderen beeinflusst hat – Pallardo, Nakakura, die Besatzung der Mary C – einen großen Schritt näher. Und damit können wir uns besser dagegen schützen.“ Sie wirkte fast euphorisch: „Vor allem könnte uns das helfen, die Varianten einzugrenzen. Pawlitschenko hatte definitiv keinen Kontakt mit irgendwelchen Artefakten, auch nicht mit den Leichen. Es muss also einen anderen Auslöser geben.“ Sie runzelte die Stirn, offenbar in Gedanken versunken.
Es war wohl nicht der geeignete Augenblick, um sie erneut darauf hinzuweisen, dass die Gesundheit der Teilnehmer der Expedition nur insoweit von Interesse war, wie die Erfüllung des Auftrages davon abhing. So heuchelte der Geheimdienstler aufrichtiges Interesse: „Ich verstehe. Haben Sie eine Ahnung, warum es diese unterschiedlichen Reaktionen gibt – und vor allem, was der auslösende Faktor war?“ Dr. Eriksen schüttelte den Kopf: „Noch nicht. Dazu müsste ich mich noch gründlicher mit Pallardo und Nakakura beschäftigen. Wir müssen die weitere Faktoren in die Rechnung einbeziehen – Geschlecht, Gesundheitszustand, Aufenthaltsort innerhalb des Systems…Auch sie hatten keinerlei Kontakt mit irgendwelchen Artefakten, sie haben sich während ihrer Zeit im Medusa-System stets in einer nach Außen abgeschlossenen Umgebung aufgehalten.“ Dann verstummte sie, und ihr Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. Vermutlich ging ihr auf, dass das nicht gerade beruhigend war, denn dann stellte sich die Frage, wie sie überhaupt hatten beeinflusst werden können: „Dabei gibt es jedoch eine Anomalie, die ich mir überhaupt nicht erklären kann.“
Der TIS’ler, der mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, zuckte überrascht zusammen, als sie fortfuhr: „Pallardo und Nakakura zeigten Anzeichen, nachdem sie einen bestimmten Abschnitt des Asteroidengürtels näher untersucht hatten. In demselben Abschnitt des Gürtels…nun, Sie wissen, was mindestens einem Teil der Crew der Mary C passiert ist. Was es auch war, es traf die Plünderer mit einem Vielfachen der Stärke. Aber von der Natur war es praktisch gleichartig. Allerdings in der Art, wie ein Klaps mit der Hand und ein Keulenschlag gleichartig sind. Ich denke, wir können nicht ausschließen, dass zumindest ein Teil der übrigen Besatzung der Mary C ebenfalls Reaktionen irgendeiner Art zeigten. Dazu kommen die Explosionsspuren, die jedoch möglicherweise nicht von der Mary C stammen. Doch in GENAU DEMSELBEN Sektor haben wir in den letzten Tagen gearbeitet, ohne dass es zu besonderen Zwischenfällen gekommen ist.
Wenn es diese Region war, die diese besondere Auswirkung auf Menschen hat, dann müssten eigentlich die Marines als erste Anzeichen zeigen, immerhin waren sie genauso lange wie die Piloten im Einsatz, und sie haben auch ohne Schutz der Schilde gearbeitet. Oder ich, beziehungsweise Dr. Georges, da wir mit den Artefakten oder Leichen direkt zu tun hatten. Da war jedoch nichts, jedenfalls nichts, was über tolerierbare Fluktuationen hinausgeht, die wir nicht eindeutig zuordnen können.“ Tremane dachte bei sich, dass diese ,Fluktuationen’ vielleicht die Erklärung für die Gespenstergeschichten einiger Marines waren. Falls die Geister nicht aus Flaschen, Patches oder anderen höchst irdischen Quellen kamen…
Es gefiel ihm jedenfalls gar nicht, als die Ärztin fortfuhr: „Es ist, als wäre die Quelle nach dem Zwischenfall mit der Mary C einfach verschwunden. Spuren einer irgendwie gearteten Maschine, welche die Anomalien hätte auslösen können, haben wir nicht gefunden. Und Pawlitschenko zeigte ihre Symptome nach einem Flug in einem ganz anderen Sektor des Gürtels.“ Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Natürlich – die Doktorin wurde nicht en Detail über die Aufklärungsflüge informiert.
Andrew Tremane musste an sich halten, um seine Gefühle zu verbergen. Manchmal waren diese Wissenschaftler genau im falschen Augenblick scharfsinnig. Denn zu einem ähnlichen Schluss war er auch schon gekommen. Und so kam die Forderung der Ärztin nicht überraschend: „Ich brauche detaillierte Informationen über die genauen Umstände von Pawlitschenkos letztem Flug. Eine ausführliche Befragung wäre auch wünschenswert. Bei der sie auf ALLE Fragen antworten soll.“ Oh ja, diese Scharfsinnigkeit schlug wirklich immer zur falschen Zeit zu. Die Doktorin war sich wohl sicher, dass Tremane ihr nicht alles sagte, und zusätzlich Lilja zum Schweigen vergattert hatte.
Andrew Tremane ging vorerst darauf nicht ein: „Ist Pawlitschenko also weiterhin diensttauglich?“ Die Ärztin nickte: „Ja – aber ich muss darauf bestehen, dass weder sie noch sonst jemand in den Risikosektor geschickt wird. Der noch zu bestimmen wäre – eben dafür müsste ich die Aufzeichnungen ihres letzten Einsatzes genauer analysieren. WENN ich die Reizzone identifizieren kann, lässt sich entscheiden, wie man weiter vorgehen kann. Ich kann nicht dafür garantieren, dass eine zweite Reizüberflutung bei ihr oder eine erste bei jemand anderem nicht doch schwerwiegende Folgen haben könnte. Immerhin ist sie die erste untersuchte weibliche Person mit eindeutigen Symptomen. Wie sich diese Reize auf Männer auswirken, lässt sich nicht sagen, und angesichts der Varianten, die wir beobachtet haben… Möglicherweise könnte es zu einem katastrophalen Schock kommen.“ Damit trug sie vermutlich etwas dick auf, aber sie hatte wirklich dazugelernt.
Die Stimme des Geheimdienstlers klang bemüht vernünftig. Andrew Tremane war nicht gewillt, so dicht vor seinem Ziel zurückzustecken: „Doktor, Sie wissen, dass wir hier einen kriegswichtigen Auftrag zu erfüllen haben. Ich nehme Ihre Sorgen ernst, doch ich kann unmöglich den Auftrag aufgrund von Vermutungen einschränken.“
Er hatte die Ärztin bereits ein paar Mal überreden oder einschüchtern können. Doch irgendwann nützten sich alle Argumente und Drohungen ab, und anscheinend war dieser Moment gekommen. Natürlich rebellierte Dr. Eriksen nicht offen. Sie versuchte auch nicht, sich auf ihre Rechte als Medizinerin zu berufen – das war ohnehin ein papierenes Schild, das während des Krieges wenig galt.
Zunächst gab sie sich betont verantwortungsvoll und ganz dem Erfolg der Mission verpflichtet: „Commander – ich appelliere an Ihre Erfahrung mit solch heiklen Operationen. Stellen Sie sich nur vor, es käme zu einem fatalen oder auch nur ernsten Zwischenfall – sagen wir einer ernsthaften Ohnmacht oder etwas anderem. Nichts erschreckt die Leute mehr als das Unerklärliche. Angesichts des Fehlens klarer Auslöser würden vermutlich viele Besatzungsmitglieder anfangen, Symptome bei sich zu entdecken. Das könnte zu Unsicherheit führen und zu weiteren Fehlern – die ihrerseits als Beweis für eine mögliche Gefahr wahrgenommen würden.“
Der Geheimdienstler runzelte die Stirn: „Was wollen Sie? Ich kann doch nicht jede Untersuchung einstellen, bis wir genau wissen, was Pawlitschenko so beeinflusst hat. Gerade WENN wir etwas gefunden haben, ist das doch der Hinweis…“
Er verstummte. Innerlich hätte er sich ohrfeigen können. Er hätte sich beinahe verplappert. Und das bekam er jetzt aufs Brot geschmiert. Die Ärztin griff auf, was der Geheimdienstler zunächst gegen ihre Argumente eingewandt hatte, und hieb es ihm höflich und bedächtig um die Ohren: „Sir – meines Wissens geht es hier doch nicht in erster Linie um die Quelle für diese…Anomalien. So faszinierend und wichtig das auch gerade für mich ist, so ist es doch nicht Hauptziel der Mission, ja nicht einmal ein wichtiges Nebenziel – denn wir können ja davon ausgehen, dass es sich dabei nicht um eine Waffe der Akarii handelt. Hier geht es um die Trümmerstücke, die uns möglicherweise weit überlegene Hüllen- und Panzerungsstoffe liefern können.“ In ihren Worten schwang ein unausgesprochenes ,Oder etwa nicht?’ mit. Offenbar war sie sich bewusst, dass sie im Moment auf SEHR dünnem Eis wandelte, das bereits zu knirschen begann. Und wenn man dort einbrach, machte man sich nur nass oder holte sich eine Erkältung – dann ertrank oder erfror man wahrscheinlich…
Ungeachtet dessen fuhr sie fort: „Sie haben natürlich den Oberbefehl über diese Mission und treffen die letzten Entscheidungen. Aber ich kann nur mit höchster Dringlichkeit raten, meinen Empfehlungen zu folgen. Angesichts unser begrenzten Ressourcen und der Situation an Bord können wir uns nicht einen einzigen Ausfall leisten.“ Die Ärztin holte tief Luft: „Und deshalb lege ich Ihnen entschieden nahe, vorerst in den Risikobereich – wenn wir ihn identifizieren können – weder das Shuttle noch einen Jäger zu schicken, weder Davis noch Pawlitschenko. Können wir den Reizbereich nicht eingrenzen, rate ich entschieden dazu, den gesamten Bereich von Pawlitschenkos letzter Mission unter Quarantäne zu stellen. Für unsere Bergungsaktionen sind weitere Flüge in diesen Sektor doch wohl kaum noch nötig. Ein anderes Verhalten wäre aus medizinischer Sicht hochgradig unverantwortlich.“
Sie sagte nicht, was sie tun wollte, wenn Tremane ablehnte. Ihre Optionen waren zwar gering – aber die Position des Geheimdienstlers war so prekär, dass selbst ein kleiner Stoß zu fatalen Folgen konnte. Wenn sie darauf bestand, in Sterntor anzufragen…nun, man konnte sie schwerlich unter Arrest stellen. Oder sie auf andere Weise daran hindern, Meldung zu machen. Denn das würde das prekäre Gleichgewicht, das im Moment noch herrschte, kippen lassen. Jede besondere Entwicklung konnte zu einer Krise führen und bei anderen Teilnehmer zu Kurzschlussreaktionen führen.
Doch Andrew Tremane war nicht so hoch aufgestiegen und so weit gekommen, ohne dabei zu lernen, wann man scheinbar nachgab. So tat er zunächst geduldig: „Und was WÄRE Ihre Empfehlung für das weitere Vorgehen?“
Dr. Eriksen schien fast etwas außer Fassung, das alles so leicht ging: „Nun, ich bräuchte wie gesagt die Aufzeichnungen über Pawlitschekos letzte Mission, etwas mehr Zeit mit ihr…Ich würde sagen, wir setzen sie auch künftig nicht mehr in den Zonen des Asteroidengürtels ein, in denen sie möglicherweise…beeinflusst wurde. Die Bergungsarbeiten außerhalb der Reizzone können natürlich weitergehen, doch innerhalb dieser Zone sollten wir uns ausschließlich auf Drohnen verlassen.“
Der Geheimdienstler nickte nachdenklich: „Ich denke darüber nach. Halten Sie sich jedenfalls bereit für weitere Tests – am besten, Sie checken Pawlitscheko noch einmal durch.“ Und damit ging er. In Gedanken begann er bereits zu planen, wie er sich der veränderten Situation anpassen könnte: ,Das wäre doch gelacht, wenn ich nicht eine neue Ratte für meine Tests finde. Verdammt, wir sind so nah dran…Wieso kann das nur keine vernünftige TIS-Mission sein!’ Aber die Antwort darauf war klar – der TIS hätte niemals so einen Einsatz abgesegnet…
Natürlich würde Ace jetzt erst einmal Liljas Rolle bei den Aufklärungsflügen übernehmen. So gab er Eriksen die Hand, und ermöglichte ihr eine genauere Untersuchung der Pilotin. Vielleicht würde sie es dann auch schlucken, dass er ihr nur sehr…sorgfältig gefiltertes Material über Palwitschenkos Einsatz zur Verfügung stellte.
Allerdings sollte er wahrscheinlich besser sicherstellen, dass Davis nicht einmal in die Nähe des Mondes kam, so verführerisch auch die Idee war, ihn noch einmal einen Tiefflug absolvieren zu lassen. Oder jedenfalls jetzt noch nicht, nicht solange es noch andere Alternativen gab. Es wäre ohnehin nicht allzu klug gewesen, dem Mond zu offensichtlich eine derartige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ohne eine passende Tarngeschichte parat zu haben. Und was das anging, da gingen ihm langsam die Ideen aus.
Außerdem…die Doktorin hatte Recht. Das musste er zähneknirschend eingestehen. Er wollte keine Meuterei.
Nein, fürs erste würde er tatsächlich ein oder zwei Drohnenflüge durchführen lassen. Dafür ließ sich eine halbwegs plausible Erklärung finden, ohne das Ganze zu wichtig wirken zu lassen. Und er konnte den Kreis der Eingeweihten klein halten. Falkner, Fuchida – und halb und halb Eriksen, da die Ärztin wahrscheinlich Eins und Eins zusammenzählen konnte.
Überrascht hielt er inne, als er registrierte, wohin ihn seine Schritte gelenkt hatten.
Im Augenblick war das Cockpit der EMERALD JADE fast leer. Nur Toro hatte es sich in seinem Sitz bequem gemacht. Nach einem Blick, den der ‚Freihändler’ vermutlich für Ungeziefer und Mitglieder der Erdstreitkräfte reserviert hatte, ignorierte der Pilot den Geheimdienstoffizier. Aber damit kam Tremane problemlos klar. Er war sowieso nicht zum Reden hierher gekommen. Stattdessen starrte er schweigend dorthin, wo die kleine, grauweiße Kugel des Mondes über die grüne Oberfläche des Gasplaneten zu wandern schien. Unwillkürlich erinnerte er sich an die seltsamen Ahnungen und Gefühle, die Pawlitschenko ihren (vermeintlich) geheimen Unterlagen anvertraut hatte. Reflexartig verschränkte er die Arme, und unterdrückte ein Schaudern.
Aber er würde jetzt nicht aufgeben. Er würde nicht nachlassen. Niemals.
‚Doch wenn du zu lange in den Abgrund blickst, dann kann es passieren, dass der Abgrund in dich zurückblickt.’
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* Prizrak, pl. Prizraki ist das russische Wort für Geist (im mythologischen Sinn), wie auch für Gespenst, Trugbild oder Hirngespinst.
Cattaneo
Tyr
Akar, die kaiserlichen Werften
Sie galten als die größten Raumstation im Imperium – so groß, dass die Bezeichnung ‚Raumstation’ eigentlich nicht einmal im Ansatz ihrer Ausdehnung und Bedeutung gerecht wurde. Sie waren die Heimatbasis der gigantischen Homefleet, die vorletzte Verteidigungsstellung der imperialen Kernwelt, Garnison, Kampfflieger- und Lenkwaffenbasis – und das alles in einem Ausmaß, der eine komplette Kampfgruppe zur Zweitklassigkeit degradieren konnte.
Sie boten genug Werftraum, um gleichzeitig vier Flottenträger auf Kiel zu legen, und zudem eine ganze Anzahl ähnlich großer Schiffe zu warten, zu reparieren, und auszurüsten. Und dazu kamen noch die Konstruktions- und Liegewerften für Kreuzer, Zerstörer, Fregatten, Korvetten, Frachter und Transporter.
Sie waren so groß, dass sie ein eigenes Hochgeschwindigkeits-Transportsystem benötigten, das Mannschaften und Material von einem Ende des Komplexes zum anderen beförderte. Sie waren eine fast autarke Großstadt, auf der zahllose Soldaten, Offiziere, Arbeiter und Ingenieure lebten und arbeiteten.
Sie waren Jahrhunderte alt, und immer noch wurden sie ausgebaut, verbessert und erweitert.
Sie waren so groß, dass man sie von der Oberfläche von Akar in klaren Nächten mit bloßem Auge erkennen konnte.
Sie waren die kaiserlichen Werften.
Ciara Koo unterdrückte den Impuls, den Kopf zu senken. Die gigantische Montagehalle wirkte einschüchternd in ihrer monumentalen Größe. Die scheinbar endlosen Reihen der angetretenen Werftarbeiter, die Ehrenformation der Garnisonstruppen und der imperialen Flotte wurden von diesem Raum förmlich aufgesogen. Nur die Energieschilde trennten die angetretenen Akarii von der tödlichen Kälte des Weltraums.
Und doch wirkte die Halle winzig im Vergleich zu den gigantischen Kolossen, die jenseits der Hallenschleuse reglos und drohend im All schwebten.
Auch wenn sie sich in Größe, Form, Aussehen und Herkunft unterschieden, umgab sie die doch die gleiche Aura gezügelter Gewalt und einschüchternder Majestät. Sie waren Waffen, dazu konstruiert und gebaut, Tod und Verderben zu fernen Welten zu tragen.
Angesichts dessen wirkte die Delegation der Gäste und Honoratioren, die an der Taufe der Schiffe teilnehmen sollte, geradezu lächerlich bedeutungslos. Zwanzig imperiale Gardisten, und etwas mehr als zweihundert hochrangige Adlige, Beamte und Offiziere waren hier nicht viel mehr, als eine kleine Schar flüchtiger, fürchterlich zerbrechlicher Lebewesen aus Fleisch und Blut, inmitten einer kalten Hölle aus Metall und gebändigtem Feuer.
Jedenfalls hatte es mal ein Dichter so ausgedrückt. Ciara Koo fand das Ambiente ganz einfach einschüchternd.
Der Kriegsminister hatte sich inzwischen verabsentiert. Tobarii Jockham lagen solche Zeremonien nicht wirklich, schien es. Vielleicht, wie einige böse Stimmen behaupteten, weil er wusste, dass er keine allzu überzeugende Darstellung als oberster Kriegsherr unter dem Imperator (beziehungsweise der Regentin) bot. Auch der alte Herzog Allecar war nirgends zu sehen. Dafür war Rallis Thelam seiner Cousine ‚treu’ geblieben, auch wenn sich der Thronprätendent diesmal im Hintergrund hielt, und den Kopf immer wieder mit Admiral Lann zusammensteckte, es aber dabei dennoch schaffte, eine Aura nonchalanter Weltgewandtheit zu verbreiten.
Die Prinzessin hingegen wirkte unnahbar, und hüllte sich in Schweigen. Ein kühler Pol, der seine Umgebung dominierte, ohne sie wahrzunehmen. Ciara wünschte sich, das auch zu können.
Admiral Kern Ramal hingegen schien alles andere als abwesend oder in sich ruhend, während er sich erregt aber leise mit dem obersten Werftleiter austauschte. Ciara hatte irgendwann den Namen des Mannes gehört, ihn aber gleich wieder vergessen. Auf jeden Fall schien er ziemlich nervös, so wie er immer wieder hastig blinzelte, sich mit der Zunge über die Zähne fuhr, und nervös zu der Regentin hinüberschielte. Es musste der Gipfel der Dehmütigung sein, derart unter den Augen der Regentin abgekanzelt zu werden, selbst wenn die davon keine Notiz zu nehmen schien. In der Vergangenheit war eine derartige Bloßstellung gelegentlich der Grund für eine rituelle Selbsttötung gewesen. Heutzutage...nun zumindest machte es dem Unglücklichen unmissverständlich klar, dass seine weitere Zukunft zur Disposition stand. Und die seiner Familie...
So unauffällig wie möglich schob sich die junge Akarii etwas näher.
„…natürlich fühlen wir uns geehrt durch die Tatsache, dass die Regentin…“
„Sparen Sie sich diese Floskeln. Die Regentin kann Sie nicht hören. Sagen Sie mir lieber, warum Sie nicht in der Lage sind, die gesetzten Termine einzuhalten. Der Quarsar-Träger hätte inzwischen bereits einsatzbereit sein, und was den Umbau des Angriffstransporters angeht…“
Ciara vermutete, dass Ramal nicht nur von dem selbstlosen Wunsch motiviert wurde, die kämpfende Front zu unterstützen. Militärische Erfolge und die ständige Versorgung der Flotte mit neuen Schiffen konnte auch eine entscheidende Rolle für das Schicksal von Linais Regentschaft spielen. Wenn sich die Flotte offen hinter einen der Thronprätendenten stellte, dann würde dies wahrscheinlich die Entscheidung bringen. Und wenn es jemand gab, der das wusste, dann war es Kern Ramal.
„Aber diese Pläne sind veraltet. Die Reparatur der beschädigten Träger, die Reaktivierung der alten Novas, und dann auch noch der Umbau der eingemotteten Schlachtschiffe haben viel Zeit gekostet. Ich brauche mehr Männer, mehr Material…“
„Sie können Ihre Bedenken sehr gerne persönlich dem Kriegsminister und der Regentin erklären, falls ihr Rapport mir nicht gefallen sollte. Ein Rapport, der eine VERLÄSSLICHE Zeitprognose und Ihre Vorschläge enthalten wird, wie Sie gedenken, dieser inakzeptablen Lage Herr zu werden.“
„Der Kriegsminister? Die Regentin?!“
„Allerdings. Und Sie wären sehr ungehalten darüber, wie langsam Sie hier offenbar vorankommen.“
Der Versuch des Mannes, seinen persönlichen Stolz zumindest halbwegs zu wahren, war fast bewunderswert. „Ich...verstehe. Sie erhalten den Rapport binnen vierundzwanzig Stunden. Und ich versichere Ihnen, dass meine Männer zu jeder Zeit alles nur Mögliche tun, um das Tempo der Reparaturen und Arbeiten noch weiter zu beschleunigen.“
„Das will ich hoffen. Um Ihretwillen.“
Ciara unterdrückte ein Grinsen, und konzentrierte sich auf die im All schwebenden Kriegsschiffe, während sie mit halbem Ohr zuhörte, wie Ramal den Mann weiter zusammenfaltete.
Als sie von der Einladung zu der Schiffstaufe erfahren hatte, hatte sie ihren zukünftigen Schwager nach den Einheiten gefragt, die an diesem besonderen Tag ihre Namen erhalten sollten. Als – zumindest in dieser Hinsicht – typisches Mitglied der Flotte hatte Yelak sie mit mehr Informationen versorgt, als sie eigentlich gewollte hatte.
Da war zuerst der Quarsar. Ein 1.000 Schritt langer, 72.000 Tonnen schwerer Koloss, mit 4.800 Mann Besatzung, über 120 Kampffliegern, 30 Geschütztürmen und zahlreichen Lenkwaffen- und Raketenwerfern. Wenn es gefährlichere Kriegschiffe in diesem Teil der Galaxis gab, dann hatten sie bisher noch nicht die Klingen mit dem Imperium gekreuzt.
Der neben dem Quarsar aufragende Koloss allerdings ließ den riesigen Flottenträger fast…gewöhnlich wirken. Der erbeutete konföderierte Träger war weit über 1.000 Schritt lang, und mit etwa 120.000 Tonnen auch etwa 60 Prozent schwerer als der Quarsar. Er sollte fast vierzig Geschütztürme, ein halbes Dutzend Raketen-, vier mehrrohrige Lenkwaffenwerfer und außerdem knapp einhundert Kampfflieger tragen. Ungefähr so schnell wie ein Quarsar-Träger, und ähnlich gut gepanzert, war der Riese zweifellos trotz seiner klobigen Formen und der teilweise etwas veralteten Ausstattung ein gefährlicher Gegner. An einigen Stellen war die ungewöhnlich massiv wirkende Panzerung immer noch rußgeschwärzt und halb geschmolzen – Spuren der Raumschlacht von Hannover, in deren Verlauf der Träger schwere Schäden hatte hinnehmen müssen. Ohne Zweifel musste an diesem Schiff noch eine Menge ausgebessert und ersetzt werden.
Im Vergleich zu diesen beiden Giganten wirkte der zum Trägerschiff umgebaute Angriffstruppentransporter mit seinen 31.000 Tonnen und 420 Schritt Länge geradezu winzig, trotzdem er immer noch größer war als ein schwerer Kreuzer. Er würde knapp 50 Kampfflieger tragen, und war mit einem Dutzend Geschütztürme, einem halben Dutzend Raketenwerfer, und zwei Zwillings-Lenkwaffenwerfern bestückt. Laut Yelak sollte eine ganze Anzahl ehemaliger Marines-Transporter entsprechend umgebaut werden, was in der Flotte teilweise ziemlich kontrovers diskutiert wurde. Einige meinten, dass es höchste Zeit für diesen Schritt war, während andere kritisierten, dass derartige Umbauten demoralisierend wirken würden, bedeuteten sie doch das Eingeständnis, dass man vorerst wenig Verwendung für Invasionstruppen haben würde. Yelak war der Meinung gewesen, dass ‚diese Idioten wohl der Meinung sind, dass die Menschen einfach verschwinden, wenn sie die Augen zukneifen’. Außerdem hatte er die Hoffnung geäußert, dass bald ECHTE leichte Träger an die Stelle dieser Provisorien treten würden. An der Stelle hatte sie abgeschaltet.
Ein lauter, metallisch klingender Glockenschlag ließ die junge Akarii zusammenzucken. Eine lautlose Welle schien durch die Angetretenen zu wandern, ließ Gespräche verstummen, straffte die Glieder. Die Zeremonie hatte begonnen. Eines der Seitentore öffnete sich, und entließ eine kleine Gruppe Akarii in den Hangar.
An der Spitze schritt ein Jüngling, dessen Jugend einen merkwürdigen Kontrast zu seinen gemessenen, sorgfältig abgezirkelten Schritten und Bewegungen war. Bei jedem Schritt schlug er einen schweren Metallgong, dessen heller Ton unnachgiebig Aufmerksamkeit einforderte.
Ihm folgten vier kräftige junge Akarii – zwei Männer und zwei Frauen – die zwischen sich an langen, mit Edelmetall beschlagenen Stangen ein aufwendig verziertes Bronzebecken trugen, in dem rotgoldene Flammen flackerten.
Hinter den Trägern schritt ein hoch gewachsener Akarii, der sich trotz seines offensichtlich hohen Alters sehr gerade hielt. Seine Kleidung bildete eine auf den ersten Blick seltsame Mischung aus einem Schuppenpanzer, und einer aufwendig verzierten Prunkrobe, die bei jedem Schritt Unheil verkündend klirrte. Zwei weitere Träger mit einem aus Edelhölzern geschnitzten Schreibpult, und ein junges Mädchen, das ein kunstvoll verziertes Schmuckkästchen trug, beendeten die Prozession.
Auch wenn den neun Akarii klar sein musste, dass jedes – oder fast jedes – Augenpaar in diesem Raum auf ihnen ruhen musste, ließen sie sich nichts anmerken, schienen dieses Interesse nicht einmal wahrnehmen. Ihre Aufmerksamkeit war nicht auf die Sterblichen gerichtet.
Viele der verschiedenen Kulte und Glaubenrichtungen, die im Laufe der Zeit das Geschick des Imperiums begleitet und geformt hatten, waren im Laufe der Zeit mit anderen Religionen verschmolzen, hatten sie verdrängt – und waren dann wieder in Vergessenheit geraten. Doch es gab eine Reihe von Göttern, Glaubensvorstellungen und religiösen Bräuchen, die sich erhalten hatten, die von den Kaisern und Imperatoren in den Rang einer Staatsreligion erhoben worden waren, und diesen Rang auch behalten hatten.
Die alten Götter der Sternenleere gehörten dazu, auch wenn sie sicherlich nicht den am weitesten verbreiten oder am besten akzeptierten Glauben darstellten. Sie waren die Götter der Streitkräfte geblieben, und hatten sich so aus grauer Vorzeit bis in die Gegenwart retten können. Auch wenn der Kult sich nur noch durch staatliche Unterstützung am Leben halten konnte, die meisten ‚Gläubigen’ sehr laxe Gefolgsleute waren, und schon seit Jahrhunderten kaum jemand noch die überlieferten Opfer aus Eigen- und Tierblut darbrachte, irgendwie hatten sie überlebt, und weigerten sich, in der Dunkelheit zu verschwinden, aus der sie vor Jahrtausenden aufgetaucht waren.
Und jedes Schiff, das noch gemäß den alten Bräuchen getauft wurde, half ihnen zu überleben.
Der Priester und seine Schar von sorgfältig ausgewählten und ausgebildeten Akolythen absolvierte ihre Pflicht mit einer geradezu unheimlichen Präzision und Anmut. Gewiss, inzwischen fand sich nur noch sehr selten ein Kind aus dem Adel dazu bereit, in den Dienst des Glaubens zu treten, was die Kirche vielfach dazu zwang, auf Kinder der unteren Schichten oder gar Waisen zurückzugreifen. Aber weiterhin absolvierten diese eine ebenso lange wie harte Ausbildungszeit.
Denn die Götter und das Schicksal vergaben weder Fehler noch Missgeschick. Jedes Straucheln, jede Unsicherheit bei einer Zeremonie konnte furchtbare Folgen haben. Natürlich glaubte kaum jemand WIRKLICH daran, aber wenn es um eine so ernste Angelegenheit, wie die Weihe einer Divisionsfahne oder die Taufe eines Schiffs ging…
Soldaten und Matrosen waren nun einmal sehr abergläubisch.
Aus ähnlichen Gründen fassten sich die meisten Redner bei solchen Gelegenheiten ziemlich kurz. Denn – so zumindest der Volksglaube – es waren dann nicht nur die anwesenden Akarii, die jedem gesprochenen Wort aufmerksam lauschten.
Doch bisher war alles glatt gegangen. Die Feuerschale und das Schreibpult waren platziert worden, die Träger hatten sich zurückgezogen, der Priester und das junge Mädchen mit dem Schmuckkästchen hatten die vorgeschriebenen Positionen rechts und links neben dem Pult eingenommen. Die ganze Zeit über ertönte der Gong im ewig gleichen Takt, wie ein Uhrwerk.
Jetzt war die Prinzessin an der Reihe. Langsam, mit sorgfältig kontrollierten Bewegungen, näherte sie sich dem Schreibpult, entrollte einen der bereitliegenden Papierstreifen, nahm einen Tuschepinsel aus dem in das Pult eingelassenen Gefäß, und begann zu schreiben. Unwillkürlich hielt Ciara Koo den Atem an. Sie war nicht die Einzige.
Die Regentin musste jetzt den Namen des neuen Schiffs aufschreiben, den sie dann öffentlich verkünden würde. Außerdem würde sie einige Segensworte hinzufügen, die jedoch ungenannt bleiben würden. Nur Linai Thelam würde wissen, welche Wünsche sie dem Quarsar auf den Weg mitgab. Sie…und die Götter. Wenn man an sie glaubte.
Die Prinzessin legte den Pinsel beiseite, und wartete einige sich endlos dehnende Sekunden, während die Tinte trocknete. Dann rollte sie den Papierstreifen zusammen und nahm ihn in die linke Hand, während sie ihre Rechte gleichzeitig in dem Kästchen versenkte, das die Akolythin ihr entgegenhielt, und nach kurzem Zögern einen rot glänzenden Edelstein auswählte, der etwa halb so groß wie ihre Hand war.
Dann, die Papierrolle in der einen, den Stein in der anderen Hand, trat sie zu dem hell lodernden Feuer, das in dem Bronzebecken loderte. Eine schnelle Bewegung, und die Schriftrolle flog in die Flammen, wo sie sofort Feuer fing. Gleichzeitig stieß sie die Rechte, die immer noch den Stein umklammerte, kurz in die Flammen. Einmal, zweimal, dreimal. Und jedes Mal rief sie einen Namen, der von den Ehrengästen, den Soldaten, Ingenieuren und Arbeitern wie mit EINER Stimme aufgenommen wurde: „JOR THELAM!
JOR THELAM!
JOR THELAM!“
Von nun an würde der neue Quarsar-Träger den Namen von Linais Bruder tragen – bis zu dem Tag, da er wie sein Namensgeber in der Schlacht starb, oder abgewrackt wurde. In der Geschichte der Flotte gab es nur eine Handvoll Fälle, bei denen man ein Schiff umbenannt hatte.
Rallis Thelam presste kurz die Lippen zusammen. Natürlich hatte sich Linai nicht aus bloßer Herzensgüte oder Geschwisterliebe zu diesem Schritt entschieden – oder gar, weil sie meinte, dass der verstorbene Kronprinz diese Ehrung WIRKLICH verdient hätte. Nein, das war eine politische Geste, geschuldet all jenen Idioten, die immer noch in Jor so etwas wie die dahingeschiedene Hoffnung des Imperiums sahen. Oder die meinten, dass Jors ‚Heldentod’ alle eventuellen Schwächen oder Fehler bedeutungslos hatte werden lassen. Rallis war nicht so dumm, die Stärke dieser Fraktion zu unterschätzen, die gerade auch im Militär einen nicht unbeträchtlichen Umfang hatte. Mit dieser Verbeugung vor ihrem toten Bruder konnte Linai also nur gewinnen, und vergab sich nichts. Jor hatte keinen Erben, kein richtiges Vermächtnis. Er war ungefährlich.
Inzwischen hatte sich Linai Thelam umgewandt, und überreichte den Stein dem knienden Priester, der ihn mit abgewandtem Blick in ein weißes Seidentuch hüllte. Später, wenn der Träger endlich wirklich das Dock verließ, würde der Stein seinen Platz in einem kleinen Schrein im Quartier des Kapitäns finden. Früher einmal war es dessen Pflicht gewesen, dort regelmäßig die traditionellen Gebete und Riten zu zelebrieren, doch dieser Brauch war inzwischen fast völlig außer Mode gekommen. Ein Captain oder gar ein Admiral hatte wichtigeres zu tun.
Linai drehte sich zu der schweigend wartenden Menge um. Die Richtmikrofone, die auf sie eingestellt waren, fingen ihre Worte auf, und leiteten sie an große Lautsprecher weiter. Deshalb konnte man sie mühelos verstehen, auch wenn sie mit ruhiger, fast leiser Stimme sprach: „Eines dieser Schiffe wäre niemals in unsere Hände geraten ohne den Heldenmut Unserer Truppen, und ohne das diplomatische Geschick Unseres Sonderbotschafters. Ihm haben Wir es zu verdanken, dass die Waffen, die Wir unserem Gegner entrungen haben, nun als ewige Monumente Unseres Ruhms im Orbit Unserer Heimatwelt kreisen – oder nun in den Händen Unserer Streitkräfte liegen, um erneut in den Krieg geschickt zu werden. Künftig werden Akarii diesen Träger in die Schlacht führen, und imperiale Kampfflieger werden aus seinem Hangar starten, um Furcht und Entsetzen in den Herzen unserer Feinde zu säen. Deshalb ist es nur gerecht, wenn es Lord Dero Allecar ist, der diesem Schiff seinen neuen, seinen Akarii-Namen gibt.“
Zumindest für Ciara Koo war das eine Überraschung. Gewiss, nur die wenigsten Flottenträger wurden von einem Mitglied der kaiserlichen Marine oder des Hofstaates getauft. In der Regel übernahm ein Admiral, ein hoher Beamter, ein Adliger, dem man eine Ehre erweisen wollte, der künftige Captain des Schiffs, oder auch ein Priester diese Aufgabe.
Aber sie hätte gedacht, dass Linai Thelam ausschließlich sich selbst in den Mittelpunkt dieser Zeremonie stellen würde.
Ein Blick zu Rallis Thelam zeigte ihr, dass der Thronprätendent nicht allzu verblüfft wirkte. Entweder er hatte schon vorher davon gewusst, oder er verbarg seine Überraschung. Seine wachsamen Augen ruhten irgendwie lauernd auf Dero Allecar, der nun mit gemessenen Schritten Linais Platz einnahm. Und da auch der kniende Priester diesen Wechsel lediglich mit einem unmerklichen, zustimmenden Nicken quittierte, war sich Ciara ziemlich sicher, dass Linais Gunstbeweis langfristig vorbereitet worden war.
Ungeachtet der Hoffnungen, die Rallis Thelam vermutlich insgeheim hegen mochte, absolvierte auch Dero das Ritual reibungslos. Nur beim Schreiben zögerte er kurz, und warf der Regentin einen Blick zu, den Ciara nicht zu deuten vermochte. Aber er hatte sich gefasst, bevor dieses Zögern als Bruch der Etikette ausgelegt werden konnte, und fuhr fort, als wäre nichts geschehen.
Dann stand auch er vor dem Feuerbecken, die Schriftrolle in der einen Hand, und den ‚Herzstein’ des erbeuteten Trägers in der anderen. Noch ein letzter, schneller Blick zu Linai Thelam, ein Blick, den die Prinzessin mit einem wortlosen Befehl zu beantworten schien, dann warf der künftige Herzog das Papier in die Flamen, und ließ den Edelstein durch die Flammen gleiten: „GORLAN RIKATA!
GORLAN RIKATA!
GORLAN RIKATA!“
Rallis Thelam unterdrückte ein enttäuschtes Aufseufzen. Also hatte sich seine Cousine durchgesetzt. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Dero seine etwas spinnerte Idee durchgezogen hätte, das Schiff nach irgendeinem obskuren Schmuckstein aus einem terranischen Märchen zu benennen. Hätte er das gemacht, dann hätte er damit die Traditionalisten empört, das Militär verärgert, und die Kirche brüskiert – nicht, dass die noch eine wichtige Rolle spielen würde. Aber leider, leider…
Linai Thelam war offenbar zu klug gewesen, ihrem Favoriten einen derartigen Fauxpas durchgehen zu lassen. Und Dero war zu klug – oder nicht willensstark genug – gewesen, um im letzten Augenblick den Wunsch der Prinzessin zu ignorieren. Schade.
Auch der Priester hatte sich den…dezenten Anfragen gegenüber als eher uneinsichtig gezeigt. Es wäre so ein schönes Bild gewesen, wenn der alte Mann Protest gegen Linais Entscheidung erhoben hätte. Aber dazu fehlte dem Geistlichen das Rückgrat, und Rallis hatte nicht die nötigen Druckmittel, um ihn etwas…kooperativer zu machen. Auch das war schade.
Was den Namen anging, für den sich Linai entschieden hatte…
Gorlan Rikata war ein antiker General gewesen, der einem der Reiche gedient hatte, die später das erste Imperium bilden sollten. Es hieß, dass er einhundert Schlachten geschlagen, und höchstens eine Handvoll verloren hatte. Seine Siege errang er durch eine Mischung aus überlegener Aufklärung, Schnelligkeit, der schwerpunktartigen Konzentration mobiler Truppenverbände, und der gnadenlosen Verfolgung des geschlagenen Feindes. Das brachte ihm den Titel ‚General der beweglichen Kriegführung’ ein, und garantierte, dass seine Schriften immer noch zum Lesestoff der Militärakademien gehörte. Es war eine konventionelle, eine SICHERE Wahl. Und außerdem…
Der Thronprätendent warf der jungen Enkeltochter Nahil Koos einen unauffälligen Blick zu. Zweifellos machte sie sich ihren eigenen Reim aus der Wahl des Schiffsnahmen. Sie, und wahrscheinlich auch der eine oder andere Flottenoffizier. Interessant.
Währenddessen setzte Linai ihren einmal eingeschlagenen Kurs fort, indem sie diesmal den Admiral zweiten Ranges Jal Keelan nach Vorne rief. „…und so schließen Wir einmal mehr das Band mit den Männern und Frauen, die in diesem Augenblick an der Front stehen, um das Imperium zu verteidigen.“
Der junge Offizier wirkte deutlich nervöser als seine beiden Vorgänger, war aber wohl ebenfalls im Voraus von seiner ebenso ehrenvollen wie heiklen Aufgabe informiert worden. Während er das an seinem Gürtel befestigte Dreeh etwas verkrampft festhielt, um nicht über die lange Scheide zu stolpern, nahm er seinen Platz ein. Vielleicht wirkten seine Schriftzüge etwas eckig, und seine Bewegungen etwas abgehackt, doch er schaffte es, ohne irgendwelche allzu auffälligen Fehler zu begehen. Und auch bei ihm fing das Papier anstandslos Feuer, und der blassgrüne Stein blieb vom Feuer unberührt. In den Sagen und Legenden bedeutete es ein schlimmes Verhängnis, falls die Schriftrolle nicht brennen wollte, oder der ‚Herzstein’ gar einen Sprung erhielt. Das konnte dann nur bedeuten, dass das Schiff bald ein furchtbares Ende finden, oder bei einer Rebellion oder Meuterei eine unheilvolle Rolle spielen würde. So hieß es jedenfalls in den Geschichten, auch wenn sich kein lebender Akarii daran erinnern konnte, dass so etwas einmal tatsächlich passiert war.
Doch nichts dergleichen geschah. ‚Wir können ein paar gute Vorzeichen gebrauchen.’
Jal Keelans Stimme klang hell und laut, während er den Namen des zum Träger umgebauten Angriffstransporter verkündete: „RAU THREAT!“
RAU THREAT!
RAU THREAT!“
Auch dieser Name wurde von den angetretenen Soldaten und Werftleuten, von den Offizieren, Ingenieuren und Adligen bereitwillig aufgenommen.
Rau Threat war zwar nicht ganz so legendär wie Gorlan Rikata, und wesentlich länger tot, als Prinz Jor. Dennoch war der Feldherr, der vor 2.000 Jahren gelebt hatte, zumindest den Akarii ein Begriff, die sich für Militärgeschichte interessierten, oder an der Flottenakademie ausgebildet worden waren. Er galt als einer der innovativen Köpfe des modernen Kaperkriegs – also jenseits der Epoche der segel- und rudergetriebenen Schiffe, in der zum ersten Mal die Regeln für den Einsatz von Kaperschiffen und die Führung eines Handelskrieges entwickelt worden waren.
Threat hatte die alten Lehren modernisiert und modifiziert, und seine Regeln ließen sich sowohl auf der Oberfläche eines Planeten, als auch im Weltraum anwenden. Einige Neider warfen ihm zwar vor, dass er nur von der Genialität seiner antiken Vorgänger profitiert hätte, und vielleicht rümpften auch manche ultrakonservative Militärs über einen Mann die Nase, der den Einsatz umgebauter Zivilschiffe, getarnter Waffen, und sehr irregulär operierender Verbände zu einer Kunst entwickelt hatte. Aber wenn Threat für etwas stand, dann für die Tugend, aus dem Vorhandenen das Beste zu machen. Ein passender Name für den Hilfsträger, vermutete zumindest Ciara Koo. Laut ihrem zukünftigen Schwager hatte sich das Militär zu lange in der Illusion eingesponnen, dass man diesen Krieg führen könne, ohne alle verfügbaren Mittel zu mobilisieren.
Sobald der letzte Teil der Zeremonie abgeschlossen war, und Jal Keelan wieder an seinem Platz ein paar Schritte hinter der Regentin angelangt war, ging so etwas wie ein erleichtertes Murmeln durch die angetreten Truppen und Mannschaften. Und auch durch die Ehrengäste. Alles war gut gegangen. Kein böses Ohmen oder Unfall hatte den weihevollen Augenblick ruiniert. Die mit einer wohl kalkulierten Verzögerung von zehn Sekunden ‚live’ sendenden Kameras konnten die Bilder und Filme zu den privaten und die öffentlichen Bildschirme und Trideoprojektoren auf Akar und zahllosen anderen Welten übertragen, ohne dass irgendwelche Szenen oder Ereignisse herausgeschnitten werden mussten. Zweifellos – so würde jedenfalls der eine oder andere Kommentator hinzufügen – hatte die Regentin damit ihrem Vater ein Geschenk zu seinem Thronjubiläum gemacht, das ihn auch auf der anderen Seite des Lebens erfreuen würde.
Während der Priester und seine Akolythenschar sich in demselben, gemessenen Tempo entfernten, in dem sie die Halle betreten hatten, wandte sich die Regentin noch einmal an die angetretenen Mannschaften. Nun, da die Taufe vorbei war, galten ihre Worte wieder den Lebenden, statt den Göttern und den unsterblichen Ahnen: „Ingenieure und Arbeiter, Soldaten und Offiziere! Ein jeder von euch hat Anteil daran, diesen Schiffen Leben einzuhauchen, sie zu bewaffnen und auszurüsten. Ihr seid das schlagende Herz unserer Streitkräfte…“
Rallis Thelam schaltete auf Automatik. Das bedeutete, dass er seine Ohren auf Durchlauf stellte, dabei aber ein angemessen aufmerksames Gesicht machte. Er hatte das Aufspalten seiner Aufmerksamkeit soweit perfektioniert, dass er es fast automatisch registrieren würde, falls seine Cousine von dem Pfad der üblichen Floskeln und Parolen abweichen würde. Allerdings bezweifelte er das. Für heute hatte sie – genauso wie er selber – wahrscheinlich genug Überraschungen serviert.
Ganz ohne Zweifel hatte Linai Thelam den heutigen Tag dominiert, aber mit etwas Glück hatte er auch ein paar Punkte gut gemacht. ‚Und hoffentlich mehr als dieser…Kanzleihelfer im Gefreitenrang und sein verkalkter Vater.’
Er glaubte einige Schwachstellen in dem neu geknüpften Bündnis hinter der Regentin erkannt zu haben, und würde die Samen von Spaltranken* in diese Risse säen. Hoffentlich würden sie Wurzeln schlagen. Gleichzeitig allerdings würde er aber darauf achten, nicht alle Brücken abzureißen. Linai war nicht dumm. Als Frau konnte sie den Thron nicht für sich beanspruchen. Sie hatte keinen Sohn, für den sie bis zu seiner Volljährigkeit regieren konnte. Sie war ja noch nicht einmal schwanger. ‚Auch wenn ich es dir zutraue, dass du dich schwängern lässt – oder von mir aus auch künstlich befruchten – um deine Herrschaft zu sichern.’
Aber wenn sie nicht doch die Illusion hegte, ihren schwächlichen Ehemann als Marionettenkaiser auf den Thron zu heben, und ihn dabei gegen die anderen Thronprätendenten, und jene rationalen Teile der Verwaltung, der Streitkräfte und des Adelsforum zu beschützen, die sehr genau wussten, was für ein schwächlicher Kaiser Tobarii sein würde, wenn sie nicht irgendeinen anderen Außenseiter auf dem Thron sehen wollte…dann würde sie wohl einen der ECHTEN Thronprätendenten unterschützen müssen. Und in dem Fall konnte sie es schlechter treffen, als sich mit Rallis zu verbünden. Persönlich hatte er nichts gegen seine jüngere Cousine, bewunderte sogar ihren Ehrgeiz und ihre Intelligenz. Wenn sie als Mann geboren worden wäre…
Vielleicht würde sie irgendwann auch klug genug sein zu erkennen, dass das Amt der Kanzlerin oder der Kriegsministerin wesentlich mehr war als das, was ihr einer der anderen Thronanwärter gewähren würde.
‚Nun, wir werden sehen…’
Rallis registrierte, dass Linai inzwischen ihre Rede beendet hatte, und jetzt ein Bad in der Menge nahm. Natürlich wurde sie dabei von vier kaiserlichen Gardisten abgeschirmt. Dennoch kam sie den angetretenen Soldaten und Arbeitern näher, als denen vermutlich jemals ein Mitglied der kaiserlichen Familie gekommen war. Geschweige denn das, das gerade de facto auf dem Thron saß. ‚Ein geschickter Zug, Cousine.’ Es hatte gar keinen Sinn, jetzt noch um die Aufmerksamkeit der Masse zu buhlen. Statt in das Meer der angetretenen Gemeinen einzutauchen, entschloss sich Rallis, lieber ein wenig in dem seichten, von Schlingpflanzen und verborgenen Scherben wimmelnden Pool der adligen Ehrengäste zu planschen. Dieses Spiel beherrschte er.
„Lady Koo, die Regentin wünscht Eure Gegenwart.“
Ciara musterte den Gardisten überrascht, und brauchte ein paar Sekunden, bis ihr die passenden Worte einfielen: „Natürlich. Wenn Ihr bitte vorangehen würdet, Gardist?“
Hinter dem breiten, gepanzerten Rücken des Gardesoldaten runzelte die junge Akarii verwirrt die Stirn. Was wollte die Regentin von ihr? Jetzt, in der Öffentlichkeit? Oder war das beabsichtigt?
Bevor sie sich diese Fragen beantworten konnte, hatte sie bereits den inneren Kreis aus Gardisten erreicht, die die Regentin beschützten, und der sich jetzt ebenso schnell wie unauffällig öffnete, um die junge Adlige aufzunehmen. Keiner der Gardisten – drei Männer und eine Frau – schien sie direkt anzusehen. Dennoch…wenn sie eine falsche Bewegung machen würde, dann läge sie im nächsten Augenblick am Boden. Und nur mit Glück würde sie dann noch unversehrt – oder am Leben sein.
Die Regentin quittierte ihr Eintreffen mit einem knappen Nicken.
„Hoheit…“
„Wie fandet Ihr die Zeremonie?“ Die Stimme der Regentin war leise, aber bestimmt. Das war keine rhetorische Frage. Sie war mit einer Absicht gestellt worden.
Ciara fragte sich, was die Prinzessin hören wollte. Ganz bestimmt doch nicht nur die üblichen Allgemeinsätze: „Sie war beeindruckend. Genauso wie die Art und Weise, wie Ihr zurückgetreten seid, um anderen die Ehre der Namensgebung zu überlassen.“
Kurz huschte so etwas wie ein flüchtiges Lächeln über die Gesichtszüge der Regentin: „Ich werde noch genug Gelegenheit haben, um neue Schiffe zu benennen. Hingegen glaube ich nicht, dass Dero Allecar und Jar Keelan so bald wieder Gelegenheit haben werden, den Namen eines neuen Trägers zu verkünden. Und was wäre ich für eine Regentin, wenn ich alle Ehren horten würde, wie ein Geizhals sein Gold. Niemand sitzt so hoch im Sattel, wie ein Reiter, der den Weg nicht weiß.“
Ciara war sich nicht sicher, was sie darauf antworten sollte, also sagte sie lieber erst einmal gar nichts.
„Was haltet Ihr von dem Namen unseres Beuteträgers? Und was wird Euer Verlobter denken, wenn er diesen Namen hört?“
Ja, dieser Gedanke war Ciara auch schon gekommen. Mokas hatte seine Kampfgruppe nach Gorlan Rikata benannt: „Er wird sicherlich begeistert sein.“
„Vor allem, wenn dieser Träger seinem Kommando unterstellt wird, nehme ich an. Die GORLAN RIKATA und die RAU THREAT sind für den Draned-Sektor bestimmt. Sobald sie einsatzbereit sind, werden sie zusammen mit einem Sicherungsverband und Nachschubgütern in Marsch gesetzt. Wir haben die Peripherie viel zu lange im Stich gelassen…“
Ciara blinzelte, und bemühte sich darum, ihre Stimme ruhig und stetig zu halten: „Ich…ich bin geehrt, dass Ihr mich derart ins Vertrauen zieht. Und Taran…er wird den Göttern danken, wenn er diese Nachricht erhält. Und natürlich euch. Das ist viel mehr, als er erwarten könnte.“
„Allerdings. Aber…ich kenne meine Verantwortung. Und meine Pflicht. Genauso wie Mokas Taran. Und es ist gut zu wissen, auf wen man sich verlassen kann…“
Vielleicht bildete Ciara sich das nur ein, aber ihr war so, als würde Linai Thelam dabei kurz dorthin blicken, wo ihr älterer Cousin sich durch die versammelten Adligen arbeitete. Oder blickte sie zu Dero Allecar, der sich etwas abseits hielt?
***************
* eine Pflanze, deren Wurzeln selbst den härtesten Stein zerstören können, und die eine säurehaltige Flüssigkeit absondern, die diesen Prozess unterstützen. Der Saft von Spaltwurzeln war früher ein beliebtes Waffengift, das teilweise sogar bei Duellen (mit Dolchen oder Sirash) verwendet wurde.
Cattaneo
Cunningham
Büro des CAG 127. Fighter Wing
Victoria Station, Sterntor
Die beiden Besucher, die Raven empfing, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Ein jugendlich wirkender Lieutenant Commander in der für Sterntor üblichen Dienstuniform, der weißen Tropenuniform, und ein älterer Mann in Zivilkleidung.
„Guten morgen, Commander,“, begrüßte sie der uniformierte, „ich bin Commander Eric Northman vom Naval Intelligence Corps, das ist Special Agent Jerome Gibbons von der Naval Criminal Investigation Division.“
„Northman?“ Raven blinzelte, „Eric Northman, wie Wikinger?“
„Der Witz hat einen Bart so lang wie mein Arm, Commander.“ Northman schien wirklich nicht sehr amüsiert.
„Okay, entschuldigen Sie bitte, aber setzen Sie sich doch, was kann ich für Sie beide tun?“
„Sie sind vor kurzem von einem Commander Smith, vom NIC, kontaktiert worden.“, Northman zeigte ihr ein Datapad mit einem Bild des betreffenden Offiziers.
„Ja, das ist korrekt.“, die Anwesenheit des NCID-Agenten machte sie stutzig, „Wo liegt das Problem?“
Die beiden Männer blickten sich kurz an. Es war als würde eine kurze telepathische Konferenz stattfinden und es war Gibbons der antwortete: „Worum ging es bei diesem Gespräch?“
„Commander Smith bat um Erlaubnis, ob er sich innerhalb meines Geschwaders nach Freiwilligen umtun könnte.“
„Und hat sich wer freiwillig gemeldet?“
„Ja zu meinem Erstaunen hat er tatsächlich zwei Freiwillige gefunden. Hätte ich das geahnt, hätte ich es ihm wohl nicht erlaubt. Aber sagen Sie mir vielleicht mal, warum es hier genau geht.“
„Warum hätten Sie es ihm nicht erlaubt, wenn Sie gewusst hätten, dass sich Piloten melden würden?“ Wollte Northman wissen.
„Weil meine Leute Urlaub brauchen, sie haben drei harte Schlachten hinter sich, und jeder gefühlte hunderttausend Flugstunden ohne Erholungsurlaub.“
„Wer hat sich freiwillig gemeldet?“, hakte Gibbons nach.
Raven musterte die beiden, jetzt reichts: „Sie sagen mir jetzt erst, was los ist!“
„Sie antworten besser auf die Fragen, Ma'am.“, riet der Commander des NIC.
Die CAG des 127. faltete die Hände zusammen und beugte sich etwas vor: „Jetzt hören Sie beide mir mal gut zu: Es geht hier um zwei meiner besten Piloten. Ich will wissen, was zur Hölle eigentlich gespielt wird.“
Der Agent lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ ein zynisches Grinsen aufblitzen: „Commander, ich bin Angehöriger einer Bundesbehörde, deren Aufgabe die Strafverfolgung innerhalb der Raumstreitkräfte ist. Ich muss vor Ihnen nicht salutieren, brauche Sie nicht Ma'am zu nennen, und befehlen muss ich mir von Ihnen auch nichts lassen. Also beantworten Sie mir meine Fragen.“
Tatsächlich waren die Aufgaben des Naval CID noch vielfältiger. Er unterstützte das NIC bei der Spionageabwehr und stellte den Personenschutz für die gefährdeten Stabsoffiziere der Flotte wie den CNO, seinen Stellvertreter und Chef des Nachrichtendienstes usw. Jetzt in Kriegszeiten war er weit mehr in die Spionageabwehr involviert als viele dachten, da der NIC seine Kapazitäten vermehrt zur Aufklärung des Feindes brauchte.
„Also gut, Agent Gibbons,“, gab Raven nach, „aber dass wir beide uns richtig verstehen, Lieutenant Commander Pawlitschenko und Lieutenant Davis sind meine Leute. Ich trage für beide die Verantwortung. Ich habe nicht nur das Recht zu erfahren, was geschehen ist, sondern auch die Pflicht.“
„Wenn Sie unsere Fragen beantwortet haben, Ma'am, sehen wir, was wir für Sie tun können.“, bot Northman an.
Raven nickte und rief die Dienstakten von Lilja und Ace auf und drehte den Monitor zu ihren beiden Gästen hin: „Das sind die beiden Piloten, die sich gemeldet haben. Beiden dienen derzeit als Staffelführer bei den Angels. Lieutenant Davis ist zur Beförderung vorgeschlagen und Commander Pawlitschenko für die PMV.“
Gibbons pfiff anerkennend: „Hat einer der beiden irgendetwas durchblicken lassen, was dieser Commander Smith von ihnen gewollt hat?“
„Nein, beide haben sie per E-Mail aus dem Urlaub abgemeldet.“
„Wurde Smith hier persönliche bei Ihnen vorstellig?“
Raven schüttelte den Kopf: „Nein, er rief hier an.“
„Es war also kein persönlicher Kontakt vorhanden.“, stellte Northman fest.
Zur Antwort schüttelte die CAG erneut den Kopf.
Der Naval CID-Agent kratze sich am Kinn: „Haben Sie eine Ahnung, warum gerade die beiden?“
„Nun bei Lilja wundert es mich ehrlich gesagt gar nicht. Ich meine Commander Pawlitschenko,“, fügte Raven auf den fragenden Blick der Besucher hinzu, „sie ist sehr…diensteifrig, eine Workaholic und stolze Patriotin. Wenn Smith ihr etwas vom großen Kreuzzug für das Vaterland erzählt hat, wird sie sich sofort gemeldet haben. Man musste sie fast zum Urlaub raus jagen.“
Die beiden Männer grinsten kurz.
„Und Davis?“ Fragte Gibbons.
„Das ist sehr verwunderlich, seine Eltern sind im System, und soweit ich weiß sogar noch mehr Familienangehörige. Er hat sie sicherlich viele Jahre nicht mehr gesehen.“
„Könnte es einen besonderen Grund geben, dass Davis sich gemeldet haben könnte?“
Die CAG zuckte mit den Schultern: „Ich wüsste keinen.“
Langsam wurde Raven richtig nervös.
Norhtman machte sich einige Notizen auf seinem Datenpad: „Hat dieser Smith noch andere Piloten ihres Geschwaders gefragt, ob sie mitkommen würden?“
„Das ist mir nicht bekannt, ließe sich aber herausfinden.“
„Gut,“, Northman hielt nochmal das Bild des vorgeblichen NIC-Offiziers hoch, „und Sie sind ganz sicher, dass dieser Offizier Sie unter dem Namen Smith kontaktiert hat?“
„Ja, Mr. Northman, das bin ich.“
Wieder schienen die beiden Männer via Blick-Telepathie zu kommunizieren und es war Northman der sich ihrer erbarmte: „Es gibt hier auf Sterntor zwar einen Smith beim NIC, aber er ist nur Lieutenant Commander und hat Sie nicht kontaktiert. Wer dieser Kerl ist, wissen wir noch nicht. Er hat sich unbefugt Zugriff zum Kommunikationsnetzwerk des Nachrichtendienstes verschafft.
Wir wissen nicht, was er vor hat und welche Verbindung zwischen ihm und ihren beiden Piloten herrscht.“
Gibbons übernahm: „Ab sofort gelten Lieutenant Commander Pawlitschenko und Lieutenant Davis als vermisst. Unser unbekannter Smith wird von uns zurzeit als feindlicher Agent eingestuft und wir werden alle ihre Offiziere vernehmen müssen.“
„Selbstverständlich.“
Gibbons und Northman erhoben sich.
„So bald wir etwas Definitives haben, melden wir uns bei Ihnen, Commander und sollten Ihnen noch etwas einfallen, Sie haben unsere Nummern.“, der Agent der Naval CID hielt ihr die Hand hin.
Vor der Tür fletschte Gibbons die Zähne: „Theorie Nummer eins: Dieser Smith war Davis Führungsoffizier und die Show war eine gut geplante Extraktion, und diese Pawlitschenko war nichts anderes als ein Alibi für die Geschichte.“
„Unfug,“, meinte Northman, „die Davis-Akte ist zwar interessante Lektüre, letztlich aber nichts anderes als der Ausdruck von übergreifende Paranoia eines alternden Nachrichtendienstlers. Wirklich nichts deutete darauf hin, dass Davis ein Spion ist.“
„Warum hat er dann diesem Smith nicht gesagt er soll zur Hölle fahren, und ist zu seiner Familie nach Masters rübergeschippert?“
Northman zuckte die Schultern: „Vielleicht liegt er mit seiner Mischpoke im Streit oder irgendeine Kriegsneurose, kann sich nicht mehr entspannen oder ähnliches. Haben Sie mir nicht von dem Marine erzählt, der einen Navy-Techniker abgestochen hat, nur um zu sehen, wie es ist auch mal einen Menschen zu töten?“
„Wie dem auch sei, wir müssen in alle Richtungen ermitteln. Sie werden sich als erstes mit der nachrichtendienstlichen Abteilung der Columbia zusammensetzen. Ich werde meine Leute ausschwärmen lassen. Wir müssen wissen ob irgendwelche unbekannten Leichen aufgetaucht sind, wir müssen bei der Einwanderungsbehörde vorstellig werden, dieser Smith macht ja nun nicht den Eindruck eines Einheimischen, Ihre technische Abteilung muss raus finden, von wo er ins Kommunikationsgitter des NIC kam.“
„Schon mal daran gedacht, dass das eine Operation des TIS ist?“
„Die hätten doch einfach Piloten anfordern können“, konterte Gibbons.
„Aber was wenn das eine inoffizielle Mission ist, quasi tiefschwarz?“
Der Naval CID-Agent schnaubte: „Dann schneide ich diesem Smith die Eier ab, weil wir hier Ressourcen verschwenden. Haben Sie Kontakte beim TIS?“
„Persönlich nicht, aber ich kenne jemanden der jemanden kennt. Da was herauszufinden dürfte dauern.“
„Und wenn Ihr Admiral sich an den hiesigen Chef des TIS wendet?“, wollte Gibbons wissen.
„Würde Sie die Antwort 'Nicht das ich wüsste' aus Richtung TIS befriedigen, Gibbons?“
„Nein!“
Cattaneo
Cattaneo
Direkter Kontakt Teil I
Frachter Emerald Jade, Medusa-System
Die Frachter der Merkur-Klasse waren von Anfang an dafür entwickelt worden, notfalls mit einer möglichst kleinen Crew fliegen zu können. Deshalb waren praktisch alle CC-Funktionen – Kommando und Kommunikation – im Cockpit zentralisiert worden. Es gab zwar auch Frachter mit einer eigenen Funkstube, doch die meisten Kapitäne sparten sich diesen Luxus. Wozu extra einen Funker einstellen, wenn die anfallende Arbeit von Pilot und Copilot erledigt werden konnte?
Es konnte nicht sehr überraschen, dass man auf der Emerald Jade die billigere Variante gewählt hatte. Angesichts der geringen Besatzungsstärke wäre es im Normalfall auch kaum möglich gewesen, eine durchgehende Funkwache einzurichten. Das bedeutete, die Überwachung der Anzeigen und praktisch alles, was an Kommunikation nach außen ging, lief komplett über das Cockpit. Die Zeit zwischen der Rekrutierung des Frachters und dem Abflug hatte nicht gereicht, daran etwas zu ändern – obwohl Tremane sicher einige Änderungswünsche durchgesetzt hätte, wenn ihm dies möglich gewesen wäre. Folglich ging es im Kommandostand meist ziemlich beengt zu, denn Sarah Victor bestand darauf, dass entweder sie oder ihre Vize ständig Wache hielten, um auf Notfälle reagieren zu können. Ebenfalls fast ständig anwesend war Fuchida, der die aufgewerteten Sensoren überwachte – und nur zu oft auch einer von den „Wachhunden“. So bezeichneten inzwischen nicht wenige Besatzungsmitglieder und Passagiere insgeheim Andrew Tremane und Jean Falkner. Manchmal schaute auch einer der Piloten vorbei, während Dr. Eriksen sich aus irgendwelchen Gründen für die Funkgespräche mit den Jägern und die aufgezeichneten Vitalfunktionen der Piloten interessierte. Oder Quicksilver drängelte sich aus purer Neugier herein…
Im Moment war die Luft im Cockpit wieder einmal zum Schneiden dick und es war kaum genug Platz, um sich umzudrehen. Die Lüftung machte Überstunden, dennoch roch es hier immer nach verbrauchter Atemluft, Schweiß und anderen unerfreulichen Dingen. Quicksilver hatte einmal erklärt, dass eine Ölsardine ihre Konserve vermutlich für geräumiger und auch wohlriechender erklärt hätte.
Toro lungerte auf dem Pilotensitz herum und las, vom Ambiente unbeeindruckt – nicht etwa ein elektronisches Buch oder eines mit Hochglanzbildern, sondern eine Papierausgabe eines dickeren Schmökers. Ungeachtet der Anweisungen seiner Vorgesetzten zeigte er seine Ablehnung gegenüber den Militärs ziemlich deutlich, aber die hatten es sich angewöhnt, seine Miene zu ignorieren. Auf dem Sitz neben dem Piloten saß Lilja, die eine Bildbrille aufhatte und mit hastigen aber überlegten Bewegungen verschiedene Kontrollen bediente. Fuchida behielt die Sensoranzeigen im Auge. Und Jean Falkner beobachtete einfach nur alle anderen.
Das Gesicht Liljas war zu einer Maske der Konzentration erstarrt und glänzte vor Schweiß. Hin und wieder murmelte sie Flüche in ihrer Muttersprache. Dabei schien sie ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen.
Tatsächlich war sie gedanklich ziemlich weit weg und an einem Ort, den sie mit Sicherheit nie wieder persönlich betreten wollte. Sie steuerte eine Drohne über die Oberfläche des zweiten Mondes von Medusa III.
Diese ferngesteuerten Flugkörper wurden von der TSN und NSC bereits seit vielen Jahren verwendet, wenngleich ihr Einsatz recht wechselhaft verlaufen war. Es gab Gründe, warum viele Kommandeure noch immer auf Live-Aufklärung durch Shuttle und Jäger setzten. Andrew Tremane hatte jedenfalls in weiser Voraussicht einige Standart-Aufklärungsdrohnen von Seafort mitgenommen. Die Leihgabe stammte zum Gutteil aus dem Bestand der Kreuzerschwadron 2.3 und war Fuchidas nicht ganz uneigennütziger Beitrag zu der Mission. Tremane hatte sich zunächst nicht viel von den Drohnen versprochen. Die ferngesteuerte oder automatisierte Erkundung des Medusa-Systems war in der Vergangenheit schon mehrfach versucht worden, und „deprimierend“ wäre noch eine zu positive Bezeichnung für die dabei erzielten Ergebnisse gewesen. Die meisten Drohnen hatten keine vernünftigen Aufzeichnungen machen können – und viele waren unterwegs einfach verschwunden. Die Strahlung hatte ihre Computergehirne gegrillt oder im entscheidenden Augenblick die Fernsteuerung gestört. Die Asteroiden, die es auch außerhalb des Gürtels um den zweiten Mond des dritten Planeten ausreichend gab, hatten den Rest erledigt. Tatsächlich waren diese hohen Materialverluste für den schlechten Ruf des Systems mitverantwortlich. Für eine gründliche Erkundung wären Spezialmodelle nötig gewesen, doch Medusa hatte niemand für so wichtig gehalten.
Die Emerald Jade war allerdings ein wenig besser dran als ihre Vorgänger. Zum einen war sie näher am Ziel – die meisten früheren Mutterschiffe hatten sich nicht annähernd so weit ins System gewagt. Diesmal war das zu untersuchende Gebiet zudem relativ eng umgrenzt, es ging ja nur um den dritten Planeten, eigentlich nur um einen Mond und den Asteroidengürtel. Und schließlich waren Tremanes Drohnen Militärmodelle, wenn auch nicht die allerneusten. Das hieß, sie waren robuster als viele NSC-Maschinen, wenn auch ihre Sensoren nicht ganz so ausgereift waren. Dafür waren ihre Sendeanlagen so stark, dass sie selbst durch einen Sprungpunkt Verbindung zu einer Lichtjahre entfernten Flotte halten konnten. Auf diese Weise hatte sich zum Beispiel Commander Cunningham während der Zweiten Schlacht von Karrashin über den Stand der Dinge informiert, bevor er so spektakulär ins Kampfgeschehen zurückgekehrt war.
Aus nahe liegenden Gründen wurden die Aufzeichnungen des ferngesteuerten Flugkörpers nur an Liljas Brille übertragen – das letzte, was Tremane wollte, waren Gerüchte über das, was es auf dem Mond zu sehen oder zu finden gab. Toro schien sich inzwischen damit abgefunden zu haben, nicht zu wissen, warum die Drohnenflüge so geheim waren.
**
Vor den Augen der Russin erstreckte sich die endlose Oberfläche des Mondes. Sie wirkte fast zum Greifen nahe, unermesslich in ihrer Weite, ein grandioses Panorama aus Schluchten, Tief- und Hochländern und Kratern. Das hier war etwas ganz anderes, als mit einem Jäger in relativ großer Höhe zu patrouillieren, zumal die Drohne viel langsamer flog. So glich ihr Flug mehr dem kurzen Höllenritt in dieses verdammte Mare hinein, nur zog es sich diesmal viel länger hin. Wenigstens konnte sie sich immer wieder sagen – ihr neues Mantra – dass sie ja nicht wirklich dort war. Störend und beunruhigend war der Umstand, dass die Bildübertragung ungeachtet der starken ECCM- und Signalanlagen der Drohne immer wieder durch kurze Störungen verzerrt wurde. Man musste sich auf den Autopiloten des Flugkörpers verlassen, der Befehl hatte, die Maschine nötigenfalls auf einer stabilen Bahn zu halten. Die Drohne war zunächst auf einem autonom gesteuerten Kurs in eine Parkposition am Rand des Asteroidengürtels gebracht worden. Dort hatte Lilja übernommen, denn mit schnellen Präzisionsmanövern war die KI des Robotfliegers doch etwas überfordert. Der voll einsatzbereite und gefechtsfähige Computerpilot war eben immer noch Zukunftsmusik.
Nach ihren bisherigen Erfahrungen war Lilja ziemlich immun gegenüber den Schönheiten des Mondes. Ihr fehlte die Begeisterung eines Entdeckers, der Neuland betrat und einen bisher kaum erforschten Himmelskörpers aus geringster Entfernung betrachtete, zumal sie ihre Ansprüche ja schon zur Genüge angemeldet hatte. Und was die nie gesehenen Dinge anging, die man hier vielleicht tatsächlich finden konnte – nun, die Russin wog eigentlich nur zwei Alternativen gegeneinander ab, und die sagten ihr beide nicht zu. Entweder hier war in Wahrheit nichts, dann lohnte es sich nicht, nachzuschauen und die Zeit zu verplempern. Oder es gab etwas, aber dann gehörte es ihrer Meinung nach zu der Art von Dingen, die man es besser in Ruhe ließ.
Ihr fehlte nur etwas die Entschlossenheit, diesem Bauchgefühl gegenüber einem Vorgesetzten wie Andrew Tremane mit Nachdruck Ausdruck zu verleihen. Innerlich schalt sie sich zwar für diese Feigheit, aber Widerstand gegen die Befehlskette war einfach nicht ihre Art. Vor allem nicht, seitdem ihr Ehrgeiz gestiegen war. Es gab viel, was ihr ein missgünstiger TIS-Commander „versauen“ konnte. Und ein gnädig gestimmter Geheimdienstler konnte vieles einfacher machen.
Die Russin verzog ihr Gesicht unter der Sichtbrille zu einer Grimasse. Wenn es nur ihr ungutes Gefühl gewesen wäre, das hätte sie wegstecken können. Aber daneben nagte noch etwas anderes an ihr. Seitdem sie Tremane über ihre „Entdeckung“ informiert hatte, war sie dem Asteroidengürtel oder gar dem Mond persönlich nicht mehr nahe gekommen. Sie wurde vielmehr konsequent und ausschließlich dafür eingesetzt, Tiefraumaufklärungsflüge und Patrouillen in sicherer Entfernung durchzuführen. Sie hatte zwar gewiss keine Sehnsucht nach dem Gespenstermond – wie sie ihn bei sich nannte – und das Fliegen im Asteroidenfeld war auch nichts, was ihr fehlte. Aber es irritierte sie, dass man sie nicht über die Gründe informierte. Sie war wirklich nicht die Frau, die sich leichtfertig bei einem Vorgesetzten beschwerte, aber langsam reichte es ihr. So etwas war sie weder gewohnt noch schätzte sie es. Auf der Columbia war sie jahrelang Staffel-XO und einige Monate sogar Schwadronschefin gewesen. Auch wenn ihr die Geschwaderführung gewiss nicht alles erklärte, so wurde sie dort nicht ohne einen Ton abgespeist. Vor allem, wenn es Gründe für dieses Verhalten gab, dann hätte sie diese gerne erfahren. Immerhin war sie da draußen gewesen und direkt betroffen. Aber Tremane schien von Glasnost‘ nichts zu halten. Er hatte sie lediglich zu regelmäßigen Sitzungen mit Dr. Eriksen vergattert. Ansonsten hatte sie nur noch einige Drohnenflüge in Richtung Asteroidengürtel übernehmen dürfen. Und das alles war eher geeignet, den Argwohn der Russin zu wecken. Lilja war nicht dumm, und die gesteigerte Neugier der werten Doktorin war kaum zu übersehen.
Doch maulen brachte nichts, soviel war klar. Es gab ja auch niemanden, mit dem sie reden konnte, schon gar nicht über das, was sie gesehen hatte. Quicksilver – eine der wenigen verständnisvollen Gestalten an Bord – gehörte nicht zum Militär und eigentlich kannte sie die Raumfahrerin auch nicht richtig. Die Doktorin musste mehr wissen, als sie der Pilotin mitteilte, und das warb nicht gerade um Vertrauen. Und Ace…nein, das war undenkbar. Ungeachtet dessen, dass er manchmal fast wie ein Kamerad wirkte, gerade in der Hinsicht war er vielleicht etwas zu begeistert bei der Sache. Und sie wusste nicht recht, was sie von seiner Verschwiegenheit halten sollte. In der Vergangenheit hatte er des Öfteren den Mund aufgemacht, wenn man besser geschwiegen hätte.
Mit einem mentalen Anschnauzer rief sie sich wieder zur Ordnung. Es gab wichtigere Dinge zu beachten, als nach einer Schulter zum Ausheulen zu suchen, außerdem war dieser Wunsch würdelos.
Mit einer geschmeidigen und doch behutsamen Bewegung steuerte sie die Drohne noch etwas tiefer. Diese Sichtbrillen waren jedenfalls gut konstruiert. Tremane hatte wirklich keine Mühe gescheut, um die Expedition angemessen auszurüsten – es war ja auch nicht sein Geld.
Jedenfalls waren diese Steuerinterface weitaus höher entwickelt als die üblichen zivilen Modelle. Neben dem zentralen Sichtfeld und eingeblendeten Anzeigen über Höhe, Geschwindigkeit, Treibstoffvorrat gab es noch eine Reihe kleinerer Bildschirme, die eingeblendet wurden. Es gehörte natürlich etwas Übung dazu, den Überblick nicht zu verlieren.
Die dort eingeblendeten Längen- und Breitenangaben, bezogen auf das Koordinatensystems des Mondes, veränderten sich laufend, während gleichzeitig die schwindende Entfernung zum Ziel angezeigt wurde. Andere Anzeigen wiesen auf Strahlungsniveau und andere Anomalien hin. Es war nicht mehr sehr weit. Achtung…Jaaa!
Die Tiefebene, die einstmals Schauplatz einer gigantischen Schlacht – und wer wusste wovon noch – gewesen war, öffnete sich vor der Drohne mit ihrer ganzen majestätischen Unendlichkeit. Der fast vollkommen ebene Untergrund leuchtete im Licht des Medusa-Zentralgestirns, doch die Spezialkameras lieferten immer noch klare Bilder – in so weit die Übertragung ungestört zur Emerald durchkam. Die Qualität der übermittelten Bilder und anderen Angaben schwand erwartungsgemäß in dem Maße, indem sich Lilja ihrem eigentlichen Ziel näherte, doch noch gab es keine ernsthaften Komplikationen.
Die Drohnenaufklärung hatte sich bisher auf Überflüge in großer Höhe beschränkt. Schon das hatte zu einem Totalverlust geführt. Der Autopilot des verunglückten Flugkörpers war offenbar vom Flug in den Randbereich des Asteroidengürtels überfordert gewesen. Der Kontakt war mitten im Transit abgebrochen, ohne Angabe von Gründen, und hatte sich auch nicht wieder herstellen lassen. Das war ein herber Verlust gewesen, denn Tremane hatte nur vier Drohnen für die gesamte Mission erhalten.
Trotz der bekannten Risiken hatte sich der TIS’ler jedoch nach drei erfolgreichen Distanzüberflügen dazu entschlossen, noch einen Versuch zu einer direkten Erkundung zu unternehmen. Die bisherigen Drohnenflüge hatten wegen der großen Entfernung und der starken Störemissionen wenig neue Ergebnisse über die Relikte auf dem Mond gebracht. Und das wollte schon etwas heißen, denn die Militärmodelle waren dafür konstruiert, in der Schlacht zu operieren, wenn sowohl der Gegner wie auch die eigene Seite ECM einsetzten und explodierende Atomraketen gewaltige Strahlungsschocks durch den Weltraum jagten. Bisher hatte man jedenfalls nur mehr oder weniger Liljas frühere Ergebnisse bestätigen können. Dort war etwas – oder auch nicht. Was es genau war, wie alt, von wem geschaffen, das ließ sich nicht sagen.
Tremane hatte jedoch einfach nicht die Geduld, eine definitive Klärung auf eine spätere Expedition – die er wohl kaum selber würde leiten können – zu verschieben. Deshalb war er bereit, das Risiko einzugehen, das jeder direkte Anflug barg.
Die Russin flog planmäßig eine Schleife und ließ die Drohne dabei wieder ansteigen, um einen sicheren Abstand zu den Steilwänden zu halten, die die Tiefebene begrenzten. Sie flog diesmal aus genau entgegensetzter Richtung an als bei ihrem ersten Besuch. So überquerte sie zuerst das Areal wo sie MÖGLICHERWEISE Spuren für unterirdische Gänge geortet hatte, und wo ein Asteroid oder schwerer Atomsprengkopf einen ganzen Berg gespalten hatte.
Obwohl sie selber in sicherer Entfernung war, fühlte sie, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug, als der Abstandsmesser, der auf die Felswand mit der rätselhaften Kreisstruktur, den „Statuen“ und „Pyramiden“ ausgerichtet war, immer weiter gegen Null zählte. Die Kameras zeigten bereits die „gläsernen Berge“. Ohne es selbst zu merken, beugte sie sich vor, als säße sie tatsächlich in der Drohne. Da…war etwas…eine Höhle? Künstliche Strukturen?
Nur für einen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf die gewaltige Wunde, die der so lange zurückliegende Angriff – oder was auch immer – in den lebendigen Stein gerissen hatte, und auf die Gänge und Kavernen, die er offen gelegt hatte. Irgendetwas schien ihre Aufmerksamkeit zu wecken – dann verschwand das Bild in einem Wirbel aus Störsignalen. Die Anzeigen der Messgeräte konnten die Ausschläge nicht einmal mehr messen.
Mit einem überraschten Keuchen griff Lilja nach den Kontrollen, um die Drohne sofort in einen sicheren Abstand zu bringen, drückte auf den Notfallknopf, der den Flugkörper auf einen vorprogrammierten Steigflug bringen sollte, doch vergeblich. Die Steuerung der Drohne reagierten nicht mehr, egal wie sehr sie auf die Kontrollen einhieb. Für einen Augenblick hellte sich das primäre Sichtfenster ihrer Brille auf, zeigte den Boden der Tiefebene, der mit rasender Geschwindigkeit näher kam, und dann etwas, das vielleicht eine der „Statuen“ war – dann verloschen alle Anzeigen mit tödlicher Endgültigkeit.
**
Die Russin riss sich die Sichtbrille vom Kopf. Es war doch wirklich wie verhext! Wieso funktionierte dieser beschissene Autopilot einfach nicht? Wieso brach die Verbindung ausgerechnet im schlechtesten Moment ab, und wieso war die verdammte Drohne in einen unkontrollierten Sturzflug übergegangen?
Es fehlte nicht viel, und sie hätte das kostbare Stück Hightech in ihrer Hand gegen die Cockpitwand geknallt, aber sie beherrschte sich gerade noch einmal. Verbal allerdings zeigte sie keine Zurückhaltung, und auch wenn die Zuhörer wohl nicht verstanden, was sie genau sagte, der Tonfall und ihr Gesichtsausdruck waren mehr als aussagekräftig.
Erst mit Verspätung realisierte, was sie für ein Schauspiel bot. Fuchida wirkte etwas konsterniert. Auf der Brücke der Relentless war derartiges wohl nicht der Normalfall, schon gar nicht seitens eines Lieutenant Commanders. Toro feixte breit, was in Lilja den zugegebenermaßen etwas suizidalen Wunsch weckte, ihm ein paar Mal ins Gesicht zu schlagen. Falkner hingegen – nun, die TIS’lerin blieb vollkommen gelassen. Sie zog nur fragend eine Augenbraue hoch, wirkte nicht einmal überrascht…
********
Eine Stunde später
Tremane hatte nicht die Beherrschung verloren, als man ihm eröffnet hatte, dass mit dem letzten Verlust die Hälfte seines Drohnenparks ausgefallen war. Er hatte nicht einmal Lilja zur Schnecke gemacht – wohl auch, weil die Russin ihn bei Beginn der ferngesteuerten Aufklärungsflüge deutlich auf die Risiken hingewiesen hatte. Stattdessen hatte er Fuchida und Lilja zu einer Krisensitzung einbestellt. Die drei Offiziere hielten sich in der Messe auf, die regelmäßigen für solche Zwecke missbraucht wurde.
In erster Linie ging es ihm darum, nach Möglichkeiten zu suchen, die Aufklärung doch noch irgendwie fortzusetzen. Doch Fuchida konnte da wenig Hoffnung machen. Mit Bordmitteln könnten die verbleibenden Drohnen nicht ausreichend aufgerüstet werden, so die Einschätzung des Sensoroffiziers. Dafür waren eher ein vernünftiges Budget und ein paar Monate in einem NSC-Labor notwendig. Das war definitiv nicht das, was Tremane hatte hören wollte. Wie Lilja den Geheimdienstler kannte, so überlegte er vermutlich, ob er jetzt nicht doch noch einen bemannten Flug zu diesem verdammten Mondkrater losschicken sollte. Aber wenn dem so war, dann behielt er es für sich. Er zeigte sich sogar interessiert, als Fuchida ein anderes Thema anschnitt. Der Sensoroffizier fasste zunächst noch einmal das offensichtliche zusammen: „Eine weitere Aufklärung des Kraters scheint wenig ratsam oder aussichtsreich. Ich denke, die möglichen Erträge rechtfertigen kaum das Risiko weiterer Verluste. Und so faszinierend die Aussicht ist, dort Informationen über die Erbauer der Medusa-Station zu finden…“, so nannte Fuchida die ominöse Raumstation, von der sie die Trümmer bargen, die offizielle Begründung für diese Mission, „…so glaube ich nicht, dass wir mit unseren Mitteln irgendetwas militärisch oder sonst wie Verwertbares finden können.“ Damit hatte er wohl Recht, denn für eine kontrollierte Landung und die Mitnahme von Proben fehlte wirklich das Equipment. Fuchida konnte ja nicht wissen, dass es Tremane nicht in erster Linie um militärisch nutzbare Artefakte ging.
„Unsere primäre Mission wird dadurch jedoch glücklicherweise nicht beeinträchtigt, und inzwischen haben wir ja eine Reihe durchaus lohnender Artefakte eingesammelt. Einige Dutzend kleinerer Objekte wurden geborgen und untersucht, zwei größere auf der Außenhaut befestigt, alles genau dokumentiert mit Strahlungsniveau, Fundort und so weiter. Wir können zufrieden sein.“ Offenbar fehlte dem Japaner etwas das Einfühlvermögen, sonst hätte er gesehen, dass weder Tremane noch Lilja sonderlich zufrieden wirkten – wenn auch aus verschiedenen Gründen. Der Flottenoffizier fuhr ungerührt fort: „Was mich in diesem Zusammenhang interessiert ist die Frage, wie wir sichergehen können, dass die Information, hier ließe sich etwas finden, oder gar was hier zu finden ist, nicht nach außen gelangt. Wir können natürlich in der augenblicklichen Lage keinen Zaun um das System spannen. Immerhin sind wir hier im Niemandsland, und die TSN ist einfach zu sehr durch den Krieg beansprucht, um eine Sicherung zu gewährleisten. Eine rein symbolische Präsenz wäre nicht nur nutzlos, das könnte vielmehr genau die Art von Aufmerksamkeit erregen, die wir vermeiden wollen.“
Lilja verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sie fühlte sich etwas in ihrer Eitelkeit bestätigt, dass sie an der Besprechung teilnehmen konnte – obwohl sie inzwischen längst eigene Vermutungen hatte, dass es hier um mehr als nur um ein paar antike Raumtrümmer gehen mochte. Doch ihre Einbeziehung änderte nichts an ihrer skeptischen Grundhaltung: „Das Hauptproblem dürfte doch wohl sein, dass irgendwer bereits wusste oder zumindest glaubte zu wissen, dass hier uralte Alientech liegen könnte. Sonst hätte ja niemand die Mary C losgeschickt. Allerdings sagt mir meine weibliche Intuition…“ das war natürlich ein Scherz, denn Lilja hätte normalerweise jeden Glauben an so etwas geschlechterspezifisches von sich gewiesen, immerhin kam sie mit Frauen auch nicht viel besser aus als mit Männern „…dass wir uns um DIESES Problem keine Sorgen mehr machen müssen. Und auch nicht um Nachahmer. Vielleicht sollten unsere wackeren Tschekisten sogar ein paar entsprechende Gerüchte über das Schicksal der Mary C streuen, damit anderen Möchtegernplünderern die Lust zu weiteren Ausflügen vergeht.“
Tremane warf ihr nur einen starren Blick zu, unter dem die sonst so sarkastische und starrköpfige Russin sichtlich kleinlaut wurde: „Entschuldigen Sie, Commander, ich weiß, das ist nichts, worüber man scherzt.“
Fuchida griff wieder in das Gespräch ein: „Sie haben eigentlich zur Hälfte Recht, Lieutenant Commander. Die Frage danach, wer die Mary C losgeschickt hat, ist in dem Zusammenhang besonders wichtig, doch das ist nichts, worauf wir Einfluss haben. Aber ich fürchte, wir können nicht davon ausgehen – so sehr es zunächst auch danach aussehen mochte – dass wir die Mary C wirklich los sind.“
Tremane wirkte keineswegs überrascht. Lilja hingegen – die doch selber entsprechende Vermutungen angestellt hatte über eine mögliche Flucht des Schatzsucherschiffs – gab sich ungläubig: „Angesichts der georteten Atomexplosion, der überhasteten Flucht unter Zurücklassung einer Rettungskapsel voller Sterbender und dieser ominösen Botschaft, die wir aufgefangen haben, müssen wir doch von einem ernsten Zwischenfall ausgehen. Falls Sie natürlich meinen, die Akarii oder Piraten stecken dahinter…“
Der Sensoroffizier schüttelte höflich aber entschieden den Kopf: „Die eigentlich wahrscheinlichste Variante, eine Explosion der Mary C oder eine Kollision mit einem Asteroiden, können wir ausschließen – auch die Atomexplosion kann nicht daher kommen. Die Signatur passt einfach nicht dazu. Ich habe mir die Sensoraufzeichnungen genau angesehen. Entlang der logischen Driftwege – unter Einberechnung der Folgen einer Explosion – gibt es einfach nicht genug Trümmerteile, die auf eine Zerstörung der Mary C hindeuten. Selbst ein schwerer Störfall an Bord hat normalerweise nicht diese Wirkung – es sei denn, der Frachter hatte eine Exocet AN BORD und hat diese in seinem Inneren gezündet, was wir wohl ausschließen können. Natürlich KANN es sein, dass die Mary C vollständig zerstört wurde – etwa durch Beschuss mit einer überschweren Atomwaffe. Wenn, dann muss es eine fire-and-forget-Rakete gewesen sein, die nicht nur die Schilde und mögliche Gegenmaßnahmen der Mary C überwunden hat, sondern den Frachter auch förmlich verdampfte. Und das in einem Habitat, das für zielgenauen Beschuss nicht eben geeignet ist. Ich habe alle Spuren überprüft. Die Explosion, die sich ereignet hat, entsprach jedenfalls nicht der Signatur bekannter terranischer oder anderer Gefechtsköpfe, auch wenn eine genaue Taxierung der Megatonnenzahl angesichts der hier herrschenden Strahlungsverhältnisse schwierig ist. Sie KÖNNTE stark genug gewesen sein für eine vollständige Auslöschung – doch können wir uns darauf verlassen? Und hätte jemand, der eine solche Vernichtungskraft gegen einen Frachter einsetzt, nicht auch die Kapsel abgeschossen?“
Tremane schien sich inzwischen einen Reim aus Fuchidas Überlegungen machen zu können: „Ich verstehe. Sie meinen, wir sollten überprüfen, ob die Mary C das System vielleicht durch einen anderen Sprungpunkt verlassen hat – und in welcher Begleitung, beziehungsweise von wo der unbekannte Angreifer kam. Wenn es einen gab.“
Der Flottenoffizier nickte: „Das scheint mir sinnvoller als irgendwelchen Phantomen nachzujagen, denen wir ohnehin nicht auf den Zahn fühlen können. Vor allem angesichts der hohen Materialverluste, die wir dabei erlitten haben. Wir sollten unser Vorgehen ändern, ehe uns die Optionen ausgehen. Wenn wir wissen, wohin die Mary C verschwunden und wer zuvor ins Systems gesprungen ist – viele mögliche Kandidaten dürfte es hier nicht geben – dann können wir abschätzen, wie groß die Gefahr ist, dass sich jemand anders für das System interessieren könnte. Und Gegenmaßnahmen ergreifen. Finden wir nichts…dann können wir immerhin sicher sein, dass die Mary C vernichtet wurde.“
Der Geheimdienstler schien für einen scheinbar endlosen Moment in Gedanken versunken sein. Diese Momente – sie waren selten, kamen aber hin und wieder vor – waren immer etwas einschüchternd. Denn manche Zuschauer fragten sich wohl unwillkürlich, auf welchen Pfaden die Gedanken Tremanes wandelten. Der Geheimdienst hatte so seinen Ruf. Obwohl keiner wirklich glaubte, man würde ihn nach der Operation als unbequemen Mitwisser beseitigen. Nein, so etwas war vollkommen unsinnig. In Wirklichkeit passierte so etwas doch nicht…
Dann kehrte Tremane abrupt in die Wirklichkeit zurück: „Interessanter Vorschlag. Ich nehme an, Sie haben sich bereits ein Bild gemacht, wie viele Sprungpunkte wir überprüfen müssen?“
Der Flottenoffizier nickte. Er rief einige Hologramme auf, welche die momentane Position der Emerald und die Sprungpunkte des Systems zeigten: „Wir haben den, durch den wir angekommen sind…“ er ließ den fraglichen Punkt pulsieren: „…bereits beim Sprung angemessen. Außer der Mary C hat kein anderes Schiff ihn in einem auch nur halbwegs relevanten Zeitrahmen in Richtung Medusa benutzt – und die Mary C ist nicht auf diesem Weg wieder verschwunden. Wir können ihn also von der Suche ausnehmen. Daneben gibt es noch den Sprungpunkt Richtung Karrashin und einen Sprungpunkt, der in Richtung des akariischen Kernreiches ausgerichtet ist.“ Jetzt leuchteten in einiger Entfernung zur Emerald zwei weitere Punkte auf.
Fuchida sprach es nicht aus, aber sollte die Mary C in Richtung des Imperiums gesprungen sein, dann war es so gut wie unmöglich, sie zu verfolgen. Fuchida zögerte einen Moment: „Laut einigen Berichten gibt es noch einen weiteren Sprungpunkt. Er soll aber nicht sehr stabil sein und wurde nur bei zwei früheren Expeditionen erwähnt – zwei andere fanden keine Spur von ihm, suchten aber auch nicht sehr gründlich. Er soll nur zu einem einzigen Ziel führen, einem randwärts gelegenen System, das nur unter der Bezeichnung XK-23-4 bekannt ist. Es liegt am Rande des von den Akarii kontrollierten Raums, in unsere taktischen Karten spielt das System keine Rolle – wahrscheinlich ihr Gegenstück zu unserem Niemandsland. Niemand hat einen Grund, dorthin zu fliegen.“
Lilja musterte die Hologrammkarte: „Liegen ein bisschen weit auseinander, die Sprungpunkte.“ Fuchida nickte: „Mit der Emerald hinzufliegen würde zu lange dauern, und ein Distanzscan hat in diesem System keine Chance. Ich schlage vor, wir messen die zwei regulären Sprungpunkte mit je einer Drohne an. Im Moment können wir die Aufklärer ja ohnehin nicht mit Aussicht auf Erfolg einsetzen. Im Asteroidengürtel brauchen wir sie nicht, und auf dem Mond sind sie ohne Nutzen. Ihre Autopiloten dürften jedoch mit einem reinen Transitflug im freien Raum nicht überlastet sein, zudem nimmt die Strahlung in diese Richtung eher ab. Der andere Sprungpunkt…entweder wir warten, bis die Drohnen wieder zurück sind, oder wir schicken einen Jäger. Das dürfte in Reichweite der Zusatztanks liegen. Und mit ein paar Umkonfigurierungen am Sensorpod dürfte eine Überprüfung technisch möglich sein.“
Lilja warf einen nachdenklichen Blick auf die eingeblendeten Angaben über die Entfernung: „Sollte machbar sein – aber das sind zwei…nein, eher zweieinhalb Stunden zügiger Marschflug hin und noch einmal dieselbe Zeit zurück.“
Sie zögerte kurz, fuhr dann jedoch fort: „Ich weise nur darauf hin, dass ein einzelner Jäger mit Sensorpod und Zusatztanks nur vergleichsweise schlecht bewaffnet ist. Wir können zwar wahrscheinlich ausschließen, dass die Mary C plötzlich wieder hier im System auftaucht oder ein anderen Feindschiff hineinspringt…“ Sie führte den Gedanken nicht zu Ende. In diesem sehr unwahrscheinlichen Fall war ein einzelner Aufklärer deutlich im Nachteil.
Aber natürlich wäre es ihr nicht eingefallen, ernsthaft Einspruch zu erheben: „Ich würde sagen, wir schicken Jadesohn zwei. Ace hat Erfahrung mit Langstreckenaufklärungsflügen.“ Außerdem vermutete sie, der Einsatz würde nicht mehr als langweilige Routine sein, und die konnte man ja als Vorgesetzte auch delegieren. Und nicht zuletzt…
Und da kam auch schon der erwartete Einspruch, mit der Pünktlichkeit eines Steuerbescheids. Tremanes Stimme klang höflich, aber entschieden: „Ich brauche Ace für einige weitere Einsätze im Asteroidengürtel. Sie haben eindeutig mehr Erfahrung und Initiative für solche Einsätze bewiesen, Lieutenant Commander.“ Die Russin bleckte die Zähne, was nicht unbedingt wie ein Lächeln wirkte. Sie verstand die Anspielung auf ihren Phantomkontakt im Draned-Sektor, und nahm das nicht eben gnädig auf. Vor allem aber hatte sie eine weitere Bestätigung, dass man sie nicht noch einmal im Asteroidengürtel haben wollte. Sie öffnete schon den Mund, um endlich eine Klarstellung zu verlangen, was das eigentlich sollte. Sie war eine erfahrene Soldatin, kommandierte bei diesem Einsatz die Raumjäger und Shuttles und stand nur einen Rang unter Tremane – irgendwo gab es eine Grenze dessen, was sie einfach so hinnahm. Doch dann schluckte sie ihre Worte herunter. Das hatte Zeit bis nach der Mission: „Ja, Sir. Ich bereite den Jäger vor und weise Ace wegen der Änderungen ein.“ Damit drehte sie sich um und stolzierte voller unterschwelliger Wut hinaus. Vermutlich konnte sich der blauhaarige Pilot auf einige verbale Spitzen gefasst machen.
Cattaneo
Cattaneo
Direkter Kontakt II
Tiefer Weltraum, Medusa-System, über zwei Stunden später
Der Flug zu dem ominösen Sprungpunkt war in etwa so ereignislos verlaufen, wie Lilja es sich ausgemalt hatte. Selbst in einem so unheimlichen System wie Medusa war der Raum zum größten Teil eben wirklich LEER. Hier draußen – jenseits der Planetenbahnen – gab es auf weite Strecke nichts. Wie viele andere Systeme hatte Medusa zwar auch einen externen Asteroidengürtel, der das System umkreiste, gehalten von der Anziehungskraft des fernen Zentralgestirns. Allerdings war dieser Gürtel relativ gut erforscht, lag er doch weit entfernt von der Strahlenhölle, die im Inneren des Systems gewütet hatte. Das hieß nicht, dass er nicht auch seine Radiationsschübe abbekommen hatte, aber verglichen mit den Kernregionen war er noch normal. Zudem hatten die wenigen Expeditionen vor allem dort geforscht, denn wenn es in Medusa abbauwürdige Rohstoffe gab, dann würde man sie noch am ehesten hier fördern können. Der große Abstand zur Sonne würde es erlauben, im Fall eines schweren Ausbruchs rechtzeitig zu evakuieren. Man hatte jedoch nichts gefunden. Wenn die geheimnisvollen Fremden auch dort in grauer Vorzeit ihre Spuren hinterlassen hatten, dann waren diese perfekt verborgen. Lilja wollte auch gar nicht zu sehr darüber nachdenken, was es hier noch alles zu finden gab. Sie traute ihrer eigenen Phantasie nicht mehr so ganz. Glücklicherweise wurde ihr von mysteriösen Dingen nicht so leicht kribblig wie einigen dieser Möchtegern-Elitesoldaten vom Korps.
Jedenfalls hatte sie nichts anderes tun können, als sich auf dem Flug nach Kräften zu langweilen. Ihre Sensoren zeigten buchstäblich NICHTS. Keine Trümmer, keine Signale – abgesehen vom Hintergrundrauschen des Systems – geschweige denn Schiffe oder andere künstliche Objekte.
Inzwischen hatte sie diese Tiefraumstreifzüge ziemlich über, auch weil sie an dem Nutzen zweifelte. Wer sollte hier schon aufkreuzen? Es gab einen Grund, warum sowohl Menschen als auch Akarii Medusa weitestgehend sich selbst überlassen hatten. Außerdem fragte sie sich, ob die ganze Fliegerei der letzten Tage nicht auch eine Art Beschäftigungstherapie war: ,Vielleicht will Tremane nur nicht, dass ich noch mehr über den Asteroidengürtel erfahre, damit er später mal auf Schatzsuche gehen kann. Oder er glaubt, ich würde auf einmal anfangen in Zungen zu reden wie angeblich dieser Schmuggler, wenn ich dem Mond noch mal nahe komme. Blödsinn.’
Ihre eigenen unguten Gefühle über eine…Präsenz, einen mentalen Druck oder etwas derartiges, die sie beim ersten Flug über den Mond gespürt – oder sich eingebildet – hatte, die hatte sie sich inzwischen erfolgreich ausgeredet. Allerdings war sie nicht so weit gegangen, ihre privaten Aufzeichnungen zu löschen, sie hatte sie nur ergänzt und damit relativiert. Schlimmstenfalls konnte ihr das als Mahnung dienen, dass sogar sie für einen Moment anfangen konnte, zu spinnen.
Aber das alles brachte sie einfach nicht weiter. Vielleicht verlangte sie auch einfach zu viel. Im Grunde ging doch vieles auf dieser Mission etwas über ihren Horizont. Dieses ganze Gerede von uralten Rassen und Reichen, von deren Relikten, und dann auch noch das rätselhafte Schicksal der Mary C und ihrer Crew… Das war nichts, wozu ihre solide Ausbildung etwas hergab, warum sollte sie auch? Vielleicht war es einfach besser, seine Pflicht zu tun und diese Fragen anderen zu überlassen. Den Spinnern und Enthusiasten zum Beispiel. Sie besaß einfach nicht das Wissen, um beurteilen zu können, wer in welche Kategorie gehörte. Und gesunder Menschenverstand war bei so absonderlichen Dingen vielleicht zu wenig.
Gedanklich nickte sie zu ihren eigenen Überlegungen. So war es vielleicht am besten. Das Nachgrübeln über Dinge, die Generationen von Forschern und Phantasten nicht hatten lösen können, brachte niemanden irgendwohin. Besser, sie konzentrierte sich auf das, was war – nicht auf das, was sein könnte. Blieb nur zu hoffen, dass die anderen zu derselben Einsicht in der Lage waren…
Damit widmete sie sich wieder den Anzeigen. Sie näherte sich dem Sprungpunkt. Wie bei so vielem im Medusa-System gab es hier Abweichungen vom Normalfall. Leider war sie keine Spezialistin in den höheren Weihen der Astrophysik. Obwohl sie de facto das Wissen eines Raumfahrtingenieurs hatte, fehlte ihr doch etwas die Detailkenntnis zur Natur eines Sprungantriebs und einer Sprungverbindung. Sie konnte deshalb die Anzeigen ihrer aufgerüsteten und modifizierten Sensoren nur unvollständig verstehen. Aber ihr war klar, dass die Strahlungssignatur dieses Sprungpunktes vom Normalfall abwich. Bei Karrashin hatte sie selbst in unmittelbarer Nähe des dortigen Sprungpunktes gekämpft, und sie hatte oft in solchen Umgebungen Patrouillen durchgeführt. Hier jedoch…die Strahlung war einiges SCHWÄCHER als im Normalfall. Nicht gerade das, was man in diesem System erwartet hätte. Üblicherweise war die Ortung an Sprungpunkten erheblich gestört – was die TSN bei Karrashin zu ihrem Vorteil ausgenutzt hatte. Hier aber war das Niveau einiges geringer – und es schien auch so, als ob die Strahlung in ihrer Stärke variierte. Vielleicht war diese Verbindung wirklich nicht ganz stabil, wie Fuchida es erzählt hatte. In diesem Fall würde nur jemand, der einen guten Grund hatte, einen Sprung wagen.
Lilja knurrte etwas Unwirsches. Vermutlich verplemperte sie hier nur wieder ihre Zeit. Wenn ein Akarii die Mary C gekapert hatte, würde er in Richtung des Imperiums fliehen. Ein Pirat würde auch kaum ins Nirgendwo durch eine vielleicht unsichere Verbindung springen. Und wenn die Leute der Mary C selber getürmt waren – dann wohl kaum DAHIN.
,Es sei denn, die Geister des Systems haben dieses Spukdomizil satt – verübeln kann ihnen das keiner – und beschlossen spontan, sich anderswo umzutun.’ Bei diesem Gedanken lachte die Russin leicht auf. Auf die Dauer musste es hier wohl auch einem Geist zu langweilig werden.
Mit diesen Gedanken ließ sie die Scanroutinen durchlaufen. Jetzt würde sich erweisen, ob Fuchida gute Arbeit geleistet hatte und ob sie ausreichend Daten mitbrachte, um ausschließen zu können, dass die Mary C auf diesem Weg geflohen war. Bei ihrem Glück freilich würden die Sensorpods wahrscheinlich austicken. Und sie würde dann noch mal fliegen dürfen.
Sie warf einen Blick auf die angezeigten Werte. Hm – wenn sie nur mehr davon verstehen würde. Hieß das nun, dass niemand durch diese Sprungverbindung das System verlassen hatte, waren das nur natürlich Anomalien oder…
Während sie noch rätselte, schlugen mit einem Mal die Anzeigen aus, so stark, dass bei ihr die inneren Alarmsirenen aufheulten. Konnte denn hier nicht einmal etwas glatt gehen?
Sie war keine Spezialistin auf dem Gebiet, doch was sie sah, das konnte keine natürliche Fluktuation sein, das konnte nur bedeuten, dass…
Während sie noch mit automatischen Handbewegungen die Sensoren kalibrierte, war es schon zu spät. Was sie vor sich sah, das erkannte sogar ein Laie wie sie. Es gab keinen Lichtblitz, keine Pseudobewegungen, kein sich öffnendes Tor zu unvorstellbaren Dimensionen, wie man es in verschiedenen mal mehr, mal weniger gelungen SiFi-Streifen zu sehen bekam.
Nur die Anzeigen spielten verrückt, aber die Botschaft war eindeutig. Ein Schiff war ins System gesprungen – daran konnte kein Zweifel bestehen. Durch einen wahrscheinlich nicht ganz stabilen Sprungpunkt, ungeachtet aller Gefahren. War es die Mary C? Kehrte das Schiff an den Ort des Unglücks zurück, das einen Teil seiner Besatzung getötet hatte? Oder war es der unbekannte Angreifer, der den Frachter vernichtet haben mochte? Oder…
Immer mehr Sensoren meldeten sich, und binnen Sekundenbruchteilen erkannte sie, wen und was sie vor sich hatte. Ihre Taktikanzeigen flackerten einmal kurz, Folge der Strahlung am Sprungpunkt, dann schälte sich eine nur zu bekannte Silhouette heraus, unterfüttert von Daten, die ihr gleichsam ins Gehirn gebrannt waren. Manche Dinge wusste sie einfach, ohne nachdenken zu müssen. Für einen Augenblick starrte die Russin wie versteinert auf die Anzeigen, die in Rot leuchteten – rot als Zeichen für den Kontakt mit dem Feind.
Der Neuankömmling…war ein Kriegsschiff der Akarii. Sie war kein Neuling mehr, der bei seinem ersten Gefecht kopfscheu wurde. Aber hier und unter diesen Bedingungen hatte sie nicht damit gerechnet.
Doch dann griffen ihre Reflexe. Sie brauchte keinen zweiten Blick, um zu erkennen, wen sie vor sich hatte – eine Korvette der Quebec-Klasse. Sie wusste nicht, wie die Echsen den Schiffstyp nannten, der im Ruf stand, schon etwas veraltet und nur mit vergleichsweise leichten Schilden versehen zu sein. Aber für zwei Jäger oder gar einen Frachter wie die Emerald – und eigentlich auch jede TSN-Korvette – war eine Quebec ein gefährlicher Gegner. Das Schiff gehörte offenbar zur Primärvariante. Es war mit 10.000 Tonnen einiges größer als die Emerald, gut anderthalbmal so schnell und verfügte über einen einrohrigen Schiff-Schiff-Raketenwerfer für Marschflugkörper, die in etwa den Exocet II der TSN entsprachen. Glücklicherweise war der Munitionsvorrat gering, doch für die Emerald würde es nur EINEN Volltreffer brauchen. Und auch die Rohrartillerie und leichten Raketen waren nicht zu unterschätzen: vier Laser- und zwei Impulslasergeschütze sowie einen Antijägerwerfer mit zehn Rohren. Besetzt waren die Quebec üblicherweise mit 60 Mann, dazu kam mitunter ein Kontingent imperiale Marines.
Die Russin unterdrückte mühelos den Impuls, sofort mit Höchstgeschwindigkeit zu flüchten. Das hätte sie mit Sicherheit verraten, denn der Gegner war nahe, sehr nahe. Stattdessen schaltete sie sofort ihre aktive Ortung aus – was hieß, sie verlor den Akarii „aus den Augen“ – und führte mit moderater Geschwindigkeit eine Kurskorrektur durch. So kurz nach dem Sprung und in dieser Umgebung musste auch der Gegner halb blind sein. Und obwohl sie einander sehr nahe waren, bei der Hintergrundstrahlung mussten doch seine Sensoren zumindest etwas gestört sein. Wenn sie genug Abstand gewinnen konnte und etwas Glück hatte…
Aber mit dem Glück wollte es heute nicht so recht klappen. Fast sofort nach ihrem Manöver zeigte ihre Passivortung an, dass sie direkt angepeilt wurde. Und während sie noch mental darum bettelte, dass der Kelch an ihr vorbeigehen möge, meldete sich über Funk eine harsche Stimme, bei der man deutlich man deutlich hörte, dass Englisch nicht ihre Muttersprache war. Oder überhaupt menschliche Laute: „TSN-Raumjager…stoppen Maschinen sofort Sie. Bereit an Bord geholt zu werden! Befehl ausführen, oder wir feuern!“
In diesem kurzen Moment dankte Lilja ihrem blauhaarigen Kameraden gedanklich dafür, dass er sie praktisch genötigt hatte, neben den beim Militär üblichen Brocken der verschiedenen Akarii-Sprachen noch etwas mehr von den Idiomen des Feindes zu lernen. Auch wenn er vermutlich nicht wusste, in welche Richtung sie teilweise ihre Kenntnisse erweitert hatte.
Während die Russin mit der rechten Faust auf den Nachbrennerknopf hieb und mit der Linken eine Kaskade von Täuschkörpern ausstieß, räusperte sie sich. Dann teilte sie dem Akarii in flüssigem Sekurr mit, was er mit seiner Mutter tun könnte.
In diesem Moment heulten die Alarmsirenen auf. Der feindliche Feuerleitradar und die Zielerfassung seiner Raketen hatten sie angepeilt.
Der Alarm traf die Emerald praktisch unvorbereitet. Natürlich hatte man sich an Bord des Frachters auf Probleme vorbereitet. Allerdings hatte man eher damit gerechnet, dass es bei den Bergungsarbeiten zu einem Zwischenfall kam. Und nachdem die letzten Tagen HALBWEGS glatt verlaufen waren, hatte der Argwohn ein bisschen nachgelassen. Da im Moment nichts Wichtiges anlag, war das Cockpit nur mit zwei Personen besetzt – auch Wachhunde mussten ja mal schlafen. Möglicherweise, wie Quicksilver hinter vorgehaltener Hand gestichelt hatte, im selben Körbchen…
Jetzt aber war das Erwachen für die Brückencrew ebenso plötzlich wie unangenehm.
Es begann mit einer Geräuschexplosion, ein Funkspruch, der mit maximaler Signalstärke abgesendet wurde, so als ob die andere Seite auf jeden Fall sichergehen wollte, dass ihre Nachricht das Ziel erreichte. Die Entschlüsselung erfolgte praktisch in Echtzeit. Liljas Stimme gellte durch das Cockpit – offenbar wollte die Russin auch akustisch alles in ihrer Macht stehende tun, damit man sie verstand: „Jadesohn Eins an alle! Akarii-Korvette ins System gesprungen, Typ Quebec-Alpha geortet. Unter Beschuss.“
Kapitän Sarah Victor, die inzwischen ihren Piloten im Cockpit abgelöst hatte, sprang beinahe senkrecht in die Höhe – ein Wunder, dass sie sich nirgendwo etwas anschlug. Ihre Stimme überschlug sich und gellte sowohl über Interkom als auch Sprechfunk: „Alarm! Gefechtsalarm! Alle Mann auf Kampfstationen! Maschinenraum – bereithalten!“ Ohne auf eine privatere Interkkomfrequenz umzuschalten, fuhr sie für alle gut hörbar fort: „Tremane – Schwing den Arsch auf die Brücke! Die Echsen haben uns gefunden!“ In diesem Moment vergaß sie ihre guten Manieren verständlicherweise.
Fuchida, der im Augenblick die beiden Drohnen überwachte, die er zu den anderen Sprungpunkten geschickt hatte, blieb wesentlich ruhiger. Allerdings hatte er ja auch etwas mehr Gefechtserfahrung – obwohl er dabei üblicherweise mehr als einen rostigen Frachter unter seinem Hintern hatte.
„Achtung, Jademutter an alle. Sofort Rückkehr zum Schiff. Dies ist keine Übung, wiederhole, KEINE Übung!“ Im nächsten Moment hieb er bereits auf die Steuerkonsolen ein und brachte die Drohnen auf einen neuen Kurs – andere Offiziere hätten die Flugkörper wohl vollkommen vergessen.
In diesem Moment meldete sich Lilja wieder. Ihre Stimme klang spürbar angespannt, und selbst über die Störgeräusche waren die Alarmsirenen ihres Jägers zu hören – feindliche Zielanpeilung. Ihr Atem ging keuchend und die Worte kamen nur mühsam heraus. Die menschliche Kehle war nicht unbedingt dafür konstruiert, während Manövern unter Einsatz des Nachbrenners benutzt zu werden. Aber vielleicht war es auch der Inhalt ihrer Worte, der ihr das Sprechen schwer machte: „Konnte Beschuss bisher ausweichen, keine ernsthaften Schäden. Absatzbewegung möglich. Frage…“ sie zögerte, fuhr dann fort: „Frage ob finales Ablenkungsmanöver?“
Die Kapitänin der Emerald Jade zog die Augenbrauen los. Was bei allen Teufeln der Sternenhölle sollte das denn heißen? Diese Terries mit ihrem dämlichen Slang, den kein vernünftiger Mensch verstand…Sie warf Fuchida einen Blick zu, aber der Flottenoffizier zeigte wie immer nur eine gefühlslose Maske. Dennoch – irgendetwas war da. Der Japaner warf einen fast zögernden Blick zur Tür, so als überlege er, ob er noch eine weitere Meinung einholen sollte. Doch dann straffte er sich: „Negativ. Berechne Rendezvouskurs für Sie. Beeilen Sie sich und…viel Glück.“
Neben ihm beschleunigte Kapiän Jayhawker bereits die Emerald. Die Jäger und das Shuttle der Marine würden im vollen Flug andocken müssen. Mit einem Fluch öffnete sie eine Verbindung zum Maschinenraum: „Ghost…Geh auf hundertzehn Prozent. Und wenn du noch mehr aus der Maschine rauskitzelst, gibt es eine Sonderprämie.“
Im Cockpit der Falcon ließ Lilja ihren Atem mit einem fast gequälten, aber doch erleichterten Zischen entweichen. Die Worte waren ihr mehr oder weniger herausgerutscht, noch ehe sie sich ganz über die Bedeutung klar gewesen war. Was sie angeboten hatte, wäre nicht viel weniger als eine Selbstmordmission gewesen. Finales Ablenkungsmanöver hieß in diesem Zusammenhang, dass sie angeboten hatte, den Akarii in eine falsche Richtung zu locken – weg von der Emerald. So ein Manöver bot keine Gewissheit auf Erfolg – es war ja nicht klar, ob der Gegner den Frachter nicht bereits geortet oder den Funkverkehr angepeilt hatte. Doch wenn es erfolgreich verlaufen wäre, hätte sie nicht mehr zurückgekonnt. Ein Jäger allein hätte es nie geschafft – und für sie persönlich kam eine Kapitulation nicht in Frage, schon weil sie wusste, wie die Akarii ihre Gefangenen behandelten. Sie wollte sich nicht so weit erniedrigen, dem Gegner Informationen zu liefern. Im Fall einer Gefangennahme tat man das jedoch unweigerlich, wenn sich die Verhörspezialisten genug Mühe gaben.
Sie hatte also angeboten, ihr Leben sehenden Auges zu opfern. Sie hätte den Feind hinter sich hergelockt – und irgendwann hätte sie nur die Wahl gehabt, zu fliegen, bis ihr Treibstoff aufgebraucht und sie dem Gegner praktisch wehrlos ausgeliefert war, oder sich zum letzten Kampf zu stellen. Vermutlich hätte sie letzteres gewählt.
Dieses Szenario war für einen Sekundenbruchteil vor ihrem Auge aufgeleuchtet, in allen Einzelheiten. Sie hatte es ja schon immer für Blödsinn gehalten, dass jemand behauptete, sein ganzes Leben sei vor seinem inneren Auge vorbeigezogen – aber bei ihrem eigenen Tod hatte das jedenfalls geklappt. Obwohl sie seit Jahren mit der Gefahr ihres Todes im Gefecht lebte, hatte sie sich gefürchtet, denn sie wollte leben. Egal wie viel Wut und Hass in ihr war, sie wollte nicht einfach draufgehen, in irgendeinem unwichtigen System. Und dennoch – sie wäre dazu bereit gewesen. Wenn Fuchida ihr die Anweisung gegeben hätte…Doch der Flottenoffizier hatte ihr etwas anderes befohlen. Sie schämte sich für die Erleichterung, die sie durchflutete.
Blieb nur die Frage, ob sie ihr Leben auch wirklich behalten würde.
Mit einem fast euphorischen Gefühl bleckte sie die Zähne – eine Kampfansage an den Akarii, der sie erneut aufs Korn nahm. Noch war sie in der Reichweite seiner Raketen. Aber das hier war etwas anderes, als ein Einsatz mit der Gewissheit des eigenen Endes. Ihre Hand wanderte wieder zum Nachbrenner. Also gut. Zeit, mit dem Tod zu tanzen!
Und es wurde wirklich ein Totentanz. Sie war zwar außer Reichweite der feindlichen Kanonen, aber die leichten Raketen konnten sie noch erreichen. Gnadenlos peitschte sie den Jäger voran, mit einem Hochgeschwindigkeitsmanöver nach dem nächsten. Kurze Sprints wechselten sich mit Loopings, Sturz- und Steigflügen ab. Unablässig hieb sie auf den Knopf für die Täuschkörper. Einmal wanderten ihre Hände zum Feuerknopf – ein paar knappe Bewegungen, und die vier leichten Raketen schossen davon, schlugen einen Halbkreis und rasten der Korvette entgegen. Sie hatten natürlich wenig Chancen gegen die Schilde des Feindes – aber sie mochten ihn für ein paar Sekunden verunsichern oder ablenken. Sekunden, die ihr das Leben retten konnten. Überhaupt ging es hier nur um Augenblicke, auch wenn sich jeder Moment zu einer Ewigkeit zu dehnen schien.
Eine nahe Explosion erschütterte den Jäger, dann eine zweite. Erneut hieb sie auf den Nachbrenner, entging durch einen Korkenzieher drei weiteren Raketen, die die Spur verloren und an einem der Täuschkörper detonierten. Die wenigen Sekunden, bevor der feindliche Werfer wieder nachlud, gab sie Vollgas, entfernte sich weitere tausend, zweitausend Kilometer von der Quebec. Sie konnte es schaffen! Vielleicht…
Die Tür zum Cockpit der Emerald Jade flog geradezu auf, was bei einer Luke, die ja im Notfall auch einen Hüllenbruch überstehen musste und deshalb entsprechend dick war, für einen beachtlichen Krafteinsatz stand. Andrew Tremane mochte vielleicht vom Alarm überrascht worden sein, aber er erfasste die Lage schnell: „Bericht?“
Kapitän Jayhawker hatte sich inzwischen wieder etwas gefangen: „Akarii-Korvette, über Delta-Sprungpunkt ins System vorgestoßen. Jadesohn Eins steht im Gefecht mit ihr, sieht so aus als käme sie frei. Wir sind dabei einen Rendezvouskurs zu programmieren.“ Sie sagte es nicht, aber in Gedanken nahm sie sich genug Zeit, um dem Geheimdienstler einige ausgesuchte Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Sie hatte es ja von Anfang an gewusst! Genau davor hatte sie gewarnt. Jetzt saßen sie da, mit einem alten Frachter, zwei Jägern, zwei Shuttles, von denen aber eines leer bleiben musste, wenn die Emerald einsatzbereit sein sollte – und dagegen stand eine Kriegskorvette.
Tremane fluchte nicht – es war beeindruckend, wie gut er sich im Griff hatte: „Keine Möglichkeit…? Vergessen Sie’s.“ Er schien kurz mit sich zu ringen, dann atmete er einmal kurz aus: „Lieutenant Commander Fuchida – Sie haben die meiste Erfahrung. Ihre Einschätzung.“ Er drehte den Kopf: „JEAN!“ Kurz darauf tauchte der Kopf der Agentin in der Tür auf. Sie trug nur ein Hemd und Shorts – offenbar war sie aus dem Schlaf gerissen worden. Aber ihre Augen blickten vollkommen klar, und sie agierte ebenso selbstsicher, als hätte man ihr die Entwicklung im Voraus angekündigt. Eigentlich hätte man auch Lilja mit einbeziehen müssen, doch die hatte offenbar im Moment anderes zu tun, als taktische Einschätzungen abzugeben.
Der Flottenoffizier überlegte nicht lange: „Wir müssen das Shuttle und Ace ankoppeln – mit ihrem Treibstoff allein halten sie es nicht bis zum Sprungpunkt durch. Dasselbe mit Lilja – sie kann uns einige Stunden vor dem Kontakt mit dem Akarii erreichen.“ Er lächelte schmal: „Ich habe die Drohnen umprogrammiert auf einen Abfangkurs. Unser schuppiger Freund wird sich bald wundern, woher auf einmal die zwei neuen Kontakte kommen – vielleicht macht ihn das vorsichtiger.“ Sarah pfiff anerkennend durch die Zähne. Einfallsreichtum, der ihrem Überleben diente, fand stets ihre Anerkennung – selbst wenn nur ein Terry ihn zeigte.
Ehe Fuchida fortfahren konnte, griff Jean ins Gespräch ein, wohl auch, um nicht alle Fäden aus der Hand zu geben: „Vollkommen unmöglich, dass wir hier rauskommen, ohne dass uns die Echse abfängt. Der Frachter ist einfach zu langsam.“ Sie sprach es nicht aus, aber möglicherweise dachte sie daran, dass eine Flucht mit dem Shuttle der Marines vielleicht möglich gewesen wäre. Aber nicht mit der Ausbeute – und die Emerald wäre natürlich verloren gewesen.
Andrew Tremane zögerte unmerklich, doch die Entscheidung war wohl schon getroffen worden, als er Fuchida das Wort übergab: „Lieutenant Commander…Prioritätsspruch Alpha nach Sterntor.“
Der Flottenoffizier nickte knapp. Ein einziger Tastendruck brachte die Nachricht auf den Weg, die Tremane kurz nach der Ankunft ins System aufgenommen, verschlüsselt und seitdem unablässig ergänzt hatte. Eine Zusammenfassung der Ereignisse der Expedition, so hatte er Fuchida und Sarah erklärt, die im Notfall manuell oder automatisch gesendet werden sollte. Gewissermaßen ein SOS, eine Art Kapitulationserklärung.
Wenn der Geheimdienstler mit seiner eigenen Entscheidung zu ringen hatte – anmerken ließ er es sich jedenfalls nicht: „Fuchida, Jean, Kapitän Victor – bereiten Sie das Schiff auf das Gefecht vor. Wie lange bis zum Rendezvouspunkt?“
Es war Kapitän Victor, die antwortete. Mit einem giftigen Blick in die Runde, aber scheinbar gelassener Stimme stellte sie fest: „Zusammentreffen mit Jadesohn Eins in…drei Stunden. Wenn Sie unser Treffen mit dem Akarii meinen – wir haben direkten Kontakt mit ihm…zwei Stunden später.“
Cattaneo
Cunningham
TRS Derflinger
0,017 Lichtstunden südlich von Seafort, Sterntor
Als Lucas das Flugdeck der Derflinger betrat, wurde auf der gegenüberliegenden Seite ein Shuttle per Lift aus dem unter dem Flugdeck liegenden Hangar hochgebracht.
Der Tanker wurde von einem Traktor auf die Warteposition gezogen, und dort wurde der eigene Tank als auch das Versorgungsmodul mit Kraftstoff befüllt.
Hinter Lucas trat Cooper aufs Flugdeck und ging an ihm vorbei zu den beiden Startröhren am Bug des Trägers.
Lucas streckte sich und ihn befiehl die Frage, wo die Zeiten geblieben waren, als er die Nacht durchfeiern konnte und sich am nächsten Tag nach einer schnellen Dusche zum Dienst gemeldet hatte.
Manche würden sagen, das wäre das normale Altern, andere würden es auf die Jahre im Krieg schieben.
Er entschied, dass der Krieg dran schuld sein musste, wie an so vielem anderen, denn alt war er noch nicht. Vielleicht war es aber auch eine Nachwirkung der bevorstehenden Vaterschaft.
Nach kurzem Zögern folgte er Cooper.
Auf dem Weg zu den Startkatapulten kamen sie am Bereitstellugnsraum für die zweite Alarmrotte vorbei. Das waren zwei voll bewaffnete, ältere Griphens. An einer arbeitete eine Pilotin in einem Mark X oder XI Raumanzug. Der zweite Pilot saß wahrscheinlich im nahen Bereitschaftsraum.
Auf dem Steuerbordkatapult war eine Falcon für den Alarmstart-5 gespannt. Der Pilot oder die Pilotin saß in voller Montur im verschlossenen Cockpit und hatte ein Comppad in der Hand.
Der Helm war schon aufgesetzt, eine wahnsinnige Tortur wenn man über Stunden nichts zu tun hatte.
Dann wurden sie auch schon von einer Unteroffizierin in Empfang genommen, die den leichten, gelben Raumanzug der Katapultbesatzungen trug, das Visier des Helms jedoch noch geöffnet hatte: „Sirs, wenn Sie bitte hinter die Sicherheitsmarkierung treten würden?“
Sie deutete auf einen gekennzeichneten Bereich vor der Operatorkabine für die Katapulte. Ihre Stimme war ein ruhiger Bariton, der Seniorunteroffizieren im Laufe der Jahre zu eigen wurde.
Über Handsignale gab sie den beiden Operatoren in der Kabine Bescheid den Probeschuss mit dem Katapult vorzubereiten und schaltete dann ihren Helmfunk auf den fünf-MC-Lautsprecherkreis, das Lautsprechersystem des Flugdecks: „Achtung! Probeschuss mit Kat eins! Wiederhole: Probeschuss mit Kat eins!“
Der Pilot in der Falcon blickte kurz rüber, wandte sich jedoch schnell wieder seiner Lektüre zu.
Die Unteroffizierin blickte kurz zu Lucas und Cooper und nahm dann den Fernauslöser für das Katapult in die Hand: „Drei, zwei, eins: Start.“
Mit elektromagnetischem Knistern jagte der Katapultschlitten die Startschiene entlang und hämmerte kurz vor dem geschlossenem Tor gegen den Puffer.
Die beiden Offiziere von der Columbia zuckten zusammen. In ihren Jägern bekamen sie den Aufprall nicht mit und die Katapultbesatzungen waren durch ihre Helme geschützt. Jetzt waren sie der Geräuschkulisse und der vollen Kraft des Mechanismus voll ausgesetzt.
Ein kurzer Blickkontakt zwischen dem Senior Chief Petty Officer und dem Operator, ein gehobener Daumen, dass mit dem Katapult alles in Ordnung war, schon sauste der Schlitten zurück in Startposition.
An diesem Ende der Startröhre gab es nur ein leises Klack, da der Schlitten auf den letzten zehn Metern stark verlangsamt wurde.
„Wie Sie sehen, Sir, wir sind bereit,“, wandte sich die Frau an Lucas, „ist wie die alten Dampfkatapulte, die Ihre Leute gewohnt sind, jedoch ohne Dampf.“
„Sagen Sie, Chief, eigentlich müsste der Mechanismus doch platzsparender sein, als bei den alten Kats. Wofür war der Hammerkopf nötig?“
„Für die Crusaders musste das Hangardeck erweitert werden, und die unter den Katapulten gelagerten Sensoreinrichtungen wurden in den Auslegern untergebracht. Tatsächlich hatten wir jetzt mehr Platz für die Sensoren, die sind größer und besser als früher.“
„Sollten nicht eigentlich eigentlich der Dampferzeuger unter den Kats gelagert sein?“ Warf Cooper ein.
„Richtig, waren sie auch, doch vor den Dampferzeugern war noch ein komplettes Sensorrelais. Das musste vor dem Magnetfeld installiert werden, um fehlerfrei zu arbeiten. Da hier jetzt vier Magnetspulen längs laufen, mussten die Sensoren natürlich woanders eingebaut werden. Eigentlich hätte man die Startröhren um zehn Prozent kürzen können, aufgrund der besseren Leistung des Magnetkatapultes im Vergleich zum alten Dampfkatapult, doch das wird wohl erst bei Neubauten geschehen.“
Irgendwie hing ein 'wenn überhaupt' in der Luft.
„Gut, danke Chief, wir werden dann schnellstmöglich beginnen.“, verabschiedete sich Lucas.
Cooper warf noch einen wehmütigen Blick zu der Falcon auf Kat zwo und folgte dann dem Angry Angel.
Als die beiden zum Hauptpersonenlift gingen, sahen sie schon eine Crusader, die mit Attrappen bestückt war und vom Count überprüft wurde.
Ein zweiter Aufzug brachte gerade die eigens für die Prüfungen importierte Thunderbolt herauf.
Rotbehemdete Munitionstechniker brachten auch für den Jagdbomber Raketenattrappen heran.
Als Lucas und Red Cooper wieder in der Fly-Ops ankamen, meldeten auch schon die ersten beiden Teams Bereitschaft.
Es waren der Count als Pilot der Crusader und der Kommandant der Crusaderschwadron auf dem Sitz des RIO sowie Knock-Out mit Trash auf dem Rücksitz.
In der Zwischenzeit hatte sich auch Ferret in der Fly-Ops eingefunden, der hier an Bord quasi arbeitslos war, da man für diese Prüfungsflüge lieber einen voll qualifizierten Piloten auf den zweiten Sitz wusste.
Die Tower-Crew der Derflinger nahm ihre Arbeit auf.
Aus den Lautsprechern auf dem Flugdeck gellte ein Signalpfiff: „5-MC, hier spricht der Air-Boss, Flugdeck klar für Flugoperation! Wiederhole: Flugdeck klar für Flugoperation!“
Hinter den Startröhren glühte das Kraftfeld bläulich auf, dann wurde der Startbereich entlüftet. Wobei der Sauerstoff nicht ins All entsorgt wurde, sondern in die Reservetanks des Trägers abgepumpt wurde.
Ein Traktorstrahl zog die Crusader mit dem Count aus der Warteposition vor den Startbereich.
Von dort aus gab der Count leicht Schub und fuhr den schweren Bomber durch das auf niedrigste Stufe eingestellte Kraftfeld und manövrierte sich in Startposition, so dass das Bugrad im Startschlitten einrastete.
„Fokker vier-null-zwei auf Kat eins,“, meldet sich der Count, „alle Systeme auf Grün, klar zum Start.“
„Fokker vier-null-zwei, Derflinger Controll, Callsign Silent-Beach, Startsystem auf grün, Schleuse offen. Kraftfeld auf Maximum, Sie sind zum Start frei gegeben.“
„Silent-Beach, Fokker vier-null-zwei, verstanden.“
Der Count schob den Regler für die Schubkraft seines Bombers ganz in den Anschlag und salutierte dem Kat-Offizier.
Dieser salutierte zurück, ließ sich aufs linke Knie fallen und streckte den rechten Arm nach vorne. Ein, zwei Herzschläge später donnerte die Crusader den Starttunnel entlang und war im All.
Katapult eins bediente die Backbord-Startröhre, also steuerte der Count seinen Bomber vorschriftsmäßig einige hundert Meter nach links und leicht nach oben, ehe er sich wieder meldete: „Silent-Beach, Fokker vier-null-zwo, befinde mich auf Position rot zehn, Geschwindigkeit achtzig km/s, gehe jetzt auf Kurs eins-null-sechs, melde mich am Wegpunkt Alpha wieder.“
„Fokker vier-null-zwo, Silent Beach, verstanden, guten Flug.“
Keine Minute Später wurde die Thunderbolt mit Knock-Out gestartet. Der vorlaute Jagdbomberpilot war diesmal sehr zurückhaltend und akkurat, auch was seine Funksprüche anging.
Um für die Prüflinge eine einigermaßen lange Flugstrecke zu gewährleisten fuhr der schwere Kreuzer Laredo weit außerhalb der eigentlichen Eskortformation.
Eigentlich hätte man diese Aufgabe höchstens einer Fregatte übertragen, eher noch einer Korvette, aber im Regelfall einem der SWACS der Derflinger.
Aber der Captain der Laredo wollte nochmal die Antriebe und Manöverdüsen seines Schiffes ausgiebig testen, und hatte sich dann auch gleich dafür bereit erklärt als Boje für die Prüfungsflüge zu fungieren.
Es ging auf der Derflinger das Gerücht um, dass der wilde Bursche, der das Kommando über die Laredo geerbt hatte, wohl einige Punkte beim Commodore gut machen wollte und sich daher um diesen Job, der eigentlich unter seiner Würde als Kreuzerfahrer war, gerissen hatte.
Jedenfalls hatte der Count eine halbe Stunde Flug hinter sich, als er sich erneut meldete: „Silent-Beach, Fokker vier-null-zwo, habe Wegpunkt Alpha erreicht, drehe jetzt nach fünf-acht-eins und nehme Kurs auf Wegpunkt Bravo.“
„Fokker vier-null-zwo, Silent-Beach, haben verstanden.“
In der Flight-Ops beugte sich der Air-Boss zu Lucas hinüber: „Da haben Sie mir ja ein paar schöne Streber angeschleppt, Lone Wolf.“
„Von Hauenberg ist ein Profi.“, war die lakonische Antwort.
Etwas später meldete sich dann auch Knock-Out zum ersten Mal zu Wort: „Silent-Beach, Harponeer drei-eins-eins, nähern uns Wegpunkt Alpha.“
Es war dem jungen Piloten anzuhören, dass er sich langweilte.
„Harponeer drei-eins-eins, Silent-Beach, wenden Sie nach fünf-acht-eins und fliegen Sie zu Wegpunkt Bravo.“
Knock-Out schwieg einen Moment, dann bestätigte er den Befehl.
Zum Glück ereignete sich nichts bei den Qualifikationsflügen, und die meisten Landungen, welche die Angry Angels hinlegten, waren saubere Touchdowns.
Außer zwei Landungen von Sean Grover, der erstmals mächtig zitterte, hätte nur Knock-Out beinahe die Notlandeübung beim Master Alarm versaut.
Letztlich war es ein ganzer Tag stumpfsinnige Arbeit. Wie der Dienst in Friedenszeiten, den viele der jungen Piloten nicht mehr mitbekommen hatten.
Imperialer Palast
Ewige Stadt von Akarr
Dero hatte auf einer bequemen Couch Platz genommen und konnte sich nur wundern. Nach einem Tag voller Termine, darunter einer Schiffstaufe und vieler anstrengender Gespräche hatte Linai noch die Kraft schnell die Post durchzusehen, ob dort etwas wirklich wichtiges dazwischen war.
Natürlich war unter dem ganzen Berg von Geschwätz, den Bitten und Heischen um Aufmerksamkeit auch noch einiges dabei, was die Aufmerksamkeit der Prinzess-Regentin erforderte.
Geduldig hörte er zu, wie sie hinter dem Schreibtisch sitzend Antworten aufzeichnete.
Er kam sich fast vergessen vor, wie er an dem lieblichen Frühlingswein nippte, wäre da nicht manchmal dieser Seitenblick, den sie ihm zuwarf.
Schließlich deaktivierte sie ihr Computerterminal und schlenderte zu ihm hinüber.
Dero beeilte sich, ihr ebenfalls einen Kelch Wein einzuschenken.
„Wie kann ich Dir nur danken, Dero?“
„Königliche Hoheit?“
„Du bist ausgezogen und hast dem Imperium einen Frieden gebracht, den es nicht will aber braucht und zum Dank wirst Du geschnitten, verspottet und schlecht gemacht. Wie kann ich Dir danken? Reichtümer braucht ein Allecar nicht.“
„Oh, mein Vater würde da massiv widersprechen, Hoheit,“, Dero lächelte, „natürlich nicht offen oder laut. Im Stillen, schweigend, mit einem vorsichtig missverstehenden Blick.“
Ein Schmunzeln stahl sich auf Linais Gesicht, während sie sich zu ihm hinbeugte und in die Augen blickte: „Es geht um persönlichen Dank, Dero, für Eure Dienste am Reich, um Entschädigung für die Schmähungen die Du hinnehmen musst, weil Du dem Reich besser gedient hast als drei Admiräle.“
Er rutschte von der Couch hinunter und ging dabei vor ihr auf die Knie. Seine Hände faltete er auf ihren Knien. Sie wehrte sich nicht gegen diese Berührung und blickte verzückt und gespannt zu ihm hinab.
„Königliche Hoheit, wie jeder Akarii ob nun von edler Geburt oder aus dem einfachen Volke, so ist mein Streben im besten des Imperiums.
Akarr und seinem Volke gedient zu haben, ist mir Lohn genug.“
Sie beugte sich hinab, so dass sie ihre Schnauzen fast berührten: „Lügner, Schwindler, Du Hochstapler.“
Er fiel ihn ihr neckisches Gelächter ein und streckte sich ihr zu einem sanften Kuss entgegen: „Romantiker, meine Prinzessin. Um Euch zu beeindrucken würde ich nur mit einem Dreh bewaffnet ausziehen und einen Karrg* erschlagen.“
„Natürlich würdest Du das, weil Du weißt, dass Du keinen Karrg finden würdest.“, Linai nahm ihn bei den Händen und zog ihn näher heran.
„Hier?“
Sie lachte auf: „Das Personal wird mich um diese Uhrzeit nicht mehr stören, es sei denn ich rufe es.“
Dero blickte sich unbehaglich um: „Und Dein Mann?“
„Ich kenne Tobariis Terminkalender, sorge Dich nicht, Liebster.“
Natürlich brauchte sie Dero nicht damit zu behelligen, dass in Tobarii Jokhams Stab ein Offizier des Sicherheitsdienstes Arbeitete, der ihr bei etwaigen Unstimmigkeiten oder unvorhergesehenen Terminänderungen Bericht erstattete.
*Der Karrg ist eine Akariische Fabelfigur ähnlich dem irdischen Drachen.
Cattaneo
Ace
"CO KAMI kommt an Bord!", gellte der Ruf des Wachhabenden auf. Der Signalmaat pfiff "Kapitän an Deck.", und die Ehrenwache salutierte.
Captain Justus Schneider salutierte. "Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen."
"Erlaubnis erteilt, Captain.", klang die Stimme von Liu Shang-Lee auf. Mithels rechte und linke Hand, wie man sich im Geschwader hinter vorgehaltener Hand zutuschelte. Was man noch dazu tuschelte, erzeugte einen unfreundlichen Phantasiefilm im Schneiders Kopf, den er schnellstmöglich verdrängte. "Danke, Captain." Nach dem Salut reichte er Liu die Hand. "Weiß die Gerüchteküche schon, warum der alte Hammerhai mich einbestellt hat?"
Die Asiatin lächelte dünn, wenngleich nicht unfreundlich. Seit den Zeiten der "nassen" Navy waren besonders herausragende Admiräle gerne hinter ihrem Rücken mit "Hai" tituliert worden, und irgendwie passte es zu Chris Mithel. "Es hängt auf jeden Fall mit dem Depeschenboten zusammen. Kaum hat der heute angedockt und ausgeladen, ging schon der Befehl raus, Sie zu rufen, Justus." Sie deutete tiefer in den Hangar in Richtung Ausgang. "Sie sind etwas früh dran. Gehen wir ein paar Schritte."
Schneider nickte. Hinter ihnen erklang ein scharfer Befehl des kommandieren Marines, dann war Ruhe.
Sie bogen in den Gang ein, und Liu führte den Skipper der KAMI zur nahen Brückenkantine. "Ist Kaffee schwarz immer noch Ihr Getränk, Justus?"
"Immer noch.", erwiderte Schneider. Bemerkenswerte Denkleistung, wenn man bedachte, dass sie ihn zuletzt vor fast einem halben Jahr zu einem Kaffee eingeladen hatte, damals als die KAMI zur Kreuzerschwadron 2.3 gestoßen war. Seither hatten sie einander selten persönlich gesehen, aber sie pflegten ein freundliches, wenn auch leicht kühles Verhältnis zueinander.
Sie suchten sich einen kleinen Tisch für ihren Kaffee und setzten sich. Die rechte Hand Lius rührte nachdenklich in ihrer Milchschaumkrone.
"Die Depeschen, also?", hakte Schneider nach.
"Vielleicht ist eine Beförderung für Sie dabei, Justus." Sie lächelte amüsiert. "Nur ein Scherz, Justus. Aber eine Belobigung für Sie oder die Mannschaft ist möglich. Letztendlich haben Sie und die KAMI über dem Karrashin-Kirula-Wurmloch gut ausgesehen und die Flanke gehalten. Admiral Mithel hat das in seinem Bericht nicht unterschlagen. Vielleicht geht es auch um die Bastard-Technologie an Bord der KAMI. Soweit ich weiß sind während und nach der Reparatur ein paar Terabyte an Daten zwischen Sterntor und Sol geflossen, nur diese Technologie betreffend. Es gibt viele Möglichkeiten."
"Inklusive einer Beförderung.", scherzte Justus, um die Asiatin etwas aus der Reserve zu locken.
"Inklusive einer Beförderung.", erwiderte sie, aber man konnte ihrer Stimme anmerken, dass sie ihre Bestätigung nicht ernst gemeint hatte.
"Ich habe ehrlich gesagt kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich weiß, dass der alte Hai mich nicht mag."
Liu Shang-Lee verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. "Ich glaube nicht, dass mögen und nicht mögen für den Admiral eine Rolle spielt. Ich muss es wissen. Es gibt nicht viele, die ihn so nahe erleben wie ich."
"Und genau deshalb können Sie bestätigen, dass er mich wirklich nicht mag, oder?"
"Es ist wohl weniger das mögen oder nicht mögen. Es ist wohl eher Ihr Stil, Justus. Die KAMI war die ganze Zeit über sein Sorgenkind. Würden die Akarii-Komponenten halten? Konnte sie ihre Aufträge erfüllen? Hielt sie stand? Hielt die Mannschaft zusammen? Erfüllte Justus Schneider seine Erwartungen? Justus, Sie haben einen Kreuzer, und dieses Schiff ist dann auch noch ein halber Akarii. Alleine das hätte schon gereicht, damit er Sie mit Argus-Augen beobachtet. Dann kommt dazu die Sache mit der KAZE. Der Admiral war nicht gerade begeistert, als ein Mann mit einem Ruf wie dem Ihren seiner Schwadron zugeteilt wurde. Ihr Führungsstil ist...nicht nach seinem Gusto." Sie lächelte leicht. "Aber freuen Sie sich, der Admiral hätte nicht eine Sekunde gezögert Sie durch einen anderen zu ersetzen, wenn er gemeint hätte, Sie würden das Schiff oder gar das Geschwader gefährden. Das war nicht der Fall. Sie sind immer noch der Häuptling der KAMI."
"Okay, so habe ich das noch nicht gesehen." Nachdenklich nahm er einen Schluck Kaffee. "Ein zweifelhaftes Kompliment, aber immerhin ein Kompliment."
"Das liegt vielleicht auch ein wenig am Namen.", sagte Liu leise. "Es gehört nicht nur eine gehörige Portion Arroganz dazu, ein Schiff Kami zu nennen. Auch, es zu befehligen."
Schneider lachte leise. "Wissen Sie denn was Kami heißt, Shang-Lee?"
Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. "So viel japanisch beherrsche ich dann doch noch. Kami bedeutet Gott. Ein sehr ehrgeiziger Name für ein Schiff."
"Das ist nicht ganz richtig, und auch nicht ganz falsch. Das Japanische kennt vier Schriftarten. Es ist eine Silbenschrift. Und je nachdem, welche Silben man aus welcher Schriftart genommen hat, definiert die Bedeutung eines Wortes unterschwellig und mehrdeutig. Nur gesprochen hat Kami drei Bedeutungen. Die erste ist Gott. Die zweite ist Haar. Und die dritte Bedeutung lautet Papier.
Als die KAMI getauft wurde, hat ein japanischer Kalligraphiemeister einen Haiku für das Schiff geschrieben. Ich bin kein Experte für japanische Kunst, aber mein Erster Offizier ist Japaner, und er hat mir gesagt, dass der Meister die Silben so gewählt hat, dass sie Papier bedeuten. Verstehen Sie, Shang-Lee? Es war kein Versuch, arrogant zu sein. Es war ein Symbol für uns. Wir waren Papier. Blankes, jungfräuliches Papier. Wir hatten eine Aufgabe, und mussten dieses Papier mit einer Geschichte füllen. Und wir sind damit schon ziemlich weit gekommen. Ich hoffe, dass unsere Erkenntnisse dazu beitragen werden, diesen Krieg zugunsten der Republik zu beenden."
"Okay, das wusste ich nicht." Sie lächelte ein wenig freundlicher. "Ist vielleicht nicht verkehrt, das dem Admiral zu erzählen, Justus."
Schneider erwiderte das Lächeln, ging aber nicht auf die Aufforderung ein. Er würde sich bestimmt nicht unaufgefordert ausgerechnet vor Mithel rechtfertigen. Die unverbindliche Plauderei hier mit Mithels Augen und Ohren würde das ohnehin bewältigen. Da machte sich der Skipper der KAMI keinerlei Illusionen.
Nach dem Kaffee führte Liu den Skipper der KAMI zur Flaggkabine Mithels. Er wurde sofort durchgewunken, Liu blieb draußen.
"Sir, ich melde mich wie befohlen."
Chris Mithel, über ein paar Papierdokumente gebeugt, sah kurz auf. Sein Blick war neutral. "Ah, Captain Schneider. Kommen Sie rein und platzen Sie."
Justus Schneider folgte der Aufforderung und platzierte seine Schirmmütze auf seinen Knien.
"Kaffee? Tee?" "Ich hatte gerade einen mit Captain Liu, Sir."
"Ah, gut. Dann können wir ja gleich zur Sache kommen." Mithel griff nach einem der Dokumente und hielt es dem Skipper der KAMI hin. "Ihr Marschbefehl, Captain Schneider."
"Marschbefehl?" Mit einem dumpfen Gefühl der Vorahnung ergriff er das Dokument, öffnete es und überflog es. "Mit sofortiger Wirkung...schnellstmögliche Passage. Fort Lexington...Ihr Schiff Ihrem XO..." Schneider sprang auf. "Ich soll mein Schiff meinem Ersten Offizier übergeben? Ich werde abgezogen?"
"So sieht es aus, Captain. Man will Sie Zuhause auf Terra sehen, und das so schnell wie möglich. Es scheint, dass die hochqualifizierten Ingenieure und Fachwissenschaftler des Naval Science Corps dringend Ihr Insiderwissen benötigen, um mit dieser Bastard-Technologie fertig zu werden."
"Ich bin Frontsoldat, kein Wissenschaftler!", sagte Schneider unbeherrscht und laut.
"Und Sie dienen da, wo es Ihnen befohlen wird.", sagte Mithel streng. "Ihre Zusammenarbeit mit dem NSC ist vielleicht nicht Kriegsentscheidend, Captain Schneider, aber Sie sollten diese Aufgabe mindestens so ernst nehmen wie ein Kommando. Wir alle haben nichts gegen Ruhm und Ehre, oder gegen abgeschossene Akarii-Schiffe. Aber wir dienen da wo man uns braucht. Sie werden nun auf Fort Lexington gebraucht, Captain Schneider."
Mit zusammengepressten Lippen starrte Justus auf den Befehl. "Ja, Sir."
Mithel beobachtete den Mann aufmerksam. "Ich gebe zu, einhundert Prozent zufrieden war ich mit Ihnen nie. Ihr laxer Führungsstil und Ihr schlechter Ruf waren mir immer ein Dorn im Auge. Aber Sie haben den Bastard stets an meiner Flanke gehalten. Bei der Prinzenjagd, über Karrashin. Die Eierköpfe wissen das, und sie wollen jetzt Informationen von dem Mann, der das Schiff geführt hat. Nehmen Sie diesen Befehl nicht auf die leichte Schulter, oder schätzen Sie ihn gering ein. Und nutzen Sie die Zeit, um sich im NSC einen Namen zu machen. Und um Ihre gröbsten Fehler auszubügeln."
"Fehler, Admiral?"
"Wir dienen alle einem höheren Ziel. Wir sind im Krieg, und wir führen diesen Krieg für all die Menschen daheim. Wir werden verstümmelt, getötet, pulverisiert, atomar verbrannt, nur damit diese Menschen ein Leben haben. Damit sie ihr Leben behalten. Damit unsere Rasse, die Menschheit eine Zukunft hat. Und dafür müssen unsere Kapitäne Felsen sein, Vorbilder.
Ich habe schon viele Kapitäne gesehen, und ich hatte schon viele Vorgesetzte. Ich habe alle Typen von Menschen erlebt. Und ich denke, dass Sie eines Tages eventuell einmal ein guter Commodore sein könnten. Vielleicht auch einst ein guter Rear Admiral. Aber glauben Sie mir eines, Justus, mir ist kein Commodore und kein Admiral begegnet, der nicht Freundlichkeit und Distanz zur Crew in einen besseren Einklang gebracht hat als Sie es tun.
Wir dienen hier nur, aber wir dienen in exponierter Position. Wir sind Ansporn, Beispiel, Leitfaden. An uns orientieren sich die jungen Offiziere, die Unteroffiziere und Mannschaften. Wir brauchen eine gewisse Distanz zu ihnen. Wir müssen keine Götter des Olymps sein, die über die Rasse der Menschen regieren. Aber Ihre Distanz, Justus, ist das absolute Gegenteil, und für einen Captain der Flotte nicht einmal ansatzweise standesgemäß.
Ich verlange nicht von Ihnen, ein Menschenhasser zu werden, Gott bewahre. Aber meine Erfahrung, mein Wissen und mein Magen sagen mir, dass Sie es so nicht zum Commodore oder weiter schaffen, wenn Sie nicht begreifen, dass Sie der da oben sind - und alle anderen sind die da unten. Letztendlich sehen alle zu Ihnen auf, und dieser Verantwortung entkommt man nicht, indem man zu den anderen hinunter steigt. Dafür werden wir ja auch so gut bezahlt."
Die Kiefer Schneiders mahlten. "Erlaubnis frei sprechen zu dürfen, Admiral."
"Erlaubnis erteilt."
"Sir, abgesehen von meiner persönlichen Meinung über Sie als Mensch habe ich Sie immer als kompetenten Offizier geschätzt. Als Fels in der Brandung, der von den Akarii umspült, aber nie umgeworfen werden konnte. Ich nehme mir Ihre Worte zu Herzen. Der Modelloffizier, den Sie sich wünschen, werde ich wohl nie werden. Aber ich bin lernfähig. Sonst wäre ich nie so weit aufgestiegen."
Mithel schwieg ein paar Sekunden. "Ich freue mich, dass Sie das so sehen, Justus." Der Admiral erhob sich, und Schneider tat es ihm gleich. "Übergeben Sie Ihr Schiff Ihrem XO, und fliegen Sie dann nach Victoria Station weiter. Von dort wird Sie der Tageskurier nach Terra bringen."
Mithel streckte die rechte Hand aus. "Ich hoffe, wir sehen uns wieder, Captain Schneider."
Justus ergriff die Hand, und drückte sie fest. "Ich freue mich darauf, eines Tages wieder unter Ihnen dienen zu können, Admiral." Schneider salutierte, machte eine perfekte Kehre und verließ das Büro.
Nachdenklich nahm Mithel wieder Platz und rief eine Dienstakte auf. Was würde er nun mit der KAMI und ihrem Interims-Skipper machen? Letztendlich war er durch all die Schlachten mitgegangen und hatte geholfen, dass die KAMI und damit die Flotte überlebt hatte.
"Geben wir ihm einfach genügend Strick, um sich selbst aufzuhängen, und schauen wir, was passiert", sagte Mithel nachdenklich.
***
Als Justus Schneider an Bord kam, winkte er dem Bootsmann zerstreut zu, die Meldung "Captain an Bord." nicht zu pfeifen. Stattdessen ging er an der Schleusenwache zum nächsten Terminal, und ließ sich zur Zentrale durchstellen. "Miss Denge, legen Sie mich bitte auf den Schiffs-Interkom."
"Aye, Sir."
"Danke." Schneider räusperte sich, dann erklang das traditionelle Pfeifen, das eine Nachricht von der Brücke verkündete. "Hier spricht der Kapitän. Ich habe eine wichtige Neuigkeit über den Bordsender zu verkünden. Alle Decksoffiziere, der Bosun und alle Offiziere mit dem Mindestrang Commander haben sich im Übertragungsraum einzufinden. Ich werde in zehn Minuten zu ihnen allen sprechen." Schneider ließ das Gesagte wirken. Dann atmete er mit einem Seufzer aus. "Skipper Ende." Er deaktivierte die Verbindung wieder und machte sich auf den Weg zum Übertragungsraum.
Als er den Flur erreichte, kam ihm sein Erster Offizier bereits entgegen. Die anderen Offiziere folgten dichtauf. "Hat es was damit zu tun, dass der alte Haifisch dich auf seinen Pott gerufen hat?", fragte Haruka ernst.
"Du hast es erfasst. Nein, keine Fragen. Bereitet einfach die Übertragung vor." Schneider winkte seine Ordonnanz heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der junge Mann wurde blass. Der Kapitän der KAMI schnarrte ihm einen Rüffel zu, daraufhin fing sich der Seaman. Schließlich grüßte er mehr knapp als korrekt, und entfernte sich in Richtung Brücke.
"Also, du machst mich neugierig.", sagte Ichishiro, und ließ seinem Vorgesetzten und Freund den Vortritt.
Nach und nach füllte sich der Raum mit knapp dreißig Männern und Frauen in der Uniform der TSN. Schneider dirigierte sie auf die Sitzreihen, befahl aber seiner Brückencrew, neben ihm Platz zu nehmen. "Regie, beginnen Sie mit der Übertragung."
"Aye, Skipper."
Schneider trat an das Rednerpult heran, überprüfte die Höhe des Mikro, und atmete noch einmal tief ein, bevor er aufsah, direkt in die Aufnahmeoptik der Kamera.
"Hier spricht der Kapitän. Ich habe ihnen allen eine wichtige Mitteilung zu machen. Mit sofortiger Wirkung bin ich als Kapitän der KAMI abberufen. Ich habe von Admiral Mithel meinen neuen Marschbefehl bekommen, der mich nach Terra zum Naval Science Corps befiehlt."
Aufgeregtes Raunen klang auf. Verwirrt tauschten die Offiziere neugierige, verstörte Blicke aus.
"Ich habe Anweisung von Admiral Mithel,", fuhr Schneider ungerührt fort, "Commander Ichishiro mit sofortiger Wirkung als neuen Kapitän der KAMI einzusetzen. Ich weiß nicht, ob er diesen Posten behalten wird, aber verdient hat er sich dieses Kommando.
Ihr, die Mannschaft der KAMI, habt gut gedient. Ich war immer stolz auf euch, stolz darauf, einem so entschlossenen, tapferen und hart arbeitenden Team vorzustehen. Wir haben Schlachten gesehen, die fortan in unseren Albträumen und unseren Herzen brennen. Wir haben Dinge getan, von denen Historiker später einmal berichten werden. Wir haben unsere Heimat, die Republik, stets verteidigt, mit all unserem Können, all unserer Courage. Ich bin froh und stolz, hier auf diesem Schiff gedient zu haben. Und ich wünsche mir, dass ihr, diese exzellente Mannschaft, dem neuen Kapitän, Haruka Ichishiro, mit dem gleichen Eifer, dem gleichen Stolz und der gleichen Hingabe für den Dienst und die Republik dienen werdet."
Schneider machte eine weitere Pause, einen Moment, um einerseits selbst zu Atem zu kommen, und um andererseits seine Zuhörer das Gehörte ordnen zu lassen. "Ich fliege sofort ab. Bosun, lassen Sie meine Brigg klar machen. Kapitän Ichishiro, wenn sie zurückkommt, wird es Ihre Brigg sein."
Schneider wandte sich seinem ehemaligen Ersten Offizier zu und salutierte. "Hiermit übergebe ich das Kommando über die KAMI, Kapitän Ichishiro."
Etwas beschämt erwiderte der den Salut. "Auf diese Weise wollte ich mein erstes Kommando nicht bekommen, Sir." Lauter erwiderte er: "Ich übernehme das Kommando über die KAMI, Sir."
Sie reichten einander die Hand, und Justus verließ den Platz am Rednerpult, um ihn dem Skipper zu überlassen. Als er einen Schritt neben Haruka stand, rief er: "Ein Hoch auf den Kapitän!"
Gemäß der alten Traditionen der Raumfahrt gellte nun ein dreifaches Hurra für den neuen Kapitän durch das Schiff.
Ichishiro, sichtlich berührt, ließ die lauten Stimmen über sich ergehen. Er war sichtlich stolz auf sein Kommando, aber man konnte ihm auch ansehen, dass er sich fühlte, als würde er einem Freund etwas wegnehmen.
"Die Crew wartet, Skipper", sagte Schneider ernst.
Der Commander straffte sich. "Ich hätte nie gedacht, dass mein erstes Kommando die KAMI sein würde. Umso erfreuter bin ich, mit dieser hervorragenden, gut trainierten und eifrigen Crew zusammen arbeiten zu können." Zustimmendes Gemurmel erklang.
Mit verhärteten Zügen sah der Japaner in die Kamera. "Für unseren scheidenden Kapitän, Captain Justus Schneider, ein dreifaches Hurra!"
Für viele hatte Schneiders Abberufung sicher etwas von einer Strafversetzung, wenngleich sich niemand vorstellen konnte, für welches Vergehen. Manche mochten einen Sinn darin sehen, vor allem weil die KAMI unter besonderer Aufsicht des Naval Science Corps stand. Aber wenn es ein Möglichkeit für sie gab, die Ungerechtigkeit auszugleichen, dann durch ihren Jubel. Entsprechend laut brandeten die Hurras durch den Saal, und auch von außen hallte das Echo der Mannschaft herein.
Als es wieder etwas ruhiger geworden war, schüttelte Schneider seinem ehemaligen XO noch einmal die Hand, während die Regie die Live-Übertragung beendete. "Viel Spaß mit dieser Truppe, und pass mir auf meinen Cousin auf."
"Ich sehe, was ich da tun kann, Justus. Verdammt, du wirst nicht wieder kommen?"
"Sieht nicht so aus. Ich lasse gerade meine Kabine räumen. Die gehört jetzt dir, Haruka."
"Das fühlt sich so vollkommen falsch an. Aber hast du mir nicht eingetrichtert, dass man Chancen nicht hinterfragen, sondern ergreifen sollte?"
Schneider grinste breit. "Du wirst ein guter Skipper für die KAMI, Haruka. Ich weiß nicht, ob der alte Haifisch das auf Dauer auch so sieht, aber er hat einen Hang dazu, jedem eine Chance zu geben. Stell dich gut an, und deine nächste Beförderung ist nur noch eine Frage von Jahren. Es tut mir Leid, das ich so überstürzt aufbreche, aber mein Marschbefehl ist da eindeutig." Er sah auf seinen Chronometer. "Ich muss los, Haruka. Viel Glück." Er wandte sich seinen Offizieren zu. "Viel Glück euch allen."
Nun kamen sie heran, aufgereiht in einer langen Reihe, um ihrem ehemaligen Kapitän noch einmal die Hand zu schütteln, und ihm die besten Wünsche mit auf den Weg zu geben.
Als Schneider zwanzig Minuten später auf den Gang hinaus trat, hatte seine Ordonnanz zwei Reisekoffer in den Händen. Er japste laut wie jemand, der schnell gelaufen war. "Sir, Victoria Station meldet, dass der nächste Direktkurier in drei Stunden und achtzehn Minuten abfliegt. Ich habe bereits einen Platz für Sie buchen lassen. Die Brigg erreicht die Station in einer Flugzeit von zwei Stunden achtundvierzig, Sir."
"Das haben Sie gut gemacht, Mr. Owen. Leisten Sie auch für Kapitän Ichishiro so gute Arbeit."
"Jawohl, Sir.", erwiderte der junge Matrose bedrückt.
"Ihr seht, ich stehe unter Zeitdruck. Ich breche sofort auf."
Ichishiro nahm der Ordonnanz einen Koffer ab, Commander Andread den anderen. "Das wäre alles, Spaceman. Justus, wir begleiten dich selbstverständlich bis zum Hangar."
Schneider lächelte dankbar, aber in seinem Geist hallte eine Stimme, die ihn darauf hinwies, dass dieser Befehl seine aktive Laufbahn als Kommandeur eines Kampfschiffs effektiv beendet hatte. Für ihn gab es nur noch einen Schreibtisch, eventuell die Admiralität. Und das Familiengeschäft. Das war das einzige Beruhigende bei der ganzen Geschichte. "Gehen wir, Herrschaften.", sagte er lächelnd, und die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Auf der ganzen Strecke begleiteten ihn die Offiziere der KAMI, und an den Wänden hatten sich die Besatzungsmitglieder aufgereiht, um ihren Skipper zu verabschieden. Selten hatte Justus Schneider es schwerer gehabt, ein Kommando abzugeben.
Cattaneo
Ace
"Na typisch!" Ich hatte mich gerade erst aus meinem Raumanzug geschält, den Helm in eine Ecke gelegt, als der Alarm aufgellte. Hastig schlüpfte ich wieder in die Ärmel, zog den Anzug hoch und befestigte die Verschlüsse. Ich angelte nach meinem Helm, lief auf den Gang hinaus, hetzte in Richtung Hangar. Noch während ich in meine Falcon kletterte, etablierte ich den Kontakt mit der Brücke der EMERALD JADE: "Jadesohn zwei einsatzbereit!"
"Kein Start! Ich wiederhole: Kein Start!", klang Jayhawkers liebliche Stimme auf. Sie klang halb verärgert und halb verängstigt. "Stattdessen alle Offiziere zur Besprechung, und das ASAP!"
Okay, das passte zum Rest vom Tag. "Bericht?"
Die Stimme der Kapitänin der JADE klang nicht einen Cent freundlicher, als sich mich knapp und sachlich über das Geschehen informierte. "Scheint so als wäre unsere kühle Schönheit dabei, mit ein paar Akarii anzubändeln. Als sie den instabilen Wurmsprungpunkt untersucht hat, fiel ihr eine Korvette der Akarii entgegen."
Ich stutzte mitten in der Bewegung. "Erbitte Freigabe für Start!"
"Ruhig, Fliegerjunge, sieht ganz so aus, als würde ihre bessere Beschleunigung ihr gerade den Arsch retten. Kein Grund, zwei Jäger rauszujagen und die Piloten absichtlich müde zu machen. Ich glaube, wir können jeden Funken Kraft noch gebrauchen." Sie seufzte hörbar.
"Fuchida hier. Ace, Lilja ist bereits aus der Reichweite des Antijägerwerfers der Quebec-Korvette. Sie wird zwei Stunden bis zu uns brauchen, und bis dahin sollten wir einen Plan haben."
Das musste man wirklich Pech nennen. Mitten in einen springenden Akarii zu rennen war in etwa so wahrscheinlich wie im Bostoner Lotto acht Richtige zu kriegen. Das war so typisch für Lilja. Wenn sie was vermasselte, dann aber auch mit einem Knalleffekt. Eine Quebec also. Eine von den älteren. "Wurden wir bereits von aktiver Ortung erfasst?"
"Wir befinden uns in der Deckung einiger Trümmer. Aber sie wird uns aufspüren, wenn sie nahe genug am Meteoritenfeld ist. Oder wenn wir zum Wurmloch rennen."
"Keine gute Idee. Die Quebec ist flink, und die EMERALD JADE gut ein Drittel langsamer. Das wird ein kurzer Lauf. Außerdem springen wir nicht gerade nach Texas zurück. Was sollte die Akarii daran hindern, uns zu verfolgen?"
"Das können wir alles klären, wenn wir beisammen sitzen.", klang Tremanes Stimme barsch auf. "Jetzt schwingen Sie Ihren Arsch hier hoch, Flieger!"
Ich schluckte, um einen Lacher zu unterdrücken. Gott, der Mann zeigte Nerven. Und Verstand. Die Tatsache, dass Jayhawker meine Ansprechpartnerin war und Fuchida mir die Situation erklärt hatte, bedeutete das er diesmal das Feld den Profis überließ. Hoffentlich.
Ich kletterte wieder aus den Cockpit, nahm den Helm ab. Allzu viele Möglichkeiten hatten wir nicht. Eigentlich nur eine kleine Handvoll. Wir hatten gegenüber den Akarii nur einen Vorteil: Wir waren schon zwei Wochen hier und kannten das Gelände, seine Gefahren und seine Tücken. Wir würden mit den Echsen eine lange Zeit Verstecken spielen können, wenn es sein musste. Oder... Oder wir machten uns das Gelände wirklich zunutze. Dieser Gedanke ließ ein flüchtiges Lächeln über mein Gesicht huschen.
"Sir?", sprach mich einer der Marines an. Ich kannte ihn vom morgendlichen Randori. "Dürfen Sie uns sagen was los ist? Der LT ist gleich durch gerannt, als der Alarm kam."
Schnell hatte ich über zwanzig Zuhörer. "Sieht so aus als wäre eine Korvette der Akarii ins System gesprungen. Lilja hat sie rechtzeitig entdeckt und ist jetzt auf dem Weg zurück. Je nachdem wie gut die Motoren sind, kann der Feind in sechs bis acht Stunden hier sein. Das ist der derzeitige Stand der Dinge, mehr kann ich ihnen allen nicht sagen."
"Wir werden doch nicht kapitulieren, Sir?", fragte mich ein anderer zögerlich.
Ich erschrak. "Himmel, nein. Akariis behandeln ihre Kriegsgefangenen lausig, und das will ich nicht noch einmal erleben. Eine Armtotalregeneration im Leben reicht." Ich sah in die Gesichter der Soldaten. Männer wie Frauen hingen in der Luft, deshalb entschloss ich mich dazu, ein wenig nett zu sein. "Wenn sie den Frachter entdecken, werden sie weder mit dem Sturmshuttle, noch mit einem voll ausgebildeten, kampferfahrenen Platoon Marines rechnen. Sollte es hart auf hart gehen, werdet ihr Jumpin' Devils das Feindschiff einfach erobern."
Ein etwas irrwitziger Gedanke, aber die Prahlerei mit Zuckerbrot zeigte ihre Wirkung.
"Und wenn es umgekehrt kommt? Korvetten der Echsen haben auch Infanterie an Bord. Was, wenn sie uns erobern?"
"Sie meinen die JADE? Den Ort, den sie alle kennen wie keinen zweiten? Jede Ritze, jede Schweißnaht? Es würde mich doch sehr enttäuschen, wenn ausgerechnet die 217. diesen Kampf verlieren würde, selbst gegen ein Bataillon."
Wieder schien ich die richtigen Worte gewählt zu haben. Die Marines schmunzelten, und der letzte Fragesteller musste einige gutmütige Klapse und nicht so nette Sprüche über sich ergehen lassen.
"Ich bin sicher, McKenna wird sie alle umfassend informieren, wenn die Besprechung beendet ist", sagte ich in meinem überzeugendsten Tonfall. Ich hoffte, ich machte meine Sache gut, gut genug. Als Pilot trug ich zwar einen Offiziersrang, aber mit einem Marinelieutenant wollte ich dann doch nicht tauschen. Musste ich mich bestenfalls mit elf renitenten Diva-Piloten herumschlagen, und in Ausnahmesituationen auch mit der Bodencrew, so hatte McKenna dreißig bis fünfzig Probleme mehr. Im Ausgleich riskierte ich dafür in erster Linie mein eigenes Leben, und nicht das meiner Leute. Das war den höheren Rang und den besseren Sold schon wert.
Ich hatte gerade die Treppe zur Brückenebene erklommen, als mich Quicksilvers Stimme inne halten ließ. "Diesmal sind wir wohl im Arsch, was, Spacer?"
Ich wandte mich ihr zu. Sie sah nicht besonders gut aus. War bleich, hatte übergroße Augen und schrecklich geweitete Pupillen. Ich war mir sicher, wenn man ihr ein Messer oder einen Blaster in die Hand gab, traute sie es sich zu mit jedem Gegner fertig zu werden. Aber diese Situation, diese Ungewissheit, und der Umstand nichts dagegen tun zu können, das machte sie fertig.
Ich sprang wieder von der Treppe herab und ging auf Quicksilver zu. Ich lächelte sie an und brachte mit der Rechten ihre Frisur durcheinander. Das mochte sie überhaupt nicht, weil sie meinte, so etwas würde man nur mit Kleinkindern machen. "Heeeyyy!", rief sie protestierend, entzog sich meiner Zärtlichkeit und brachte wieder Ordnung in ihr Haar.
Mein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, als ich den Trotz in ihrem Blick sah. "So gefällst du mir schon besser. Wer hat gesagt, dass wir im Arsch sind? Wir haben Medusa bis jetzt überlebt, da fallen ein paar Akarii auch nicht ins Gewicht, oder?"
"Aber die haben ein Kriegsschiff!", beharrte sie. Diesmal ärgerlich, nicht länger erschrocken.
"Und? Wir haben zwei Falcons. Und das Sturmshuttle der Marines. Und wenn ich mal ganz ehrlich bin, Schätzchen, nur ein vollkommener Idiot kann hier zwei Wochen mit Ghost an der alten Dame herum schrauben und nicht erkennen, dass die JADE etwas stärker ist, als der Zoll eigentlich erlaubt."
Sie lächelte verlegen. "Ups. Daran haben wir gar nicht gedacht."
"Ja, Ups." Ich hatte Oberwasser, und das war für mich immer ein angenehmes Gefühl. Außerdem mochte ich Quicksilver, Jayhawker und all die anderen. War man im Weltraum geboren, dann empfand man immer Sympathie für seinesgleichen. Auch und gerade für die kleinen Gauner. Für die großen nicht so sehr, zugegeben. "Du solltest nicht schon im Voraus aufgeben, Mädchen. So kenne ich dich gar nicht. Gib den Akarii doch überhaupt erst mal die Chance, uns so weit zu kriegen, dass wir im Arsch sind."
Sie seufzte ergeben. Dann kehrte wieder ein wenig Angst in ihre Augen zurück. "Du warst doch in einem Akarii-Knast, oder, Cliff?"
"Nein, ich war in einem Kriegsgefangenenlager. Und das war nicht nett. Sie haben nicht gefoltert, niemanden willkürlich erschossen, aber die Arbeit war schwer, und die Versorgung gerade an der Grenze des Erträglichen. Ich weiß nicht, wie die Echsen die zivile Besatzung eines Frachters behandeln, aber es kann nur besser sein. Außerdem ist es noch lange nicht so weit. Und wenn ich mit meiner Falcon in ihren Sprungantrieb fliegen muss."
Das weckte ihren Trotz. "Na, das lass mal schön bleiben, Ace. Wer gibt jetzt hier schon im Voraus auf? Außerdem ist Lilja dafür viel besser geeignet. Die steht auf sowas, Heldentod und posthume Beförderung, und so."
Ich lachte, vor allem auch deshalb weil Tanja auch noch ein paar zehntausend Kilometer entfernt war. "Lass sie das mal nicht hören. Sie ist zwar im Krieg, aber der ehrenvolle Heldentod steht nicht auf ihrer Wunschliste. Auch wenn sie mit sich selbst nicht sehr zimperlich umgeht." Ich stutzte. "Du weißt, dass wir für Verwundungen eine Auszeichnung bekommen, die sich Silberner Löwe nennt? Jedes Mal, wenn du wieder verletzt wirst, kriegst du eine Spange für deinen Orden. Die Auszeichnung zählt dann zweifach. Oder dreifach. Nun, an Liljas Silbernen Löwen passen bald keine Spangen mehr dran. Und sie fliegt immer noch und kämpft da draußen. Das klappt vor allem deshalb, weil sie nie aufgibt. Bisher hatte sie damit Recht. Nimm dir daran ein Beispiel, Quicksilver."
"Ich mir ein Beispiel an Lilja nehmen? Sorry, aber dafür habe ich zu wenig Narben.", konterte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Schön, dass deine Angstattacke vorbei ist. So gefällst du mir schon viel besser." Ich klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und setzte meinen Weg fort.
Als ich eintrat, warf mir Tremane einen mürrischen Blick zu. "Nun, da wir endlich alle da sind und Commander Pawlitschenko per Lichtspruch mit uns verbunden ist,", sagte er mit einem eindeutigen Blick in meine Richtung, "erwarte ich ihre Vorschläge, Herrschaften. Wir haben es mit einer älteren Akarii-Korvette zu tun, einem Quebec. Und der kann uns in jedem Fall abfangen, bevor wir das nächste Wurmloch erreichen können. Geschweige den,n dass er uns problemlos verfolgen kann, denn die Wurmlöcher, die für uns in Frage kommen, führen nicht gerade nach Texas. Und der Notruf, den ich ausgesandt habe, wird uns sicher nicht morgen schon Entsatz bringen. Commander Falkner, Commander Fuchida, Commander Pawlitschenko, Sie haben die meiste Kampferfahrung. Commander Fuchida sticht daraus hervor, weil er auf einem Kampfschiff dient."
Fuchida räusperte sich. "Realistisch betrachtet haben wir nur eine Option, die unser Überleben und unsere Freiheit garantiert. Der Quebec ist schneller, stärker bewaffnet und hat eine bessere Ortungsanlage. Zudem verfügen Schiffe dieser Klasse meist über ein Kontingent Marines mit Sturmshuttle. Besonders jene, die im Grenzgebiet operieren, um unvorsichtige Frachter wie die JADE entern zu können."
Ich verbiss mir ein anerkennendes Pfeifen. Das war für den steifen Japaner das Maximum an Kritik gewesen, Tremane betreffend. Und ich konnte sehen, dass die Spitze getroffen hatte.
"Deshalb", fuhr Fuchida fort, "bleibt uns nur, hier in den Trümmern mit den Echsen Verstecken zu spielen, bis Sterntor uns ein Kriegsschiff schickt."
"Oder besser gleich zwei, denn wer weiß ob der Akarii nicht auch seine großen Brüder ruft. Falls man uns überhaupt ernst nimmt auf Sterntor.", brummte Georges ärgerlich. Als er die Blicke der anderen sah, murmelte er eine Entschuldigung, und überließ das Feld wieder den Profis.
"Es gibt noch weitere Optionen.", warf Lilja ein. "Wir haben die Marines, wir haben das Sturmshuttle, wir haben zwei Falcons. Wir könnten versuchen, den Akarii ernsthaft zu beschädigen. Den Antrieb, die Sprungspulen. Das gibt uns die Chance, zum Wurmloch zu entkommen. Oder zumindest der EMERALD JADE."
"Denkbar", meldete sich Fuchida erneut zu Wort, "wäre auch, mit den Shuttles zu fliehen, und das Schiff sowie die Jets hier als Köder zurück zu lassen. Wir könnten daraus eine wirklich nette Bombe basteln. Und die Shuttles dürften es bis in die Reichweite von freundlichen Einheiten schaffen."
Jayhawker sah den Japaner böse an. "Natürlich gäbe es dann ein Schiff zu ersetzen, Commander,", sagte sie und blickte dann in Tremanes Richtung, "und ein paar Artefakte zurückzulassen."
"Die wir mit der EMERALD JADE sprengen, sodass sie nicht den Akarii in die Hände fallen.", vervollständigte der Geheimdienstoffizier. Er sah zu seinem Wachhund herüber. Jean Falkner beobachtete die Versammlung wie immer von hinten, unter halb geschlossenen Augen. "Machbar.", murmelte sie. "Aber entweder locken wir die Echsen dann weit, weit weg, oder wir müssen sicher gehen, dass der Quebec nahe genug ran kommt, und von der Explosion hart genug getroffen wird."
"Mir ist das egal.", murmelte Eriksen mit gesenktem Kopf. "Ich habe nur meine Datenträger."
Es gab diese Momente, wo im Kopf etwas ‚Klick‘ machte, ehrlich. Der eine Sekundenbruchteil, in dem sich ein Puzzle zusammenfügte. Der, in dem ein Mosaik vollständig wurde und seine volle Pracht entfaltete. Der Augenblick, in dem man fast Transzendenz im Sinne des Nirvana erlangte - oder zumindest einen Blick darauf erhaschen konnte.
"Ich habe immer noch zwei große, schwere Sonden da draußen.", warf Fuchida ein. Was er meinte, war uns allen klar. Ein niedlicher, kleiner Kamikaze-Angriff auf den Akarii. Das letzte Tüpfelchen Sahne auf meiner Idee.
"Ich habe einen Plan.", verkündete ich.
Dies ließ die Gespräche verstummen. Alle Augen richteten sich auf mich. Und ich konnte mir vorstellen, wie Lilja gerade einen Fluch unzerkaut runter schluckte, und mir Schlimmstes in Gedanken androhte, wenn ich jetzt nichts Vernünftiges sagte.
"Aber dafür müssen wir einige Vorbereitungen treffen. Und Commander Fuchida muss als Offizier mit der meisten Erfahrung den operativen Befehl übernehmen. Damit müssen wir alle einverstanden sein." Zwingend sah ich Jayhawker an. Die Frau widerstand meinem Blick mit Ärger. Ich verstand ihre Gedanken auch ohne sie zu hören: Wehe, meine Idee war nicht wirklich, wirklich gut. "Als wenn wir eine andere Wahl hätten!", fauchte sie.
"Lieutenant McKenna, wie groß wird das Marines-Kontingent der Akarii sein?"
"Hm? Hier in der Gegend? Erfahrungsgemäß um die zwanzig."
"Schafft Ihr Platoon das?"
"Wie meinen Sie das? Ob wir den Quebec stürmen können? Das dürfte eng werden. Und blutig."
"Etwas in der Richtung, ja. Aber es ist möglich?"
McKenna lächelte gefährlich. "Wir sind die Jumpin' Devils, Ace. Zwanzig Akarii-Marines sind für uns kein Problem, und eine sechzigköpfige Schiffsbesatzung kriegen wir auch noch klein. Realistischerweise muss ich da aber anfügen, dass es danach nicht mehr viele Marines geben wird."
"Würde mich nicht stören.", murmelte Toro, erntete dafür aber einen vernichtenden Blick vom Skipper.
Ich überging das. Wenn es hart auf hart ging, würden wir alle zusammen arbeiten, Navy wie Spacer. Keiner hatte wirklich Lust auf akariische Kriegsgefangenschaft oder Internierung.
"Worauf willst du hinaus, Ace?", fragte Jayhawker misstrauisch.
"Ich finde, Liljas Plan bietet uns den größten Erfolg. Wir haben keine Ahnung, ob die Akarii nicht längst Spielkameraden gerufen haben. Und wir wissen nicht, ob und wann Verstärkung von Sterntor rüber kommt. Keine Ahnung wie lange wir hier Verstecken spielen können. Aber wenn wir die Korvette beschädigen, den Antrieb, den Sprungantrieb, dann haben wir eine reelle Chance, mit heiler Haut, mit beiden Jägern und mit dem Sturmshuttle zu entkommen. Und alles, was wir dazu brauchen, das ist Erfahrung, Glück, Einsatzbereitschaft und ein wenig Lokalkolorit."
"Lokalkolorit?" Tremane schien zu ahnen, was ich plante. Zuerst wurde seine Miene bissig, weil ich seiner Meinung sicher bereits zu viel über all die Dinge wusste, die ich tumber Navy-Pilot niemals hätte in Erfahrung bringen dürfen, dann stahl sich ein Grinsen auf seine Miene. "Lassen Sie hören, Ace. Vielleicht haben Sie ja Ihren Namen zu Recht."
***
Als die REKONA im Taumvart-System das Wurmloch verließ, überprüfte Kapitän Lorhes die Parameter des Schiffs. Ausnahmsweise schien mal alles im grünen Bereich zu sein. Die REKONA war nicht gerade das stolzeste Schiff des Kaisers, und er war sicher nicht der ruhmreichste Kapitän seines Herrschers - möge seine Seele Frieden finden - und sein Schiff war auch nur eine kleine Korvette. Aber Iganz Lorhes nahm seine Aufgabe ernst, sehr ernst. Die Admiralität nutzte die Grenzgängerschiffe nur zu gerne, um ihren Jungspunden Einsatzerfahrung zu vermitteln, bevor sie in Kampfeinheiten eingesetzt wurden, und gut ausgebildete Leute bedeuteten automatisch eine gute Reputation für den Kapitän des Schiffs. Was wiederum bedeutete, dass er auf seine Beförderung zum Commander und den Befehl über eine Fregatte im Frontdienst nicht lange warten musste, wenn er sich gut anstellte. Dieser Platz war seine Bewährungsprobe, weil er sich als guter Ausbilder erwiesen hatte. Zumindest wenn man es euphorisch betrachtete. Tatsächlich aber war er halbwegs nützlich hier aufs Abstellgleis geschoben worden, fern der wichtigen Schlachten zwischen dem Reich und der Republik. Vielleicht hätte er nicht so laut so offen darüber nachdenken sollen, wohin sich der verstorbene Jor seine Kriegspläne hinstecken konnte. Vielleicht hätte er mit seiner letzten Kommandeurin doch besser auskommen sollen, anstatt ihr ein paar zwanglose Geschlechtsakte vorzuschlagen. Und vielleicht hätte er, vor die Wahl gestellt auf einer Akademie zu dienen oder ein Grenzgängerschiff zu kommandieren, doch die Akademie wählen sollen. Aber es war zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Immerhin hatte er ein Kommando. "Bericht.", schnarrte er leise.
Leutnant Atrop, Ortungsoffizier und zugleich sein XO, sah zu seinem Skipper nicht herüber. Er war, obwohl gerade erst ein Jahr Zweiter Leutnant, hoch professionell und ernsthaft. Ein Glücksgriff. Die Sorte Akarii, die ein Ausbilder wenigstens einmal im Jahr in den Fingern haben wollte. "Ortung. Kleines Flugobjekt, achttausend Kilometer entfernt. Aktive Ortung?"
Lorhes dachte kurz nach. Das Taumvart-System besaß nichts von Wert, nichts von wirtschaftlichem Interesse, wenn man mal von ein paar Eierköpfen absah, die sich vor drei Jahren brennend dafür interessiert hatten, warum der Stern vor dreitausend Jahren spontan so instabil geworden war. Das hatten sie mit einem Vergleichsflug herausgefunden, als eine Fernexpedition das Licht dieser Sonne aufgezeichnet hatte, in dreitausend Lichtjahren Entfernung. Dreitausend Jahre altes Licht. Wenn doch alles so einfach war. Nein, hier gab es nichts von Interesse, und dementsprechend keine Gefahren. "Scannen Sie, Leutnant."
"Jawohl, Sir." Atrop aktivierte die Aktiv-Ortung, und jammte das System mit den Impulsen. Dann hieb er übergangslos auf den Alarmschalter. "Feindschiff! Identifiziert als Jäger, vermutlich Typhoon! Typhoon dreht bei!"
Eine Typhoon? Das war ein Jäger der Terraner. Eine ziemlich kleine Einheit, eine Maschine für den Kurvenkampf, für Abwehrmissionen. Klein, wendig und schnell. Und vor allem: Nicht sprungfähig.
"Suchen Sie das Mutterschiff. Rufen Sie den Jäger, und fordern Sie ihn auf beizudrehen. Folgt er der Aufforderung nicht, ein Schuss vor den Bug. Den zweiten Schuss dann durch den Bug."
"Jawohl, Kapitän!", rief der Leutnant enthusiastisch und öffnete die Verbindung. Beim Lehrgang ‚Wichtigste Grundlagen der menschlichen Hauptsprache‘ war er einer der Besten gewesen. Als er seine Fähigkeiten jedoch einsetzte, entstand allerdings ein ziemlich holperiges Satzgebilde. Lorhes schob es auf die Nervosität des Offiziers. Dies hier war seine erste potentielle Gefechtssituation.
Überrascht sah der Leutnant zum Skipper herüber.
"Was gibt es, Atrop?"
"Der Pilot hat geantwortet. Er sagte, ich könnte meine Mutter mal..."
Lorhes unterdrückte ein Auflachen. Schneid hatte der Menschling ja schon mal. Die Frage war nur, wie lange er andauerte. "Kein Warnschuss. Feuer frei. Aber achten Sie darauf, rechtzeitig aufzuhören, wenn er sich ergibt, meine Herren."
"Jawohl, Kapitän!"
Lorhes aktivierte den Bordsprechfunk. "Hier spricht der Kapitän. Wir sind beim Wiedereintritt im Taumvart-System über eine terranische leichte Maschine gestolpert, wahrscheinlich eine Typhoon. Das bedeutet, dass es hier im System irgendwo ein Mutterschiff geben muss. Leutnant Takran, bereiten Sie Ihr Team vor. Eventuell gibt es Arbeit für die Marines. Ende der Durchsage."
Mittlerweile hatte die Korvette das Feuer eröffnet, und Leutnant Spander, der Zweite Offizier, Pilot und Chef der Waffenkontrolle, fluchte laut und ungnädig. "Ich verliere ihn! Er ist zu schnell! Ja, jetzt, ja...Oh, Abwehrmaßnahmen! Verdammt, er schlüpft aus meiner Reichweite raus. Ich habe ihn nicht erwischt."
"Das ist halb so schlimm, Spander. Im Gegenteil. Der Terraner wird uns direkt zu seinem Mutterschiff führen. Das wird eine interessantere Sache als die Balgerei mit einem Jagdflieger." Lorhes dachte einen Augenblick nach. "Atrop, behalten Sie die Wurmlöcher in der Ortung, die zu den terranischen Gebieten raus gehen. Nur für den Fall, dass die Typhoon versucht, uns vom eigentlichen Ziel abzulenken."
Freudig, geradezu enthusiastisch, bestätigte der junge Offizier. "Jawohl, Kapitän!"
Lorhes konnte sich sicher sein, dass der Eins O seine Aufgabe gewissenhaft wahrnehmen würde. So gut er es vermochte, eben. "Sollten Sie den Jäger aus der Ortung verlieren, melden Sie das sofort.", schärfte er ihm noch einmal ein. "Und lassen Sie sich nicht lumpen bei der Suche nach dem Mutterschiff. Scannen Sie das ganze Gebiet vorab."
Geflissentlich bestätigte der Offizier. "Selbstverständlich, Kapitän."
Lorhes grunzte zufrieden. "Leutnant Takran in meine Kabine." Er erhob sich. "Eins O, Sie haben die Brücke."
"Ja, Kapitän."
Die REKONA war klein, die Wege kurz. Er selbst hatte nur ein paar Meter den Gang hinunter, um zur Kapitänskajüte zu kommen, die ihm auch als Büro diente. Dennoch schaffte es der Infanterie-Offizier, dort bereits auf ihn zu warten. Wahrscheinlich stand er hier schon, seit der Alarm erklungen war, unmittelbar nachdem er sich davon vergewissert hatte, dass seine Leute wie im Drill agierten.
Wortlos winkte Lorhes den Infanteristen hinter sich her und deutete ihm, im bequemen Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er setzte sich in seinen Sessel, faltete die Hände vor der Brust zusammen, und musterte Takran. Der Mann war acht Jahre älter als er, und erst Zweiter Leutnant. Das hatte vor allem damit zu tun, dass er früher ein sehr unbeherrschter, raufsüchtiger Leutnant gewesen war. Das hatte vielen nicht gefallen. Vor allem nicht einem Admiral, dessen Sohn Takran verprügelt hatte. Seither diente er im Grenzgebiet. Und hatte sein Temperament im Griff. Meistens.
"Was wissen wir?", fragte Iram Takran geradeheraus.
"Wir wissen, dass wir es mit einem Abfangjäger zu tun haben. Der ist unmöglich alleine ins System gekommen. Für dieses Höllenloch interessieren sich aber nur Transits und Eierköpfe. Und für die Menschlinge sind wir eigentlich ein bisschen weit draußen."
"Vielleicht wirklich eine Transitflotte? Man könnte über dieses System einen Bogen schlagen, der eine Flotte effektiv in den Draned-Sektor bringen würde. Direkt rein in die Flanke, zum Beispiel nach T'rr."
"Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Terraner schicken ihre Jäger immer in Zweiergruppen raus, auch auf Erkundungen und Patrouillen. Wenn wir hier über einen einzelnen Jäger gestolpert sind, kann das nur zwei Gründe haben. Entweder ist eine Maschine verunglückt, oder das Mutterschiff hat nicht die Kapazitäten, um zwei Jäger auf eine Patrouille zu schicken."
"Ich sehe doch, dass es hinter Ihrer Stirn tickt, Kapitän. Was vermuten Sie?", fragte Takran amüsiert und legte seinen Stirnkamm kraus. Eine aggressive Geste, voller Vorfreude auf den kommenden Kampf.
"Ein Flottenverband wird es nicht sein. Den hätten wir spätestens nach dem zweiten vollen Scan wie eine Lichterschnur auf unserer Ortung gehabt. Also bleiben nur noch die Eierköpfe, oder Transits anderer Art. Entweder ist da draußen ein Forschungsschiff der NSC, oder es schleichen gerade ein paar Piraten oder Schmuggler durchs System."
"Was auch immer es ist, wir bringen es auf.", stellte Takran freudig fest.
"Sicher. Wenn der Brocken nicht zu groß für uns ist. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, einen Jäger zu starten. Zumindest nicht ihn schnell zu starten. Die nächstkleinere Hausnummer wäre eigentlich ein Hilfsträger der Terraner, aber daran glaube ich nicht. Wie gesagt, dann wären sie zu zweit auf Patrouille gewesen."
"Oder er hat seinen Flügelmann verloren.", erinnerte Takran.
"Oder das."
Takran schüttelte sich, um dann überlegen zu grinsen. "Wie groß also, wenn es ein Forscher ist?"
"Ich weiß es nicht. Norka-Klasse, eventuell Dita. Vielleicht ein Schmuggler mit veraltetem terranischem Militärgerät, vielleicht doch ein Forscher mit offiziellem, wenngleich knapp gehaltenem Begleitschutz. Ich rechne mit nicht mehr als zwanzig Mann Besatzung. Vielleicht noch ein paar Offiziere der Wissenschaftsabteilung, falls wir es tatsächlich mit einem Forscher zu tun haben."
"Auf jeden Fall wird es ein würdiger Fang für uns, wenn wir tatsächlich ein Forschungsschiff der TSN abliefern können."
"Selbst ein Piratenfrachter ist hier draußen ein Erfolg. Außerdem eine gute Schule für unsere Männer." Lorhes musterte den Infanteristen eindringlich. "Bereiten Sie alles vor. Sowohl für eine Kaperung als auch eine Enterung. In dem Punkt will ich keine Überraschungen erleben."
"Das werden Sie nicht, Kapitän. Oh nein, das werden Sie nicht.", sagte Takran, erhob sich und salutierte.
"Wir werden sehen.", brummte der Skipper, nachdem der andere Akarii das Büro wieder verlassen hatte.
Cattaneo
Cattaneo
Die Schlacht im Mond, Teil I
Frachter Emerald Jade, im Mondorbit
Die Aussicht vom Cockpit der Emerald war geradezu atemberaubend – wenn man zu der Sorte Menschen gehörte, die sich von solchen Dingen beeindrucken ließen. Der Frachter befand sich in einem gefährlich nahen Orbit um den zweiten Mond des dritten Planeten. Das boshafte Licht des fernen Stern ließ die der Sonne zugewandte Seite des Himmelskörpers gleißend funkeln, als wäre dort unten alles aus Silber und Platin. Pockennarbiges, geschundenes Silber und Platin, das wie mit riesigen Messern, Hobeln und anderen Werkzeugen zu bisweilen skurrilen Kunstwerken geformt worden war, gewaltiger, als jede natürliche Formation auf der Erde. Auf der dem Stern abgewandten Seite hingegen, die sie kurz zuvor überflogen hatten, herrschte tiefe Dunkelheit, in der nur das Funkeln der fernen Sterne zu sehen war, während der Mond das Licht von Medusa bis auf die namensgebende boshafte Korona verdeckte. Der Kontrast war atemberaubend, und ein Poet hätte von der wilden Schönheit und tragischen Größe der leblosen Landschaft geschwärmt.
Die Emerald hatte die Nachtseite – die dem näher kommenden Feind zugewandt war – hinter sich gelassen und versteckte sich auf der Tagseite. Allerdings wäre es wohl zuviel verlangt gewesen, zu hoffen, der Akarii hätte die Spur verloren und würde schließlich aus dem System verschwinden.
Für Kapitän Jayhawker war die Aussicht jedenfalls einfach grauenhaft. Das lag wohl nicht so sehr daran, dass sie keine Poetin war, als an den „Aussichten“, die sich im Moment für ihre persönliche und geschäftliche Zukunft zu bieten schienen. Die Aussicht, an prominenter Stelle an einer Raumschlacht teilnehmen zu dürfen, war nichts, was in ihrer Zukunftsplanung einen Platz gehabt hatte. Schon gar nicht in einer Umgebung wie dieser. Unter sich einen lebensfeindlichen Mond – mit dem irgendetwas nicht stimmte, wenn man in Rechnung setzte, wie sich der Chef-Terry aufgeführt hatte – auf dem sie möglicherweise demnächst als Trümmerhaufen aufschlagen würden. Irgendwo da unten befand sich zwar der Mount Victor, ein längst erloschener, riesiger Vulkan, den diese komische Russin nach der Kapitänin benannt hatte. Aber Sarah Victor hatte nicht vor, „ihren“ Berg im Sturzflug kennen zu lernen.
Und abgesehen vom Mond…nun, über sich hatten sie ein Asteroidenfeld, das es in sich hatte. Da gab es genug Trümmerteile, die ein Schiff wie die Emerald zerlegen konnten. Zu schade, dass nicht anzunehmen war, dass die Akarii bei ihrem Flug eine intensive Bekanntschaft mit dem einen oder anderen Asteroiden anknüpfen würden. Aber angesichts der höheren Wendigkeit, besseren Panzerung und stärkerer Schilde der Korvette wäre das noch mehr Glück gewesen als bei einem Strandurlaub einen Goldklumpen im Sand zu finden.
Apropos unangenehme Umgebung – die schwere Strahlung durfte man auch nicht vergessen. Sie störte die Ortung und ließ einen Ausflug im Rettungsboot nicht gerade ratsam erscheinen. Vor allem eingedenk des Schicksals, dass die „Aussteiger“ der Mary C ereilt hatte. Kurz und gut – eine beschissene Umgebung, um zu sterben.
Nun, es kam wohl nicht von ungefähr, dass das Asteroidenfeld sie an ihren unglücklichen Flug durch das Aurora-System erinnerte. Das war der erste Schritt auf dem Weg gewesen, der sie letzten Endes hierher geführt hatte. Die Terries hatten die Emerald in Aurora geschnappt, als sie sich mit einer halbwegs legalen Fracht an den Kontrollen vorbeimogeln wollte. Um wieder aus der Obhut des Zolls freizukommen, hatte Jayhawker sich von Tremane breitschlagen (und bestechen) lassen, und der Reise nach Medusa zugestimmt. Und da waren sie nun…
Wenigstens hatte die Anziehungskraft des Mondes dafür gesorgt, dass sein unmittelbares Umfeld relativ frei von Asteroiden war. Diejenigen, die dem Himmelskörper nahe kamen, waren zumeist schon vor langer Zeit auf seine Oberfläche gekracht. Aber das war in etwa soviel wert wie ein Regenschirm in einem Hagelschauer aus kürbisgroßen Eisgeschossen. Und bei einem Fluchtversuch würde sie eben doch durch das Asteroidenfeld fliegen müssen, einen wütenden Akarii hinter sich. Auf dieser Reise nahmen die Höhepunkte eben einfach kein Ende.
Tja, und nun sollten sie sich also hier und jetzt mit den Akarii prügeln. Die Frachterkapitänin war nichts weniger als eine Patriotin – was übrigens nicht hieß, dass sie viel für die Echsen übrig hatte. Dieser Krieg war nicht ihr Bier. Sollten sich doch die Typen, die dafür bezahlt und bejubelt wurden, um die Sache kümmern. Die Emerald war kein verdammtes Kriegsschiff, und ihre Besatzung keine Soldaten oder auch nur angeheuerte Freibeuter. Das Schiff und ihre Crew waren zwar relativ gut bewaffnet und ziemlich, nun ja, robust, aber das hatte immer mehr dem Weltraum an sich und Piraten oder auch Konkurrenten gegolten. Nie im Leben hatten sie vorgehabt, sich mit regulären Soldaten anzulegen. Es war einfach eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Aber Jayhawker war auch Realistin – es brachte nichts, mit dem Schicksal zu hadern. Aus dieser Falle kam sie nur heraus, wenn sie und ihre Leuten kämpften, sogar – grauenhafte Vorstellung – unter dem Kommando und nach den Vorstellungen der Terries. Die Akarii würden sie wohl kaum einfach weiterfahren lassen, wenn sie ihnen ihre Unschuld beteuerte. Nach allem was sie wusste, war der Aufenthalt in einem ihrer Internierungslager nicht gerade zu empfehlen. Dieser Ace kaute ja ständig seine Heldengeschichte wieder, wie er in Kriegsgefangenschaft geraten war. Obwohl er vermutlich übertrieb – er war ja eigentlich kein übler Kerl, aber eben auch ein Terry und dazu auch noch ein Mann – wenn auch nur die Hälfte stimmte, war es schlimm genug.
Ihr Schiff hätte sie in jedem Fall verloren, und wenn es etwas gab, dass in ihr die Furie wachrief, dann diese Aussicht. Nicht, dass sie nicht normalerweise lieber verhandelte und schummelte. Aber sie hatte keinen Trumpf im Ärmel, mit dem sie sich bei den Echsen freikaufen konnte. Die spielten ja nicht einmal nach denselben Regeln. Das hätte nicht mal geklappt, wenn sie in der Lage gewesen wäre, diese dummen Terries, die ihr schließlich die ganze Geschichte eingebrockt hatten, mit einer Schleife versehen an die Echsen auszuliefern. Nicht dass sie wirklich darüber nachgedacht hatte. Jedenfalls nicht sehr lange. Selbst wenn sie das hätte durchziehen können – es wäre keine Garantie gewesen, dass die Akarii sie hätten laufen lassen. Und in der Republik hätte sie sich dann nicht mehr blicken lassen können. Nein, der Gedanke war zwar einen Moment lang verführerisch gewesen…aber das brachte sie nicht weiter.
Blieb also nur, bei diesem Wahnsinnsunternehmen mitzumachen. Und lieber alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit es auch wirklich funktionierte. Irgendjemand mit Verstand musste ja dabei sein. Und das hieß…
Sie atmete tief durch: „Lieutenant Commander Fuchida?“ Der Japaner war praktisch nicht mehr aus dem Cockpit gewichen, seit die Akarii im System aufgetaucht waren. Er schien regelrecht aufgetaut, aber das mochte auch die Todesangst sein. Oder er fühlte sich an seine Einsätze auf dem schweren Kreuzer erinnert, auf dem offenbar seit dem ersten Kriegsjahr diente. Weder Müdigkeit noch Nervosität schienen ihn anzugreifen, und auch nicht ihre ziemlich schlechten Chancen. Jedenfalls hatte er es sich an der Kommunikationskonsole bequem gemacht und behielt die Akarii im Auge, soweit dies mit Hilfe der Drohnen möglich war. Der gegnerische Kapitän tat ihnen zumindest den Gefallen, ständig aktiv zu orten. Damit fiel die feindliche Korvette sogar in einem System wie Medusa auf.
Der Flottenoffizier zog nur eine Augenbraue hoch: „Ja, Kapitän?“ Diese Bezeichnung war im Grunde eine leere Höflichkeitsbezeichnung, denn im Augenblick war es Fuchida, der die Entscheidungen traf. Jayhawker schwor sich wohl inzwischen das hundertste Mal seit dem Beginn der Mission, niemals wieder mit so vielen Terries an Bord zu segeln.
Jayhawker atmete noch einmal tief durch, dann sprach sie weiter, in genau der richtigen ehrerbietigen, schmeichelnden Tonart, die nach ihrer Erfahrung so gut wie nie die Wirkung auf Terries verfehlte: „Ich müsste mich kurz mit meiner Crew besprechen. Es dauert nicht lang.“
Der Lieutenant Commander zögerte kurz. Natürlich war das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, das Cockpit unterbesetzt zu lassen. Aber vermutlich war ihm klar, wie schwer es Jayhawker fallen musste, an Bord ihres eigenen Schiffes um etwas bitten zu müssen. Oder wie sehr der kommende Kampf sie mitnahm, von den Gefühlen ihrer Crew ganz zu schweigen. Außerdem – man konnte die Ankunft der feindlichen Korvette beinahe im Kopf ausrechnen. Selbst wenn die Echsen so verrückt waren und ein Shuttle voraus schickten, so würde es noch einige Zeit benötigen, bis es die Emerald orten konnte. Und nichts deutete bisher auf so eine innovative Taktik des Gegners hin.
Fuchida nickte knapp: „Natürlich. Aber beeilen Sie sich bitte.“ Er milderte die Zumutung, die diese Worte für Jayhawker darstellten, indem er hinzufügte: „Ich brauche Sie unbedingt auf der Brücke, und wir brauchen Ihre Leute an den Geschützen.“ Die Kapitänin neigte knapp den Kopf: „Vielen Dank.“ Dann winkte sie Toro zu, während sie eine Interkom-Verbindung aktivierte: „Achtung, hier ist der Kapitän für die Crew – alle in die Messe, sofort.“
Der einzige Vorteil bei einem so kleinen Schiff wie der Emerald war, dass die Wege nicht zu weit waren. Die Kapitänin brauchte nur 20 Sekunden bis zur Messe. Dort musste sie allerdings erst einmal Doktor Eriksen und ihren Anhang verscheuchen. Die ziemlich strapaziert wirkende Ärztin war damit beschäftigt, aus der Messe ein Notlazarett zu machen. Der Esstisch war zerlegt worden, und dafür wurden Behelfspritschen aufgestellt. Glücklicherweise war der Großteil der Arbeit bereits erledigt worden, so dass sich nicht wirklich ein Konflikt entspann. Für einen Augenblick fühlte Jayhawker allerdings den dringenden Wunsch, sich zu übergeben, als sie sah, wie Eriksens wesentlich routinierter wirkende Krankenschwester einen gewaltigen Stapel von Infusionsbeuteln mit synthetischen Blutplasma platzierte. Die Packungen waren säuberlich nach Blutgruppentypen sortiert, schließlich hatten die Weißkittel ja die medizinischen Daten der Besatzung und Passagiere. Aber diese Anwandlung ging glücklicherweise vorbei.
Die Crewmitglieder trafen einer nach dem anderen ein – mit Ausnahme von Ghost. Der Chefingenieur wurde im Maschineraum gebraucht. Und mit ihm hatte sie sich schon eine Stunde vorher gründlich unterhalten. Der Veteran verabscheute diesen Krieg, und er hatte einige sehr unfreundliche Wahrheiten für seine Kapitänin parat gehabt, etwa, dass sie sich diesen Schlamassel zum Gutteil selbst zuzuschreiben hatte, wenn sie sich mit den Terries einließ. Sie hatte ihm natürlich nicht widersprechen können – aber ebenso wenig würde er ihr die Gefolgschaft aufkündigen. Die Emerald war auch seine Heimat.
Die Crew wirkte im Augenblick weit eher wie eine Piratenmannschaft aus einem Sifi-Streifen, wie sie einer nach dem anderen eintraten und sich auf eine der Pritschen setzten. Die Kapitänin selbst hatte eine schwere Laserpistole um ihre Hüfte geschnallt, auch alle anderen waren mit einem reichlich exotisch wirkenden Sammelsurium von Laser- und Projektilwaffen bewaffnet – und einigen Klingen. Ihre Schutzwesten waren ebenso mannigfaltig wie ihre Waffen. Und sie alle würden noch leichte Raumschutzanzüge anlegen – es war ja nicht auszuschließen, dass die Schwerkraft durch einen Treffer versagte, die Akarii ein Loch in die Hülle schossen oder im Fall eines Enterversuches Gas einsetzten. Wenn der Gegner natürlich die Emerald einfach zerstörte, würde das nicht viel nützen. Doch dieses martialische Aussehen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keine Soldaten waren. Oh, einige ließen sich durch die Aussichten auf das nahende Gefecht nicht beeindrucken. Toro legte eine ziemlich geringschätzige Gleichgültigkeit an den Tag. Neben sich hatte er einen kompakten Laserkarabiner, eine ursprünglich für die Dschungel Pandoras entwickelte Selbstschutz- und Jagdwaffe, die sich aber auch bei Paramilitärs und Guerilla bewährt hatte. Mit seiner Tätowierung und seinem ohnehin etwas martialisch wirkenden Körperbau sah er so aus, als würde ein Akarii schon vor Schreck umfallen, wenn er seiner ansichtig würde. Auch Yin und Yang, das chinesische Geschwisterpaar aus der Colonial Confederation mit der eher unklaren Söldnervergangenheit, zeigten keinerlei Furcht. Yin schien ungeachtet ihres Namens sogar so etwas wie Vorfreude auf den Kampf verspüren, aber immerhin war sie wegen ihres explosiven Charakters berüchtigt. Die anderen hingegen…
Quicksilver wirkte ziemlich angegriffen, und es sah so aus, als ob sie sich an ihrer Waffe festhielt. Sie gehörte zu den wenigen Besatzungsmitgliedern, die nicht routinemäßig eine scharfe Waffe mitführte, und die großkalibrige Projektilpistole, die sie sich angeeignet hatte, wirkte in ihren Händen viel zu groß. Auch den übrigen vier Besatzungsmitglieder – Angelo „Nomad“ Matteoli, Benk „Dutch“ van Dorp, Karol „Fixer“ Bogusz und Agnes „Wrecker“ Holm – sah man ihre Unsicherheit an, ungeachtet dessen, dass jeder mindestens eine Waffe hatte, meist sogar mehr als eine.
Sarah Victor alias Jayhawker musterte mit einer Mischung aus Wehmut, Stolz, Zuneigung und Angst ihr kleines Häufchen Brüder, um es mit den Worten des Dichters zu sagen. Nun, eigentlich waren ja auch einige Schwestern dabei. Es waren diese Menschen, die für sie so etwas wie eine Familie bedeuteten, trotz gelegentlichem Streit, trotz der Geheimnisse, die viele von ihnen hatten. Sie – und die Emerald – bedeuteten ihr mehr, viel mehr als irgendein Planet, als die Republik und all dieses Gerede von Patriotismus, Ehre und Heimat. Wohl deshalb fiel ihr das jetzt so schwer. Aber es gab keine Alternative, auch und gerade weil ihr diese Leute und ihr Schiff so viel bedeuteten.
„Also, ich will die Lage nicht beschönigen. Bald, sehr bald werden wir mit den Akarii zusammenrasseln. Es sieht nicht so aus, als ob die Echsen unsere Spur verloren hätten. Sie kommen, und es wird ihnen egal sein, ob das hier unser Krieg ist oder nicht. Wir haben uns bisher aus gutem Grund raus gehalten, aber inzwischen geht das nicht mehr. Ich will euch nicht belügen – das ist etwas, das ein Terry tun würde. Es wird nicht leicht werden. Wir haben ein gutes Schiff, und eine tolle Crew. Und so wenig wir die Terries mögen, in dieser Stunde ziehen wir an einem Strang, und Fuchida, die Piloten, selbst die Marines sind Leute, die ihr Handwerk verstehen – so nutzlos und engstirnig sie sonst seien mögen. Wir haben einen Plan, und ein paar Trümpfe im Ärmel, von denen die Akarii nichts wissen, wie etwa die Jäger, die Drohnen, und anderthalb Dutzend professioneller Killer an Bord. Aber dennoch, es wird nicht leicht werden. Und ich brauche jeden einzelnen von euch, um das hier durchzustehen. Es ist klar, dass jetzt keiner aussteigen kann – aber hier geht es nicht nur darum, das Schiff zu fliegen. Mit Hilfe der Terries können wir, denke ich, die Echsen auf Abstand halten, und verhindern, dass sie uns einfach zerstören. Es wird hart, aber wir haben gute Chancen. Aber vermutlich können wir nicht gleichzeitig die Korvette auf Abstand halten UND einen Enterversuch unterbinden. Wenn die Akarii versuchen uns zu entern, dann stehen nur die Marines zwischen uns und einem langen Aufenthalt in einem miesen Kriegsgefangenenlager. Wir würden alles verlieren, wofür wir gearbeitet haben. Und wer weiß, wann wir wieder freikommen. Deshalb müssen wir bereit sein zu kämpfen. Ich rede hier nicht von irgendwelchem hirnlosen Heroismus, sondern davon, dass wir aus sicherer Deckung ein paar gezielte Schüsse auf die Echsen anbringen. Wenn die Marines versagen, sind wir am Arsch. Helfen wir ihnen, kommt es gar nicht erst so weit. Natürlich – das ist eher Sache von Soldaten. Wenn ihr hinter ihnen Deckung finden könnt, tut es. Wenn die Akarii einen von ihnen erschießen, ist mir das zehnmal lieber, als dass einer von euch verletzt wird. Es macht nichts, wenn welche von ihnen getötet werden, wenn sie nur die Echsen kaltmachen. Aber wir müssen auch selbst ein gewisses Risiko auf uns nehmen, damit wir es nicht allein mit dem Rest der Entertruppen aufnehmen müssen. Toro hat sich schon bereiterklärt. Yin und Yang – ich weiß, ihr seid unsere besten Kämpfer, und wir könnten euch gut gebrauchen. Aber es tut mir leid, ihr müsst euch den Spaß entgehen lassen, ich brauche euch an den Geschützen. Doch der Rest von uns muss den Marines helfen. Ich bin kein Terry, der so etwas befielt, das kann und will ich nicht – ich will nur, dass ihr euch klar seid, worum es geht. Das hier ist unsere Heimat. Nicht die Republik, nicht irgendein Planet, sondern dieses Schiff. Und ich sage, wer meine Heimat bedroht, den schicke ich mit meinem Stiefelabdruck im Arsch zur Hölle. Egal, ob es ein Imp*, Pirat, Keff oder Terry ist. Aber ich will niemanden was befehlen. Wer will, kann auch Dr. Eriksen in der medizinischen Station helfen – es wird genug Arbeit geben. Das müsst ihr mit euch selbst ausmachen, und ich werfe keinem seinen Entschluss vor. Ich jedenfalls werde nicht die Hände heben, wenn diese dreckigen Echsen über das Deck MEINES Schiffes trampeln.“ Sie grinste schief: „Und da wir bei diesem Job schon gemeinsam durch die Hölle gehen, werde ich für jeden von euch euren Anteil an den Einnahmen verdoppeln. Das hätte ich schon tun sollen, sobald klar wurde, dass hier etwas nicht stimmt. Aber ihr wisst ja, wie sehr ich das Geld liebe.“ Das sorgte kurz für einiges Lachen, und auch der Ausdruck auf einen besseren Lay – einen Gewinnanteil – munterte die Crewmitglieder auf. Doch der Gedanke an den bevorstehenden Kampf dämpfte die Freude doch erheblich. Die Kapitänin versuchte sich mit einem etwas zitterigen Grinsen, als sie einen Blick in die Runde warf, doch das misslang ihr ziemlich: „Also, wie sieht es aus? Ziehen wir an einem Strang, um die Akarii aufzuknüpfen?“
Für einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Keiner der Angesprochenen schien so recht den Mut aufzubringen, als erster zu sprechen. Es war nicht nur Angst vor den kaiserlichen Marines. Parteinahme in einem Krieg war etwas, das der individualistischen Weltsicht der meisten Crewmitglieder diametral entgegengesetzt war. Sie waren zum Gutteil auf der Emerald, weil sie sich nicht festlegen wollten, oder weil sie in der Vergangenheit Probleme gehabt hatten, sich in geregelte Kollektive einzufügen, die viel, zuviel von ihnen gefordert hatten.
Überraschenderweise war es ausgerechnet Quicksilver, die sich als erste aufraffte: „Ach zum Teufel. Ich bin dabei. Wenn ich mich ohne Gegenwehr ficken lassen wollte, hätte ich auch Nutte werden können.“ Sie legte ihre schwere Pistole vor sich auf den Tisch: „Wo soll ich mich hinstellen?“
Die Kapitänin lächelte, doch es war ein trauriges Lächeln. Und obwohl sie lächelte, spürte sie auch eine Träne – oder mehr als eine – in ihren Augen, als auch die übrigen Besatzungsmitglieder einer nach dem anderen ihre Waffen zogen und ihre Kampfbereitschaft bekundeten. Die Crew der Emerald würde gemeinsam schwimmen, oder gemeinsam untergehen.
***********
Seit Lilja die Emerald wieder erreicht hatte, saß sie buchstäblich wie auf Kohlen. Sie hatte sich nur Zeit für ein kurzes Gespräch mit Tremane und Fuchida genommen, dann hatte sie sich umgehend in die Vorbereitungen für das Gefecht gestürzt. Was hieß, dass sie ihren Raumanzug gar nicht erst auszog, sondern sich der Shuttlebesatzung der Marines, Quicksilver und Ace anschloss, die dabei waren, die Jäger und das Sturmshuttle aufzumunitionieren. Die kleineren Schiffe würden im kommenden Gefecht eine wichtige Rolle spielen. Während man die Maschinen vom Inneren der Emerald betanken konnte, mussten die Raketen praktisch in Handarbeit befestigt werden. Selbst in der Schwerelosigkeit war das nicht gerade leichte Arbeit. Glücklicherweise hatte ihr eigener Jäger bei ihrer kurzen Kabbelei mit der Quebec keine ernsthaften Beschädigungen davongetragen, und so konnte er wie die anderen Maschinen nach etwa zwei Stunden angestrengter Arbeit als einsatzbereit gelten.
Seitdem das erledigt war, tigerte sie unruhig im Laderaum auf und ab, wo die Marines damit beschäftigt waren, in den Kistenstapeln getarnte Feuerstellungen zur Rundumverteidigung anzulegen – sie wussten ja nicht, wo der Feind andocken würde. Die Russin war sogar soweit gegangen, und hatte ihre Laserpistole oder zumindest die Ersatzmagazine einer Frau aus der Crew der Emerald angeboten, doch die hatte nur schief gelächelt und zwei zivile Pistolen und ein dickes Pack Magazine hervorgekramt. Eigentlich wäre es ja ratsam gewesen, dass sich die Russin nach ihrem langen Soloflug erst einmal ausruhte. Aber dazu war sie zu aufgekratzt, und es gab auch niemanden, der befugt und willens gewesen wäre, sie zur Ordnung zu rufen.
Ace, der die ganze Sache wesentlich ruhiger anging, musterte mit einem gewissen Amüsement die auf- und abschreitende Pilotin. Erstaunlich, dass jemand wie Tanja noch Nerven zeigte, immerhin war sie eine kampferprobte Veteranin. Allerdings konnte man sich bei ihr nie ganz sicher sein, was vielleicht unterdrückte Angst oder Unsicherheit – und was Ungeduld war, dem Gegner endlich an die Kehle zu gehen. In solchen Momenten, etwa wenn sie unwillkürlich die Fäuste ballte und die Zähne bleckte, sah sie mit ihrem narbigen Gesicht ziemlich unheimlich aus.
Er wusste inzwischen, dass eine Lilja, die Blut gerochen hatte, eine schlechte Gesprächspartnerin war. Aber eine Frage hatte er doch noch: „Sag mal, Tanja, worum ging es eigentlich bei deinem Gespräch vorhin mit Fuchida? Und warum wolltest du, dass Tremane dabei ist?“ Die Russin fuhr wie mit der Nadel gestochen herum. Es war förmlich zu sehen, wie sie zu einer scharfen Antwort ansetzte, doch dann zögerte sie, und ihr abweisender Gesichtsausdruck wurde durch ein leicht zynisches Lächeln ersetzt: „Es war doch deine gloriose Idee, sich die…na, sagen wir BESONDEREN Eigenschaften des Systems zunutze zu machen, oder? Nun, ich habe darauf hingewiesen, wo auf diesem von allen Göttern und Dämonen verlassenen Klumpen Stein die Chancen dafür am größten sind. In unser aller Interesse hoffe ich nur, dass wir nicht mehr kriegen, als wir bestellt haben...“ Sie lachte bitter: „Obwohl das genau das wäre, was wir verdienen, wenn wir mit Dingen spielen, von denen wir nichts verstehen. Das gilt übrigens besonders für DICH. Aber wo wir schon diesen grandiosen Plan haben, wollen wir es auch richtig machen, da? Deshalb habe ich einen kleinen Standortwechsel vorgeschlagen.“
Der Pilot starrte seine Kameradin überrascht an. Er kannte sie einfach nicht gut genug, um wirklich immer zu wissen, wann Lilja auf etwas boshafte Weise scherzte, und wann es ihr ernst war. Andererseits war die Russin die einzige Person, die den Mond genauer untersucht hatte: „Was soll das denn wieder heißen?“
Die Russin lachte erneut, diesmal fast etwas unbehaglich: „Soll heißen, dass wir hier…“ doch dann warf sie unwillkürlich einen Blick zur Decke. Sie räusperte sich: „Ach, belassen wir es dabei, dass du dafür nicht die nötige Geheimhaltungsstufe hast. Aber wenn den Echsen was passiert, dann hier.“ Und mehr war aus ihr nicht herauszukriegen.
Nur kurz darauf meldete sich Fuchida. Die Stimme des Flottenoffiziers klang beherrscht und überlegt: „Achtung, Jäger? Feind ist voraussichtlich in zehn Minuten in Ortungsreichweite. An die Maschinen – und suchen Sie Deckung auf der Mondoberfläche. Ich speise Ihnen wie abgesprochen Informationen aus den Drohnen und von der Emerald in die Taktikdisplays ein. Achten Sie auf ihr Stichwort. Funkstille halten. Viel Glück.“ Dass der wortkarge Asiate – für seine Verhältnisse – so weitschweifig wurde, war das einzige Anzeichen für seine Nervosität. Bei der Operation kam es auf jeden einzelnen Beteiligten an, auch und gerade auf die Jäger.
Ace atmete noch einmal durch, dann setzte er den Helm auf. Lilja tat es ihm gleich. Dennoch marschierte sie nicht sofort zu ihrem Jäger. Stattdessen verpasste sie Ace einen derben, geradezu groben Stoß gegen die Schulter: „Bis dann. Wie man so schön sagt, die Felle treffen sich beim Gerber. Pass auf dich auf…und denk daran, da draußen sind nur wir und der Akarii. Nichts sonst.“ Nach dieser letzten, etwas kryptischen Bemerkung, die fast so klang, als wolle sie in erster Linie sich selbst überzeugen, wandte sie sich ab. Der blauhaarige Pilot rieb sich die Schulter, die trotz des dicken Raumanzugs schmerzte: „Also ehrlich gesagt hat mir dein Abschiedgruß über Karrashin besser gefallen.“ Die Russin drehte sich nicht einmal um, aber in ihrem Lachen klang diesmal sogar echte Belustigung: „Träum weiter...“
***
Im Cockpit der Emerald Jade gab es keine Gefechtsbeleuchtung wie auf einem Kriegsschiff. Die Kapitänin und Eignerin hatte dergleichen nie für nötig befunden – und wenn man ehrlich war, sowohl ihr als auch ihren Vorgängern hatte wohl einfach das Geld gefehlt. Die kritische Situation war allerdings deutlich an den angespannten Mienen der Brückencrew zu erkennen. Jayhawker hatte persönlich das Steuer ihres Schiffes übernommen, Fuchida leistete ihr Gesellschaft. Alle anderen Besatzungsmitglieder wurden anderswo gebraucht. Selbst Tremane, der sonst in einer Krisensituation dort zu finden war, wo die Entscheidungen fielen, hielt sich zurück. Er wollte sich in der Nähe der Krankenstation aufhalten, doch ob er dort helfen wollte und konnte, war eine andere Frage. Vermutlich – so dachte Jayhawker – überprüfte er gerade seine Zyankalikapsel und seinen persönlichen Sprengsatz, um seine ach so wertvollen Geheimnisse nicht dem Gegner preisgeben zu müssen, sollte die Emerald aufgebracht werden. Aber im Grunde war sein Verhalten eigentlich nicht zu kritisieren. Für einen Geheimdienstler hatte er eine erstaunlich gute Einsicht, wann und wo er wenig helfen konnte. Um selber mit der Waffe in der Hand zu kämpfen war er zu wichtig, und im Cockpit konnte er im Moment wenig ausrichten. Das unterschied ihn von seiner…Untergebenen…die allerdings klargemacht hatte, dass ihre Verpflichtung vor allem seiner Sicherheit galt. Das hatte nicht unbedingt Beifall gefunden – eine zielsichere Schützin mehr an der Front wäre wünschenswert gewesen. Aber einer TIS-Lieutenant Commander redete keiner hinein. Obwohl sich Jayhawker fragte, on die Besorgnis der Agentin wirklich nur…professionell motiviert war.
Die Kapitänin der Emerald Jade hätte am liebsten vor Frustration losgeheult. Da zog sie in ihren ersten „richtigen“ Kriegseinsatz, und wurde fast wahnsinnig vor Nervosität. Es war ja nicht so, dass ihr Schiff nicht schon Gefechte gesehen hatte. Wenn man sich an den Rändern der Republik herumtrieb, geriet man früher oder später mit anderen Unterweltgestalten aneinander. Seien es Piraten, Schmuggler oder einfach Konkurrenten. Die Emerald hatte allein in ihrem Besitz mehr als einen Jäger oder Shuttle abgeschossen, und auch das eine oder andere Mal einen anderen Frachter schwer lädiert. Glücklicherweise ohne dass die Terries oder Keffs etwas davon mitbekommen hatten. Dergleichen kam immer wieder vor, auch wenn die Öffentlichkeit und die Behörden selten davon erfuhren. Es war dem Vernehmen schon vorgekommen, dass sich Schiffe beschossen hatten, nur um die ersten bei einem lukrativen Auftrag zu sein. Oder um sich bei jemanden zu „bedanken“, der ihnen in der Vergangenheit einen solchen weggeschnappt hatte. Aber das war nicht mit der jetzigen Situation zu vergleichen. Piraten und kriminelle Händler waren immer auch Realisten. Sie kämpften nicht für irgendwelche verschwurbelten Ideale und Vorstellungen von Ehre und Pflicht – und üblicherweise setzten sie ihre Feuerkraft nicht allzu verschwenderisch ein. Atomraketen waren auf dem Schwarzmarkt nun einmal nicht ohne weiteres zu haben. Aber ein echtes Kriegsschiff des Imperiums…
Auch wenn es nur eine alte Korvette war, ihre Feuerkraft reichte aus, um die Emerald in Einzelteile zu zerblasen. Und anders als Piraten würden die Akarii dies auch tun, wenn ihnen danach war.
Diese unangenehmen Gedanken gingen der Raumfahrerin durch den Kopf, während sie wie gebannt auf die Anzeigen starrte. Die hereinkommenden Sensordaten von Fuchidas Drohnen wurden zwar immer wieder durch die starke Strahlung verfälscht, die Sendungen brachen immer wieder ab – aber die Annäherung des Akariis ließ sich inzwischen recht gut verfolgen. Er näherte sich in einem hohen Orbit, vorsichtig, aber zugleich auch selbstsicher. Jayhawker bleckte unwillkürlich die Zähne. Wenn nur dieses Warten endlich ein Ende hätte! Doch im nächsten Moment verfluchte sie sich schon wieder für diesen törichten Wunsch.
„Kapitän? Kontakt in 45 Sekunden!“ Fuchidas Stimme klang emotionslos – natürlich, der Japaner war offenbar bei einem Meister seines Fachs ausgebildet worden und hatte mehrere Jahre Krieg und mindestens ein Dutzend Schlachten hinter sich. Außerdem hieß es ja, viele Offiziere der Terries gäben ihre Emotionen mitsamt ihrem Humor und gesunden Menschenverstand bei der Vereidigung ab.
Die rothaarige Raumfahrerin nickte knapp. Sie konzentrierte sich auf die Anzeigen. Es war alles bis ins kleinste geplant worden. Fuchida hatte zusammen mit Tremane aus irgendwelchen Gründen einen spezifischen Fluchtkurs festgelegt, auf dem sie den Akarii hinter sich herziehen sollte – im Tiefflug über einen Mond, der so tot war wie der umgebende Raum. Man hatte ihr mitgeteilt, dort gäbe es Strahlungsanomalien, die man sich zunutze machen wollte. Insgeheim bezweifelte sie, dass ein Kriegsschiff für so etwas empfindlich wäre, aber das war Sache der Terries. Ihre Aufgabe war es, Kurs zu halten. Und ihr Bestes zu tun, um ihren eigenen Arsch und den ihrer Crew hier heil rauszuschaffen.
Auf einem der Bildschirme glitt die feindliche Korvette mit der Eleganz eines großen Raubfisches über den Horizont, mit einer fast ästhetisch zu nennenden bedrohlichen Geschmeidigkeit. Natürlich war das nicht mit bloßem Auge zu erkennen, für die war sie nicht mehr als der Lichtpunkt ihrer Triebwerke, der zudem von dem von der Oberfläche gespiegelten Sonnenlicht überdeckt wurde. Dennoch musste sich Jayhawker dazu zwingen durchzuatmen, als die Anzeichen ihr verrieten, dass sie jetzt in der Ortung des Gegners waren. Sie wartete nicht erst ab, bis ihr Fuchida den Befehl, sondern beschleunigte die Emerald sofort, drückte sie noch tiefer, näher zur Oberfläche des Mondes. Vielleicht konnte ihr das ja etwas Deckung verschaffen, wenn die Akarii…
Sie hatte im Grund nicht damit gerechnet, dass der Gegner sie jetzt noch verfehlen würde, das wäre des Glücks zuviel gewesen. Dennoch setzte ihr Herzschlag für einen Moment aus, als das Funkgerät mit einem Knacken zum Leben erwachte. Die Stimme des feindlichen Kommunikationsoffiziers war deutlich zu verstehen, trotz aller Interferenzen – ein Zeichen dafür, wie nah die Korvette dem Frachter wirklich war. Im Grunde unterschied sich die Aufforderung nicht sehr von ihrem unglücklichen Zusammentreffen im Aurora-System. Doch das hier waren keine Terries, die man zur Not beschwindeln oder bestechen konnte. Sie rechnete damit, dass Fuchida den Feuerbefehl geben würde, hoffte direkt darauf, damit endliche diese verdammte Spannung ein Ende hatte. So fühlte sich wohl ein Hase, wenn der Habicht über ihm kreiste. Doch der Japaner nickte ihr nur knapp zu: „Die Ehre des Feuerbefehls gebührt Ihnen.“
Jayhawker biss sich wütend auf die Unterlippe. Na wunderbar! Also sollte sie die Worte aussprechen, die leicht ihr Zuhause zerstören und sie und ihre einzige wahre Familie zum Tode verurteilen würden. Und sie sollte sich wohl auch noch geschmeichelt fühlen. Doch dann schalt sie sich selbst für diese sinnlose Verbitterung und fokussierte ihren Hass auf die, die Familie und Zuhause wirklich bedrohten. Mit einer Stimme, die vor Anspannung und Wut vibrierte, sprach sie die verhängnisvollen Worte: „Yin, Yang – FEUER! Und ständig weiter schießen!“ Auf den Anzeigen blitze es auf, als die Geschütze der Emerald sprachen. Jayhawker kümmerte sich nicht mehr um die Frage, ob sie getroffen hatten. Mit einer für einen Frachter dieser Größe fast selbstmörderischen Brutalität riss sie die Emerald in eine Kurve. Wenige Sekunden später erschütterten die ersten Einschläge die Schilde des Schiffes. Das Gefecht über dem Mond hatte begonnen.
**********
Liljas Jäger schoss durch eine Schlucht, nur einige hundert Meter über dem Boden. Die Felswände links und rechts überragten ihre Flugbahn bei weitem. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie den Himmelskörper gründlich vermessen hatte, und die dabei gewonnenen Daten in die Computer der Emerald und der Jäger und Shuttles geladen hatte. Natürlich war dort nicht ALLES eingezeichnet, was sie über den Mond wusste, aber doch das meiste. Sie hatte jedenfalls sichergestellt, dass sie bei ihrem Angriffskurz dem „Meer der Geister“ nicht zu nahe kommen würde. Stattdessen würde sie den Akarii abfangen, nachdem er diese Zone passiert hatte. Sie rechnete nicht wirklich damit, dass die Echsen irgendwie beeinflusst werden würden. Falls da etwas war, war nicht sicher, ob es auch auf Echsen wirkte. Und wie tief diese überhaupt heruntergehen würden. Oder ob sie genau über die „Todeszone“ fliegen würden.
Aber das spielte keine Rolle. Lilja verließ sich lieber auf die kompakten Raumkampfraketen und die Kanonen der Falcons, auf das Terrain, das sie und Ace vor den Augen der Akarii verbarg, auf die Ablenkung durch die Drohnen, auf die Strahlung – und auf den Umstand, dass sie im Moment wesentlich genauer wusste wo der Feind war, als umgedreht. Natürlich hatten sie und Ace Funkstille gehalten, seit sie gestartet waren. Aber es sah so aus, als würde der blauhaarige Pilot seinen Teil der Aufgabe mustergültig erfüllen. Er hielt strikt Formation – bei dem Terrain keine Leichtigkeit. Blieb nur zu hoffen, dass sie beide auch weiterhin das schaffen würden, wozu sie angetreten waren. Sie verzog ihre Lippen zu einer Grimasse. Eine Korvette anzugreifen war riskant – aber es hatte schon geklappt. Und wenn es wirklich gut ging…nun, selbst sie hatte bisher selten die Chance gehabt, ein halbes Dutzend Echsen auf einmal umzubringen.
Auf den Sekundärschirmen blitze es jetzt mehrfach auf. Die Emerald und der Akarii hatten das Feuer eröffnet. Erst jetzt öffnete sie eine Richtfunkverbindung zu Ace. Selbst über dem Mond, wo es leicht zu Reflektionen kommen konnte, war dies relativ sicher: „Angriffskurs!“
Dann warf sie wieder ein Blick auf die Anzeigen und pfiff durch die Zähne. Die Kapitänin der Emerald flog ihren betagten Frachter offenbar wie ein Sturmshuttle, bot dem Feind ein Ziel, das für die Kanoniere kaum zu erfassen war. Auch die Schützen der Emerald gaben ihr Bestes. Wieder und wieder blitze es auf, als ein unablässiger Strom von Feuerstößen in Richtung der feindlichen Korvette jagte, nur um mit noch mehr Feuer beantwortet zu werden. Kurzzeitig flackerte einer der Bildschirme, als eine Salve der Akarii ihr Ziel verfehlte und eine Bergflanke wie mit riesigen Steakmessern zerhackte, was die Videosensoren der Drohnen überlastete. Doch es war abzusehen, wie das Gefecht ausgehen würde, egal wie geschickt die Emerald auch kämpfte. Sie war zu langsam, ihre Schilde und Waffen zu schwach. Zeit, einige Asse aus dem Ärmel zu holen. Die Russin registrierte noch, dass der Akarii ins Taumeln geriet, offenbar direkt über dem Geistermeer. Zugleich gingen die Drohnen auf Abfangkurz. Die Russin öffnete die Verbindung zu Ace, vielleicht das letzte Mal. Aber sie sagte nur ein Wort: „Angriff!“
* Imp, Pl. Imps ist neben „Echse“, „Schuppenflechten“ und anderen wenig schmeichelhaften Bezeichnungen ein Slangausdruck für die Akarii, namentlich für die Angehörigen der kaiserlichen Flotte.
Cattaneo
Ace
Eine Typhoon - besonders ein Jäger, und damit meinte der Skipper auch die Terranischen - besaß gegenüber einer Korvette einen Beschleunigungsvorteil. Selbst ohne Nachbrenner erreichte er sein Ziel in einem Drittel der Zeit, welche das Kriegsschiff benötigte. Dafür hatte allerdings die REKONA stärkere Schilde und eine bessere Bewaffnung. Gerade die Sensoren waren auf einem Stand, der es ihnen erlauben würde, nicht doch noch mitten in einen terranischen Flottenverband zu fahren, der das Taumvart-System tatsächlich für einen Passageflug nutzte. Iganz Lorhes traute es seinem Schiff zu, selbst einer oder mehreren terranischen Korvetten davon zu laufen, auch gegen zwei, vielleicht vier Jäger oder Jagdbomber der Terraner rechnete er sich gute Chancen aus - für die Flucht, wohlgemerkt. Der Kapitän der REKONA war Realist, und keinesfalls der Einstellung, zu einem guten Soldaten des Kaisers gehöre auch der Umstand, für ihn zu sterben. Außerdem war es ihre heilige Pflicht zu fliehen, wenn sie auf etwas trafen, womit es die REKONA nicht aufnehmen konnte. Immerhin musste das Reich, und vor allem der Draned-Sektor gewarnt werden, wenn tatsächlich eine oder mehrere stärkere Einheiten hier passierten. Selbst wenn es nur einer der terranischen Hilfsträger mit seiner Eskorte war.
"Bericht.", schnarrte der Skipper von seinem erhöhten Platz auf der Brücke der Korvette.
Leutnant Atrop wandte sich halb zu ihm um. "Wir haben den Jäger in der Umlaufbahn von Taumvart III verloren, genauer gesagt in der Nähe des Mondes Taumvart IIIa. Er hat den Deckschatten nicht wieder verlassen." Der Leutnant überdachte seine Aussage und revidierte: "Aktive Ortung konnte nicht feststellen, ob der Jäger den Deckschatten von Taumvart IIIa wieder verlassen hat."
"Also, entweder entfernt sich der kleine Jäger im freien Fall von seiner jetzigen Position,", murmelte der Skipper nachdenklich, "oder er hat uns gerade direkt zu seinem Mutterschiff geführt. Wie lange bis zu unserer Ankunft?"
"Wir erreichen den Mond in dreieinhalb Standardstunden, Skipper."
"Hat die Aktiv-Ortung noch etwas anderes gefunden? Oder zumindest den Schatten von irgend etwas?"
Atrop zögerte. "Es gibt ein großes Trümmerfeld rund um Taumvart III und darüber hinaus. Wir haben zwischen den Trümmern ein kurzes Signal bekommen, das eventuell auf einen weiteren Jäger oder ein Shuttle schließen lassen könnte. Andererseits ist das Gebiet durch die Eigenstrahlung von Taumvart hochgradig strahlungsaktiv und verwirrt unsere Sensoren, wenn nichts Größeres in der Nähe ist, wo die Ortungsstrahlen beißen können. Es könnten auch Meteoriten mit Metalladern gewesen sein, die uns für ein paar Sekunden die richtige Seite zugeneigt haben."
"Bleiben Sie wachsam, Atrop. Ich möchte ungern in eine Falle stolpern und so beherzt zur Flucht ansetzen müssen wie unser terranischer Freund in der Typhoon. Achten Sie auf alles, jedes kleinste Blip."
"Jawohl, Skipper."
Lorhes erhob sich. Dreieinhalb Stunden, also? Das war genug Zeit, um noch schnell etwas Schlaf zu tanken, bevor es ernst wurde. Oh, Iganz war sich sicher, dass da etwas war, denn eine Typhoon konnte erstens nicht alleine in ein System springen, und zweitens musste sie die hübschen Zusatztanks entweder irgendwo befüllen lassen oder austauschen können. Die Frage war nur, was sie hier fanden. Wenn es ihnen tatsächlich gelungen war, einen terranischen Verband zu überraschen, bewunderte Lorhes die Kaltblütigkeit des Terraners, mit der dieser jegliche Emission unterdrückte, oder von der Rückseite des Mondes agierte, dann standen ihnen schwere Stunden bevor. Ein solcher Gegner durfte ein Grenzgängerschiff der Akarii natürlich nicht entkommen lassen. Das Ergebnis würde eine Hetzjagd sein, die dadurch entschieden wurde, wie schnell er den Braten roch und die REKONA wendete. Die kritische Zeit dafür würde höchstwahrscheinlich im Orbit des Mondes sein, und dann war es gut, wenn der Skipper ausgeruht, wachsam und reaktionsschnell war. "Ich ziehe mich zwei Stunden zurück, Leutnant Atrop. Wecken Sie mich in jedem Fall, wenn etwas Ungewöhnliches passiert. Und sollten Sie den Verdacht haben, dass hinter einem der Trümmerbrocken ein terranischer Superträger liegen könnte, dann drehen Sie zuerst mit Höchstwerten zurück zum Wurmloch bei, und wecken mich dann."
"Und wenn uns dadurch unsere Beute entkommt, Skipper?", fragte der Offizier erstaunlich zielsicher.
"Könnte sie uns entkommen, dann wäre sie das schon. Müsste sie uns nicht entkommen, werden wir das früh genug merken. Sie haben die Brücke, Atrop."
"Jawohl, Kapitän."
Lorhes verließ die Zentrale, und zog sich in seinen Raum zurück. In voller Uniform legte er sich auf das Bett, den Raumanzug in Greifreichweite neben sich, falls es zum Schlimmsten kommen würde. Noch einmal überdachte er seine Optionen. Vielleicht doch ein Kampfverband auf Schleichfahrt? Missinterpretierte er eine einzelne Typhoon? Die Messdaten waren durch den sehr hohen Strahlungsdruck im System leicht verfälscht worden, es konnte auch eine Falcon gewesen sein, das neuere Modell der Terraner. Das hätte darauf schließen lassen, dass die Terraner tatsächlich schweres Gerät einsetzten. Vielleicht doch ein Superträger. Oder einer ihrer vermaledeiten, wendigen Miniträger der Majestic-Serie, die ihnen so viel Ärger gemacht hatten. Allerdings, zurückfliegen und melden, das man eine Typhoon "verscheucht" hatte, lediglich verscheucht, würde nur Schwierigkeiten mit sich bringen.
Nun, ein Flottenverband konnte sich durchaus hier verstecken, im Orbit um Taumvart III oder seinen Mond. Aber dafür gab es keinen militärischen Grund, denn sowohl das fluktuierende als auch das stabile Wurmloch, welche beide tiefer in Richtung Akarii-Reich führten, waren von den anderen Wurmlöchern, die Richtung Republik zielten, auf gerade Linie bequem zu erreichen. Ohne das ein Sprungschiff dafür durch das Asteroidenfeld musste. Geschweige denn an Taumvart III vorbei. Für Kampfeinheiten war es also ein Umweg. Und für eine militärische Erkundung war das System zu wild und zu uninteressant. Natürlich blieben da immer noch die zwei Prozent Unsicherheit. Zum Beispiel konnten die Terraner heimlich auf dem Mond eine Nachschubbasis aufgebaut haben, um zum Durchbruch mitten im Imperium noch einen zusätzlichen Keil in den Draned-Sektor zu treiben. Oder die gesammelte Große Armada konnte hier lauern, um tatsächlich T'rr anzulaufen und zu "befreien", nachdem einer ihrer Träger das System nahezu unbehelligt passiert hatte. Aber wie Admiral Lokator Ilis schon vor dreihundert Jahren gesagt hatte: Streiche weg, was nicht stimmen kann. Streiche weg, was unwahrscheinlich ist. Streiche weg, was wenig wahrscheinlich ist. Unter dem, was zurückbleibt, findest du die Wahrheit.
Und die Wahrheit in diesem Fall war wohl tatsächlich ein Schmuggler oder Wissenschaftler. Lorhes hatte nicht viel mehr Möglichkeiten, als es auf sich zukommen zu lassen, und dann zu reagieren. Auch wenn er einen feindlichen Flottenträger nicht im Traum erwartete, auf die Möglichkeit vorbereitet würde er sein. Vielleicht war das sein Ticket zurück zur Front. Er hatte wahrlich mittlerweile genügend Offiziere hingeschickt, um selbst folgen zu dürfen.
Zwei Stunden später betrat er wieder die Zentrale. Der Skipper der REKONA fühlte sich ausgeruht und frisch. "Bericht.", schnarrte er, während er sich in seinen Sessel fallen ließ.
"Wir haben einen schwachen Ortungsschatten, eine Reflexmessung von der Oberfläche von Taumvart III, in der sich ein Objekt auf der Rückseite von Taumvart IIIa energetisch reflektiert. Die Spezifikationen sprechen bisher von einer Korvette als Maximum oder einem Shuttle als Minimum. Genauer kann ich es nicht sagen, ohne das Objekt direkt mit der Aktiv-Ortung zu erfassen."
"Danke, das reicht mir, Eins O." Nachdenklich sollte die Geste aussehen, als Lorhes die Hände ineinander verschränkte und den Kopf darauf bettete. Innerlich aber war er erleichtert. Vor einem Kampfverband zu warnen wäre sicherlich eine Ehre gewesen, und hätte allen Akarii genützt. Aber es wäre noch immer ein Davonlaufen gewesen. Wenn nicht noch eine handfeste Überraschung hinter Taumvart III lauerte, fühlte er sich dem Gegner gewachsen. "Der Jäger?"
"Bis dato Ortungstechnisch nicht nachzuweisen." Atrop sah herüber. "Zu klein, um ihn feststellen zu können."
Lorhes nickte knapp. "Wir gehen rein."
Er aktivierte die Rufanlage. "Hier spricht der Kapitän. In etwas weniger als anderthalb Stunden kommen wir im Orbit um Taumvart IIIa in Kontakt mit einem bis dato unbekannten Trägerschiff, von dem der terranische Jäger stammen muss, dem wir am Wurmloch begegnet sind. Die Fakten deuten bisher auf ein einzelnes Schiff hin, das nicht größer sein kann als eine republikanische Korvette. Sollte sich das bewahrheiten, werden wir das Feindschiff angreifen und entern oder vernichten. Ich erwarte von jedem an Bord, dass Sie ihre Pflicht tun. Kapitän Ende."
Nun war Lorhes ernsthaft neugierig. "Berechnen Sie einen Kurs, der uns möglichst schnell an das unbekannte Schiff heranbringt, Leutnant Kuvis."
Der Chefpilot dachte nach. "Taumvart IIIa hat keine eigene Atmosphäre, oder, Skipper?"
"Es wurde nie eine festgestellt."
"Dann empfehle ich einen Ellipsenkurs über die Mondoberfläche, Skipper."
"Dann tun Sie es so, Leutnant." Lorhes lehnte sich im Sessel zurück. Bis hier war alles gut gegangen. Sorgsam behielt er die Daten im Auge, die von der Ortungsabteilung herein kamen, ansonsten ließ er seinen Offizieren die lange Leine.
"Ortung!", blaffte Atrop plötzlich, während die REKONA in die Gravitation des Mondes eindrang. "Frachter, Kuuan-Klasse! Distanz: Achttausend Kilometer! Frachter beschleunigt!"
"Kurs?", fragte der Kapitän sachlich.
"Richtung Trümmerfeld. Extrapolierter Kurs deutet auf ein Wurmloch ins Kontar-System!"
Lorhes überschlug die Daten für einen kurzen Augenblick im Kopf. Über Kontar war der Frachter mit vier Sprüngen in der Konföderation, die sich gerade erst ergeben hatte. Also ein Frachter, und kein Kriegsschiff. Konterbande für die Konföderation? "Rufen Sie sie, und fordern Sie sie auf, beizudrehen und eine Entermannschaft an Bord zu lassen." Es wurmte ihn, diese Worte anzufügen, aber wenn sie es mit einem Konföderierten zu tun hatten, konnte er das Schiff nicht als Prise nehmen.
"Jawohl, Kapitän!" Atrop sammelte sich für einen Moment. "Unbekannter Frachter, drehen Sie bei und bereiten Sie sich darauf vor, ein Inspektionsteam an Bord zu nehmen! Ich wiederhole, drehen Sie bei und bereiten Sie sich darauf vor, ein Inspektionsteam an Bord zu nehmen!"
Iganz Lorhes unterdrückte ein Lächeln. Das Terranisch seines Funk- und Ortungschefs klang schon wesentlich flüssiger als noch ein paar Stunden zuvor.
"Schirmbelastung im Bugschild. Bugschild verliert zwei Prozent Leistung." Der Leitende Ingenieur sah zum Kapitän herüber. "Wir werden mit Laserwaffen beschossen."
Atrop fügte hinzu: "Eindeutig der Frachter."
Lorhes konnte nicht anders, jetzt grinste er breit. Ein Angriff auf ein kaiserliches Kriegsschiff war ein kriegerischer Akt. Und das bedeutete, dass er harte Bandagen auspacken konnte. "Wir eröffnen das Feuer. Zuerst mit den Lasern. Wenn der Frachter darauf nicht reagiert, schicken wir ihm eine Schiff-Schiff-Rakete nach." Was den Gegner vermutlich vernichten würde. Aber Pflicht war Pflicht, und selten war sie so angenehm. "Achten Sie mir auf den Typhoon, Leutnant Atrop. Wenn er kommt, will ich den Anti-Jägerraketenwerfer und die Laser in Aktion sehen."
Der Ortungsoffizier stutzte, bevor ihm die Existenz des Raumfahrzeugs wieder einfiel. "Jawohl, Kapitän."
Lorhes aktivierte erneut die Rufanlage. "Hier spricht der Kapitän. Es sieht so aus, als hätten wir es nur mit einem altersschwachen Kuunan zu tun, der uns auch noch angegriffen hat. In diesem Moment haben wir das Feuer eröffnet. Leutnant Takran, auf Befehl greift das Sturmboot den Frachter an. Ich will dieses Ding haben. Kapitän Ende."
Lorhes widmete sich wieder der taktischen Anzeige. Danach hatten zwei Laser getroffen und die Schilde des Frachters auf sechzig Prozent reduziert. Als Reaktion drehte der Frachter bei und versuchte im Deckschatten des Mondes zu verschwinden. Nur Sekunden darauf war er von der Anzeige verschwunden, während der Computer den wahrscheinlichen Standort anhand von Kurs und Geschwindigkeit nachrechnete. "Wir verkürzen den Abstand.", befahl der Skipper.
Der Chefpilot nickte zum Zeichen, das er verstanden hatte, und drückte die Korvette tiefer. In nicht mehr als zwanzig Kilometern Höhe überflog die REKONA den atmosphärelosen Mond, und reduzierte damit die Länge der zu fliegenden Parabel, ohne den Frachter aus dem Schussfeld zu verlieren. Auf dem tiefsten Punkt der Parabel würde die Höhe nicht einmal acht Kilometer betragen. Auf einer Welt mit Atmosphäre wäre dies ein hoch gefährliches Manöver gewesen. Über dem luftleeren Mond jedoch nicht mehr als eine simple Übung, bei der Beschleunigung, Fliehkraft und Anziehungskraft von Taumvart IIIa in Einklang gebracht werden mussten. Für kaiserliche Offiziere nicht mehr als eine Fingerübung. Zumindest bis zu jenem Moment, als die Beleuchtung flackerte, und mit einem unheilvollen Brummen das Blaulicht der Notbeleuchtung ansprang. Lorhes fühlte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, als auch einige Stationen ausfielen, und die Ortungsdaten zu einem unverständlichen Kauderwelsch verkamen. "Bericht!", rief er.
"Wir wurden nicht getroffen!", rief Leutnant Atrop. "Aber ein großer Teil der Elektronik wurde aus unbekannten Gründen überlastet. Die Sicherheitsschaltkreise haben diese Bereiche abgeschaltet. Ein Teil der Redundanzgeräte hat sich nicht aktiviert. Wir arbeiten daran!"
"Wie sieht es draußen aus?", hakte der Skipper nach.
"Die Daten sind ungenügend.", wagte Atrop vorsichtig zu berichten.
"Mit anderen Worten, wir sind blind.", stellte Lorhes sarkastisch fest. "Und das schon fast eine Minute lang."
Hilflos wagte Atrop einen Blick auf seinen Skipper zu werfen, bevor er sich wieder um seine Konsole kümmerte. "Ortung ist wieder da! Redundanzgeräte laufen an!"
Tatsächlich gingen die Arbeitspulte eines nach dem anderen online.
"Oh, Mist!", fluchte der Chefpilot. Hastig führte er eine Kursänderung durch, deren Natur Lorhes erkannte, als er die entsprechenden Daten auch auf sein Arbeitspult bekam. Fünf Sekunden weiter auf dem Kurs, und das Schiff hätte mit seinem Schirm eine schöne, gleichmäßige Rille in den Mond gezogen. Elf Sekunden später wäre sie auf der Oberfläche explodiert.
"Ich gleiche aus. Wir sind fast wieder auf Kurs!", meldete Kuvis, wurde aber von Atrop übertönt.
"Jägerangriff! Siebenunddreißig zu zweihundertelf! Zwei Maschinen, vermutlich Typhoon!"
"Feuer!" Schräg von vorne, und zudem von unten. Da war ja ihr Freund vom Wurmloch, und er hatte noch einen weiteren Freund mitgebracht. Lorhes sah zu, wie Anti-Jägerraketenwerfer und Laser die Arbeit aufnahmen, um die massigen Maschinen unter Beschuss zu nehmen. Die erste zerplatzte beim ersten Treffer in einer farbigen Explosion, die zweite wich aus und zog nur wenige Sekunden später einen Rattenschwanz an Abwehrraketen auf sich zu. Geschickt, der Angriff. Leider waren die Piloten alles andere als gut.
"Der Frachter ist wieder in der Ortung!", fügte Atrop atemlos an, keine Sekunde nachdem der zweite Jäger seinen Geist ausgehaucht hatte. "Er macht einem Run auf das nächste Wurmloch!"
"Na, dann müssen wir ihm wohl mitteilen, dass sein Hinterhalt nicht funktioniert hat. Wir schießen mit den Lasern. Vielleicht kriegen wir den Frachter doch noch am Stück."
"Jawohl, Kapitän!"
"Leutnant Takran, bringen Sie mir das Schiff, oder alles was aus dem Wrack zu bergen ist, zu den ich diesen renitenten kleinen Mistkerl ballern werde, wenn er nicht bald aufgibt."
"Jawohl, Kapitän." Mit einem Schlag, der leise durch das Schiff hallte, löste sich das Sturmshuttle mit dem Infanteriekontingent und schoss über den Bug der REKONA hinaus. "Unterstützungsfeuer für unser Sturmboot!", befahl Lorhes. Alle Vorteile waren auf seiner Seite. Sein Schiff war schneller als der Gegner, der hatte zwei Jäger verloren, wenngleich sie mit lausigen Piloten bemannt gewesen waren, und der Waffenvorteil lag auch beim kaiserlichen Schiff. Zudem würden zwanzig kampferprobte Marines des Kaisers mehr als genug sein, um den alten Rostkahn zu erobern. Bis jetzt war es ein schöner Tag.
"Ortung! Jäger, zwei! Typ: Falcon! Kommen schnell näher, aus Richtung hundertachtzig, hundertachtzig!"
Lorhes wäre beinahe aufgesprungen. Hatte dieses Klappergestell tatsächlich vier Jagdmaschinen transportiert? Und waren die besseren beiden Jäger gerade dabei, seine Korvette aus der Sechs heraus anzugreifen? "Rollt das Schiff um die Y-Achse!"
"Wir stehen unter Beschuss! Raketen kommen rein!", rief Atrop, noch während Kuvis versuchte, das empfindliche Heck wegzuziehen, um dem Feind die Aufbautenschilde und die dortige Bewaffnung zu präsentieren, darunter die Anti-Jägerraketen.
"Zwölf Raketen, Typ unbekannt. Vier Sekunden bis..."
"Auf Einschlag vorbereiten!", rief Lorhes. Augenblicke später bebte das Schiff auf. Aber die Wände brachen nicht auf, um ihn und seine Leute mit loderndem Höllenfeuer zu verschlingen. Das Schiff verlor weder die Schwerkraft, noch die Trägheitsdämpfer, und es schien nur eine Sekundärexplosion zu geben.
Eine der Kameras erfasste die beiden Falcons, als sie am schlanken Rumpf der Korvette vorbeihuschten. Der Vordere, markiert mit einem weißem Symbol, löste seine Bordbewaffnung aus, die dem Anti-Jägerraketenwerfer den Garaus machte, bevor beide Jäger abdrehten, und auf der zerklüfteten Mondoberfläche Deckung suchten.
"Bericht! LI, Bericht!"
"Wir sind noch bei der Schadenserfassung, aber ein erster Bericht liegt schon vor! Schwere Treffer achtern. Wir haben zwei Antriebsprojektoren verloren, die anderen zwei wurden beschädigt. Wir fahren im Moment nur noch auf zwanzig Prozent. Der Sprungantrieb hat ebenfalls Schäden davon getragen. Wie schwer die Schäden sind, kann ich noch nicht sagen, aber die Sicherheitsschaltungen haben ihn aus dem Standby-Modus in Ruhemodus gefahren."
"Achtet mir auf diese Jäger! Kurs stabilisieren und weiter dem Frachter folgen! Die Reparaturteams sollen sich beeilen! Ich will so schnell wie möglich meinen Schub zurück!"
"Jawohl, Kapitän!"
Ärgerlich bleckte er die Zähne. Verdammte Terraner! Das erste angreifende Paar hatte ihn ausgetrickst wie einen Anfänger, und das zweite Jägerpaar hatte seinen Antrieb, UND seinen Sprungantrieb schwer beschädigt! Nun war er die sitzende Tugla, und der terranische Frachter konnte ihm problemlos davon fahren. Eine sehr unbefriedigende Situation. Alles weitere lag nun bei Leutnant Takran und seinen Marines.
Einige Minuten darauf tauchten beide Jäger in der Nähe des Frachters auf, der sich mit Höchstfahrt vom Mond in Richtung Wurmloch entfernte. Aber es war schon zu spät, um den Angriff des Sturmshuttles zu verhindern.
"Wir setzen auf,", meldete Leutnant Daril, der Pilot des Shuttles. "Marines gehen über eines der Schotte vor."
"Leutnant Takran hier. Wir sind bereit zu sprengen und gehen rein."
"Bringen Sie uns Ehre.", sagte Lorhes mit ernster Miene. Oh, er wollte diesen Frachter, er wollte ihn wirklich. Alleine schon deshalb, weil seine Besatzung dafür verantwortlich war, was sie mit seiner REKONA angestellt hatten.
Über die Permanentverbindung erklang der Lärm der Schneidladung, dann folgte das automatische Feuern der Lasergewehre, kurz unterbrochen von detonierenden Granaten. "Keine Gegenwehr. Wir gehen rein." Bange Sekunden vergingen, bevor sich Takran erneut meldete. "Wir sind im Hangar. Ich sehe den Aufgang zur Brücke und den Lift zum Maschinenraum. Wir...RUNTER!"
Übergangslos versank die Übertragung in schwerem Gefechtslärm. "Takran, was ist los?"
"Wir stehen unter schwerem Feuer! Vier meiner Leute wurden ohne Deckung erwischt, als ich sie in den Maschinenraum schicken wollte! Die verdammten Glatthäute haben sich hier ein paar schöne Stellungen gebaut! Fresst das, ihr Affen!"
Das Inferno steigerte sich, während das taktische Display neben den ersten vier Verlusten drei weitere einzeichnete. "Wie viele Gegner, Takran?"
"Unbekannt, Skipper! Ich zähle mindestens acht Stellungen! Wir stürmen jetzt den Aufgang zur Brücke!" Der Infanterist wartete einen bangen Atemzug.
Lorhes atmete tief durch. Wenn dieser Angriff schief ging, gegen einen überraschend starken Feind, bei bereits beträchtlich dezimierter Mannschaftsstärke, dann war das Enterkommando verloren.
"Holen Sie mir dieses Schiff, Takran.", sagte Lorhes, der genau wusste, dass der Leutnant nicht zurück konnte, ohne für immer und ewig die Brandmarkung des Feiglings auf sich zu tragen.
"Los!", brüllte Takran, und das Feuer wurde wieder lauter.
Weitere Verluste wurden eingezeichnet, einige als verletzt markiert. Als die Zahl der Infanteristen der REKONA unter zehn rutschte, drohte auch noch die Direktverbindung zusammen zu brechen.
Lorhes schloss für einen Augenblick die Augen. Nein, verdammt, nein. Dieser mickrige kleine Frachter, dieses halb verrostete Stück Altmetall wagte es... Seine Besatzung wagte es...
"Marines, zurückziehen!", befahl der Skipper tonlos. "Auf das Shuttle evakuieren und sofort starten."
"Leutnant Takran ist getroffen! Oben auf der Treppe! Ich kann ihn sehen! Ich kann ihn erreichen, wenn..."
"Sie haben Ihre Befehle!", blaffte der Skipper barsch. Das taktische Zeichen von Takran war schon längst erloschen. Ein ehrenvoller, aber doch recht sinnloser Tod.
Schlussendlich schafften es sieben von zwanzig Marines des Kaisers zurück in das Shuttle. Vier waren verletzt, einer davon schwer. Ein weiterer wurde noch tödlich getroffen, während Leutnant Daril die Schotten schloss. "Legen ab!", rief er.
Das Sturmshuttle stieß sich vom Frachter ab, das so vielen tapferen Soldaten des Kaisers zum Grab geworden war. "Antischiffsraketen", befahl Lorhes ernst. "Vernichtet dieses Stück Altmetall! Und haltet die Jäger davon ab, unser Sturmshuttle zu vernichten, verdammt!" Leiser fügte er hinzu: "Es sind wirklich genug Akarii heute gestorben."
Während die Lasergeschütze die beiden Falcons davon abhielten, seinem Marine-Kontingent den Rest zu geben, raste die erste Antischiffsraketen auf den Frachter zu, nach dem dreißigsekündigen Nachlade-Intervall von der zweiten gefolgt.
Der Frachter erwies sich als gut bewaffnet. Die erste Rakete wurde von einem Bordgeschütz zerstört. Die zweite wurde Opfer eines Shuttles, das sich aus dem Ortungsschatten des Frachters löste, und vom Computer als militärisches Shuttle identifiziert wurde. Lorhes ließ weiter feuern, bis das Feindschiff eine halbe Stunde später seine Reichweite unwiderruflich verlassen hatte, ohne mehr davon zu tragen als ein aufgesprengtes Schott. Schlussendlich hatten die Jäger von seinem Sturmshuttle abgelassen und bei der Verteidigung des Frachters geholfen. Eine der Maschinen war im Clinch mit seinen Marines schwer getroffen worden, hatte aber am Frachter andocken können. Das ließ seine Hoffnungen, der Pilot möge dabei gestorben sein, doch etwas gering erscheinen.
Aber immerhin hatte er das Sturmshuttle samt Besatzung und mit sieben kaiserlichen Marines rechtzeitig retten können. Die Aufzeichnungen der Gefechtskameras würden zeigen, ob sie ihre Haut auf dem Frachter zumindest teuer verkauft hatten.
Iganz Lorhes unterdrückte ein wütendes Schnauben. Heute hatte er seinem Kaiser keine Ehre gemacht. "LI, reparieren Sie die Schäden am Sprungantrieb. Wir wollen den nächsten Stützpunkt anlaufen. Eins O, Lichtspruch an die Regionaladmiralität. Berichten Sie ihnen vom Gefecht und unseren Verlusten. Ich bin in meinem Büro und verfasse einen detaillierten Bericht."
Er erhob sich. "Sie haben die Brücke, Eins O."
Als Lorhes seine Brücke verließ, machte er sich klar, dass die REKONA durchaus die Anweisung bekommen konnte, ihn seines Kommandos zu entheben und das Schiff Leutnant Atrop zu übergeben. Sein Versagen war schwer genug, gegen einen Frachter, vier Jäger und ein Sturmshuttle. Vielleicht hatte er die Brücke der REKONA zum letzten Mal betreten. Vielleicht hatte er überhaupt eine Schiffsbrücke zum letzten Mal betreten. Das war kein guter Tag.
***
Ich musste zugeben, die Falcon gefiel mir mehr und mehr. Sie war agil, niemals nachtragend, und sie hatte, für einen Jäger, wirklich Sinn für Humor. Als ich hinter Liljas Maschine hinterher jagte, geschah dies mit Hilfe des Bodenwellenradars, oftmals nur zwei Meter über ein Hindernis hinweg, und das mit einer Geschwindigkeit, die in einer Atmosphäre purer Wahnsinn gewesen wäre.
Noch einmal checkte ich die Daten. Wenn alles nach Plan verlief - und dass das passierte, war eher unwahrscheinlich - dann passierte die feindliche Quebec in dreieinhalb Minuten eine Position auf dem Mond, die ihre Besatzung bei den Eiern packte, um es mal unwissenschaftlich auszudrücken. Die Korvette musste dieser besonderen Stelle näher kommen, wenn sie die EMERALD JADE schnell wieder im Fadenkreuz haben wollte, und darauf basierte Liljas Idee, die meinen Plan mit dem Lokalkolorit zur Grundlage hatte. Also die natürlichen Störungen von Mensch und Material in diesem System, die bereits der MARY C und ihrer Besatzung zum Verhängnis geworden war. Zumindest den armen Teufeln, die in ihren Plastiksäcken an Bord der EMERALD vor sich hin gammelten. Ich hoffte inständig, dass Lilja bei all der Geheimniskrämerei, mit der Tremane sie angesteckt hatte, das bedacht hatte. WIR mussten diesem Punkt nämlich auch sehr nahe kommen, wenn wir die Korvette tatsächlich in der Sechs packen wollten.
Zwei Minuten. Ich lupfte meine Maschine über die achthundert Meter hohe Wand eines Kraters, zischte in der Deckung eines gerade mal dreiundzwanzig Meter breiten Bodenspalts über eine Hochebene auf unsere Position zu, die uns erlauben würde, den Gegner zu attackieren. Lilja behielt eisern die Führung.
Einen Schuss in die Triebwerke, mehr wollten wir nicht, mehr verlangten wir nicht. Und wenn es sich einrichten ließ, wieder zurück aufs Schiff kommen. Andererseits, sollte Lilja wirklich in Gefangenschaft geraten, hatte ich keine Zweifel, dass die Akarii sie uns freiwillig wiedergeben würden. Spätestens nach dem ersten Monat. Ich grinste bei diesem etwas unfairen Gedanken und konzentrierte mich wieder auf die Mission. Eine Minute.
Wir hatten der Korvette dreißig Sekunden gegeben, um auf Lokalkolorit zu reagieren, dann würde Fuchida die beiden Sensorpods in einem Angriffswinkel auf die Korvette jagen. Dies sollte zumindest die Abwehrraketen beschäftigen, und uns unseren Schlag ermöglichen. Doch bis dahin sausten wir durch den Korridorähnlichen Felsspalt, der beinahe schon wie gebaut wirkte. Er war gleichmäßig, regelmäßig, hatte eine konstante Tiefe. Beinahe erwartete ich, dass an den Flanken Geschütztürme zum Leben erwachten, um unseren Anflug zu behindern.
Zero. Ich konnte mir vorstellen, wie Lilja jetzt gerade die Hände verkrampfte, die Passivortung im Auge, und die Sekunden zählte, in der Hoffnung, dass mit der Besatzung der Korvette irgendetwas geschah, was uns einen Vorteil verschaffen würde. Immerhin, hier in der Gegend hatte Lilja eine ferngesteuerte Erkundungsdrohne verloren. Es musste hier irgendetwas geben. Irgendwas.
Als die Korvette zu gieren begann und ihre Schilde plötzlich den Mondboden berührten, zuckte ich beinahe zusammen. Die Überraschung, das Entsetzen ließ meinen Magen zu Stein werden. In Gedanken machte ich mir eine Notiz, alle Gegenden des Mondes fortan zu meiden, welche die Korvette in den letzten vierzig Sekunden passiert hatte.
Erstaunlicherweise lief bis jetzt alles nach Plan, auch wenn wir die Reaktionen an Bord der Korvette nicht hatten abschätzen können. Mit einem Maschinenausfall und Orientierungslosigkeit als Hauptpreis hatte ich persönlich gar nicht gerechnet. Andererseits wuchs in mir der dringliche Wunsch nach ein paar Antworten auf einen Haufen Fragen, die Tremane überhaupt nicht gefallen würden.
Dann hatten wir die Drohnen in der Ortung, im Anflug auf die Quebec. Eine explodierte beinahe sofort, die andere zog das feindliche Feuer hinter sich her, während die Korvette ihren Kurs stabilisierte.
Zero minus dreißig. Ich trat die Schubpedale durch, neben mir stieg Lilja in den Himmel. Unsere Position war fast perfekt, wir kamen im rechten Winkel zur Korvette heran, die gerade jetzt über uns hinweg zog. Lilja flog einen Immelmann, auf dessen Höhepunkt sie in die Kehre Richtung Korvette ging, um sich dort mit einer Fassrolle auf die Sechs zu setzen, ohne in den Abgasstrahl des Triebwerks zu geraten. Ich folgte ihr nach, blieb aber auf der anderen Seite des Abgasstrahls.
"Fox two!", klang ihre Stimme auf, während sie ihre Energiewaffen auslöste, und kurz darauf ihre Raketen folgen ließ. "Fox two.", knurrte ich und tat es ihr gleich. Die Schirme, vom Beinahe-Absturz noch immer etwas schwach und unkoordiniert, brachen am Heck zusammen wie ein Kartenhaus, als die Energielanzen unserer Waffen durch sie hindurch stachen. Ein Partikelschuss ging in den Triebwerkssektor, während zehn Amraams und sechs Sidewinder ihren Weg zu den Triebwerken, beziehungsweise zu den Abstrahlprojektoren des Sprungantriebs machten. Ich zog hoch, um nicht doch noch in den Abgasstrahl zu geraten oder in die Aufbauten zu fliegen, suchte für einen Augenblick nach meinem Sekundärziel, den Laserkanonen auf meiner Seite, ging in den Slide und feuerte meine Laser und Partikelwerfer ab. Danach stellte ich die Maschine wieder auf Kurs, trat den Nachbrenner durch und ging auf Fluchtkurs zurück zum Mond.
Neben meiner Maschine tauchte Liljas Falcon auf, die sich um den Jägerabwehrraketenwerfer am Bug hatte kümmern wollen. Wir tauchten Flügel an Flügel in einen fast zweitausend Meter tiefen Krater ein, an dessem Boden wir so schnell wie möglich Distanz zur Quebec aufbauten, solange niemand auf uns schoss. Die ganze Aktion hatte vielleicht achtzehn Sekunden gedauert, bevor wir wieder abgedreht waren. Aber war sie auch erfolgreich gewesen? Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Falcon auf dem vorberechneten Kurs einmal um den Mond und zurück zur EMERALD war, kontrollierte ich die Aufzeichnungen der Bordkamera. Okay, die Laser hatte ich nicht getroffen, leider, aber es sah so aus als hätten unsere Raketen Antrieb und Sprungsystem der Korvette ordentlich beschädigt.
"Jadesohn zwei von Jadesohn ein. Laser nicht erwischt.", meldete ich trocken.
"Jadesohn zwei, das macht nichts. Dafür haben wir ihrem Antrieb Saures gegeben. Außerdem habe ich ihren Abwehrraketenwerfer erwischt."
Ich pfiff anerkennend. Sie hatte nun wirklich keine bessere Position als ich gehabt. "Ich gratuliere, Lilja."
"Süßholz raspeln kannst du genug, wenn wir aus dem System raus sind. Wir sind noch nicht aus dem Schneider, Ace. Da ist immer noch ein Frachter, der verteidigt werden muss."
"Du bist der Boss.", erwiderte ich. Ich konnte eine gewisse Euphorie nicht absprechen. Immerhin, wir hatten zu zweit ein Kriegsschiff angegriffen, und die Attacke nicht nur überlebt, sondern der Echse noch übel eingeschenkt. Damit war der wichtigste Aspekt des Plans aufgegangen. Es bedurfte nicht mehr vieler Anstrengungen, um den Rest zu schaffen. Was sollte auch jetzt noch schief gehen?
"Jayhawker ruft nach uns und schimpft wie ein Rohrspatz.", sagte Lilja, während wir den Mond weit genug umrundet hatten, um den Normalfunk wieder empfangen zu können. "Der Quebec hat ein Enterboot ausgeschickt, das jetzt jede Sekunde an der EMERALD JADE andocken wird. Dass wir nicht auf die Korvette schießen und ihren klapprigen Kahn verteidigen können, ist ihr anscheinend egal. Also, ab aufs Gas, Ace.", zischte sie.
Oh. Okay, da war ja noch was. "Verstanden."
***
Natürlich kamen wir zu spät. Natürlich hatten die Bordwaffen der EMERALD das schwer gepanzerte Enterboot nicht abwehren können. Natürlich hatten die feindlichen Akarii-Marines geentert. Nachdem Teil eins unserer Aktion so berauschend gut für uns gelaufen war, nachdem die Akarii-Korvette weiter und weiter hinter uns zurück blieb, hatte ja nicht alles klappen können. Aber mit einem grimmigen Grinsen machte ich mir klar, dass die Echsen mit Sicherheit keinen freundlichen Empfang mit Laserbeschuss seitens unserer Jumpin' Devils erwartet hatten. Das Spiel war also noch offen. "Kein Angriff.", befahl Lilja, während sie uns auf Eskortposition zur EMERALD brachte. "Wir warten. Wenn wir das Sturmshuttle hier vernichten, könnte es explodieren und die Jademutter beschädigen. Das wäre doch nicht ganz das was wir wollen, so nahe vor dem Ziel."
Ich nickte bestätigend, empfand das genauso. Jayhawker hingegen machte dem Raumfahrerklischee mit den Flüchen alle Ehre. Einige davon hätte nicht mal ich in den Mund genommen.
Als endlich die Nachricht kam, dass der Angriff geworfen worden war, als die überlebenden Akarii mit ihrem Sturmshuttle ablegten, als das Schiff kurz unter der explosiven Dekompression zu wanken begann, klang Liljas Stimme auf. "Jetzt wird er anfangen, Eier hinter uns her zu schmeißen. Was meinst du, wie viele davon werden Atombomben sein, und wie viele wird er verschwenden, bis er zufrieden ist?"
Übergangslos wurden meine Hände schwitzig. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Verdammt, Atombomben. Atombomben! Ich wollte es nicht, ich brauchte es nicht, und ich hatte es auch nicht eingeladen, aber dieses nur allzu bekannte Gefühl kroch in mir hoch, ließ meine Hände zittern, ließ mich zittern. Erinnerungen kamen hoch, an Jollahran, an den einen Moment, als ich die Antischiffsrakete im Visier gehabt hatte, die auf die RED geziehlt hatte, keine Raketen mehr, zu nahe dran, nur noch die Bordwaffen... Die grelle Helligkeit, die Schmerzen, das Nicht-Verstehen, was gerade mit mir geschehen war, die Schmerzen, die unglaublichen Schmerzen, die mich durchwühlten, nachdem die Explosion und die Strahlung Teile meines Körpers Medium durchgebraten hatte, die alles überwältigende Übelkeit, die mich ergriffen hatte, die mich würgte, schüttelte, durchwalkte. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ausgerechnet ich, gerade ich die Angst, die Panik, die abgrundtiefe Verzweiflung im Griff gehabt hätte... Dass ich keine Angst vor dem Tod mehr hatte. Ich, das Gespenst. Der Unsterbliche. Ace, das fliegende Monster. Aber Angst vor der Atombombe hatte ich schon noch. Und die würgte meine Gedanken wie ein Waschweib auf der prästellaren Erde ihre Wäsche.
"...ace.... Ace!"
Ich schreckte hoch, als ich Liljas Stimme vernahm. "Bin da.", sagte ich mit rauer Stimme, die ich kaum als meine erkannte. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Augen waren mit salzigen Tränen gefüllt, und ich spürte, dass Speichel aus meinem Mundwinkel floss. Und wenn ich wirklich Pech hatte, dann war das Recyclingsystem meines Anzugs gerade mit der Wasseraufbereitung beschäftigt. Verdammt, einem Amateur konnte so etwas passieren. Aber einem alten Hasen, einem Staffelführer? Einem Mann, der bereits eine Atombombe aus nächster Nähe überlebt hatte?
"Das Shuttle! Jayhawker hat gesagt, wir sollen es unter Beschuss nehmen, aber die Korvette schießt Sperrfeuer. Wir geben der Sache einen Versuch, dann widmen wir uns den Raketen! Das sollten wir überleben, selbst mit unseren Bordwaffen!"
Ich nickte unmerklich. Und dann wieder doch nicht. Moderne Gefechtsköpfe konnten nicht auf Sicht bekämpft werden. Man musste sich auf seine Instrumente verlassen. Und darauf spekulierten die Gefechtsköpfe, störten die normaloptische und die radartechnische Erfassung. Es gab eine Regel in der Raketenabwehr, die lautete, dass der zehnte Schuss saß. Damit war ein Vorgang beschrieben worden, der einen ersten Schuss auf die feindliche Rakete beinhaltete, und einen Raster von neun weiteren Schüssen, die unabhängig vom Radar platziert wurden, anhand des Fehlschuss und seines ursprünglichen Ziels. Einer von zehn Schüssen sollte das ECM überlisten. Musste aber nicht. Und das ganze Spiel konnten wir so lange spielen, bis wir die effektive Gefechtsreichweite der Korvette verlassen hatten. Falls das Sturmshuttle nicht ein paar Gefechtsraketen zur Party beisteuerte.
Für uns Jägerpiloten bedeutete dies, nicht nur am Arsch des Mutterschiffs zu bleiben, sondern unsere Abwehr mit der EMERALD und dem Sturmshuttle der Marines, das nun ebenfalls eingriff, zu koordinieren, während wir armen Jägerschweine auch noch auf der Slide-Bremse stehen mussten. Gut, das blieb uns erspart, solange wir dem Sturmshuttle nachjagten. Aber es war abzusehen, dass schon bald mehr als genügend Fische im Wasser waren, die uns zwangen, die Jademutter und das Marines-Shuttle bei der Raketenabwehr zu unterstützen. Ich heftete mich an Liljas Heck und folgte ihr mit einer kurzen Beschleunigungsphase im Kurs der gegnerischen Marines.
Die erste Rakete, potentiell eine atomare Antischiffsrakete, machte sich auf den Weg zur EMERALD. Die Bordschützen und das Sturmshuttle der Jumpin' Devils spannten im Kurs des Marschflugkörpers ein filigranes Netz aus Waffenstrahlen, in der Hoffnung, dass sich die Rakete darin verfing und detonierte. Und zwar bevor sie dem Schiff und damit unserem Ticket nach Hause gefährlich werden konnte.
"Treffer!", gellte eine triumphierende Stimme auf, die ich als die von Yin erkannte. Tatsächlich verging die Rakete laut meiner Anzeige in einer schwachen Detonation, die mir verriet, dass der Gefechtskopf nicht mit explodiert war. "Die nächste ist schon fast da.", sagte Lilja trocken, beinahe kalt und beherrscht, während ihre Partikelwerfer den Schild des gegnerischen Shuttles aufleuchten ließen ob der offensichtlichen Misshandlung. Ich setzte nach, beteiligte mich am Beschuss, mit den Lasern, setzte kurz darauf die Partikelkanonen nach. Die Akarii antworteten mit einem wilden Mix aus Raketen und Lasern.
Lilja und ich setzten Abwehrmaßnahmen aus, wichen ab soweit wir es konnten, ohne das Shuttle aus der Zielerfassung zu verlieren, während die Bogeys der Echsen auf die Täuschkörper herein fielen. Ich grinste dreckig. Bis hierhin war es gut gegangen.
"Noch zehn Sekunden, dann müssen wir zurück.", klang Liljas Stimme auf. "Sie schießen schon die dritte Rakete ab, und ich fürchte, unsere Zivilisten könnten ohne uns in Bedrängnis geraten. Außerdem kommen wir dann langsam in Reichweite ihrer Laserkanonen, die ja jemand nicht hat ausschalten können.", stichelte sie.
"Copy", erwiderte ich und versuchte meiner Stimme einen beleidigten Ton zu geben. Ich war ganz zufrieden hier mit dem Shuttle und unseren Versuchen, es für den Enterversuch in die eisige Umarmung des ewigen Alls zu schicken. Der direkte Kampf mit den Atomraketen bereitete mir schon beim kleinsten Gedanken Schmerzen im Magen und im Gedärm. Verdammte Scheiße, das Trauma hatten die Psychologen im Griff. Aber die Angst an sich wohl eher nicht. Wer keine Angst hatte, war ein Idiot, wollte ein gängiges Sprichwort wissen. In diesem Moment wäre ich liebend gerne ein Idiot gewesen. Liebend gerne.
"Und Nummer zwei!", rief eine Stimme, die ich nur entfernt mit dem Second Lieutenant in Verbindung brachte, der die Marines flog. Zu grell, zu aufgeregt, zu schrill. Zu ängstlich.
"Nummer drei im Anflug! Wo bleiben unsere Jäger?", blaffte Jayhawker, und Wut und Panik mixten sich zu einer bunten Kakophonie alleine in ihrer Stimme.
"Wir drehen ab.", sagte Lilja tonlos, aber ich konnte ihren Ärger spüren, ihre Wut über die verpasste Chance, über die Möglichkeit, wenigstens ein Shuttle auf dieser Mission abzuschießen. Ihrer beachtlichen Bilanz hinzu zu fügen. Auch wenn sie den Abschuss mit mir hätte teilen müssen.
"Roger. Breche nach links weg.", erwiderte ich, wartete auf ihr Go, und zog davon. Da wir das Manöver gleichzeitig ausführten, boten wir für den Akarii kein besonderes Ziel, das sich hervorhob. Er musste sich für eines entscheiden, oder sein Feuer splitten.
Mein Heckschild ging flöten, brach zusammen, bescherte mir eine unfreiwillige Rolle, die mich in einer Atmosphäre zu feinmehligem Staub zerrieben hätte. Ich drehte die Falcon ein und dachte noch daran, dass sich der Echsenbastard tatsächlich für ein Ziel entschieden hatte, und das in wenigen Sekundenbruchteilen. Widerwilliger Respekt für den Gegner stieg in mir auf, den ich nicht abstellen konnte. Nicht einmal, als ein Streifschuss über meine eingedrehte Flanke glitt und meine halbe Maschine aufriss, als ich versucht hatte, den unbeschädigten Seitenschild durch ein Von Bein ins Spiel zu bringen. Ich brach aus, nahm die Gravo-Stöße für dieses Manöver in Kauf und hoffte, dass die brandneue Falcon mehr aushielt als die Übungsmaschinen der Sterntor-Akademie. Wenn nicht, war ich so oder so tot. Doch ich hatte Glück, sprintete aus der Zielerfassung des Gegners, und dann aus seiner Reichweite.
"Mir geht es gut, Jadesohn eins. Danke, das du fragst.", sagte ich ehrlich verstimmt über Funk.
"Wenn du noch fliegen kannst, dann spiele nicht die Mimose, sondern komm her. Wir haben hier mittlerweile die fünfte Rakete im Anflug, und ich fürchte, unsere Frachterbesatzung kriegt mit der Zeit leichte Berechnungsprobleme in der Zielerfassung. Es ist nicht jedermanns Sache, mit Atomraketen beschossen zu werden."
"Ach, wirklich?", fragte ich sarkastisch.
"Stell dich nicht so an. Du hast doch Erfahrung im Thema.", gab sie zurück, in einem freundlichen Ton, der Buschikosität und Kameradschaft vermitteln sollte. Das registrierte ich wohl, aber der Eisklumpen an der Stelle meines Körpers, der einmal mein Magen gewesen war, ließ mir keinen Spielraum für die Wertschätzung ihrer Worte. Nicht den geringsten. "Ich kenne meinen Job.", gab ich mehr als trocken zurück. Ich schwenkte wieder auf die EMERALD ein, überprüfte die Schäden an meiner Falcon anhand der Protokolle, und stellte fest, dass es zum Ballern auf fliegende Ziele noch reichen würde. Ob es aber reichte, dem Frachter bei seinem Schlingerkurs durch das Asteroidenfeld zu helfen, stand auf einem anderen Blatt.
"Ich kenne meinen Job.", zischte ich erneut, zu leise für das Mikrofon, und setzte meine Falcon zwischen Frachter und Akarii-Raketen. In einem Punkt hatte Lilja Recht. Wenn nicht ich, wer sonst hatte dann Erfahrung im Abschießen von Atomraketen? Und mit halbwracken Jägern, die mein Grab werden konnten, kam ich ja auch ziemlich gut klar, ging es mir sarkastisch durch den Kopf.
"Nummer sechs ist im Spiel.", klang die trockene Stimme von Fuchida auf. Immerhin eine Stimme der Beherrschtheit und der Vernunft in diesem Scheiß Spiel.
Beinahe automatisch nahm ich das Sperrfeuer auf, versuchte zu vernichten, was uns zu vernichten drohte, mit zehn Schuss, ein wenig Glück, und ohne das ich es je zu Gesicht bekommen würde.
"Noch elf Minuten, dann haben wir die Maximalreichweite des gegnerischen Treibstoffs erreicht. Dann kann der Mistkerl nur noch ballistische Waffen auf uns feuern, und keine Selbststeuernden.", sagte Lilja mürrisch-zuversichtlich. Ich nickte zustimmend, auch wenn sie das nicht sehen konnte. War der Treibstoff des Hauptantriebs verbraucht, war auch eine Rakete nur noch eine Kugel, und der konnte man aus dem Weg gehen. Es sah allerdings nicht so aus, als würde der Akarii vorher daran denken, wie viel Millionen akariischer Währungseinheiten er gerade an Munition ins Universum verpulverte.
"Das war Nummer vier!", gellte Yangs triumphierendes Heulen auf. Zehneinhalb.
***
Naturgemäß war die EMERALD JADE nach einem Raumgefecht in heller Aufruhr. Der Kampf, die Toten, der Gefechtsstress und noch einige andere Faktoren machten nun unnötig kompliziert, was eigentlich einfach sein sollte. Darum wurden Lilja und ich nacheinander eingeholt. Ich kam zuerst dran, weil meine Maschine beschädigt war. Ausklinken und abschnallen musste ich mich nach dem Andockmanöver freilich selbst. Nach einem kurzen Selbstcheck und der Vergewisserung, dass meine Falcon reichlich lädiert war, ich aber nicht, wechselte ich auf das Frachtdeck, um bei Liljas Anlegemanöver zu helfen.
Nach einem Sieg sah die Situation wirklich nicht gerade aus. Ich sah eine Menge tote Akarii, vier Leichensäcke der Marines, und zwei Mann, die noch vor Ort ambulant versorgt wurden. Ihre geringe Zahl ließ mich vermuten, dass einige gerade beim Doc in der Messe auf dem Metzgertisch gelandet waren.
Mein Blick glitt auf dem Weg auch zu den gefangenen Akarii, obwohl ich dafür jetzt weder Sinn noch Zeit hatte.
Ich traf gerade noch rechtzeitig ein, um beim Andockmanöver eine helfende Hand zu reichen, und kurz darauf konnte ich Liljas Helm entgegen nehmen. "Du siehst besser aus als deine Mühle, Ace.", stellte sie trocken fest und ignorierte meine Hand, die ich ihr helfend gereicht hatte. Ihr Blick ging an meine Beine. Die Oberfläche des Anzugs war verschmort. Das Ergebnis eines Überschlagsblitzes einer durchbrennenden Konsole. Abwehrend winkte ich ab. "Ist nur der Raumanzug. Die Medoeinheit des Anzugs hat keine Verletzungen, geschweige denn Verbrennungen festgestellt. "
"So? Gut. Ich nehme mal an, du wirst mit deiner Falcon nicht so schnell wieder aufsteigen. Auch wenn es mir widerstrebt, aber solange wir Patrouillen fliegen müssen, werden wir uns meine Maschine teilen." Sie ging in den Hangar vor, warf den gefangenen und zum Teil verletzten Soldaten der Akarii einen bösen Blick zu und stieß einen russischen Fluch aus, der ihrer Miene nach der einzige war, der ihr in dieser Situation Erleichterung zu verschaffen schien. Beinahe dachte ich, sie würde zu ihrer Dienstwaffe greifen, und halb bereitete ich mich darauf vor, dazwischen zu gehen. Dann aber wandte sie sich abrupt ab, um sich bei Tremane zu melden.
Die nächsten Stunden würden wir ohnehin nicht raus gehen. Stattdessen nahm die EMERALD JADE die Beine in die Hand, um ins Wurmloch und damit der Heimat endlich wieder näher zu kommen. Zeit, die wir nutzen würden, um bei den Aufräumarbeiten und der Notfallversorgung zu helfen. Mir fiel durchaus auf, dass eines der Seitenschotts nur von dem Notverschluss verriegelt worden war. Da musste ein neues Schott gesetzt werden, und das binnen der nächsten Tage. Ich setzte es auf meine Liste, denn sicherlich gab es nicht allzu viele Leute an Bord, die schon mal verdichteten Schiffsstahl mit Laserschweißer bearbeitet hatten, Frachter hin, Frachter her.
"Kommst du?", fauchte Lilja wütend in meine Richtung. "Kümmere dich weniger um den Echsenabschaum, und mehr um deine eigenen Leute!"
Ich stockte im Schritt. Die Russin hatte mein Zögern vollkommen falsch interpretiert, und mir wurde einmal mehr bewusst, wie viel uns beide doch trennte. Egal, wie viel uns verband, viele grundlegende Dinge erschufen eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns. Eine Erkenntnis, die schmerzte. Eine bittere Erkenntnis. Nicht, dass ich mir wirklich großartige Hoffnungen gemacht hatte, mit Lilja zusammen zu kommen. Nicht, das, ich mir das jemals ernsthaft hätte vorstellen können. Nicht, dass die Idee überhaupt nicht in mir existiert hatte, immer nur dieses Gefühl, dieses Flattern im Bauch, dieses Undefinierbare, das sie für mich so besonders machte. Aber es ging wohl nicht. In keiner Form. Nicht einmal als unerwiderte, einseitige Liebe. Ich seufzte, und folgte ihr nach. Vielleicht wurde es Zeit, wieder vernünftiger zu werden.
***
Die Arbeiten gingen gut voran, und nach wenigen Stunden verkündeten nur noch Blutflecken und Brandflecken an den Wänden davon, was für eine Hölle hier geherrscht haben musste.
Inmitten des Getümmels ging ich zu den Marines herüber, welche die gefangenen Akarii bewachten. "Es ist gut, Private. Ich übernehme hier.", sagte ich zum Anführer. "Gehen Sie Ihrem Platoon helfen."
"Aber Sir, haben Sie..."
Ich klopfte auf meine Pistolentasche und zeigte ihm den Ladezustand meines Magazins. Das beruhigte ihn soweit, dass er nickte, um sich eine bessere Aufgabe abzuholen, als den Hass auf die Echsen in sich rein zu fressen. Die anderen beiden Marines des Kommandos verzogen keine Miene und blieben auf ihren Positionen.
Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und holte ein Päckchen Lucky Strike hervor. Das Ding stammte aus Jayhawkers Beständen und hatte mich in etwa das zehnfache des normalen Verkaufspreises gekostet. Ich bot beiden Marines an, einer verwies darauf, Nichtraucher zu sein. Dann steckte ich mir selbst eine an. Ich hielt die brennende Zigarette einem der Akarii hin und blies den blauen Rauch aus. "Ayet jor.", sagte ich auf Sekurr.
Erstaunt sah der Akarii, ein Corporal, mich an, bevor er die Zigarette ergriff.
"Sir, ich bin nicht sicher, ob wir den Gefangenen..."
"Halten Sie die Klappe, Private. Ich war ein halbes Jahr lang Insasse im Camp Hellmountain. Wenn hier einer Grund hätte, die Akarii zu hassen oder zu traktieren, dann bin ich das wohl."
"Verstanden, Sir."
Ich zog weitere Zigaretten an und offerierte sie den anderen Akarii. Sie waren verbunden worden, hatten allerdings die Beine zusammengeschnürt bekommen und trugen Handschellen. Sie waren bis auf das Unterzeug entkleidet und gefilzt worden. Und sie waren jetzt Gefangene der Terranischen Republik. Ich paffte an meiner Zigarette und begann eine belanglose Plauderei mit dem Corporal, die sich darauf beschränkte, dass der Akarii ja, nein oder vielleicht antwortete. Manchmal schwieg er auch ganz. "Ich bin immer noch nicht sicher..."
"Sie haben diese Männer gefangen genommen, und jetzt haben Sie ihnen gegenüber eine Sorgfaltspflicht.", unterbrach ich den Marine barsch. "Genauer gesagt müssen Sie die Echsen sogar beschützen, vor allem was geschehen mag. Ich zähle hier drei. Und ich hoffe, das tue ich auch noch, wenn wir sie auf Victoria Station übergeben. Alles andere wäre nicht besonders förderlich für Sie, Ihre Kameraden, Ihre Vorgesetzten und Lieutenant McKenna, Private."
Die Drohung war unmissverständlich gewesen. Und ich spürte, dass sie angekommen war. "Wenn Sie meinen, dass wir..."
"Ich meine,", unterbrach ich ihn erneut, "dass wir es hier mit ein paar verärgerten, zu Tode erschrockenen und aufgebrachten Zivilisten zu tun haben, die ohne es zu wollen die volle Härte einer Militäroperation erlebt haben, die für uns Routine ist. Für diese bedauernswerten Ungedienten sind das hier drei Bestien, keine Soldaten einer souveränen Macht in der Gewalt des Marine Corps. Niemand würde es ihnen verdenken, wenn bei einem oder mehreren die Sicherungen durchticken und sie versuchen, die Gefangenen zu töten. Sie sind nicht trainiert, nicht ausgebildet, haben nicht das gesehen, was wir kennen gelernt haben, Private." Ich seufzte und paffte an meiner Lucky Strike. "Wir Soldaten hingegen haben die Ausbildung, die Erfahrung. Wir wissen, wann wir die Waffe heben müssen und wann nicht. Und wir wissen auch, dass drei lebende Akarii-Infanteristen aus dem Draned-Sektor für unsere Schlapphüte ein gefundenes Fressen sind. Wenn sie denn lebend ankommen, und nicht bei Nacht und Nebel von hysterischen Zivilisten aufgeknüpft werden." Ich warf die halbvolle Packung Lucky dem Private zu. "Danke, Sir."
Ich lächelte schmallippig. Das war eine schöne Rede von mir; dennoch war ich nicht gewillt, hier beide Augen zu zu drücken oder die Sicherheit der Gefangenen außen vor zu lassen. Abgesehen davon, dass terranische Soldaten sich besser aufführen sollten als der Gegner - das war meine tiefe, ehrliche Überzeugung - stellten diese drei Soldaten für uns einen bemerkenswerten Fang dar, den es zu erhalten und pflegen gab.
"Die Ablösung, Sir.", sagte der Private, versteckte die Luckies und trat hastig seine Kippe aus.
McKenna war dabei. "Ah, Sie suche ich, Ace. Ich habe gehört, Sie sprechen besseres Sekurr als ich. Commander Tremane will, dass Sie bei den Verhören assistieren."
"Kein Problem. Wenn wir genügend Zigaretten an Bord haben."
Verständnislos sah McKenna mich an. "Zigaretten?"
"Akarii sind verrückt nach Rauchwaren. Wussten Sie das nicht? Es lockert ihre Zungen." Ich lächelte dünn, klopfte dem Lieutenant auf die Schulter, und beschloss, eine schöne lange Dusche zu nehmen, wenn sie denn frei war. Mindestens fünf Minuten.
Auf der Treppe hoch zu den Quartieren fing mich Quicksilver ab. Sie zitterte, und ihr Gesicht war puterrot. "Wie kannst du das machen, Ace? Sie haben Nomad getötet, und Toro ringt da oben mit dem Tod! Und du schenkst ihnen Zigaretten?"
Ich lächelte dünn und drückte mich an ihr vorbei. "Und weil du nicht weißt, warum ich das mache, brauche ich dir darauf nicht zu antworten. Deshalb bin ich ein Soldat, und du nur ein Zivilist."
Sie schleuderte mir einen wüsten Fluch hinterher, fügte ein ärgerliches Kreischen an, und verglich meine direkten Vorfahren mit Caniden. Aber sie folgte mir nicht. Ich registrierte das dankbar. Ich hätte ungern eine hysterische junge Frau niedergeschlagen, die ihren neu erwachten Akarii-Hass auf mich projizierte. Sechs Minuten. Ich würde mindestens sechs Minuten duschen, schwor ich mir. Aber ich bezweifelte, dass ich mich heute noch mal sauber fühlen würde.
Cattaneo
Cattaneo
Die Schlacht im Mond, Teil II
Das Cockpit der Emerald hallte wieder vom Triumphgeheul Jayhawkers, als die beiden Falcons die feindliche Korvette unter vernichtendes Feuer nahmen. Die von den Jägern abgefeuerten Raketen ließen gut ein Dutzend Feuerblüten am Heck der Quebec erblühen, und mehrere der Explosionen trafen nicht nur die Schilde, sondern durchschlugen sie und zerschmolzen oder zerfetzten Panzerplatten. Den Sensoranzeigen war deutlich zu entnehmen, wie schwer der Gegner getroffen worden war. Die Triebwerke des Kriegsschiffes erloschen praktisch schlagartig, und erwachten nur zögerlich und gleichsam todeswund wieder zum Leben. Das Schiff taumelte wie ein Läufer, dem man mitten im Sprint einige Schläge mit einem Baseballschläger verpasst hatte. Das schwache Abwehrfeuer der Akarii schien die terranischen Jäger wenig zu beeindrucken. Die Raumfahrerin registrierte nicht, dass ihr Lieutenant Commander Fuchida einen etwas verdutzten Blick zuwarf – an solche Emotionsausbrüche war der Flottenoffizier offenbar nicht gewöhnt. Vermutlicht wäre es ihr auch egal gewesen, wichtig war nur, dass der Schweinehund, der IHRE Emerald bedrohte, mit dem Arsch auf Grundeis ging, wie man so lyrisch sagte. Allerdings beruhigte sich die Kapitänin sofort wieder, denn ihr war klar, dass ihre Probleme noch lange nicht vorbei waren: „Yin, Yang – Feuerwechsel! Haltet mir dieses beschissene Shuttle vom Leib!“ Sie öffnete einen Verbindung zu den Falcons: „Gut geschossen, ich schulde euch was. Jetzt schwingt euren Arsch hierher und helft uns, schnell!“ Die Aufregung des Kampfes zehrte eben doch etwas am Zivilisationslack, mit dem Jayhawker normalerweise ihre Gesprächspartner einwickelte.
Fuchida beugte sich mit angespannter Miene nach vorne und überprüfte die Anzeigen. Selbst jetzt bewahrte er noch Gelassenheit: „Ich glaube nicht, dass die Jäger uns schnell genug erreichen. Wenn Ihre Kanoniere das Foxtrott nicht treffen, werden wir…“
In diesem Augenblick, gerade als sich das Feuer der Kanonen der Emerald von der Korvette auf das Shuttle zu verlagern begann, bewies der feindliche Pilot, dass er sein Handwerk verstand. Er ließ seine Maschine absacken, brachte sich damit „unter“ den Frachter, wo er nur von einer Kanone beschossen werden konnte. Obwohl die Emerald inzwischen in Richtung Asteroidenfeld davonjagte, hielt er mühelos mit. Zweifellos kannte er das Asteroidenfeld weniger gut, doch er wich dank seiner überlegenen Militärsensoren relativ leicht allen bedrohlichen Gesteinsbrocken aus und kam unablässig näher. Jayhawker ließ ihr Schiff rotieren, um ihren Rückenturm ins Spiel zu bringen, oder schlug Haken, die den Feind vor die Wahl stellten, zeitraubende Ausweichmanöver zu fliegen oder seinen Bugschild einer Wolke von kleinen und kleinsten Asteroiden auszusetzen. Doch das feindliche Shuttle glich die Manöver mühelos aus, ohne wirklich langsamer zu werden. Einzelne Treffer der Bauchkanone der Emerald lagen im Ziel, waren aber offenbar nicht stark genug, um die Schilde oder gar die Panzerung des Sturmschiffs zu durchschlagen.
Kapitän Jayhawker schien ihren Jubel von vor wenigen Augenblicken schon wieder vergessen zu haben: „Verdammt, tun diese beschissenen Marines denn überhaupt was für ihren Sold! Jadetochter Zwei, wo seid ihr Scheißer!“ wütete sie. Das galt dem TSN-Sturmshuttle, von dem sie offenbar die Qualitäten eines Abfangjägers erwartete. Doch dort schien man ihre Verwünschungen nicht wahrzunehmen. Ursprünglich war das Shuttle dafür gedacht gewesen, um etwas zusätzliche Abwehrfeuerkraft gegen feindlichen Raketenbeschuss bereitzustellen, und dafür waren auch seine Raketen gedacht. Doch Jayhawker hatte erwartet, diese dämlichen Terries wären so weitsichtig, um wenigstens ihre Laserkanonen gegen das Akariishuttle einzusetzen. Nicht unbedingt um es zu vernichten – es zu verscheuchen würde ja schon reichen. Aber Fehlanzeige! In Gedanken legte sie sich einige Worte zurecht, die sie diesen Typen sagen würde, wenn sie alle das hier überlebten. Die Falcons wussten offenbar weitaus eher, worauf es kam, sie kamen jedoch einfach nicht schnell genug näher, vor allem weil die Bordgeschütze und der Raketenwerfer des Foxtrott sie gezielt ins Visier nahmen. Die Jäger mussten mehrfach ausweichen und Abwehrmaßnahmen auslösen. Vor allem Jadesohn Eins schien zwar auf sich selbst wenig Rücksicht zu nehmen, doch es war abzusehen, dass auch Lilja nicht mehr rechtzeitig in Feuerposition gelangen würde, vor allem weil die Jäger inzwischen keine Raketen mehr hatten.
Die Emerald und ihr wesentlich kleinerer Verfolger führten dieweil einen grotesken Tanz auf, voller Pirouetten, Haken und noch exotischeren Manövern, doch das gegnerische Shuttle war einfach wesentlich schneller und wendiger. Der Abstand schwand immer mehr, jeder verlorenen Kilometer wie ein Nadel-, ein Dolchstich für die Kapitänin der Emerald. Gleich…gleich…verdammt!
Mit einer eleganten Korkenzieherbewegung setzte sich der Angreifer – wenige Sekunden, bevor die Falcons ihr Feuer auf ihn konzentrierten konnten – an der Flanke der Emerald fest. Selbst im Cockpit waren die Erschütterungen zu spüren, mit denen die magnetischen Greifhaken ihr Ziel trafen. Jayhawker wirbelte zu Fuchida herum: „Sie kommen rein, mittleres Schott!“
Sie registrierte, dass der Flottenoffizier seine Laserpistole überprüfte: „McKenna – Angriffsbefehl freigegeben nach eigenem Ermessen!“ Mit diesen Worten sprang der Kommunikationsoffizier auf und nahm neben dem Schott zum Cockpit Position. Die Waffe in seiner Hand zitterte nicht einmal einen Millimeter. Wenn die Akarii den Korridor auf dem Rücken des Frachters betraten, dann würde er den Kommandostand verteidigen – und wahrscheinlich dabei sterben. Mit einem fast schluchzenden Fauchen stellte die Kapitänin die Steuerung ihres Schiffes auf Automatik ein und kniete sich neben den Flottenoffizier an die Tür. Ihre Augen brannten vor Schweiß oder Tränen, während sie die Ladeanzeige und die Feuereinstellung ihrer eigenen Pistole prüfte. Jetzt konnte sie nichts mehr tun, bis die Invasoren siegreich oder geschlagen waren…
***
Der Laderaum der Emerald Jade lag scheinbar ausgestorben da. Die Lampen waren noch in Betrieb – die Beleuchtung war zwar ohnehin nicht die beste, aber es hätte nichts gebracht, zu verdunkeln. Die Angreifer hatten mit Sicherheit im Gegensatz zu einigen Verteidigern in ihre Helme integrierte Sichtgeräte, die es ihnen auch in vollkommener Dunkelheit erlaubten, ihre Ziele auszumachen. Allerdings würde es nicht leicht sein, den Überblick zu bewahren. Zahlreiche Frachtpaletten ergaben ein ziemlich unübersichtliches Labyrinth, das jeden Uneingeweihten verunsichern musste. Nicht, dass dies gegen Berufssoldaten wie die kaiserlichen Marines viel helfen würde. Doch es gab einige Dinge, von denen die Angreifer nichts ahnten. Zum einen war der ganze Frachtraum verwanzt. Das war er insgeheim schon von Anfang an gewesen, doch Tremane und Falkner hatten dieses unbedeutende Detail für sich behalten und stattdessen verkündet, sie hätten erst jetzt Kameras installiert, auf die die Marines Zugriff bekommen würden. Damit würden die Verteidiger einen deutlichen Informationsvorteil haben. Zudem wusste die Akarii natürlich nicht, dass auf sie 16 ausgebildete „Kollegen“ stoßen würden, ergänzt von rund einem halbes Dutzend Freiwillige. Sie rechneten vermutlich mit nicht mehr als einer zivilen Crew, vielleicht einigen TSN-Flottensoldaten. Ein potentiell tödlicher Irrtum.
Quicksilver überprüfte zum vermutlich zehnten oder zwölften Mal ihre Waffe, etwa ob sie diese auch wirklich entsichert hatte. Sie fühlte sich reichlich unbehaglich in ihrem Schutzanzug, mit einer überschweren Pistole in der Hand. Neben ihr kauerten zwei weitere Besatzungsmitglieder der Emerald. Die Crew hatte sich – ganz den Direktiven ihrer Kapitänin folgend – dafür entschieden, den Marines die zweifelhafte Ehre des Kampfes in vorderster Linie zu überlassen. Stattdessen würden die Raumfahrer sich an den Einstiegsluken zum Wohn- und Kommando/Antriebsbereich postieren. Von dort würden sie die Soldaten mit ihrem Feuer unterstützen. Sie und ihre zwei Kameraden hatten sich im Heck postiert, nahe dem Treppenaufgang und dem Wartungslift zum Maschinenraum. Wenn sie schon kämpfen musste, dann wollte sie zum Beispiel Ghost beschützen. Und der Maschinenraum war für ihre Flucht aus diesem System von entscheidender Bedeutung. Blieb nur zu hoffen, dass die Akarii nicht doch versuchten, gleich direkt an der Rückensektion anzudocken. Das war wesentlich schwieriger, denn das andockende Shuttle musste Punktarbeit leisten und setzte sich zudem dem Beschuss durch den Rückenturm aus. Aber es war auch wesentlich klüger, denn von dort hatte man es nicht weit bis zu den Nervenzentren des Schiffes, und musste sich nicht deckungslos Treppen hinaufkämpfen. Aber um das zu wissen, hätten die Akarii genaue Kenntnisse von den Bauplänen der Merkur-X haben müssen. Und so etwas wie Respekt vor den Fähigkeiten ihrer Gegner. Beides war glücklicherweise unwahrscheinlich.
Die junge Raumfahrerin spürte, dass Jayhawker die Emerald in einen wahren Wahnsinnsritt vorantreiben musste. Selbst mit eingeschaltetem Trägheitsdämpfer fielen ihr die leichten Druckunterschiede auf, die die Ausweichmanöver verursachten. Es war nicht gerade wie eine Fahrt mit einer Achterbahn, aber wenn man wusste, worauf man zu achten hatte, konnte man es recht gut spüren. Es war etwas beunruhigend, dass man nicht wirklich SAH, was vor sich ging, aber als geborene Spacerin war Quicksilver an das Leben in einer Konservendose gewöhnt. Was sie wesentlich nervöser machte war der Gedanke daran, was der Grund für diese Ausweichmanöver seien mochte…
Der dumpfe Aufprall ging ihr von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Natürlich wusste sie, wie es sich anhörte, wenn ein Shuttle andockte. Doch das war bisher eben immer etwas anderes gewesen. Mit zitternden Händen hob sie ihre Waffe und robbte etwas näher zur Luke. Diese war leicht geöffnet, und würde auf einen Knopfdruck hin weit aufspringen. Die Emerald sah zwar vollkommen vergammelt aus, aber wichtige Teile – wie etwa die Schotts, die im Ernstfall, zum Beispiel bei einem Hüllenbruch, binnen Sekunden funktionieren mussten – wurden stets so einsatzbereit wie möglich gehalten.
Quicksilver vertiefte sich für einen Moment in die Betrachtung des Fußbodens, der sich nur einen Fuß von ihren Augen entfernt befand. Sie hatte gar nicht realisiert, wie viele Spuren die Jahre in den Metallboden hinterlassen hatten. Unzählige Stiefel und die Räder von kleinen Transportkarren hatten komplexe Muster in das Metall gekratzt, fast wie die Lebensringe im Stamm eines Baums. Sie fühlte ein Kratzen im Hals, als sie daran dachte, wie lange dieses Schiff nun eigentlich schon ihre Heimat war, und dass sie es jetzt vielleicht verlieren würde – oder ihr Leben. Sie fragte sich, ob ihre Kameraden – deren Gesichter ebenso von Helmen verborgen wurden wie ihr eigenes – ebenso schwitzten und vor Anspannung Grimassen schnitten wie sie. Vermutlich.
Auf einem kleinen Sichtschirm im Inneren ihres Helmes – das normalerweise dazu diente, technische Detailzeichnungen und ähnliches einzublenden – konnte sie erkennen, was im Laderaum vor sich ging. Auf der schematischen Zeichnung der Emerald leuchtete mittschiffs, auf Höhe des Laderaums ein roter Punkt. Dort hatte das feindliche Shuttle angedockt. An einem Schott, und im „Erdgeschoss“ – was gut war. Die Akarii würden sich nicht direkt durch die Bordwand schneiden. Das hätte ihnen erlaubt, an so ziemlich jedem Ende des Frachters aufzutauchen – und hätte im Fall, dass sie geschlagen wurden und fliehen müssen, zu erheblichen Problemen führen können. Ein Loch in der Hülle war eben keine Kleinigkeit.
Die Stimme McKennas klang direkt aufgeräumt: „Abfangformation Delta Drei! Achtung, sie kommen. Feuereröffnung erst auf meinen Befehl. Semper fi!“ Unten huschten einige Marines aus ihren Verstecken und nahmen neue Positionen ein. Sie beeilten sich – wenn der Gegner das Schiff betrat, mussten sie wieder in Deckung und absolut regungslos sein.
Quicksilver unterdrückte mühsam ein verächtliches Schnauben, als sie McKennas Worte hörte. Dieser kranke Typ konnte offenbar nicht erwarten, dass es losging. Aber vermutlich hatte er bisher bei dieser Mission keine Pluspunkte auf seinem privaten Ego- und Beförderungskonto sammeln können. Dämliche Terries…
Unten flammte auf einmal blendendes Licht auf, das sogar durch die leicht geöffnete Luke blendete. Zugleich fauchten Waffen los, brüllten Explosionen. Im letzten Moment hielt sich Quicksilver davon ab, wie ein kleines Kind loszuschreien, oder in Panik ihre Waffe abzufeuern. Auf dem Kamerabildschirm sah sie, was unten vor sich ging. Die Akarii hatten das Schott geöffnet. Bevor sie den Laderaum betraten, gaben sie Sperrfeuer und warfen einige Blend- und Druckgranaten. Frachtpaletten zerplatzten und verteilten ihren Inhalt über Wände und Fracht. Mindestens ein unten gelagerter Leichnam aus der Rettungskapsel der Mary C wurde gleich noch einmal getötet und zuckte makaber, als wäre das Leben für einen Moment in ihn zurückgekehrt, nur um ihn sofort wieder zu verlassen. Für einen Moment hatte die junge Raumfahrerin ein Bild von sich selbst vor Augen, genauso zuckend, durchbohrt von einem Feuerstoß aus einem Akarii-Laser. Doch dann verbannte sie diesen Alpdruck wieder. Hier ging es um ihr Zuhause, und keine verdammte Echse würde ihr das wegnehmen! Aus den Augenwinkeln nahm sie eine schemenhafte Bewegung auf dem Kamerabildschirm wahr, direkt bei dem Einstiegsschott – die Feinde kamen!
Obwohl die Akarii vermutlich keinen schweren Widerstand erwarteten, blieben sie vorsichtig. Einige sicherten den Einstiegsbereich, der Rest teilte sich und rückte in Richtung Bug und Heck vor, um Brücke und Maschinenraum zu sichern. Ihre behelmten Köpfe wanderten dabei unablässig von einer Seite zur anderen, ihre Waffen peilten ein mögliches Ziel nach dem anderen an. Sie bewegten sich aufgelockert, um Granaten oder Feuerstößen kein Gruppenziel zu bieten. Das hier waren Profis, keine Piraten oder schlecht ausgebildete Söldner.
Mit wachsender Panik beobachtete Quicksilver, wie die Gegner immer weiter vorrückten. Das für den Maschinenraum abgestellte Kommando schien es auf den Wartungslift abgesehen zu haben. Warum reagierten die Terries nicht endlich? Der Gegner musste sie doch entdecken, misstrauisch werden! Was, wenn die Akarii noch näher kämen, würden sie dann nicht die Feuerstellungen, die halboffenen Schotts sehen MÜSSEN. Was wenn…?!
Und während die junge Raumfahrerin noch voller unterdrückter Panik mit sich rang, ob sie eigenmächtig das Feuer eröffnen sollte, gellte der Angriffsbefehl McKennas durch die Funkkanäle: „FEUER FREI!“ Für einen Augenblick schien sich die Realität zu dehnen, Augenblicke wie Stunden dahin zu kriechen. Für einen endlosen Atemzug schien alles wie erstarrt – dann brach unten die Hölle los.
Die republikanischen Marines eröffneten das Feuer mit tödlicher Präzision. Mehrere Akarii wurden sofort getroffen, brachen zusammen, ohne mehr ausrichten zu können als ein letztes reflexartiges Krümmen des Fingers, einen blinden Schuss, der nichts mehr traf. Andere reagierten rechtzeitig, ausgebildet für genau diese Art von Situation. Sie warfen sich in Deckung, überschütteten die menschlichen Stellungen mit Feuer, warfen oder schossen blind Granaten, um den Gegner in Deckung zu zwingen.
Quicksilver, die eben noch den ersten Schuss beinahe herbeigesehnt hatte, war zunächst wie erstarrt – doch als sie sah, wie Wrecker ihre Pistole in Anschlag brachte und feuerte, rollte sie sich selbst zur nun weit offenen Luke. Sie stemmte sich auf die Knie hoch, nahm aber nicht wirklich bewusst wahr, was da unten vor sich ging. Laserbahnen kreuzten sich, Geschrei, Rauch, Flammen, zerplatzende Fracht – das vollkommene Chaos. Nur schemenhaft konnte sie die geduckten Gestalten in den fremdartigen Gefechtspanzern erkennen, die zwischen den Frachtstapeln Deckung suchten und unablässig feuerten. Ohne groß zu zielen hob sie ihre Waffe und feuerte, ungeachtet dessen, dass jeder Schuss einen schmerzhaften Schock durch ihre Hände jagte. Als die Waffe mit mehrmaligen Klicken kundtat, das ihr Magazin leer, lud sie mit zitternden Fingern nach und schaffte es beim dritten Versuch, durchzuladen. Dann schoss sie weiter. Eine Energiesalve aus einem Lasergewehr schlug neben ihr ein, und mikroskopisch kleine Spritzer geschmolzenes Metall flogen wie Schrapnelle durch die Luft. Quicksilver fühlte einen Hieb, als hätte jemand mit einem Hammer auf ihren Helm eingeschlagen, und das verstärkte Glas wurde milchig, als es einen Einschlag absorbierte. Für einen Moment war sie blind, und ohne lange zu überlegen riss sie sich den Helm herunter. Ihr war gar nicht klar, dass sie brüllte, während sie weiterfeuerte, inzwischen mit dem dritten Magazin. Vor ihren Augen brach ein weiterer Akarii in die Knie, Salven aus militärischen und zivilen Laserwaffen zerlegten seine provisorische Deckung. Doch noch feuerte er, obwohl schon mehrfach getroffen. Mühsam richtete Quicksilver ihre Waffe auf das Ziel, und ihr war so, als ob ihr Gegner sie direkt anschauen würde, als ob seine unablässig feuernde Waffe in ihre Richtung herumschwenkte. Die Pistole in ihrer Hand schien einen Zentner zu wiegen, doch schließlich wanderte das Visier über das Ziel und sie drückte dreimal ab. Zwei Schüsse gingen daneben – der dritte durchlöcherte dem Imperialen den Brustkorb.
Irgendetwas wie eine glühende Spinnenwebe schien ihr über das nun schutzlose Gesicht zu tasten, und als sie reflexartig danach fühlte, hatte sie Blut und verbrannte Haut auf ihren Finger. Mit einer Mischung aus Entsetzen und ungläubigem Erstaunen tastete sie über ihr Antlitz, und spürte auf der Wange eine mehrere Zentimeter breite Brandwunde. Erst jetzt nahm sie den Schmerz wahr.
Sie rollte sich zur Seite ab, versuchte dann wieder hochzukommen, um weiterzufeuern. Erst jetzt nahm sie die Schreie Wreckers wahr. Ihre Kameradin schüttelte Nomad, den dritten Emerald-Schützen in dieser Stellung. Sein leichter Jagdkarabiner lag neben ihm, und er regte sich nicht mehr. Quicksilver packte zu und zerrte ihren Kameraden von der Luke weg. Der Körper fühlte sich viel zu schwer, zu schlaff, zu…leblos an. Ihre Stimme überschlug sich „Doc!“
Dann wurde ihr klar, dass Dr. Eriksen jetzt wohl kaum kommen würde. Über Funk gelten mindestens noch drei, vier andere Stimmen, die nach Hilfe schrieen. Dazu kam eine Kakophonie von Flüchen und Verwünschungen, irgendjemand brüllte mit wortlosen Lauten, in denen aller Schmerz des Universums zu liegen schien, bevor die Funkverbindung in unheilvollem Schweigen endete.
„Quicksilver – du bist doch unser Sani! Hilf ihm, verdammt!“ Wreckers Hände krallten sich geradezu in die Schulter der Kameradin, die sie wütend schüttelte. Quicksiler wollte protestieren – sie war nicht wirklich eine Medizinerin, doch dann fasste sie sich wieder. Es war ja nicht die erste Kampfverletzung, die sie zu behandeln hatte: „O. K., verriegle die Luke, und halt ihn fest – hoffentlich ist er bewusstlos…“ Mit diesen Worten zog sie ein Medpack heraus und drehte Nomand herum.
Im nächsten Augenblick wandte sie sich mit einem Würgen ab, ließ den Körper mit geradezu panischer Angst fallen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob der gellende Schrei aus ihrer Kehle kam, oder ob Wrecker ihn ausgestoßen hatte. Vielleicht hatten sie beide geschrieen, denn was sie sahen, war zu entsetzlich. Von dem Gesicht ihres Kameraden war nicht mehr viel übrig. Eine Salve aus einem feindlichen Lasergewehr – vielleicht aus dem des Marines, den sie erschossen hatte – hatte Angelo Matteoli mitten ins Gesicht getroffen. Die Frontseite seines leichten Schutzhelms war mit den Resten seines Gesichts zu einer einzigen verkohlten Masse verbrannt worden. Was da vor ihr lag, hatte mit einem menschlichen Antlitz nicht mehr viel Ähnlichkeit. Sie spürte wie ihr Mageninhalt hochkam, und erst im letzten Moment konnte sie den Brechreiz zurückdrängen.
Nur am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie, dass der Kampflärm kurzzeitig noch einmal zunahm, doch dann binnen weniger Sekunden verebbte. Die Stimme McKennas jedoch nahm sie sehr wohl wahr: „Der Gegner zieht sich zurück! Sie fliehen…! Auf Dekompression vorbereiten!“
Irgendwo unter ihr gab es eine dumpfe Explosion, und dann war es, als würde irgendetwas an der Luke zerren – im Laderaum fiel der Druck rapide ab, als die Luft durch den offenen Schott hinausströmte. Doch obwohl sie das Siegesgeheul über Funk hörte, fühlte sie nicht die geringste Freude.
Im Cockpit sprang Jayhawker auf. Sie versagte es sich daran zu denken, wer von ihrer Crew verletzt oder vielleicht tot war – darum musste man sich später kümmern. Zuerst musste sie…ihre Finger huschten über die Kontrollen, dann hatte sie die Notverriegelung des Zugangsschotts aktiviert. Ihre Stimme überschlug sich geradezu, als sie über Interkom und externen Funk brüllte: „Festhalten! Wir setzen uns ab – Kanoniere, Shuttle und Jäger, ich will, dass diese Akariischweine in dem Foxtrott sterben!“ Heil hier herauszukommen war ihr zwar am wichtigsten, doch wenn die Kerle verdampft wurden, die es gewagt hatten, ihr Zuhause anzugreifen, dann wäre das gewiss ein Grund zu Freude. Fairness oder Achtung gegenüber Feinden war nicht gerade eine von Jayhawkers Tugenden. Es machte doch am meisten Spaß, einem Gegner zwischen die Beine zu treten, wenn er schon am Boden lag…
Zugleich aber war sie sich klar, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren. Der Akarii war zwar nicht mehr in der Lage, ihnen zu folgen, seine Geschütze würden sie kaum noch erreichen können, seine Entertruppen waren Geschichte. Das hieß aber, dass er immer noch EINE Option hatte…
Und da kam es schon. Fuchida, der mit einer routinierten Bewegung seine Pistole weggesteckt hatte und wieder seinen Platz an der Kommunikationskonsole eingenommen hatte, meldete sich mit ruhiger Stimme: „Primärwaffenerfassung von Rot Eins…Abschuss Atomrakete! Einschlag…sechs Sekunden!“ Jayhawker fluchte unflätig: „Kanoniere, alle – Feuerwechsel! Auf die feindlichen Raketen!“ Jetzt war es ein Wettrennen und –schießen. Wenn sie lange genug den feindlichen Marschflugkörpern entgehen konnten, waren sie gerettet. Wenn nicht…nun, dann würde wohl weder für Schmerz noch für die Erkenntnis ihres Scheitern Zeit bleiben. Der Flottenoffizier wusste das natürlich auch: „Kapitän – ich gebe Ihnen Kursangaben. Wenn wir einige Asteroiden zwischen uns und den Feind bringen können…“
Jayhawker nickte knapp. Den Anweisungen Fuchidas folgend steuerte sie ihr Schiff ein letztes Mal durch den Asteroidengürtel. Sie blendete alles andere aus – die Stimmen über das Interkom, die Kommentare der Shuttle- und Jägerpiloten. Und die innere Stimme, die sie daran erinnerte, dass sie ein Gutteil Schuld daran hatte, dass die Emerald Jade beinahe zum Opfer des Krieges geworden war, oder sogar noch werden konnte. Eines Krieges der sie nichts anging. Im Moment ging es nur um eines, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen. Knapp eine halbe Stunde später waren sie in Sicherheit.
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Eine Stunde nach dem Gefecht, Emerald Jade, auf der Flucht aus dem System
Quicksilver bewegte sich, als würde sie träumen. Sie nahm den stechenden Gestank nach Exkrementen, Blut, verschmorten Fleisch und Rauch, gegen den die Luftfilterungs- und Umwälzungsanlage vergeblich ankämpfte, nicht mehr richtig wahr. Seit dem Ende des Gefechtes hatte sie unablässig gearbeitet. Es war wohl weniger die physische Anstrengung – daran war sie gewöhnt – die sie gleichsam in Trance versetzte. Aber etwas wie das hier hatte sie in ihrem ganzen Leben nicht zu sehen bekommen, und sie hoffte aufrichtig, das würde sie auch nie wieder. Vielleicht war es auch einfach eine automatische Schutzvorrichtung ihres Körpers, die sie alles wie durch eine milchige Glasscheibe betrachten ließ, so als wäre alles irgendwie gefiltert. Sie hatte nicht mal richtig wahrgenommen, dass die Emerald noch fast eine halbe Stunde nach der Flucht der feindlichen Marines unter Beschuss gestanden hatte. Im Weltraum war ja nicht viel zu hören, und eine ferne Atomexplosion verursachte nicht viel mehr Erschütterungen als ein abruptes Flugmanöver. Sie hatte nicht auf die Funksprüche geachtet, zu überwältigend war die Szenerie um sie herum. Stattdessen hatte sie bei der Versorgung von Verwundeten geholfen und im Laderaum Brände gelöscht. Die Emerald – Laderaum, Treppen, Flur, Messe und Krankenstation – sah inzwischen nicht nur wie ein Schlachtfeld, sondern eher wie ein Schlachthaus aus. Überall war Blut, Ruß, die Einschlagspuren von Energie- und Projektilwaffen, Trümmerteile. Fünf terranische Marines waren gefallen, sechs zum Teil schwer verwundet worden. Die Jumpin Devils hatten bitter für ihren Sieg bezahlt. Die Akarii hatten sich überraschend gut verkauft. Zum Teil war es wohl auch einfach Pech gewesen – eine feindliche Unterlaufgranate war vermutlich aus schierem Pech mitten in eine Feuerstellung eingeschlagen und hatte zwei Mann zerfetzt, eine Marinesoldatin war wie eine Puppe gegen die Bordwand geschleudert worden und hatte schwere Quetschungen, Rippenbrüche und eine Verletzung der Wirbelsäule davongetragen. Doch das war nicht das Schlimmste. Quicksilver teilte nicht gerade die teilweise aggressive Abneigung gegenüber den Terries, die viele ihrer Kameraden an den Tag legten. Aber die Marines waren eben nur „Bilgengäste“, Gesichter, die man vielleicht ein paar Mal gesehen hatte. Hinter den Bildern und Namen standen keine besonderen Gefühle, nichts, was einem mit dem Menschen verband. Bei ihren Crewkameraden war das anders. Nomads Tod war ein Schmerz wie ein Schnitt mit einem glühenden Messer. Sie kannte den Weltraumgeborenen – hatte ihn gekannt – seit anderthalb Jahren. Man konnte nicht so lange mit jemanden auf recht beengten Raum leben, ohne dass er zu einem Teil des eigenen Lebens wurde, mit Marotten, nervigen Angewohnheiten, dummen Sprüchen – aber auch verbunden mit schönen Erinnerungen. Und jetzt war er weg, und vielleicht würde sie künftig immer auch an diese verschmorte Masse an Stelle seines Gesichts denken, wenn sie sich versuchte an ihn zu erinnern. Außerdem war er nicht der einzige Verlust. Toro war schwer verwundet worden, und Dr. Eriksen – die dem Zusammenbruch fast näher schien als Quicksilver und als mancher leichtverletzte Soldat – operierte ihn noch. Es war unklar, ob er durchkommen würde. Damit war jeder fünfte von Quicksilvers eigentlicher „Familie“ tot oder schwer verwundet. Die Emerald, die bisher ein sicheres Zuhause gewesen war, schien mit einmal vollkommen verwandelt, als hätte sich die sicheren Mauern um ihr Heim als bloße Papierschirme erwiesen, die die brutale Realität nur verdecken, aber nicht draußen halten konnten. Ihre eigene Verletzung spielte dabei keine Rolle, das war nicht mehr als ein Kratzer.
Die Akarii hatten natürlich noch weitaus teurer bezahlen müssen. Zwar war ihr Shuttle – wenn auch ziemlich angeschlagen – entkommen. Aber nur Reste ihrer Angriffstruppen hatten sich retten können. Neun Akarii waren im Gefecht getötet worden, vier waren verletzt zurückgeblieben. Einer von der Verwundeten war vor Quicksilvers Augen verblutet. Niemand beeilte sich sonderlich, den besiegten Gegnern zu helfen, vor allem, solange noch nicht alle eigenen Verwundete versorgt und noch immer Schwelbrände zu bekämpfen waren. Oder solange es überhaupt unklar blieb, ob man dem Raketenbeschuss der Akarii entkommen würde. Erst spät hatten sich einige Marines dazu herabgelassen, die Gefangenen zu verarzten. Keiner von der Emerald-Crew hatte dabei Hand anlegen wollen. Sie waren Zivilisten, und die Vorstellung, denen zu helfen, die noch eben versucht hatten, sie umzubringen und die ihre Kameraden getötet oder verletzt hatten, erschien ihnen ziemlich grotesk – selbst Quicksilver, die eigentlich ein freundlicher Charakter war.
Für einige war sogar das fast noch zuviel. Als Lilja andockte, kurz nachdem die Emerald die Feuerreichweite des Quebecs verlassen hatte, überzeugte sie sich zunächst, dass es ihrem Wingman gut ging. Dann ließ sie sich informieren, wie hoch die eigenen Verluste waren. Offenbar war sie ziemlich verstimmt, dass weder die Korvette noch das Shuttle des Gegners zerstört worden waren. Was vermutlich nicht nur an der pilotentypischen Fixierung auf eigene Abschüsse lag. Jedenfalls hatte sie, nachdem sie gründlich die gegnerischen Shuttlepiloten und den Kapitän der Korvette verflucht hatte – möglicherweise nicht wirklich im Scherz – vorgeschlagen, die Akarii als Piraten kurzerhand „über die Planke zu schicken“. Der Hass, der bei diesen Worten im narbigen Gesicht der Russin brannte, war wohl weit mehr als normale Feindschaft zum Gegner im Krieg. Jedenfalls starrten nicht einmal die Marines die Gefangenen auf diese Art und Weise an. Vielleicht, dachte sich Quicksilver, hatte sie selbst so ähnlich gefühlt, als sie begriffen hatte, was die Echsen Nomad angetan hatten. Aber anders als die Russin war sie wohl einfach zu müde, um ihren Hass offen zu zeigen. Oder der Hass saß noch nicht tief genug, war noch ungewohnt und neu für sie. Immerhin…es hatte einen Augenblick gegeben, an den sie sich nur mit Unbehagen erinnerte. Als sie ein weiteres Mal durch den Laderaum gewankt war, die Lungen voller Rauch und all das ganze Blut vor den Augen, war ihr Blick eher durch Zufall auf die verletzten Echsen gefallen. In dieser Sekunde hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn sie einfach die Pistole gezogen und sie erschossen hätte. Was sie etwas erschreckt hatte – im Nachhinein – war der Umstand, dass sie nicht einmal so etwas wie Entsetzen oder Widerwillen bei diesem Gedanken gefühlt hatte. Sie hatte sich einfach gefragt, wie das wohl wäre. Aber es war ebenso schnell vorbeigegangen.
Blieb die Frage, ob das bei solchen Leuten wie Lilja auch so war, oder ob solche Gedanken, vielleicht auch Taten, nicht einfach inzwischen Teil ihres Wesens waren.
Die Russin hatte schließlich einem der toten Akarii einen wütenden Fußtritt verpasst und den bewachenden Marines noch einmal eingeschärft, bei einem falschen Blinzen die Gefangenen zu erschießen. Dann hatte sie unter Übergehung des immer noch sehr beschäftigten McKenna angeordnet, die Echsen in einem unbelegten Quartier einzusperren und unter Kameraüberwachung zu halten. Einen verbalen Protest von PFC Nakato von wegen des Fehlens einer Anweisung des Marines-Kommandeurs hatte sie grob unter Verweis auf ihren deutlich überlegenen Rang untergepflügt. Dann war sie nach „oben“ verschwunden. Wenige Minuten später tauchte Jayhawker im Frachtraum auf. Die Russin hatte sie offenbar im Cockpit abgelöst, um ihr Zeit zu geben, mit der Crew zu sprechen. Man wurde aus der Frau einfach nicht klug. Mal war sie freundlich, mitfühlend, sogar großzügig – dann wieder harsch, rücksichtslos, ja grausam. Nun, dafür war sie eben eine Terry. Die Kapitänin der Emerald wirkte selbst ziemlich angeschlagen – psychisch, nicht physisch – aber sie hielt sich aufrecht. Sie ging von einem zum anderen, sprach mit den Crewmitgliedern, fasste auch selbst mit an, obwohl ihr die Erschöpfung anzusehen war. Für jeden ihrer Untergebenen hatte sie die richtigen Worte. Das war es auch, was sie überhaupt für ihren Posten qualifizierte. In Quicksilvers Fall nahm die Kapitänin die jüngere Frau einfach wortlos in die Arme und hielt sie eine Weile fest, in einer geteilten Geste stummer Trauer. Quicksilver spürte, wie der Körper der Kapitänin leicht zitterte, so als würde sie lautlos weinen, oder dies nur mit Mühe unterdrücken. Vielleicht fand Jayhawker in dieser Geste ebensoviel oder sogar mehr Trost wie ihre Untergebene. Die junge Raumfahrerin wunderte sich, dass sie selber nicht weinte. Sie war ja eigentlich nicht SO dicht neben dem Wasser gebaut, aber angesichts all dieses Elends wären ein paar Tränen doch sicher nicht falsch gewesen. Aber vielleicht war sie auch für Trauer einfach zu müde. Vielleicht kam die noch später. Hoffentlich.
Nana Kypreos machte sich mit einem dankbaren Lächeln von ihrer Kapitänin los und wankte weiter, auf der Suche nach einer Arbeit, bei der sie helfen konnte – nur um nicht daran zu denken, was der Krieg aus ihrem scheinbar sicheren Heim gemacht hatte.
Nicht jeder war so leicht zu erschüttern. Andrew Tremane war schon kurz nach dem Gefecht dabei, sich über Kosten und Nutzen Rechenschaft abzulegen. Für ihn jedenfalls war der Sieg in diesem kleinen Gefecht zugleich eine Niederlage, doch er behielt trotz aller Verluste und überstandenen Risiken einen klaren Kopf. Es war von Vorteil, wenn man wie er alles objektiv, rational betrachten zu können. Natürlich, die Proben – sowohl die biologischen als auch die Trümmerteile und die Aufnahmen von der Aufnahme des Mondes – waren gerettet worden. Noch besser – keiner seiner Untergebenen kannte alle Puzzleteile, die sich zu einem großen Bild zusammensetzen ließen, obwohl zu viele schon zu viel ahnten. Doch leider spielte das jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle. Solange diese Operation unter dem Radar geblieben war, bestand die Hoffnung, dass keine unliebsame Aufmerksamkeit geweckt wurde. Das war schon mit dem Hilferuf bei Ankunft des Akarii in Frage gestellt worden. Mit diesem Gefecht – dem Tod von fünf TSN-Marines, den Verwundeten, den schweren Schäden an einem TSN-Jäger und mit so pflichtbewussten Untergebenen wie Fuchida und Pawlitschenko, die natürlich Meldung machen würden – war jede Chance für eine erfolgreiche Vertuschung praktisch auf Null gesunken. Spätestens jetzt würde es eine Untersuchung geben, schon wegen dem Kontakt mit einem imperialen Raider. Tremane fürchtete nicht die Neugier seiner Untergebenen, so nahe einige von ihnen der Wahrheit auch kommen mochten. Was ihn beschäftigte war die Frage, inwieweit er die scharfäugigen Geier würde täuschen können, die sich auf ihn und diese Mission stürzen würden, sobald sie in Sterntor eintrafen. Die Geier, die er nicht unbedingt wie diese unbedarften Geister hier an Bord mit Bruchstücken und Falschinformationen würde abspeisen können. Diese Leute konnten dank ihrem Rang Antworten erzwingen, und einige waren intelligent genug, um genügend Fakten zu kombinieren, aber immer noch zu dumm, die wahren Sachverhalte zu verstehen. Halbwissen war seit jeher gefährlicher als Unwissen. Wenn er vielleicht die Frage mit der Panzerung wichtig genug machte, und wenn die Flotte sich durch hymnische Lobpreisungen ihrer Piloten und Soldaten bestechen ließ…dann konnte es noch gut gehen. Doch ihm war nur zu klar, dass er inzwischen auf einem verdammt schmalen Grat balancierte. Aber daran war er gewöhnt. In diesem Spiel gewann der, der rechtzeitig genug Züge – sowohl eigene als auch gegnerische – vorausberechnete, während die andere Seite nicht einmal wusste, was gespielt wurde, was der Einsatz war und wer die Regeln machte. Und in dieser Kunst war er ein Meister. Für ihn war der Kampf bei Medusa mit seinen Verlusten nicht mehr, als eine unerfreuliche Störung. Doch Schwierigkeiten waren letztendlich dazu da, überwunden zu werden…
Cattaneo
Cattaneo
Zwei Arten von Abgang
Frachter Emerald Jade, auf dem Rückweg nach Sterntor
Zwei Tage waren seit dem Gefecht im Medusa-System vergangen. Die Schäden an Bord waren behoben, die Verwundeten über den Berg, und inzwischen stand fest, dass die Akarii sie nicht verfolgten. Angesichts der hohen Verluste, die vor allem die Marines erlitten hatten, kam allerdings keine rechte Freude auf. Der Preis war hoch, sehr hoch gewesen. Die Hälfte des Platoons der Jumpin Devils war gefallen oder verwundet – selbst eine selbsternannte Eliteeinheit steckte das nicht einfach so weg.
Aber es war wenig Zeit gewesen, sich mit dem Verlust von Kameraden auseinanderzusetzen, geschweige denn ihn zu verarbeiten. Es hatte genug Arbeit gegeben. Die Kapitänin des Frachters hatte begreiflicherweise darauf bestanden, im Frachtraum Ordnung zu schaffen und die Spuren der Gefechte zu beseitigen. Außerdem musste das beschädigte Schott zusätzlich gesichert werden, und die TSN-Angehörigen mussten ihre Jäger und ihr Shuttle reparieren. Diejenigen, die zumindest medizinische Grundkenntnisse hatten, waren rund um die Uhr im Einsatz, um die Verwundeten zu versorgen, einschließlich der Gefangenen, die ja auch noch bewacht werden mussten. Liljas launiger Vorschlag, einen Werkzeugkasten an den ungeliebten Gästen auszuprobieren, um mehr Details über ihr Mutterschiff und andere Raider „herauszukitzeln“ war zwar nicht aufgegriffen worden, doch Falkner hatte einige Verhöre durchgeführt, um sich ein erstes Bild machen zu können. Dabei war sie auf die Hilfe von Ace angewiesen gewesen, denn ihre Akarii-Kenntnisse waren offenbar begrenzt. Und den Crewmitgliedern der Emerald – die zum Teil eine erstaunliche Zahl von Sprachen beherrschten – traute sie offenbar nicht weit genug. Die Befragungen hatten ihr neben einigen grundlegenden Informationen auch einen Eindruck davon vermittelt, wie hart es werden würde, die Gefangenen gründlich auszuquetschen. Das waren Informationen, die sie bei der Übergabe der Akariis weitergeben würde. Es konnte nie schaden, weitere Trümpfe im Ärmel zu haben, wenn jemand nach Ende der Mission unbequeme Fragen stellte.
Zuletzt musste die – bescheidene – Kriegsbeute ausgewertet werden, die Waffen und Sprengmittel des Entertrupps überprüft und gesichert werden. Jayhawker hatte sichergestellt, dass keiner ihrer Leute auf die Idee kam, eine Akarii-Pistole oder eine Werfergranate mitgehen zu lassen, denn die TSN verstand mit solchen Dingen keinen Spaß. Was sie allerdings nicht nur nicht unterbunden, sondern sogar direkt angeordnet hatte, war die Überprüfung der Leichen auf alles, was nicht so sensibel war. Rangabzeichen, Bajonette und sogar einzelne Panzerteile oder Kleidungsstücke waren vergleichsweise unproblematisch und brachten teilweise gute Preise auf dem weißen, grauen und schwarzen Markt. Die Kapitänin hatte ihren Spitznamen – der sowohl Eichelhäher als auch Plünderer bedeutete – nicht umsonst erhalten.
Entgegen gewisser Klischees hatte das gemeinsam vergossene Blut – eigenes wie das des Gegners – Crew und Passagiere nicht zu einer großen glücklichen oder unglücklichen Familie zusammengeschweißt, sondern bestenfalls die bestehenden Spannungen etwas gemildert. Die Militärs blieben weiterhin auf Distanz, und die Besatzung gab den „Terries“ noch immer ein Stückweit die Schuld daran, dass es überhaupt zum Gefecht gekommen war. Auch wenn man an Risiken und Gefahren gewöhnt war, Nahkampf und Beschuss mit Atomraketen gehörten nicht zum Alltag eines Trampfahrers. Folglich hatten nur die Kapitänin und Quicksilver an der Raumbestattung der gefallenen Marinesoldaten teilgenommen. Die Passagiere waren vollzählig anwesend gewesen, falls sie gesundheitlich dazu in der Lage waren. McKenna hatte eine kurze Trauerrede gehalten, indem er betonte, dass die Toten in Erfüllung ihrer Pflicht gefallen seien und in den Annalen des Regiments in Erinnerung bleiben würden. Dr. Eriksen hatte die anderen überrascht, als sie im Namen der übrigen Passagiere den Toten für ihr Opfer gedankt hatte, hatte dies doch den anderen die Freiheit und vielleicht auch das Leben gerettet. Dann hatte man die Leichen zu dem Klang der Nationalhymne dem All überlassen, während die Geschütze der Emerald einen improvisierten Salut schossen.
Doch das war nicht die einzige „Altlast“ des Gefechtes gewesen, um die man sich kümmern musste. Eine andere sollte gerade den Weg aller Dinge gehen. Nach Bordzeit war es im Augenblick Nachmittag, und im Frachtraum hielten sich nur einige Marines auf. Sie betrachteten die Prozession mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Genugtuung, machten aber keine Anstalten, einzugreifen. Yin und Yang schoben einen hochbeladenen Frachtkarren, wie man ihn zum Transport von Frachtpaletten und sperrigen Ersatzteilen benutzte. Was sie dabei sagten, hätte wohl nur ein Mandarin-Muttersprachler verstanden, aber es war bestimmt nicht jugendfrei. Der Karren trug eine reichlich makabere Fracht. Die dünnen blauen Plastiksäcke verhüllten keineswegs, was sich in ihnen befand – die Leichen der gefallenen Feinde, praktisch bis auf die Haut ausgeplündert. Genauer gesagt nicht nur bis auf die Haut…
Yin war wie immer wesentlich aktiver als ihr Bruder, und vermutlich auch vulgärer. Allerdings war sie sich relativ sicher, dass sie niemand von den Zuhörer verstand, solange sie in ihrer Muttersprache blieb: „Wird aber auch Zeit, dass wir diese stinkenden Echsen loswerden. Unser Schiff wurde ja langsam eine echte Leichenkutsche.“ Das klang härter als es gemeint war.
Ihr Bruder lächelte nur still vor sich hin: „Was denn, hattest du Angst, dass irgendjemand von denen wieder anfängt sich zu bewegen und versucht, dich anzuknabbern?“ Die Antwort war eine reichlich obszöne Geste. Die Asiatin schien aber nicht ernsthaft verstimmt zu sein: „Also bei all dem, was auf dieser Fahrt abgegangen ist, hätte mich auch das nicht überrascht. Außerdem – hast du gemerkt, was unsere Frau Doktor gemacht hat? Man sollte ja meinen, sie hätte die letzten Wochen genug um die Ohren gehabt. Und einmal zu oft beide Arme bis zu den Ellenbogen in Eingeweiden von jemandem gesteckt. Aber was macht sie? Sie lässt sich etliche dieser Scheißer…“ dabei deutete sie auf die toten Akarii: „…in die Krankenstation bringen und fummelt ihnen am Kopf rum, genau so wie sie es bei den Leichen von der Mary C gemacht hat. Ich wette sie hat sogar ein paar Andenken behalten. Fragt man sich doch, warum.“
Yang zuckte mit den Schultern, während er sich gegen den Karren stemmte: „Vielleicht will sie die für irgendeine Veröffentlichung. Du weist doch, sie ist eine Hirndoktorin. Natürlich, was sie da an den Echsen interessiert…“
Doch seine Schwester hatte bereits das Thema Obduktionen verlassen und warf einen etwas missmutigen Blick in die Runde: „Schau dir nur diese Weltallgorillas an. Schauen zu, aber keiner packt mit an.“ Yang kicherte boshaft: „Wenn du den richtigen fragst, greift er dir sicher unter die Arme. Oder anderswohin.“ Yin stimmte in sein Lachen ein. Ihre Stimme troff vor Verachtung: „Jede Wette. Aber da passe ich. Ehe ich das mache, ficke ich ja lieber einen toten Akarii als einen Terry-Marine. Hat bessere Manieren – und die Gespräche sind auch nicht schlechter. Aber ich versteh nicht, warum die nicht diese Arbeit übernehmen können. Ist doch sogar für sie nichts, was sie geistig nicht leisten können.“
Ihr Bruder schnitt eine Grimasse. Obwohl ihr Gespräch in Mandarin stattfand, senkte er die Stimme. Selbst seine Lippen bewegten sich laut – schließlich konnte man sich ja nicht sicher sein, dass die Terries alle Abhöreinrichtungen entfernt hatten: „Warum wohl? Weil es Marines sind. Was wäre wohl, falls einer von ihnen auf die Idee kommt, sich ein Andenken zu sichern? Das würde genau zu ihnen passen. Willst du, dass ihm was auffällt?“
Kleinlaut geworden schüttelte Yin den Kopf.
Inzwischen hatten sie ihr Ziel erreicht, eines des Schotts, die sonst zum Andocken von Shuttles verwendet wurden, aber auch als Luftschleuse für Raumspaziergänge genutzt werden konnte. Mit weiteren Flüchen wuchteten sie die Körper vom Karren und stapelten sie achtlos auf dem Boden übereinander. Dann verließen sie die Schleuse.
Es gab kein besonderes Zeremoniell. Yang ließ sich von der Brücke die Luftschleuse frei schalten, so dass er sie manuell betätigen konnte. Seine Schwester starrte durch das kleine Bullauge in die Kammer, in dem sich die zehn Leichen befanden: „Na, Jungs – kalt in der Echsenhölle? Bald ist es das jedenfalls!“
Ihr Bruder schaute von der Konsole auf: „Achtung, öffne Schleusentür in drei, zwei, ein…JETZT!“ Anders als bei einem normalen Ausstieg hatte er den Druck nicht langsam an das Weltall angeglichen, sondern öffnete die Außenluke, obwohl noch ein gewisser Restdruck in der Kammer herrschte. Die Luft entwich mit einem gedämpften Knallen – und nahm die Körper dabei mit. Die Leichensäcke überschlugen sich, etliche platzten auf, als sich die in ihnen enthaltene Restluft ausdehnte und die Plastik in den schlagartig abfallenden Temperaturen brüchig wurde. Für einen Moment zog die Emerald eine makabere Schleppe hinter sich her – dann waren sie schon weit zurückgeblieben. Yin salutierte sarkastisch: „Auf Nimmerwiedersehen, ihr Mistkerle.“ Dann wischte sie sich die Hände an ihrer Tarnweste ab: „Endlich sind wir sie los.“ Ihr Bruder grunzte nur etwas Unverständliches.
Die Emerald setzte ihren Weg fort, die Leichen bereits weit hinter sich. Niemand würde jemals erfahren, dass man die imperialen Marines, die für ihre Heimat und ihren verstorbenen Imperator gefallen war, nicht nur wie Abfall von Bord geworfen hatte. Vorher war ihnen noch Schlimmeres angetan worden. Es waren gute Gründe, die Jayhawker dazu bewogen hatten, die Entsorgung der Toten ihren eigenen Leuten zu überlassen. Manche Dinge hätte nicht jeder akzeptiert, sogar einige ihrer eigenen Untergebenen hätten Protest angemeldet. Doch die Kapitänin war keine Frau, die sich eine gute Gelegenheit für einen Gratisprofit entgehen ließ. Und Leichenteile von Akarii, vor allem Schädel, brachten auf dem Schwarzmarkt gute Preise…
****************
Acht Stunden später
Der Maschinenraum der Emerald war neben dem Frachtraum der geräumigste Platz an Bord des Frachters, viel größer als die Messe. Mit den kompakten Maschinen und den ständigen Hintergrundgeräuschen wirkte er ziemlich beeindruckend, jedenfalls für einen Besucher, der diesen Anblick nicht gewöhnt war. Nicht, dass man üblicherweise „Fremde“ in den Maschinenraum ließ – das war ein seltenes Privileg. Immerhin war es einer der sensitivsten Bereich des Schiffs. Im Moment hatte man freilich sogar Ace – der noch am ehesten von der Besatzung toleriert wurde – klargemacht, dass er sich fernhalten sollte. Nach der Bordzeit war es sehr spät, und die meisten der Passagiere schliefen sicherlich, abgesehen von der Dauerwache in der ehemaligen Messe, die noch immer als Lazarett für die Schwerverletzten genutzt wurde. Zwei der Marines und Toro waren in so schlechtem Zustand, dass man sie voraussichtlich bis zum Ende der Reise nicht entlassen konnte. Einige Verletzungen würden sich erst auf Sterntor richtig therapieren lassen. Die Neunutzung der Messe war der Grund, warum die Zusammenkunft im Maschineraum stattfand. Abgesehen von Toro waren alle Besatzungsmitglieder anwesend. Wie üblich trugen sie ein wildes Durcheinander von Arbeits-, Militär- und Zivilklamotten, und die meisten waren bewaffnet. Kurz und gut, sie sahen wie immer aus wie die Besetzung eines Piraten- oder Schmugglerfilms. Einzig ihre Mienen waren anders als sonst – ernster, gefasster.
Die Crew hatte im Zentrum des freien Raums einen einfachen Tisch aufgebaut. Einfache Decken bedeckten das abgewetzte Metall. Auf dem Tisch hatte man elektrische Kerzenimitationen platziert, ebenso an den Wänden und auf den Maschinen. Auf dem Tisch lag Angelo Matteoli alias Nomad, 32 Jahre alt, ledig, weltraumgeborener Bürger der Bundesrepublik, Matrose der Emerald Jade – gefallen im Gefecht von Medusa. Er trug noch immer den leichten Schutzanzug, in dem er gefallen war, doch man hatte ihm einen neuen Helm gegeben. Das Visier war geschlossen, und verbarg die grauenhaften Verstümmelungen, die der akariische Laser angerichtet hatte. Er sah eher aus, als ruhe er sich vor oder nach einem Außeneinsatz aus. Aber natürlich wusste jeder von der Crew, was mit ihm geschehen war.
Die Kapitänin war die erste, die sprach. Ihre Stimme klang belegt, etwas kratzig, so als müsse sie mit sich ringen, um nicht die Fassung zu verlieren. Was vermutlich auch den Tatsachen entsprach, den man verlor nicht oft Untergebene und Kameraden auf diese Weise.
„Ich denke, ich kann mir umständliche Worte sparen. Wir wollen heute von Nomad Abschied nehmen. Er starb in einem Krieg, der nicht der unsere ist – aber die Akarii hatten sich dazu entschlossen, ihn zu unserer Sache zu machen. Als es die Not der Stunde erforderte, unsere einzige wahre Heimat zu verteidigen, hat er mehr als seine Pflicht als Crewmitglied getan. Wir sind keine Soldaten, die auf Befehle oder irgendwelche verstiegenen Ideale von Pflicht und Ehre etwas geben. Wir mussten uns unserer Haut wehren, und das haben wir gemacht. Wir – und auch, ja gerade Nomand – haben unseren Teil geleistet, um die Angreifer zurückzuschlagen. Das ist die einzige Sache, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und obwohl Nomad wie jeder vernünftige Mensch Angst hatte und am liebsten den Kampf vermieden hätte, hat er sich anders entschieden, und teuer dafür bezahlt. Er war aber mehr als ein Kämpfer oder Soldat oder Held – mehr als irgendein Propagandaideal, das die Terries aufbauen, um dumme Kinder oder Erwachsene zu manipulieren. Er war vor allem unser Kamerad. Was wir verloren haben ist die Hand, die mit anpackte, wenn es was zu erledigen gab, die Stimme, die beim Essen in der Messe miese Witze riss. Der Mann, mit dem wir seit langem zusammen gelebt haben. Und er wird uns fehlen. Deshalb denke ich, wir sollten ihn nicht als Gefallenen des Kampfes im Medusa-System in Erinnerung behalten. Sondern so, wie er wirklich war.“
Sie schluckte: „Ich erinnere mich noch, wie er an Bord kam. Jackal hatte sich gerade von uns verabschiedet, weil wir keine Zeit hatten zu warten, bis er seine dreimonatige Haftstrafe abgesessen hatte – ihr wisst schon, die Kneipe auf New Boston Prime, die er unbedingt auseinander nehmen musste. Ich war ziemlich angepisst, weil ich dringend einen Ersatz brauchte. Deshalb hätte ich Nomand beinahe niedergeschlagen, als er mich ansprach, weil ich dachte, er wäre nur ein Typ, der wissen wollte, welche Farbe meine Unterwäsche hat…“
Nachdem die Kapitänin ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, trat sie auf den Toten zu. Sie zog zwei kleine Bilder hervor. Eines zeigte sie selbst, ein anderes die Emerald Jade. Sie verstaute beide in einer Tasche am Gürtel der Leiche: „So wie du in unserer Erinnerung bleiben wirst, gebe ich dir ein Bild von mir und eines deiner eigentlichen Heimat auf deine letzte Reise mit. Lebe wohl, Nomad.“ Dann trat sie zurück und nickte Ghost zu.
Ein Crewmitglied nach dem anderen kam zu Wort, und jeder gab dem Toten ein Bild mit auf die Reise. Es waren lustige Anekdoten, die sie hervorkramten, lieb gewonnene Erinnerungen oder besondere Leistungen des Toten. Ghost erzählte, wie er mit Nomad einmal sechs Stunden an der Außenhaut geklebt hatte, um einen Riss im Frachtraum zu flicken. Quicksilver, wie Nomad die FDU der Emerald bei dem Versuch kurzgeschlossen hatte, einige seiner Lieblingsgerichte auf den Speiseplan zu setzen. Sie lachten bei den Erinnerungen, oder bekundeten ihre Hochachtung, als könnten sie so ausblenden, dass Nomad als Leiche vor ihnen lag. Keiner weinte – dafür war noch später Zeit. Es dauerte fast eine Stunde, bis der letzte der Crew verstummte.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen im Maschinenraum, abgesehen von den ständigen Hintergrundgeräuschen. Dann löschte die Kapitänin die Hauptbeleuchtung. Die Lampen verloschen eine nach der anderen, bis nur noch die Armaturen und vor allem die elektrischen Kerzen Licht spendeten. Man konnte fast glauben, man schaue direkt in den offenen Raum, in dem die Kerzen die fernen Sterne waren. Die Crewmitglieder waren nur noch schemenhaft zu erkennen, ebenso unwirklich wie der Tote. Eine kleine Bildwiedergabeeinheit zauberte Bilder des Toten an die Wand – nicht die starre, verstümmelte Leiche, die er jetzt war, sondern zu seinen Lebzeiten. Die Bilder wirkten geisterhaft, als sei die Seele Nomads seinem Leib bereits vorangegangen in die Tiefen des Alls, in denen sein Körper ruhen wurde. Jetzt, in der Dunkelheit, flossen die Tränen um den gefallenen Kameraden.
Wie immer war es die Kapitänin, die sich al erste auf das Notwendige besann. Aber selbst ihre Stimme klang ziemlich brüchig: „Also dann. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Lassen wir ihn heimgehen.“ Sie trat neben den Tisch, der als Totenbahre fungiert hatte. Neben ihr nahm Ghost den Ehrenplatz als ältestes Crewmitglied ein, dann kamen Yin und Yang, schließlich Dutch und Fixer. Auf einen knappen Befehl der Kapitänin hin ergriffen sie die Decken, auf denen Nomad ruhte, und hoben den Toten an. Dann setzte sich die Prozession in Bewegung. Wrecker ging ihnen voran, Quicksilver, die immer noch sichtbar schniefte, bildete den Abschluss. Sie traten hinaus auf den Hauptkorridor der Emerald, auf dem ebenfalls die meisten Lichter gelöscht worden waren. Mit gemessenen Schritten – wenn auch nicht gerade im Gleichschritt – marschierten sie in Richtung Bug des Schiffes. Ihre Schuhe und Stiefel klirrten auf dem Metallboden, doch diese Geräusche verstärkten nur den düsteren Eindruck, den ihr Auftreten und die Beleuchtung hinterließen. Um diese „Uhrzeit“ ruhten die meisten Passagiere, und das Schiff lag wie in tiefem Schlaf. Oder als wäre es tot. Doch als sich die Crew ihrem Ziel näherte – der Luftschleuse auf dem Mannschaftsdeck – wurde sie bereits erwartet. Dr. Eriksen, Lieutenant Commander Fuchida und die beiden Piloten hatten schweigend Aufstellung genommen. Das ging auf den Vorschlag von Ace zurück, der in etwa wusste, wie ein Weltraumbegräbnis vor sich ging. Die drei anderen hatten sich bereiterklärt, dem Toten ebenfalls die Ehre zu erweisen. Tremane hatte nur gemeint, er sei sich sicher, seine Anwesenheit wäre nicht gerade gewünscht. Und die Marines hatte mit ihren eigenen Toten genug zu verarbeiten – und die Beziehung zwischen ihnen und der Crew war nur sehr flüchtig.
Obwohl die Besatzungsmitglieder mit Sicherheit von diesem Publikum überrascht waren, ließen sie sich nichts anmerken. Sie trugen die Leiche Nomads in die Luftschleuse, und setzten sie neben dem Außenschott aufrecht hin, so dass er so aussah, als ruhe er sich kurz aus. Dann verließen sie die Schleuse und versammelten sich um das Bullauge.
Jayhawker schien der Meinung zu sein, dass nicht mehr viele Worte nötig waren. Sie nickte den anwesenden Passagieren dankbar zu, dann straffte sie sich: „Das Weltall hat uns geboren, im Weltall haben wir gelebt, ins Weltall kehren wir zurück. Wir werden eins mit unseren Göttern, die zwischen den Sternen wandeln. Amen. Und…gute Reise.“
Damit betätigte sie die Kontrollen der Luftschleuse. Die anwesenden Offiziere salutierten. Liljas Gesicht war wie immer in solchen Momenten – von denen sie für ihren Seelenfrieden schon viel zu viele erlebt hatte – eine kalte Maske, in der die sichtbarste Emotion der unterdrückte Hass auf die Schuldigen war. Fuchida wahrte den kulturellen Gebräuchen seiner Heimat entsprechend Ruhe. Dr. Eriksen und Ace wirkten aufrichtig bekümmert.
Die Außentür der Schleuse fuhr langsam auf. Wie ein Weilchen zuvor die Leichen der Akarii wurde Nomads Körper ins All hinausgezogen, und war sofort verschwunden. Für eine kleine Weile verharrten sie alle schweigend. Quicksilver heulte wieder wie ein Schlosshund. Für einen Augenblick schien Ace sie in den Arm nehmen zu wollen, doch Ghost kam ihm zuvor und redete leise auf die junge Raumfahrerin ein, die dennoch sichtbar Mühe hatte, sich wieder zu fassen.
Anders als bei den toten Marines wäre es niemandem eingefallen, Salut zu schießen, denn dergleichen gehörte nicht zum Brauchtum der zivilen Raumfahrer. Das gemeinsame Schweigen schien ihnen weitaus angemessener als lärmendes und pathetisches Zeremoniell. Für eine kleine Weile waren sie sich alle nah – Crewmitglieder, Piloten, Flottenoffizier und Wissenschaftlerin. Dann trennten sie sich wortlos.
Cattaneo
Nichts als ein Echo
Die endlosen Korridore waren verwaist und leer. Es war nicht die Leere, wie sie in Gebäuden herrschte, in denen die tagtägliche Betriebsamkeit lediglich für einige Stunden oder auch Tage zum Erliegen gekommen war, um dann wieder in alter Form einzusetzen. Es war vielmehr eine Leere, die viele Jahrhunderte schwer war, schier endlose Zeit, in der die Gänge in ihrer eigenen Dunkelheit gebrütet hatten, tot – oder vielleicht nur in einem todesgleichen Schlaf. Die Leere von gefallenen Ruinen eines untergegangenen Reiches…die Leere eines Grabes. Als hätte die verstrichene Zeit hier selbst Gestalt angenommen.
Doch als sie auf den Boden vor ihren bloßen Füßen blickte, war dieser staubfrei. Die Steine waren glattgeschliffen, nirgends gab es Spinnweben, von der Decke abgesplitterte Steine, Risse in den Wänden oder andere Zeichen des Verfalls. Als wäre diese…Höhle…diese Katakomben, was auch immer es war – als wären sie perfekt konserviert worden. Wie ein Insekt, eingeschlossen in einen Tropfen Harz, das schließlich zu Bernstein erstarrte, unverändert bewahrt über zahllose Jahrtausende.
Obwohl keine Lichtquellen zu sehen waren, lagen die Gänge in einem merkwürdigen Halbdunkel, das es möglich machte, sich zu orientieren. Es war ein Zwielicht, in dem es weder richtige Helligkeit noch tiefschwarze Schatten zu geben schien, das von nirgendwo und überall zugleich zu kommen schien. Kein Laut war zu hören, wie man ihn üblicherweise erwartet hätte, kein tröpfelndem Wasser, keine Geräusche, die auf kleinere Höhlenbewohner hindeuteten, geschweige denn etwas, das sich den Erbauern dieser Anlage zurechnen ließ. Denn Erbauer musste es gegeben haben. Diese Gänge konnten niemals natürlich entstanden sein. Nicht einmal der kleinste Windhauch regte sich, und doch war ihr so, als wäre von Zeit zu Zeit etwas zu hören, wie das klagende Murmeln eines ersterbenden Atemhauchs. Doch wie das Licht schienen die Laute, oder die Ahnung von Lauten, von überall und nirgends zu kommen, von nah und fern zugleich.
Scheinbar ziellos wanderte sie durch das Dämmerlicht. Die Gänge kreuzten sich, liefen auseinander und trafen sich wieder, erweiterten sich zu kleinen Höhlen, öffneten sich zu Kammern. Und wann immer sie in einen Seitengang hineinschaute, stets waren nur weitere Kreuzungen und Räume zu erkennen, als erstrecke sich dieses Labyrinth über eine unendlich erscheinende Fläche. Aber es war nicht ein Labyrinth im eigentlichen Sinne, nicht nur ein Irrgarten aus Korridoren – einst musste all das einem Zweck gedient haben. Eine Palast, eine Festung, ein Grab, vielleicht alles zusammen?
Wohl jeder hätte sich in den Gängen und Räumen über kurz oder lang verirrt, doch sie wich niemals von dem Weg ab, den sie mit fast traumwandlerischer Sicherheit fand – obwohl sie nicht wusste, von wo sie kam, wohin sie ging und warum sie überhaupt wusste, welche Richtung sie zu nehmen hatte.
Während sie immer weiter durch die Korridore schritt, wunderte sie sich hin und wieder über flüchtige Gedanken, die ihr kamen.
Etwa, dass sie eigentlich Angst haben müsste, so allein hier. Oder, dass sie gar nicht hier sein dürfte, nicht einmal wusste, wo HIER überhaupt war. Die Frage, warum sie barfuss, unbewaffnet und in einem einfachen Gewand unbekannter Webart an solch einem Ort herumwanderte. Aber diese Gedanken waren irgendwie fern, als dächte sie ein anderer. Wie Worte, die eine andere Person aussprach und die man selber nur halb verstand, ohne dass sie einen direkt betrafen.
Die Gänge waren keineswegs überall leer. An einigen Stellen erhoben sich Statuen, gesichtslos, anonym, die Arme vor der Brust verschränkt. Es war nicht einmal zu erkennen, welcher Rasse die dargestellten Wesen angehörten, auch wenn sie humanoid waren. Wenn sie überhaupt Gesichter hatten, dann war nicht zu entscheiden, ob sie Helme oder Masken trugen, oder ob das ihre wirklichen Gesichtszüge seien sollten. Vielfach waren auch Bilder in die Felswände gekratzt, an anderen Stellen ganze Felder voller Piktogramme, archaisch wirkender Schriftzeichen. Nicht nur kurze Inschriften, das mussten lange Texte sein. Während sie daran vorbeiging, ließ sie immer wieder ihre Hand darüber wandern, und ihr war, als müsste sie wissen, was die Inschriften bedeuteten, als ob ihr Mund Worte und Silben formulieren wollte. Vielleicht wusste sie sogar, was da stand, wer das war auf den Reliefs, zu wessen Ehren diese oder jene Statue errichtet worden war. Doch immer wenn sie versuchte, diese Gedanken genauer zu fassen, entwichen sie ihr, wie Wasser, das einem durch die Finger rann.
Obwohl es nirgends eine Spur von Leben gab und auch nichts, das auf sie direkt bedrohlich wirkte, hatte sie das intensive Gefühl, dass sie nicht allein war. Es war nicht direkt das Gefühl, beobachtet zu werden, vor allem nicht die Angst vor feindseligen, verborgenen Augen. Wie alles hier wirkte das Gefühl unbestimmt, eher wie eine Art Echo. Fast immer war es nur wie ein Flüstern gerade am Rande des Hörbaren, doch manchmal wurde es deutlicher – nicht, dass wirklich etwas zu hören, zu sehen, zu fühlen gewesen wäre. Doch obwohl es so flüchtig blieb wie alle anderen Sinneseindrücke, spürte sie, wie das Flüstern gleichsam in sie einzusickern begann, sie mehr und mehr ausfüllte. Es war ein Gefühl von Trauer, Schmerz, Verlust, ohnmächtiger Wut, bitterer Hass, alles durcheinander und alles auf einmal. Schwach erst, doch in dem Maße, wie sie ihrem Ziel dem Gefühl nach immer näher kam, wurden die Emotionen immer stärker, immer intensiver, wirbelten umeinander, dass es beinahe physischen Schmerz verursachte. Sie war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob es ihre eigenen Gefühle waren, oder die von jemand anderem.
Mit einem Mal öffnete sich der Gang in eine gigantische Höhle, einen Saal. Der Raum war so riesig, dass ihr Auge kaum bis zum anderen Ende reichte. Er schien vollkommen aus schwarzem Glas oder Obsidian zu bestehen. Statuen und Obelisken schmückten die Wände, dunkel und drohend selbst vor der Schwärze der Wände. Und mitten durch die Decke verlief ein Riss, brach die Perfektion dieser architektonischen Meisterleistung. Die Felswände, durch die der Spalt geschlagen worden war, mussten hunderte von Metern dick sein, und doch waren sie scheinbar mühelos zerschnitten worden wie dünnes Papier. So öffnete sich der Saal zu einem sternenlosen Himmel, in dem eine gnadenlose Sonne brannte – umrandet von einer bösartigen Korona, wie ein einzelnes grausames Auge, das in das Versteck einer gejagten Kreatur spähte…
Für einen Augenblick war ihr, als wäre da jemand neben ihr, eine Gestalt, mehr als eine. Doch sie hatte keine Chance, genauer hinzusehen. Denn über ihr wurde das Leuchten der Sonne immer stärker und stärker, ein Strahlen, das längst alles übertraf, was sie jemals erlebt hatte. Sie schloss die Augen, doch selbst durch ihre Lider drang dieses Strahlen. Immer heller pulsierte es, bis jede Schwingung durch ihren Körper strömte, und sich alles in einem blenden Blitz auflöste…
Lilja fuhr mit einem erstickten Keuchen auf, ihre Augen huschten beinahe panisch von einer Seite des Zimmers zur anderen – was freilich nicht lange brauchte. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, dass jemand oder etwas anderes hier war. Doch noch ehe sie sich für diesen törichten Gedanken schelten konnte – in diese Konservedose passte nun wirklich außer ihr nicht mehr viel – ließ dieser Eindruck bereits nach und verschwand fast spurlos. Sie merkte, dass sie immer noch hyperventilierte und zwang sich dazu, ihre Atmung zu beruhigen.
Nicht nur ihr Atem ging schneller, sie war auch vollkommen durchgeschwitzt, als wäre sie ein paar Kilometer gerannt. Verwirrt runzelte sie Stirn, dann erinnerte sie sich wieder daran, was sie geträumt hatte. Sie verharrte eine scheinbar endlose Zeit reglos, ihre Decke an den Körper gepresst – nicht etwas vor Kälte oder Scham, sondern als könnte der dünne Stoff ihr Schutz gewähren, und sei es nur als ein Stück Normalität. Nur Liljas schnelle Atemzüge verrieten einem Beobachter, dass sie überhaupt am Leben war. Ihr Gesichtsausdruck war eine emotionslose Maske, die nichts über die Gedanken verriet, die ihr durch den Kopf gingen. Doch als sie schließlich handelte, geschah es keineswegs langsam. Auf einmal legte sie ihren Kopf schief, als kaum wahrnehmbare Geräusche an ihr Ohr drangen. Ja…da war etwas, vor der Tür…
Für einen Augenblick überlegte sie sich, ob sie sie eine Waffe ziehen sollte. In diesem Moment, mit den Bildern ihres Traumes noch vor Augen, sehnte sie sich nach dem beruhigenden Gefühl, das eine Pistole oder ein Messer vermitteln konnte. Doch dann schalt sie sich selbst. Das war nur ein dummer Traum gewesen, und sie war niemand, der sich von so etwas verrückt machen ließ! Aber dennoch…irgendetwas war da. Die Frage war nur, war das noch ein letztes Nachklingen ihrer Träume, eine Einbildung, oder hatte sie wirklich etwas gehört. Und wenn ja, was?
Wie immer entschied sich Lilja, die Frage direkt anzugehen. Obwohl sie sich fragte, ob das nur lächerliche Paranoia war, nahm sie sich die Zeit, ihr Stiefelmesser – das griffbereit inmitten ihrer Sachen lag – zu zücken. Sie war sich halb bewusst, dass es eigentlich klüger gewesen wäre, die Pistole zu ziehen, für den Fall, dass zum Beispiel diese stinkenden Echsen einen Fluchtversuch unternahmen, aber sie nahm sich nicht mehr die Zeit, die Laserwaffe herzuholen. Geduckt, lautlos huschte sie zur Tür, die Hand mit dem blanken Messer zurückgebogen, in der Deckung ihres Oberköpers. So war es unmöglich, ihr die Klinge aus der Hand zu schlagen, und sie konnte jederzeit zum tödlichen Stich ansetzen. Wohl noch dem abgebrühtesten Schläger wäre ihre Miene unheimlich gewesen.
An der Tür zögerte sie einen Moment, dann betätigte sie den Öffner. Als die Tür aufging, verharrte die Russin in der Hocke, dann glitt sie hinaus und erstarrte abrupt. Der Hauptkorridor der Emerald war vollkommen ausgestorben – kein Wunder, um diese Uhrzeit. Und wie immer war er nur spärlich beleuchtet. Doch sie hatte kein Problem zu erkennen, was sie gehört hatte. Dicht vor ihr hockte eine stattliche Katze mit rötlichbraunem Fell. Das Tier, offenbar nicht im Geringsten verschreckt, musterte die Pilotin mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Arroganz und Neugier zu schwanken schien. Wenn man berücksichtigte, dass ein Tier vermutlich solche Gefühle nicht kannte. Oder vielleicht doch – immerhin war das hier eine Katze.
Lilja zögerte einen Moment, dann atmete sie in einer Mischung aus Erleichterung und Verlegenheit aus, setzte sich hin und streckte ihre linke Hand aus. Der kühle Metallboden vermittelte ihr ein tröstliches Gefühl der Wirklichkeit.
Die Katze schnupperte kurz an ihren Fingern, dann kam sie vorsichtig näher und erlaubte es der Russin sogar, sie zu streicheln. Die Pilotin grinste vor sich hin. Sie wurde inzwischen wirklich paranoid. Jetzt ließ sie sich schon von einem Haustier aus der Ruhe bringen. Na ja, vielleicht lag es auch an den drei verdammten Akarii, die nur ein paar Türen weiter eingeschlossen waren und vom Cockpit aus unter ständiger Kamera- und Audioüberwachung standen. Dann verdrängte sie diesen Gedanken und den Hass, der beim Gedanken an die Echsen unwillkürlich in ihr hoch kochte. Sie betrachtete das Tier, das sich ihre Berührung gefallen ließ. Das hier musste…Tod sein. Ja, das war der Name. Teufel, die zweite Bordkatze, war pechschwarz. Sie hätte es natürlich nicht eingestanden, aber es fühlte sich gut an, ein lebendes Wesen zu berühren. Die Träume wirkten gleich noch etwas unwirklicher.
Anscheinend hatte auch Tod nichts gegen etwas Gesellschaft einzuwenden. Nachdem sie sich ausgiebig hatte kraulen lassen, machte sie es sich kurz entschlossen auf Liljas Schoß bequem, rollte sich auf den Rücken und ließ sich weitere Streicheleinheiten gefallen.
Während sie geistesabwesend die Katze kraulte, versuchte Lilja ihre Gedanken wieder etwas zu ordnen. Vor ihrem geistigen Auge ließ sie noch einmal ihren Traum Revue passieren. Das war etwas, worauf sie nicht wenig stolz war – ihre Fähigkeit, ihre eigenen Gedanken logisch zu analysieren und sie damit letztlich zu kontrollieren. Jedenfalls bildete sie sich das ein.
Was war da eben geschehen, und warum hatte es sie so aus dem Gleichgewicht gebracht?
Sie rief sich bestimmte Einzelheiten in diesen Ruinen, diesem…Grab…wieder ins Gedächtnis. Irgendetwas störte sie, kam ihr beklemmend bekannt vor – vor allem die Schriftzeichen und die Statuen. Ja…die glichen eindeutig denen, die ihnen Georges gezeigt hatte. Und dieser Riss, das war fast…als wäre sie auf dem zweiten Mond des dritten Planeten Medusas gewesen. Diese Halle, die sie nur im Überflug gesehen hatte, hunderte Meter tief in das Mondgestein getrieben und doch durch einen unbekannten Angreifer ans Tageslicht gezerrt wie die Gänge eines Ameisenhaufens, in dem ein böswilliges Kind mit einem Stock herumstocherte. Es war alles nur sehr viel vielfältiger und besser erhalten gewesen, nicht nur zerstörte Relikte und einzelne Schriftzeichen – in ihrer Einbildung. Diese Erkenntnis war etwas beunruhigend, führte aber auch zur einfachsten Erklärung für ihre Träume. Da sie sich in den letzten Tagen nicht mehr mit diesem Mumpitz beschäftigt hatte, mit dem der Wissenschaftler sie alle abgefüllt hatte – es gab ja wirklich Wichtigeres zu tun – waren die Bilder aus ihrem Unterbewusstsein wieder aufgetaucht. Vermutlich ergänzt um einige Elemente, die sie vor Jahren in irgendwelchen mäßig gelungenen Science-Fiction-Streifen gesehen oder in irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Büchern gelesen hatte. Sie war ja auch mal jung und naiv gewesen. Und nun waren diese Dinge durch das dumme Geschwätz des NSC’lers aus der Versenkung geholt worden. Nahm man hinzu, dass sie ihre Entdeckung auf dem Mond doch etwas mitgenommen und beschäftigt hatte…
Ja, so musste es sein. In der ersten Schrecksekunde, unmittelbar nach dem Aufwachen, hatte sie sich einfach verrückt machen lassen, obwohl sie es hätte besser wissen müssen. Was sie „gesehen“ hatte, das waren keine Visionen oder die Schatten längst dahingeschiedener Wesen gewesen, deren Flüstern noch in den Kammern ihrer Gräber nachhallte. Dergleichen gab es natürlich nicht, nicht in Wirklichkeit. Es war nicht mehr als ein ungewöhnlich intensiver Alptraum. Und solche Dinge waren nichts Neues für sie. Nüchtern betrachtet war es kein Wunder, dass sich nach all dem Stress der letzten Tage ihre „alten Bekannten“ zurückmeldeten, wenn auch mit verändertem Programm. Normalerweise hatte sie bisher eher vom Krieg geträumt – von diesem oder einem anderen, der ihr aus dem Unterricht oder sonst wie vertraut war. Oder von einer Mischung aus Bildern verschiedener Kriege. Jetzt kamen also auch noch Elemente aus Georges’ spinnerten Verschwörungstheorien hinzu. Die Russin verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Das war etwas, was ihr gerade noch gefehlt hatte! Blieb die Frage, wie sehr sie sich deshalb Sorgen machen musste. Der Traum eben war bei weitem nicht so unangenehm gewesen wie einige andere, die sie inzwischen über Jahre begleiteten. Aber dennoch...Dennoch waren die Bilder vor ihrem inneren Auge so real gewesen, als könnte sie die Statuen, die Schriftzeichen noch immer sehen, wenn sie nur die Lieder schloss.
Lilja schüttelte abrupt den Kopf, eine Bewegung, die Tod durch ein mahnendes Ausfahren der Krallen beantwortete. Sie machte sich nur unnötig verrückt! Für alles gab es eine logische Erklärung, und in ihrem Fall war das eben der ganze Stress.
Trotzdem blieb ein vages Gefühl der Beunruhigung. Immerhin hatte irgendetwas die Besatzungsmitglieder der Mary C umgebracht – etwas, das keinerlei physische Verletzungen hinterlassen hatte…Andererseits, an Alpträumen war dieser Haufen Weltallabschaum bestimmt nicht gestorben. Nein, wenn sie deswegen gleich zu Eriksen lief, machte sie sich nur lächerlich. Entweder sie stand als Hysterikerin da – kaum zu ertragen – oder Frau Doktor sah in ihr ein interessantes Studienobjekt. Nicht gerade das, was sie sich wünschte. Aber es war überhaupt ein Problem auf dieser Mission, dass es eigentlich niemanden an Bord gab, mit dem sie vernünftig über so etwas wie Alpträume reden konnte. Sie war ja ohnehin dazu vergattert, über alles zu schweigen, was sie auf dem Mond gesehen hatte. Und selbst wenn nicht – Eriksen hing zu sehr mit Tremane zusammen, und sie traute der Ärztin einfach nicht genug. Dazu war ihre Funktion zu unklar, sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie einiges verheimlichte. Georges schied erst recht aus. Der NSC’ler würde sie entweder auslachen oder, viel schlimmer, auf die Idee kommen, irgendeine längst versunkene Macht versuche mit ihr zu kommunizieren. Und Ace…nein, der schied genauso aus. Erstens durfte auch er nichts über den Mond wissen. Und zweitens, sie hatte erst kürzlich wieder feststellen müssen, wie unreif der blauhaarige Pilot sowohl menschlich als auch in Bezug auf seine dienstlichen Pflichten war. Offenbar hatten nicht einmal Kriegsgefangenschaft, die schwere Verletzung einer…Freundin…und der Tod einer Geliebten und etlicher Freunde ihn zur Vernunft gebracht. Manche Leute wurden eben einfach nie erwachsen. Anstatt sich zum Beispiel um die Crew der Emerald zu kümmern, der er ja nicht zuletzt verdankte, dass er nicht wieder die Gastfreundschaft der Akarii genießen konnte, redete und rauchte er mit diesen stinkenden Echsen! Und spielte sich gegenüber den Marines auf, als ob die ihre Pflicht nicht gut genug selber kennen würden. Dabei gab er doch damit an, selber ein Frachterfahrer gewesen zu sein. Aber anscheinend verstand Lilja die Gefühle der Crew besser – oder konnte sich eher in sie einfühlen – als er. Und das wollte schon etwas heißen. Jedenfalls war er weder in der Achtung der meisten Marines noch in der vieler Crewmitglieder gestiegen. Nein, mit IHM würde sie bestimmt nicht reden. Sie hatte ja auf dieser Reise hin und wieder…fast gedacht, sie könnten vielleicht sogar so etwas wie Freunde werden – etwas, das ihr früher undenkbar erschienen wäre. Aber jemand Freund zu nennen, der sich so aufführte…da hätte sie sich ja auch mit Skunk oder Radio verbrüdern können!
Mit einem mentalen Achselzucken tat sie diese Gedanken als unwichtig ab. Nun, wahrscheinlich sorgte sie sich ohnehin umsonst. Einmal ein Alptraum war ja nichts Schlimmes. Sie hatte halb gehofft, diese ständigen Begleiter ihrer Nächte los zu sein. Aber wirklich daran geglaubt hatte sie nicht. Nun, sie hatte sich bisher nicht davon klein kriegen lassen, und das würde auch in Zukunft nicht geschehen!
Nach diesem Entschluss wollte sie schon aufstehen, doch als sie die Katze von ihrem Schoss verscheuchen wollte, war ihr Lohn ein Kratzer auf dem Oberarm. Tod schien es übel zu nehmen, so zurückgewiesen zu werden. Mit einem gekränkten Murmeln betrat Lilja wieder ihre Kabine, nur um festzustellen, dass das Tier ihr gefolgt war. Eine kleine Weile starrten sich Katze und Mensch nur wortlos an, dann stolzierte Tod zum Bett und machte es sich neben dem Kopfkissen bequem. Die Russin zögerte einen Moment, dann kapitulierte sie mit einem Seufzen. Eigentlich war sie sogar froh, nicht ganz allein zu sein – und ein Tier hatte gegenüber den meisten Menschen als Gesellschaft doch deutliche Vorteile. So kletterte sie selbst wieder ins Bett – behutsam, um die Katze nicht zu stören – und machte es sich selber bequem. Für einen Augenblick ließ sie gedankenverloren ihren rechten Zeigefinger im Dunkeln über die niedrige Decke über ihrem Bett wandern, dann sank ihr Arm herab, und sie nickte ein. Sie nahm es nicht wahr, aber ein aufmerksamer Beobachter hätte den Eindruck haben können, dass die Bewegungen ihres Fingers merkwürdige Schriftzeichen nachzeichneten…
Cattaneo
Tyr
Republikanischer Raum, Raumfrachter EMERALD JADE
Nur noch wenig mehr als ein Sprung und vierundzwanzig Stunden trennten das Schiff noch vom Sterntor-System. Die Reise – die Operation – näherte sich ihrem Ende. Es war an der Zeit, Bilanz zu ziehen.
Normalerweise hätte das bedeutet, alle beteiligten Offiziere zusammenzurufen, Information zu sammeln und Erfahrungen zu vergleichen. Doch an dieser Operation war von Anfang an wenig ‚normal’ gewesen. Und wenn es etwas gab, was Tremane verhindern wollte, dann war das ein freier Wissensaustausch. Dementsprechend hatte er gehandelt. Die Informationen liefen bei ihm zusammen – und NUR bei ihm. Na gut, Falkner war ebenfalls eingeweiht. Tremane war zu klug um anzunehmen, dass er sie genauso manipulieren und vorführen konnte wie seine anderen ‚Mitarbeiter’. Auch aus praktischen Gründen war es besser, ihr reinen Wein einzuschenken. Weitestgehend. Außerdem…sogar er brauchte jemanden, mit dem er offen reden konnte. Und deshalb…
„Fassen wir zusammen. Keiner der Geborgenen gehörte zur Brückenbesatzung. Einzige Gemeinsamkeit war ihr Geschlecht – alles Männer. Und ihre Herkunft. Der reinste Abschaum.
Aber nichts davon hat irgendetwas zu bedeuten. Statistisch gesehen sind immer noch deutlich mehr Männer als Frauen in der…‚freien Raumfahrt’ aktiv. Besonders an Bord solcher Schiffe wie der MARY C. Und was ihre soziale Herkunft angeht…Chorknaben wird man an Bord so eines Rattenfrachters kaum finden.
Ansonsten gab es keine Übereinstimmung, weder bei ihrer galaktogeographischen oder ethnischen Herkunft, noch bei ihrem Alter. Sie waren alle mehr oder weniger gesund...“
„Abgesehen davon, dass sie tot sind.“
„…wenn man von den Spuren mehr oder weniger extensiven Alkohol- und Drogenmissbrauchs absieht. Aber das galt auch nicht für alle und nicht im gleichen Ausmaß. Eriksen konnte weder eine Krankheit, noch eine wirklich lebensbedrohliche Verstrahlung feststellen.“
„Was ist denn dann ihre Diagnose? Sind das alles Hypochonder, die es übertrieben haben? Oder haben sie sich einfach zu Tode erschreckt?“
Tremane schnaubte unbehaglich: „Also wenn ich ehrlich sein will – diese Diagnose ist fast genauso realistisch wie alles andere, was wir in Betracht ziehen müssen. Eriksen hat es so ausgedrückt: ‚Es ist ungefähr das gleiche, als hätten Sie Industriestarkstrom in eine Tischleuchte geleitet. Ihre Gehirne wurden offenbar…überlastet.“
„Und sind durchgebrannt. Wenn ich mich richtig erinnere, war unser Freund auf der Krankenstation aber alles andere als hirntot. Bevor er sich selber die Kehle aufgeschlitzt hat.“
„Ich warte immer noch auf eine Analyse seiner Worte.“
“Apropos Analyse. Gibt es was Neues von Pawlitschenko?“
„Nichts Wichtiges. Sie verhält sich normal. Also ziemlich unausstehlich.“
„Da bist du ja genau der Richtige…“
„Keine Zeichen von irgendwelchen Spätfolgen ihres kleinen Passierflugs über die Mondoberfläche, sieht man von Eriksens Messdaten ab. Aber es ist ja auch nicht gerade so, als könnten wir sie permanent unter Beobachtung halten. Am liebsten würde ich sie ja unter Quarantäne stellen und rund um die Uhr an Eriksens Elektroden anschließen, aber…“
Als Fliegerheldin, Lieutenant Commander und Staffelführerin war Pawlitschenko dafür einfach zu wichtig. Tremane waren die Hände gebunden.
Auch das, was Pawlitschenko auf dem Mond gesehen hatte, entzog sich hartnäckig einem abschließenden Urteil. Was sie hatten, das war viel zu wenig. Auch wenn die Sichtungen der Pilotin perfekt in etliche seiner Theorien passten…
Der Mond lohnte zweifellos eine nähere Untersuchung – aber ob Tremane das durchsetzen konnte, das stand in den Sternen.
Und auch Falkners…Kontakte würden in dem Fall möglicherweise überfordert sein. Außerdem musste sie vorsichtig sein. Tremane ahnte sowieso schon, dass sie in ihrer Freizeit nicht nur an ihre Familie schrieb. Das war vermutlich nicht zu vermeiden gewesen, aber falls sonst noch jemand von ihrem speziellen Arbeitsverhältnis erfahren würde…
Letztlich hing es aber auch davon ab, für wie aussichtsreich Tremanes Auftraggeber - selbst diejenigen, von denen er nichts wusste - ein paar fragwürdige Aufnahmen und die bestenfalls vagen Aussagen einer psychisch zumindest etwas angeknacksten Pilotin halten würden. Und natürlich, wie sich die militärische Lage entwickelte. Falls die Akarii sich doch noch entschließen sollten, das Medusa-System einer näheren Untersuchung für würdig zu befinden…
Tremane schien der Meinung zu sein, dass kein vernünftiger Mensch inzwischen bezweifeln konnte, dass im Medusa-System die Spuren einer vergangenen Hochzivilisation zu finden waren, die höchstwahrscheinlich direkt mit dem Verschwinden der MARY C zu tun hatten – und indirekt vielleicht auch mit dem Verschwinden eines anderen Schiffes. Und ausnahmsweise war Falkner geneigt, ihm zu glauben. Vielleicht ging er zu weit, wenn er vermutete, dass das System möglicherweise den Schlüssel für die COPERNIKUS-Operation barg. Und dennoch…
Dennoch hatte er sich erstaunlich vernünftig und zurückhaltend mit seinen Vermutungen verhalten. Sie hatte erwartet, dass man Tremane nur mit vorgehaltener Waffe aus dem System würde treiben können. Und dass er ihr pausenlos mit irgendwelchen halbgaren Vermutungen in den Ohren liegen würde. Doch – nichts davon.
Vielleicht färbte ihr gutes Beispiel ab. Vielleicht hatten die Toten der MARY C ihm zu denken gegeben. Auch für Tremane war ein Feldeinsatz, bei dem er mindestens einmal nur sehr knapp dem Tod entgangen war, wahrscheinlich etwas anderes, als die bisherigen Recherchen und Verhöre im republikanischen Hinterland.
‚Oder aber, er brütet etwas aus.’
Natürlich ließ Falkner sich diese Überlegungen nicht anmerken: „Wir sollten Pawlitschenko mindestens noch ein oder zwei Wochen unter Beobachtung halten. Mindestens noch ein Gehirnscan, am besten auch bei einigen der anderen. Und bei Pallardo und Nakakura. Ich frage mich, wie die beiden sich entwickelt haben.“
„Das frage ich mich auch. Eriksen ebenso, vermute ich. Aber da in den Standart-News der TIS und der Flotte nicht von verschwundenen Piloten oder Schiffen die Rede ist…
Wenn einer der beiden – oder beide – mit denselben Symptomen gestorben sein sollten, wie sie bei den Leuten der MARY C auftraten, dann hoffe ich, dass man die Leichen eingelagert hat.“
Der Geheimdienstoffizier blickte auf, als der Türsummer ertönte: „Das dürfte Fuchida sein.“
Tatsächlich war es der Lieutenant Commander von der Relentless. Für drei Menschen war die Kabine eigentlich zu klein, was der Besprechung eine merkwürdig persönliche Nota gab. Aber Falkner hatte nicht die Absicht, sich das entgehen zu lassen.
Da Tremane den einzigen Stuhl und Falkner das Bett okkupiert hatte, musste Fuchida stehen. Falls ihn das verärgerte, dann behielt er es für sich. Seine Stimme blieb ruhig, fast ausdruckslos: „Sie wollten, dass ich persönlich Bericht erstatte, sobald meine Untersuchungen abgeschlossen sind. Womit soll ich beginnen, Commander? Die Sensordaten des Wurmlochs oder…“
„Fangen wir doch erst einmal damit an.“
„Die von Pawlitschenko aufgezeichneten Daten sind eindeutig. Zweifellos wurde das Wurmloch kurz vor unserer Ankunft im Medusa-System benutzt. Die Sprungsignatur lässt auf ein Objekt schließen, das ungefähr die Größe der MARY C haben könnte. Wir können uns zwar nicht vollkommen sicher sein, dass es sich tatsächlich um das Schiff handelte – die Strahlung verzerrt die Daten etwas – aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.“
„Also wurde sie doch nicht zerstört.“
„Dieser Schluss erscheint nahe liegend. An keinem der Sprungpunkte wurden Signaturen gemessen, die darauf schließen ließen, dass ein anderes Schiff abgesehen von der EMERALD JADE, der MARY C und dem Akarii in das System gesprungen ist. Nicht, seitdem die COLUMBIA-Kampfgruppe Medusa passiert hat.“
„Gut…“
„Was mich zum zweiten Teil meiner Untersuchungen führt. Sie gaben mir den Auftrag, den Memory-Chip der Rettungskapsel zu bergen und auszuwerten.“
„…und darüber äußerstes Stillschweigen zu wahren.“
„Dessen bin ich mir bewusst, Commander.“
„Natürlich…Entschuldigen Sie.“
Jean Falkner unterdrückte ein Grinsen. Es kam selten vor, dass ihr Vorgesetzter sich entschuldigte. Entweder er wurde wirklich weich, oder er hielt das, was Fuchida ihm liefern konnte, für wichtiger als seinen Stolz.
„Aufgrund der hohen Strahlung – und einer offenbar völlig inadäquaten Wartung in den letzten Jahren – war der Chip in einem äußerst schlechten Zustand und die Daten mussten erst rekonstruiert werden.“
„Ich wundere mich, dass diese…Piraten den Chip nicht einfach entfernt haben.“
„Vielleicht haben sie seine Existenz ganz einfach vergessen.“ Selbst viele Raumfahrer wussten nicht, dass viele Rettungskapseln standardmäßig über einen Datenchip verfügten, der mit dem Bordlog verbunden und ständig aktualisiert wurde. Veraltete Daten wurden in regelmäßigen Abständen automatisch gelöscht. Sinn und Zweck dieser Maßnahme war es, gegebenenfalls eine unparteiische Auskunft über die Ursache eines Schiffsverlusts erhalten zu können.
„Und was sagen Ihre rekonstruierten Daten?“
„Da das Bordlog offenbar nur sehr sporadisch aktualisiert wurde, abgesehen von den automatischen Aufzeichnungen. Aber die sind aufschlussreich genug. Offenbar operierte die MARY C in den Tagen vor dem…Störfall in unmittelbarer Nähe des Meteoritenfeldes.“
„Das wussten wir doch bereits.“
„Jetzt haben wir die Bestätigung. Laut den letzten automatischen Aufzeichnungen führte die MARY C ein Bergungsmanöver durch. Eine Luftschleuse wurde geöffnet und nach zehn Minuten wieder versiegelt. Das Manöver verlief offenbar problemlos.“ In Fuchidas Stimme schwang jetzt ein merkwürdiger Unterton mit, bei dem sich unwillkürlich Falkners Nackenhaare aufrichteten. Auch Tremane schien es zu bemerken, den in seiner Stimme schwang plötzlich eine Schärfe mit, die vorher nicht da gewesen war: „Und...?“
„Dann brach die Verbindung mit dem Bordlog ab. So als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Oder einen Störsender aktiviert.
Zwei Stunden danach setzte die MARY C den Notruf ab, den wir empfangen haben.“
„Kein Zweifel, was den zeitlichen Ablauf angeht?“
„Keinen.“
Tremane warf Falkner einen Blick zu. Überflüssigerweise. Sie hatte bereits verstanden. Wenn man nicht an einen Zufall glaubte – und das tat keiner von ihnen – dann gab es nur eine Erklärung.
Irgendjemand – oder irgendetwas – hatte absichtlich die Datenverbindung unterbrochen, damit es keine Aufzeichnung darüber gab, was an Bord der MARY C geschehen würde.
Aber auch dieses Wissen brachte wenig Klarheit, verwirrte mehr, als Antwort zu geben. ‚Wer hat das getan? Jemand von der Besatzung, der seine eigene Agenda durchziehen wollte? Oder haben diese Schmuggler durch die ihre Bergungsarbeiten irgendeinen uralten Sicherheitsmechanismus aktiviert? Nein, irgendjemand hat das Schiff immerhin aus dem System gesteuert. Oder haben sie…’ Falkner unterdrückte ein Augenrollen. Das war nun wirklich zu verrückt. Sie fing langsam schon an so zu spinnen wie Tremane.
Aber was auch immer im Kopf des Commanders vorging, er war offensichtlich nicht gewillt, Fuchida daran teilzuhaben: „Danke, Lieutenant Commander. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Wie immer. Was die Aufzeichnungen der Rettungskapsel und Ihrer Analysen angeht…“
Der Lieutenant Commander legte einen Datenchip auf den schmalen Tisch: „Ich ging schon davon aus, dass Sie sie haben wollen. Und dass ich Stillschweigen über die Angelegenheit bewahren soll.“ Fuchidas Stimme blieb ausdruckslos, auch wenn vielleicht so etwas wie ein…leicht spöttischer Unterton in ihr mitschwang.
„Allerdings…“ Tremane blickte kurz zu Falkner, die eine Augenbraue hochzog. Dann nickte sie knapp. Natürlich würden sie überprüfen müssen, ob Fuchida WIRKLICH alle Daten weitergegeben hatte. Denn wenn er Tremanes Befehl vorausgeahnt hatte, dann hatte er vielleicht auch die Zeit gehabt, diese Daten zu kopieren…
„…und dann bräuchte ich noch eine galaktogeographische Analyse der möglichen weiteren Sprungpunkte der MARY C. Wohin könnte sie von dem System, in das sie gesprungen ist, fliegen?“
„Entsprechende Alternativrouten wurden bereits ausgearbeitet und eingetragen. Wenn die Akarii-Korvette allerdings die MARY C aufgebracht haben sollte…“
Wieder wechselten Tremane und Falkner einen kurzen Blick, aber der Commander beschränkte sich auf ein knappes: „Diese Möglichkeit müssen wir natürlich in Betracht ziehen. Danke, Lieutenant Commander.“
Fuchida war nicht der erste gewesen, der diese Idee gehabt hatte. Aber die von Falkner durchgeführten kurzen Verhöre der Gefangenen hatten nichts Derartiges ergeben. Nicht, dass die Akarii-Marines besonders mitteilsam gewesen waren. Und da Falkner auf die Sprachkenntnisse von Lieutenant Davis angewiesen war, hatte sie auch nicht alle ihr eigentlich zur Verfügung stehenden Register ziehen können. Aber nichts in dem Verhalten der Akarii deutete darauf hin, dass sie der MARY C begegnet waren. Oder erwartet hatten, im Medusa-System auf ein TSN-Schiff zu stoßen. Dann hätte der Kapitän der Korvette sich wahrscheinlich auch anders verhalten.
‚Nein, die MARY C haben sie verfehlt. Vielleicht war das auch ihr Glück.’ Tremane nickte knapp: „Das wäre dann erst einmal Alles. Ich werde Ihre hervorragende Arbeit – und besonders ihre Leistung während der Raumschlacht – natürlich in meinem Bericht erwähnen. Leider steht es nicht in meiner Macht, eine Beförderung auszusprechen oder eine Auszeichnung zu verleihen, aber meine Empfehlung haben Sie auf jeden Fall.“
„Danke, Sir.“
Jean Falkner fragte sich boshaft, ob Fuchida auch noch so dankbar sein würde, falls sein Kommandeur oder irgendein hochrangiger Flottenoffizier volle Kenntnis von Tremanes Operation und seinen WIRKLICHEN Zielen erhalten sollte.
In dem Fall dürfte Fuchida wahrscheinlich von Glück reden, wenn er mit einem mordsmäßigen Anschiss davonkam. ‚Und Tremane…den würden sie dann vermutlich am liebsten vor ein Kriegsgericht schleifen.’ Nun, mit etwas Glück würde das nicht passieren.
Tremane schienen solche Bedenken nicht zu belasten. Er war mit dem Datenchip beschäftigt, den Fuchida ihm gegeben hatte. Falkner kam auf die Beine, blickte ihrem Vorgesetzten über die Schulter – und zog überrascht eine Augenbraue hoch. Sie hatte damit gerechnet, dass sich Tremane zuerst auf die vom Bordlog der MARY C überspielten Daten stürzen würde. Aber diese Wette hätte sie verloren. Stattdessen hatte er zuerst Fuchidas astrogeographischen Berechnungen geladen, und studierte die Karte mit einem seltsam angespannten Gesichtsausdruck, der seiner Untergebenen nur zu vertraut war. Tremanes Finger huschten über die Tastatur, während in rascher Folge die möglichen Marschrouten der MARY C aufleuchteten.
Da, jetzt schien er das gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Eine der Linien färbte sich einem unheimlich blutigen Rot und leuchtete unbeirrt weiter, während Tremane einen anderen Datenordner öffnete.
Im nächsten Augenblick gesellte sich eine weitere Linie zu der ersten hinzu. Eine Linie, die ihren Ursprung nicht im Medusa-System hatte, die sich über Dutzende von Lichtjahren erstreckte. Und über weit mehr als einhundert Jahre. Die Flugroute der COPERNIKUS. Eine Linie, die sich irgendwo, am äußeren Rand der Galaxis, weit außerhalb des imperialen oder des republikanischen Raums mit dem möglichen Kurs der Mary C kreuzte.
„Was ist das?“
Tremane zuckte mit den Schultern und runzelte nachdenklich die Stirn: „Das Triumvirat. Ein Trinärsternsystem. Die Sonnen Cäsar, Pompeius und Crassus. Eigenartig.“
Falkner verstand seine Verwirrung. Trinärsterne waren nicht nur sehr selten, sie galten normalerweise auch als kaum geeignet für die Besiedlung, geschweige denn die Entwicklung von Leben.
„Ist irgendetwas bekannt über dieses System?“
„Abgesehen von einigen dürftigen astronomischen Daten…praktisch gar nichts. Man weiß nicht einmal, wie viele Planeten und Monde dieses System hat. Nach meinem Wissen gibt es in diesem Sektor nichts. Keine Hinweise auf eine höher entwickelte oder gar raumfahrende Zivilisation. Was sollte die COPERNIKUS, was sollte die MARY C dort suchen?“
Falkner antwortete nicht. Sie beide wussten die Antwort. Wer konnte schon wissen, wer vor eintausend, vor zweitausend oder vor viertausend Jahren diesen Raumsektor beherrscht und was er dort errichtet hatte. Wer konnte wissen, was dort auch noch heute zu finden war, verborgen durch die solare und galaktische Strahlung, durch den Schutt der Jahrtausende, durch die Schatten der Zeit. ‚Schon wieder ein System, in dem die Strahlung weit über dem Durchschnitt liegen müsste und damit jeden Langstreckenscan verhindert.’
Vielleicht war es gerade die Leere und Verlassenheit dieses Raumsektors, das die beiden Raumschiffe anzog. Die beiden…Geisterschiffe. Denn obwohl Tremane das Wort nicht ausgesprochen hatte, sie wussten es beide. Was auch immer der COPERNIKUS zugestoßen war – etwas Ähnliches musste auch an Bord der MARY C geschehen sein.
Dass Verschwinden des Schmugglerschiffs hätte man auch ‚logisch’ erklären können. Vielleicht würde man auch noch eine Erklärung – IRGENDEINE – für das Schicksal der Männer finden können, die in der Rettungskapsel ein ebenso grausames wie rätselhaftes Ende gefunden hatten.
Die Tatsache, dass in den Systemen, in denen die MARY C und die COPERNIKUS verschwunden waren, Spuren einer unbekannten, raumfahrenden Zivilisation und irgendeiner galaktischen Katastrophe in grauer Vorzeit aufgetaucht waren, konnte man irgendwie als Zufall abtun. Die sehr fragwürdige, rätselhafte Natur der gefunden Spuren würde das erleichtern.
Und natürlich war der von Tremane für die MARY C berechnete Kurs nur eine Alternative unter vielen.
Aber das alles zusammengenommen…Das war zuviel.
‚Na, dann sollten wir wohl die Ohren spitzen, ob irgendwelche Akarii-Schiffe verschwinden.’ Falkner erinnerte sich an das Schicksal des Akarii-Hilfskreuzers MOTRONOS, der das Unglück gehabt hatte, der COPERNIKUS zu begegnen, und unterdrückte ein Erschauern. Sie war nicht besonders abergläubisch, aber dennoch…
Vor allem wenn sie an die Funkbotschaft der MARY C dachte. Und an das Bild, das sich ihnen an Bord der geborgenen Rettungskapsel geboten hatte. An Bord der MARY C war es möglicherweise zu Kämpfen gekommen. Und was hatte die Offizierin der MOTRONOS in ihrem Hilferuf gesagt?
‚…muss mit den Toten und Verwundeten an Bord gekommen sein,
…Offiziere und Mannschaften starben einer nach dem anderen, ohne dass wir den Angreifer…
…unmöglich, die Brücke weiter zu halten. Ich weiß, dass es da draußen ist. …
Was es auch ist…kein Mensch. Ein Mensch könnte niemals…’
„Andrew…“
„Ich weiß.“
„Langsam fange ich an zu glauben, dass du vielleicht doch Recht haben könntest.“
Der Commander antwortete nicht, sondern blickte scheinbar in Gedanken versunken auf den Bildschirm, während seine Finger einen seltsam unregelmäßigen Takt trommelten.
Seine Untergebene verdrehte die Augen. Er war mal wieder in DEM Modus: „Kein Grund, ein Fass deswegen aufzumachen.“
Der Commander blickte jäh auf: „Dann bleibt noch eine Frage offen. Ich meine, eine von denen, die wir an Bord dieses Rattenfrachters lösen können.“
„Hmm..?“
Tremane antwortete nicht, sondern erhob sich abrupt und verließ den Raum.
„Was…Andrew?“
Keine Antwort. Nur sich entfernende Schritte. Mit einem gemurmelten Fluch kam Falkner auf die Beine und folgte ihrem Vorgesetzten.
Cattaneo
Tyr
„Also, Lieutenant Commander Georges. Sie hatten fast zwei Wochen Zeit. Ich hoffe Sie können mir endlich eine Antwort auf meine Frage liefern?“
Der NSC-Offizier wirkte etwas nervös. Vermutlich lag es daran, dass sich der Geheimdienstler so dicht vor ihm aufgebaut hatte, dass es eine ebenso eindeutige wie absichtliche Verletzung von Georges Wohlfühlbereich darstellte.
„Ich hatte auch noch andere Pflichten, Commander…“
„Nicht so viele, wie wir alle anderen, möchte ich doch meinen. Außerdem nehme ich mal an, dass diese Frage in Ihrem Interessensgebiet liegt. Also?“
„Es wäre wesentlich einfacher gewesen, wenn Sie mir hätten sagen können, woher dieses Wort stammte, das ich untersuchen sollte, wissen Sie? Sethana…Sie konnten mir nicht mal sagen, ob das ein Name, ein Verb oder ein Substantiv ist.“
„Tut mir leid, aber selbst wenn ich das wüsste, gibt das Ihre Sicherheitseinstufung nicht her. Es muss Ihnen genügen zu wissen, dass es möglicherweise in einem – zumindest indirekten Zusammenhang – mit einigen Funden stehen könnte, die wir denen zuordnen, die Sie die ‚Älteren’ nennen. Das ist Alles, was ich Ihnen geben kann.“
Falkner unterdrückte ein Zucken ihrer Mundwinkel. Für jemanden, der niemals an einer RICHTIGEN verdeckten Operation teilgenommen hatte und dem eine entsprechende Schulung fehlte, log Tremane wirklich ziemlich routiniert.
Kein Wort davon, dass es das geborgene Besatzungsmitglied der MARY C gewesen war, das ihnen dieses Wort wieder und wieder ins Gesicht gebrüllt hatte. Bevor er sich selber die Kehle durchschnitt.
Natürlich stellte sich die Frage, ob Tremanes Verneblungsmanöver überhaupt noch einen SINN hatte. Immerhin waren auch Doktor Eriksen und Schwester Rudkiewics anwesend gewesen. Aber falls es Georges bewusst war, dass Tremane ihm einen Bären aufband, dann ließ er sich das nicht anmerken.
„Sie müssen sich natürlich klar darüber sein, dass mein Zugriff auf die Datenbanken unter den Umständen unseres Transitfluges begrenzt und unzuverlässig war.“
„Ich will nicht, dass Sie einen Artikel in einer Fachzeitschrift schreiben. Ich will wissen, was dieses Wort bedeutet.“
„Also gut…aber nur unter Vorbehalt.“
„Ich werde das im Kopf behalten, Lieutenant Commander.“
„Sind Ihnen die Sarrkush ein Begriff?“
„Nur flüchtig.“ Tremane interessierte sich nicht besonders für Aliens, die noch nicht einmal das Rad erfunden hatten.
Lieutenant Commander Georges verstand die Antwort allerdings offenbar als Aufforderung zu einer Erläuterung: „Die Sarrkush bewohnen den gleichnamigen Planeten am Rande der FRT. Es handelt sich um ein Volk primitiver aber vernunftbegabter Primatenartiger.“
Auf dem Bildschirm erschien die Holoaufzeichnung einiger geduckt aufrecht gehender Humanoider. Auf einige Entfernung konnte man sie vielleicht tatsächlich mit Menschen verwechseln. Aus der Nähe jedoch…
Tremane war sich nicht sicher, ob er diese Wesen exotisch, oder ganz einfach hässlich nennen sollte. Was als erstes auffiel, war die ungewöhnlich dunkle, schwarzgraue bis dunkelbraune Hautpigmentierung, die auf allen sichtbaren Hautpartien leicht zu variieren schien und seltsame Muster und Flecken bildete.
Die schwarzen oder dunkelbraunen Haare wirkten erstaunlich…menschlich, und wurden offen, zurückgebunden, oder in teilweise recht kunstvoll wirkenden Zöpfen getragen.
Die Schädelform erschien nur auf den ersten Blick menschlich. Tatsächlich aber waren die Schädel länglicher, mit kurzen, wuchtigen Schnauzen, weniger stark ausgeprägt als bei den Akarii, aber deutlich weniger ‚menschlich’, als etwa die Köpfe der T’rr. Die Ohren wiederum wirkten verwirrend menschlich, auch wenn die Ohrmuscheln etwas länger und ausgeprägter waren. In Kombination mit den ungewöhnlich großen Augen, deren gelbe, dunkelrote oder grüne Pupillen das Augenweiß fast vollständig verdrängten, erinnerten die Köpfe der Sarrkush auf beunruhigende Art und Weise an die Schädel von großen, haarlosen, kurzschnäuzigen Katzen. Die kleinen, aber gefährlich spitzen Zähne unterstrichen den Eindruck noch, ebenso wie der geduckte, geschmeidig wiegende Gang der Humanoiden.
„Man hat sie als primatenartig klassifiziert, weil ihr Körperbau alles im allem mit dieser – irdischen – Gattung noch die größten Ähnlichkeiten aufweist. Aber im Gegensatz zu Primaten sind sie überwiegend dämmerungs- und nachtaktiv, und zudem spielt Fleisch eine deutlich größere Rolle bei ihrer Ernährung, als das bei sämtlichen bekannten Primaten und fast allen bisher erforschten Hominiden der Fall war.
Tatsächlich sagt die Klassifikation als ‚Primatenartige’ mehr über uns aus, als über die Sarrkush. Denn bisher ist es noch nicht gelungen, auf Sarrkush irgendeine lebende oder ausgestorbene Tierart zu finden, aus der sie sich entwickelt haben könnten.“
„Das mag ja für Extrabiologen interessant sein, aber ich weiß nicht, wie uns das weiterhelfen soll.“
„Die Sarrkush befinden sich auf einer steinzeitartigen Kulturstufe der Jäger und Sammler, und das wahrscheinlich bereits seit mehren tausend bis zehntausend Jahren. Es ist ungewiss, ob sie auf dieser Zivilisationsstufe stehen bleiben, oder den Schritt zu Sesshaftigkeit, zum Ackerbau und der Metallverarbeitung vollziehen werden. Es gibt einige Anzeichen dafür, denn immerhin nutzen sie in reiner Form vorkommende Metalle für Kult- und möglicherweise auch Gebrauchsgegenstände.
Allerdings sind die Vorraussetzung für ihre Fortentwicklung nicht unbedingt günstig. Die Landmasse von Sarrkush besteht aus einem einzelnen Superkontinent und einer Reihe größerer und kleinerer Inselarchipele, die übrigens fast alle von den Sarrkush besiedelt wurden.
Auf dem Hauptkontinent können – mit wenigen Ausnahmen – nur die Küstenregionen als lebensfreundlich bezeichnet werden. Hohe Gebirge, ein fast ausschließlich arides Klima, und daraus resultierende ausgedehnte Steppen- und Wüstenlandschaften erschweren den Vorstoß in das Landesinnere, während allerdings an den Küsten Tsunamis und Wirbelstürme eine ernste Gefahr darstellen.
Dazu kommt eine Fauna, die von einer ganzen Reihe von Spitzenpredatoren dominiert wird – einigen Säugetierarten, aber auch einer ganzen Reihe gefährlicher Reptilien- und Vogelarten, die alle für eine nur mit Stein-, Holz-, und Knochenwaffen ausgestattete Jägergesellschaft eine ernste Bedrohung darstellen können. Im Meer sieht es auch nicht besser aus.
Sarrkush ist zudem tektonisch recht aktiv – der Kontinent ist im Begriff, auseinander zu driften. Es herrscht keine Einigkeit, ob sich das positiv oder negativ auf die Entwicklung der Sarrkush auswirken wird.
„Na und? Dann haben diese Höhlenmenschen eben von der Evolution eine Gelbe Karte bekommen. Georges…“
„Ihre niedrige Kulturstufe verbietet zwar eine direkte Kontaktaufnahme, macht die Sarrkush jedoch gleichzeitig zu einem interessanten Forschungsobjekt. Dabei setzt man vor allem auf luft-, land- und seegestützte Drohnen, Satteliten und teilweise auch getarnte Abwurfsensoren. Allerdings sind Naherkundungsmaßnahmen ziemlich umstritten, und es gibt eine heftige Kontroverse über…“
Tremane schnaufte abfällig: „Irgendwelche Ethikdebatten sind mir gleichgültig. Kommen Sie endlich zur Sache.“ Eigentlich wollte er Georges eine möglichst lange Leine lassen, aber seine Weitschweifigkeit strapazierte die Geduld des Geheimdienstoffiziers zunehmend.
„Jedenfalls verfügen wir über ungewöhnlich umfassende, fast intime Kenntnisse in das Leben der Sarrkush. Trotz ihres…archaischen Aussehens und ihrer prähistorischen Lebensweise haben sie eine erstaunlich hoch entwickelte Kultur. Sie besitzen bemerkenswert effektive Jagdwaffen und stellen hochseetüchtige Einbäume her. Zwar kennen sie keine voll entwickelte Arbeitsteilung, dafür haben sie aber eine ungewöhnlich reiche Sagen- und Götterwelt, zahlreiche bemerkenswert ausdifferenzierte Idiome, und ein erstaunlich komplexes Brauch- und Rechtswesen. Für Steinzeitwesen, meine ich. Sie organisieren sich in Familien, in Wandergruppen von bis zu achtzig Individuen, und in Stämmen, die tatsächlich über ein zumindest vage vorhandenes Zusammengehörigkeits- und Identifikationsgefühl verfügen.
Ihre Bräuche sorgen für eine bemerkenswert nachhaltige Ressourcennutzung und Bevölkerungskontrolle und garantieren, dass Zusammenstöße zwischen einzelnen Jagdgruppen relativ selten, und verhältnismäßig verlustarm sind.
Bei der Tradierung ihrer Erfahrungen und Erinnerungen setzen sie nicht nur auf rituelle und populäre Gesänge und Sagen, sondern auch auf Ritzzeichnungen und Malereien auf Felswänden und bestimmten, extrem widerstandsfähigen und langlebigen Riesenbäumen, sowie Holz-, Knochen-, Elfenbein- und Specksteinstatuetten und -reliefs.“
„Aus anthropologischer Sicht sicherlich ungemein faszinierend.“
Einmal in seinem Arbeitsgebiet, ließ sich Georges durch die Sticheleien seines Vorgesetzten nicht aus der Ruhe bringen: „Sie wissen, dass einige der Fels- und Baumreliefs der Sarrkush als Hinweis auf einen möglichen Kontakt mit einer hoch entwickelten extraterrestrischen Kultur gedeutet werden. Vor allem angesichts der bisher noch nicht identifizierbaren genetischen Wurzel der Sarrkush auf ihrer…Heimatwelt…hat dies zu einer sehr kontroversen Debatte geführt.“ Georges verschwieg dabei allerdings, dass den Befürwortern einer früheren extraterrestrischen Beeinflussung vorgeworfen wurde, durch ihre Spekulationen einer noch intensiveren und invasiven Erforschung der Sarrkush Vorschub zu leisten.
„Derartige Spekulationen überlassen Sie mal besser der Boulevardpresse.“
„Eine erst kürzlich gemachte Entdeckung könnte diesen Vermutungen eine neue Richtung geben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, wird der Kontinent teilweise durch ein System gigantischer Flüsse durchzogen, die sich teilweise über tausend Meter tief in den Boden gegraben haben. In diesen Flusstälern hat sich ein völlig eigenes Ökosystem entwickelt, das in einer engen Wechselwirkung mit den sich über zehntausende Quadratkilometer erstreckenden unterirdischen Höhlen- und Flusssystem steht.“
„Jetzt reicht es aber langsam. Was soll das hier werden, ein verdammtes Werbeveranstaltung? Ich will auf dem Planeten nicht Urlaub machen! Mich interessiert nur, ob Ihre Informationen irgendetwas NÜTZLICHES für unsere Aufgabe enthalten.“
„Nur noch ein paar Minuten, Sir.
Offenbar haben die Sarrkush schon vor Jahrtausenden angefangen, dieses Schluchten- und Höhlensystem zu besiedeln. Oder aber – so eine andere These – dieser Lebensraum stellt die ihre eigentliche Wiege dar. Das würde zum Beispiel ihre eher nachtaktive Lebensweise erklären. Oder die Tatsache, dass wir bisher noch keine Tierart identifizieren konnten, die mit den genetischen Vorfahren der Sarrkush verwandt ist. Die Schluchten erforschen wir erst seit fünf Jahren, und über die Höhlensysteme wissen wir fast gar nichts, bis auf ihre Ausdehnung.
Die Sarrkush, die diese Lebensräume besiedelt haben, haben sich seit mindestens sechs- bis zwölftausend Jahren praktisch eigenständig entwickelt. Es gibt begrenzte kulturelle, wirtschaftliche und wohl auch genetische Kontakte mit den ‚Oberflächen-Sarrkush’, aber dennoch unterscheiden sich die Kulturen fast ebenso stark, wie…also mindestens wie die afrikanischen und amerikanischen Ureinwohner. Sie haben unterschiedliche Sprachen, Bräuche…
Wegen ihrer Lebensweise hat die Boulevardpresse diese Sarrkush übrigens ‚Morlocks’ getauft. Sie praktizieren nämlich möglicherweise vereinzelt rituellen Kannibalismus. Zwar auch nicht mehr, als es ihre Verwandten auf den Ebenen es offenbar tun, aber…“
Tremane ließ nicht erkennen, ob diese Reminiszens auf einen alten Sciencefiction-Klassiker ihm irgendetwas sagte: „Führt das noch mal zu etwas?“
„Man fand Hinweise, dass es in ihren tradierten Überlieferungen die gleichen Spuren einer extraplanetaren Beeinflussung gibt, wie bei ihren Artgenossen an der Oberfläche.“
Tremane musterte Georges drohend: „Wenn diese Hirngespinste jetzt alles sind, weswegen Sie mir zehn Minuten lang irgendwelchen xenopaläontologischen Mumpitz vorgekaut haben…“
„Und es gibt eine Reihe von Wörtern, die in beiden Kulturen – und in fast allen Stammessprachen – die gleichen sind. Ohne dass man ihren Ursprung oder ihre linguistische Wurzel identifizieren konnte. Eines davon…ist Se’than.“
Tremane zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Stromschlag verpasst: „Sind Sie sicher?!“
„So sicher, wie wir dank unserer Aufzeichnungen sein können. So sicher, wie man sein kann, solange wir keinen Ethnologen auf den Boden schicken können, der die Sarrkush direkt befragt.“
„Und was bedeutet dieses Wort?“
„Es hat viele Bedeutungen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet es offenbar irgendetwas wie ‚Himmelsfeuer’. ‚Feuersbrunst’. Und auch ‚Blitz’. Möglicherweise wird es auch für Vulkanausbrüche gebraucht, wobei sich dann die Alltags- und die kultische Bedeutung offenbar überschneiden.“
„Und diese kultische Bedeutung?“
„’Vernichtung’. Und ‚Wiedergeburt’.“
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Einige Stunden später
Da sie sich inzwischen längst wieder im republikanischen Raum befanden, hatte die Wachsamkeit an Bord der EMERALD JADE deutlich nachgelassen. Momentan war Kapitänin Victor die einzige, die im Cockpit ihren Dienst versah. Als Lieutenant Commander Jean Falkner eintrat, wurde sie geflissentlich ignoriert. Nach den Ereignissen der letzten Wochen – vor allem nach der Raumschlacht mit dem Akarii-Raider und dem Tod eines Besatzungsmitglieds – hatte sich das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Victor und ihren ‚Auftraggebern’ nicht eben verbessert.
Aber Falkner konnte das im Augenblick auch nur Recht sein. Sie beugte sich über das Funkgerät. Kurz nach dem Start hatte sie es mit Wissen der Kapitänin verwanzt, so dass jeder Funkspruch aufgezeichnet und an Tremane und Falkner weitergemeldet wurde. Was Victor allerdings nicht wusste – und Tremane auch nicht – war die Tatsache, dass sich diese Sicherheitsvorkehrung mit einem einfachen Knopfdruck deaktivieren ließ.
Mit ruhigen, fast beiläufigen Bewegungen die nichts von ihrer unterdrückten Nervosität verrieten, machte sich die Lieutenant Commander an dem Gerät zu schaffen. Deaktivierte die Aufzeichnungsfunktion. Öffnete einen Funkkanal. Und speiste ein Audiosignal ein, das für einen ahnungslosen Zuhörer wahrscheinlich im Rauschen der Statik untergehen musste. Ein paar Sekunden später war alles vorbei und sie wandte sich wieder zum Gehen. Es war während der ganzen Zeit nicht ein einziges Wort gefallen.
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Seaport, Interplanetar Crime Report
Agenten des SBI (Seafort Bureau of Investigation) führten heute an mehreren Punkten in Neu Kapstadt eine Reihe von Razzien durch, in deren Verlauf es zu teilweise heftigen Schusswechseln mit kriminellen Elementen kam. Im Verlauf der Auseinandersetzungen kamen mindestens ein Dutzend Straftäter ums Leben, eine unbekannte Anzahl wurde schwer verletzt. Laut offiziellen Angaben wurde ein Agent des SBI schwer verletzt, zwei Polizisten getötet. Die von Einheiten der City Police und dem Zoll unterstützten SBI-Kräfte meldeten überdies die Festnahme von über sechzig Personen, und die Sicherstellung großer Mengen an Drogen, Waffen, und Konterbanden.
Die die Operation leitende Agentin Khady Ndour teilte mit, dass die Operation Teil einer langfristig vorbereiteten Kampagne gegen das organisierte Verbrechen sei, bei der das SBI in enger Kooperation mit der Polizei und anderen Sicherheitsorganen operierte.
Laut unbestätigten Informationen richteten sich die Razzien überwiegend gegen Lagerhäuser und Freizeiteinrichtungen im so genannten ‚ Roten Sektor’ (Internationales Viertel), die sich angeblich in dem Besitz von Taribu Ikedia befanden, einem Geschäftsmann, dem man enge Beziehungen zum organisierten Verbrechen nachsagte. Im letzten Jahr wurde ein gegen ihn eingeleitetes Verfahren wegen Schmuggel, Schwerer Körperverletzung, Totschlag und Anstiftung zum Mord aus Mangel an Beweisen fallengelassen.
Angeblich befindet sich Ikedia inzwischen im Gewahrsam des SBI.
Auf die Frage, ob der Zugriff im Zusammenhang mit Informationen stehe, die angeblich von dem NIC oder dem TIS zur Verfügung gestellt wurden, wie eine ungenannte Quelle im SBI behauptete, antwortete Agent Ndour: „Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität arbeiteten wir auf das Engste mit allen anderen zivilen und militärischen Organen zusammen. Dazu gehört auch der Austausch von Informationen.“
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Ungefähr zur selben Zeit
Elektronischer Kurzbericht an Capt. Walker, Polizei, Internationales Viertel:
Bestätigung, bei der Leiche handelt es sich um Slick, William Tovaru. Jemand hat ihm das Hirn mit einem Laser püriert. Und außerdem die Eier weg gebrannt. Wenn der Kerl Glück hatte, dann NACHDEM er ihn umgebracht hat. Keine Anzeichen für einen Kampf. Geschätzter Todeszeitpunkt vor ein paar Tagen. Er ist als schon ziemlich reif.
Lt. Spector
Antwort: Wann lernst du es endlich, ordentliche Berichte zu schreiben? Schaff den Stinker in die Leichenhalle, und schick den Papierkram an die Mordabteilung. Sollen die doch entscheiden, ob ihnen das ihre Zeit wert ist. Eine Kakerlake weniger in unserem Zuständigkeitsbereich.
Capt. Walker
Cattaneo
Ace
Der Flug von Sterntor zur Erde war relativ ruhig verlaufen. Um nicht zu sagen, regelrecht entspannt. Außerdem war die Reisezeit im Kurierboot akzeptabel kurz gewesen, trotz der reichlichen Zwischenstopps, die das Boot hatte einlegen müssen. Nach nicht ganz fünf Tagen hatte Justus Schneider sein Ziel erreicht: Terra. Zufriedener hatte ihn das nicht gemacht. Fünf Tage hatten bei weitem nicht gereicht, um die Mischung aus Sorge, Ärger und Irritation zu unterbinden, die ihn im Griff hatte, seit Mithel ihm den Marschbefehl überreicht hatte.
Nun saß er hier, im Warteraum des Quartermasters der Navy, und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ein Schreibtischjob? Die Admiralität? Immerhin war er verdammt fix zu seinem vierten Goldring gekommen. Für den Geschmack einiger sicher zu schnell. Also, standen ihm Ketten oder Flügel bevor? Von der KAMI abberufen zu werden sah er allerdings in keinem Fall als gutes Zeichen. Und vor der Tür des Quartermasters zu warten war auch nicht gerade dazu angetan, ihm Hoffnung darauf zu machen, zu seinem Kommando zurückkehren zu können. Oder ein neues zu erhalten.
"Sie können jetzt rein gehen, Sir.", informierte ihn der Petty Officer im Vorraum.
Justus tat wie geheißen, nahm die weiße Schirmmütze in die linke Armbeuge und betrat das Büro von Vice Admiral Jakob Stone. "Admiral, Captain Justus Schneider. Ich melde mich wie befohlen."
Irritiert stellte Justus fest, dass der Schreibtisch nicht besetzt war. Allerdings erkannte er den alten Stone am Besprechungsraum. Es bedurfte nur einer unwesentlichen Drehung, um so tun zu können, als hätte er von vorne herein auf ihn geschaut.
Stone indes sah nur von den Unterlagen auf, die auf dem großzügigen Konferenztisch ausgebreitet waren. "Ah, Schneider, sehr schön. Ich nehme an, ich muss Admiral Doumut nicht erst vorstellen."
Natürlich musste er das nicht. Auch wenn Jean Doumut keine Flotte befehligte, so kannte doch jeder Offizier, der sein Geld wert war, den Chef der Abteilung für Schiffsbau. Einige hatten aus seiner Hand die Schlüssel ihres neuesten Kommandos entgegen genommen. Niemand würde es je wagen, es sich ernsthaft mit dem ältesten Fuchs im Stall zu verscherzen. "Nein, Sir." Er deutete eine unmilitärische Verneigung in Richtung Doumut an. "Sir. Die KAMI fliegt sich gut."
Über das Gesicht des Kanadiers flog ein kurzes Grinsen, dann winkte er Schneider zu sich, Stone, und einem Dutzend Offiziere und Ingenieure - Zivilisten von Vickers und Blohm&Voss, wie Schneider schnell erkannte. "Kommen Sie ran, Captain. Wir und die Herren Ingenieure sprechen gerade über einige der Details über die KAMI, und über einige der Sachen, die Sie uns besser verschwiegen hätten. Wurde auch Zeit, dass Sie da sind. Jakob und ich haben mehr als einen Streitpunkt darüber, was eine sinnvolle Investition ist, und was reine Geldverschwendung."
"Jean, du musst die Mistdinger nur bauen. ICH muss sie versorgen. Verzeih bitte, dass ich erst über Sinn und Unsinn nachdenke, bevor ich ein paar Flottenversorger umbauen lasse oder neu auf Kiel legen lasse."
"Zieh die Krallen wieder ein, Jakob. Genau deshalb sind wir ja hier." Doumut sah Schneider mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ihr Chefingenieur ist nicht bei Ihnen."
"Ich hatte keinen Befehl, ihn mitzubringen, Sir", erwiderte Schneider, als er sich einen Platz am Tisch suchte. "Überdies ist er nicht mehr mein Chefingenieur. Ich wurde von der KAMI abgezogen."
"Ach, in der Tat? Nun, ein Captain sollte sein Schiff kennen, also sollten Sie reichen. Lassen Sie uns also mal über die Akarii-Waffen reden. Effizienz, Fehleranfälligkeit, Nachladezeiten, Wartungsaufwand, Kompatibilität mit terranischer Soft- und Hardware, und, und, und."
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Schneiders Gesicht. "Ich werde mein Bestes geben, Sir."
***
Nach acht geschlagenen Fragestunden saß Justus Schneider erschöpft in einem der Besuchersessel in Admiral Stones Büro. Mitfühlend reichte ihm Doumut einen Scotch auf Eis. "Den haben Sie sich verdient, Junge. Tja, was soll ich sagen, unsere Leute und die Vickers-Jungs sind eben neugierig. Aber ich denke, wir konnten heute erfolgreich einige Detailfragen ausräumen." Er seufzte. "Auch wenn das bedeutet, dass ich für die Nachrüstungen an anderer Stelle werde streichen müssen. Ich kann leider jeden Real nur einmal ausgeben."
"Und ich werde mein Budget auch umstellen müssen.", murrte Stone. "Wie ich mir dachte ist Akarii-Technologie teurer in der Unterhaltung, und damit aufwändiger. Auf uns kommt einiges an Kosten zu. Allerdings erhöht es insgesamt die Überlebensrate der Flotten, und das kommt mein Ressort dann günstiger als Neubauten."
Commodore Porter Antonelli, der vierte noch anwesende Offizier, grinste bei diesen Worten. Als Vertreter des Naval Science Corps hatte er dem Treffen ebenso wie Justus als Berater beigewohnt. "Ich bin erstaunt, dass Sie überhaupt zugestimmt haben. Wenn ich daran denke, wie lange für die Einführung der Nighthawk und der Falcon hatte gekämpft werden müssen..."
Stone lachte leise. "Das waren ja auch brandneue Entwürfe. Man produziert doch nicht zehntausend fliegende Versager. Bei den Akarii-Technologien sieht es anders aus. Die ist schon ein paar Jahrhunderte bewährt, und wir müssen nur dafür sorgen, dass sie bei uns ebenso zuverlässig funktioniert." Er grinste dünn. "Tatsächlich sind wir schon dabei, einige Technologien umzurüsten. Vor allem im Waffen- und Schildsektor. Wir versprechen uns davon eine bessere Offensivkraft."
Doumut räusperte sich vernehmlich. "So kann man es natürlich auch sagen. Stimmt das Naval Science Corps darin überein, dass unsere - finanzierten, natürlich - Modifikationen sinnvoll sind?"
Antonelli grinste dünn. "Selbstverständlich, Sir. Aber ich bin heilfroh, dass das eine Navy-Entscheidung ist, die nicht durch das Parlament muss."
"Ich glaube, das sind wir alle, Porter, das sind wir alle.", murmelte Stone. Er warf Schneider einen Blick zu. "Bevor ich es vergesse, Justus, melden Sie sich morgen früh Null Neunhundert im Commodore Antonellis Büro. Sie haben ja Zeit, jetzt wo Sie kein Kommando mehr haben."
Justus spürte, wie ihm Zornesröte in die Wangen schoss. Aber mustergültig beherrschte er sich. "Jawohl, Sir."
"Sie leisten gute Arbeit, finde ich, Justus", fügte Doumut an. "Sie kennen Ihre KAMI sehr genau. Für uns hat es jedenfalls gereicht. Und ich schätze, wir können dankbar dafür sein, dass Sie akademisch im Physikbereich vorbelastet sind."
"Unter anderem, Sir", wandte Schneider ein.
"Wie dem auch sei. Sie können sicher sein, Justus, dass Sie heute nützlich für uns waren. Und Sie können sicher sein, dass die letzte Fahrt der KAMI sehr nützlich für uns war. Das gibt Pluspunkte in Ihrer Akte, mein Junge." Stone hielt ihm sein Whiskyglas zum Anstoßen hin.
"Danke, Sir. Aber ein Kommando wäre mir lieber."
"Oh, alles zu seiner Zeit, Captain.", sagte Antonelli. "Erst einmal stehen Sie Admiral Stone und Admiral Doumut zur Verfügung. Dies war sicher nicht die letzte Sitzung."
"Gewiss nicht. Morgen ab Mittag geht es primär um die Triebwerke und deren Vernetzung in unserem Rechnerverbund. Kommen Sie eine halbe Stunde früher, Justus."
Schneider nickte und nippte an seinem Glas. Gut, zumindest schien sich kein allzu großer Karriereknick abzuzeichnen. "Ja, Sir."
***
Als er am nächsten Morgen in Commodore Antonellis Allerheiligstem saß, konnte eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken. Maß er diesem Treffen mehr Wert zu als es besaß? Sein Magen behauptete ja, und eigentlich war auf das Mistding Verlass. Andererseits befand er sich hier im Hauptgebäude des NSC, der Zentrale der Eierköpfe. Und diese Bande war immer mehr Wissenschaftler als Offizier. Eine Menge Wissenschaftler hatte einen dienstlichen Rang, aber nicht unbedingt die Qualifikation dafür. Zumindest keine militärische.
Antonelli stellte einen Kaffee vor Justus ab. "Danke, Sir."
Porter Antonelli musterte ihn ein paar Sekunden lang, bevor er zu sprechen begann. "Sie sind merkwürdig, Justus."
"Wie bitte, Sir?"
"Ich meine Ihre verdammte Akte. Tapferkeitsauszeichnungen, Belobigungen von Vorgesetzten auf der einen Seite, aber Eintragungen, Verweise und Ihre Dienstzeit auf der KAZE auf der anderen Seite. Es ist ein wenig so, als könnten Sie sich nicht entscheiden, ob Sie Captain Hikaru Chen, oder Piratenfürst Miles Cox sein wollen."
Justus schluckte hart. Natürlich kannte er die historischen Hintergründe für "Das blaue Band" aus den Medien, und aus dem Lehrstoff der Akademie. Der Vergleich traf ihn, traf ihn hart. "Sir, wenn ich darauf hinweisen darf: Die KAZE hat stets alle Aufträge zur vollsten Zufriedenheit der Admiralität erledigt. Gut, ich gebe zu, während meines Dienstes als Kommandeur der KAZE war ich unbequem, gerade für ranghöhere Offiziere außerhalb der Befehlskette. Aber sie war ein gutes Schiff mit einer guten Crew, die immer das getan hat, was man von ihr erwartete. Ich glaube, der Verteidigungsreflex ist mir da zur Gewohnheit geworden."
"Ihre Leistungen stehen außer Frage. Bei Ihrem Ruf bin ich da etwas anderer Meinung. Einer Ihrer alten Vorgesetzten bezeichnete Sie als asozial, und hat das auch in die Dienstakte aufgenommen. Ein anderer warf Ihnen vor, Privates und Dienstliches zu verquicken. Und damit meinte er keine Affären, sondern Schmuggel."
Justus spürte, wie ihm das Herz bis an den Hals pochte. Er hätte nicht erwartet, ausgerechnet hier mit diesen alten Vorwürfen konfrontiert zu werden, die er zudem mit seinem Dienst auf der KAZE aus seiner Akte getilgt geglaubt hatte. Aber manche Dinge wurden wohl nie heraus gestrichen. "Ich denke nicht, dass ich mich hier und heute verteidigen muss, Commodore.", erwiderte er scharf.
"Verteidigen vielleicht nicht.", merkte Porter Antonelli an. "Aber vielleicht könnten Sie mir Ihre Sicht der Dinge schildern?"
"Ich bin Weltraumgeborener, Sir. Einigen meiner Vorgesetzten reichte alleine das schon, um mich, ah, besonders zu fordern, und, ah, mich meinem Naturell entsprechend zu behandeln." Antonelli machte ein verständnisloses Gesicht.
"Wenn Fehler passierten, wenn Dinge nicht aufzufinden waren, wenn aufwändige Sonderarbeiten zu erledigen waren, stand ich stets ganz oben auf der Liste der Verdächtigen."
"Oh, das erklärt den Eintrag von Captain Zimmer, dass Ihnen nie etwas bewiesen werden konnte. Eine Sache, die in einer Dienstakte eigentlich nichts verloren hat. Wir brauchen da nur Fakten."
Justus entspannte sich etwas. Gut, er war hier nicht zur Inquisition. "Darf ich fragen, Sir, warum Sie sich für meine Dienstakte interessieren?"
"Rein dienstlich, Captain Schneider. Rein dienstlich. Abgesehen davon, dass Sie die KAMI kommandiert haben, natürlich. Ehrlich gesagt war ich auch neugierig. Kommen Sie eigentlich gut mit Wissenschaftlern aus? Ich meine besser als mit Captain Baker, den Sie auf Barcelona Station niedergeschlagen haben?"
"Ach, Captain ist die kleine Ratte mittlerweile?"
"Ratte?" "Eine Bezeichnung, die ich stets für Leute reserviere, die ohne Rücksicht auf andere ihre Ellenbögen gebrauchen, um voran zu kommen. Er ist kein besonders guter Physiker, aber das kompensiert er mit seinem Rang."
"Oh, tatsächlich? Also, haben Sie?" "Ihn niedergeschlagen?" "Ja, Captain."
"Mit welcher Antwort gewinne ich den großen Preis?"
Porter Antonelli grinste breit. "Mit einem ja."
"Nein, Sir, ich habe ihn nicht niedergeschlagen."
Antonelli wirkte enttäuscht. "Schade, er behauptet das immer sehr gerne von Ihnen."
"Aber als ich ihm einmal aufhelfen wollte, habe ich wohl Geschwindigkeit und Richtung meiner Hand etwas falsch eingeschätzt", fügte Justus trocken an.
"Aufhelfen?" "Jemand hatte ihn niedergeschlagen, Sir."
"Ah, ich verstehe." Er klopfte mit der Rechten auf seinen Schreibtisch. "Okay, ich denke, Sie haben den Job. Sie sind unorthodox, haben Eier in der Hose, und Sie können mit blasierten Arschlöchern umgehen. Alles was Sie brauchen, um eine Horde Wissenschaftler zu überleben."
"Job, Sir?"
Antonelli griff nach einer Akte auf seinem Schreibtisch, und warf sie Schneider zu.
"Das ist das Dossier der TESLA, einem unserer neuesten Forschungsschiffe. Dieses Baby ist speziell dafür ausgerüstet, um Wurmloch-, und Gravitationsfeld-Forschung zu betreiben. Wir brauchen für das Schiff einen erfahrenen Kommandanten, der einerseits tolerant, andererseits aber nicht zu nachgiebig ist. Jemand der eine Grenze ziehen kann. Einen Soldaten, der aber auch versteht, was in einem Eierkopf vorgeht, wie ihr Kommissköpfe uns Forscher gerne nennt. Sind Sie dieser Mann, Justus Schneider?"
Leise pfeifend betrachtete er das Dossier. "Vierhundert Meter. Fünfundzwanzigtausend Tonnen. Das sind die Ausmaße eines Zerstörers."
"Verwechseln Sie sie nur nicht damit. Sie ist ein Forschungsschiff, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir wollen sie Ihnen anvertrauen, für einige wichtige Missionen, die dieses und nächstes Jahr laufen sollen. Ich will sie Ihnen anvertrauen. Sind Sie dabei?"
Schneider erhob sich. "Ich dachte, nach dem Kommando über ein Ticonderoga könnte ich mich nicht mehr steigern, aber ich sehe, ich habe mich geirrt. Ich nehme dankend an, Sir."
"Dann herzlich willkommen in der Forschungsflotte des Naval Science Corps, Captain Schneider. Auf Sie wartet eine Menge Arbeit." Er streckte die Hand aus, und Justus griff zu, um sie mit kräftigem, trockenem Händedruck zu schütteln. Doch ein Schiff, doch ein Kommando. Seine schlimmste Sorge wurde keine Realität. Kein verdammter Schreibtischjob für Justus Schneider. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Cattaneo
Ace
Manchmal geschehen Dinge nicht so, wie sie sollen. Das kann verschiedene Ursachen haben. Schlechte Planung, falsches Timing, eine Verkettung unglücklicher Umstände... Nicht selten hatte auch jemand geschlampt. Manchmal nahmen diese Dinge, die nicht so geschahen wie sie sollten, geradezu groteske Züge an und wurden unfreiwillig komisch. Manchmal waren sie grausam, unmenschlich, brutal. Manchmal alles zusammen. Gemein hatten sie jedoch alle eines: Mindestens ein intelligentes Wesen konnte genau das genau am Zeitpunkt, an dem es geschah, nicht gebrauchen. Und manchmal brachte dieses Ding, das so nicht geschehen sollte, diese Person in Teufels Küche, wenn die Verkettung unglücklicher Umstände anhielt, und ausgerechnet jene Personen involvierte, die absolut nichts von diesem Ding hatten mitbekommen sollen.
Solche Dinge geschahen. Überall. Jederzeit. Gerade als ob der Zufall eine personifizierte Identität hatte, und als ob diese Identität einen Heidenspaß daran hatte, Intelligenzen mit ihren eigenen Fehlern zu quälen. Nun, man musste zugeben, Zufall hatte ab und an einen exquisiten Humor. Manchmal reichte es auch nur zu Slapstick.
***
Wenn man mal bedachte, was sie alles die letzten Tage durchgemacht hatten, wenn man bedachte, dass sie einen Schiffskameraden in einem Gefecht verloren hatten, in das sie ohne die Terries an Bord nie geraten wären, dann konnte Quicksilver beinahe sagen, dass an Bord Normalität herrschte. Die anfängliche Aufregung, nachdem Nomad gestorben war, war beinahe ebenso in der Routine erstickt wie die so drückende Atmosphäre zwischen Terries und Besatzung, die eine Zeitlang geherrscht hatte. Es war nicht gerade so, als wären sie jetzt allerbeste Freunde im Eierkuchenland, aber irgendwie stimmte wohl doch, was man sich erzählte: Wenn man mal Seite an Seite Feinde niedergeschossen hatte, sah man sich in einem anderen Licht als zuvor. Sie bemerkte an sich den Trend, netter mit den Ledernacken zu sein, als sie eigentlich vorhatte. Und ihr sehr angespanntes Verhältnis zu Ace hatte sich auch ohne klärendes Gespräch einigermaßen wieder zurechtgerückt. Obwohl, wenn sie daran dachte, wie er zu den Akarii nett gewesen war...Nett, nachdem sie Nomad getötet, etliche Marines verwundet und noch einmal so viele umgebracht hatten...dann fragte sie sich schon in einer Mischung aus Besorgnis und Ironie, ob Captain Blauhaar noch alle fünfe beisammen hatte.
Nicht, dass sie ihn mochte. Nicht, dass sie ihm die Nummer vom Spacer in der Navy abgekauft hätte, er war eindeutig mehr Terry als Spacer. Nicht, dass sie einen Vogel aus einer reichen Familie überhaupt als Spacer anerkannt hätte. Aber nachdem sich die erste Wut gelegt hatte, war sie doch ganz froh, dass sie ihm nur Worte an den Kopf geschmissen hatte. Dabei hatte ein schön großer, schwerer Laserschweißer neben ihr gelegen, und das Teil wog fünf Kilo. Das hätte eine mächtige Delle in seinen Dickschädel getrieben. Andererseits, ihn zu verletzen, nur weil sie ihn nicht verstand, war eine sehr dumme Idee. Würden alle Menschen so denken, hätten sich Männer und Frauen wohl schon vor langer Zeit gegenseitig ausgerottet.
Nein, es war wirklich nur so, dass sie sich irgendwie ruhiger fühlte, seit sie bemerkt hatte, dass Ace sie behandelte wie jeden anderen. Auch wenn er dabei immer den überlegenen Veteranen hatte heraushängen lassen. Arroganter ging es kaum. Dabei war sie selbst auch nicht ohne. Sie hatte dabei geholfen, die Trophäen aus den toten Akarii zu entfernen! Schädel, Organe, Hände, Oberschenkelknochen, Schwanzknorpel! Sie war auch eine harte Sau.
...Okay, sie hatte dabei helfen dürfen...Okay, sie hatte Schmiere stehen dürfen, während Yin und Yang "geschnitzt" hatten. Aber sie hatte anschließend geholfen, die einzelnen Teile zu verpacken. Vor allem die Schädel, die brachten auf einem guten Markt fünfhundert Real das Stück, mit Einschusslöchern siebenhundert. Die hatten sie sauber entbeint, lackiert und im besten Versteck an Bord gepackt, damit die Terries nicht aus Versehen darüber stolpern konnten, und einen plötzlichen Anfall von Moral nach der ganzen Tötungsorgie, die sie veranstaltet hatten, bekommen konnten. Da würde sie nicht einmal der Zoll finden.
Die anderen Relikte waren mindestens ebenso gut konserviert, auch wenn sie für die Hände nur noch Zuckerlösung gehabt hatten. Manche Terrys mochten es, sich einen Akarii-Finger um den Hals zu hängen. Sie zahlten locker dreißig bis vierzig Real für einen Zeigefinger, also auch kein schlechtes Geschäft. Die Hände waren jetzt nicht so gut versteckt, so viele erstklassige Ecken gab es nicht an Bord. Aber um daran zu kommen, oder an die Akarii-Herzen, hätte man schon eine Katze sein müssen.
Die Herzen waren eine Sache für sich. Angeblich gab es Spinner, die sie allen Ernstes aßen, damit die Kraft der Akarii auf sie überging. Andere trockneten sie als Fetisch. Wieder andere... Taten keine geistig gesunden Sachen mit den Herzen. Das stand ja wohl mal fest. Auf jeden Fall würden sie nach der Landung ein paar gute Geschäfte tätigen können. Zumindest die eingeweihten Crewmitglieder. Der Rest, zum Beispiel Ghost, würde sich nur über den Aufschlag auf die Heuer-Tüte freuen, ohne zu wissen, wo das zusätzliche Geld herkam. Tja, mit Moral alleine bekam man niemanden satt, niemanden bezahlt. Etwas, was ein Spacer wissen musste. Trotzdem leisteten sich Leute wie Ghost, Dutch und diese verdammten Terries noch immer den Luxus eines Gewissens.
Quicksilver seufzte laut. Laut genug, um die Aufmerksamkeit von Ace zu erregen, der bei einer wichtigen Reparatur geholfen hatte, und gerade fertig war. Ghost hatte ihm als Dank auf die Schulter geklopft, und das wollte schon was heißen. Captain Blauhaar hatte auch prompt gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd.
"Liebeskummer?", scherzte der Pilot in ihre Richtung.
Sie horchte in sich hinein. Kein spontaner Widerspruch, keine aufwallende Wut. Nur eine merkwürdige Neugier. "Ist das nicht verständlich? Dein Herz ist ja schon vergeben, oh großer Pilot."
Ace schnaubte lachend als Antwort. "Was machst du, wenn ich unvermittelt ja sage? Du weißt, Lilja hat keinerlei Interesse an mir. Und ehrlich gesagt, du bist ein hübsches Ding, das nicht auf den Mund gefallen ist."
"Oh, ich verstehe.", gurrte sie, so nahe an den Piloten heran tretend, dass ein Blatt Papier schwerlich Platz gefunden hätte. "Du stehst also auf dominante Powerfrauen."
Ace runzelte die Stirn. "Ach, hat Jayhawker Interesse an mir?"
Er lachte laut und abgehackt, als Quicksilver einen Schmollmund zog.
"Erkläre es mir.", sagte sie unvermittelt.
"Erkläre was?"
"Erkläre mir, warum du nett zu den Akarii warst. Ich meine, du, du ausgerechnet, mit deinen Gefangenschaftsgeschichten..."
"Und genau das ist der springende Punkt. Ich war nicht nett zu ihnen. Ich habe meinen Job gemacht. Wer es nicht schafft, den Dienst von seinen persönlichen Gefühlen zu trennen, macht einen sehr schlechten Job, und steht mit einem Bein schon so gut wie im Grab."
"Beinhaltet das ‚seinen Job machen‘ auch das Verschenken von Zigaretten an Akarii?", murrte sie ärgerlich. "Ich sehe das eher als ‚nett sein‘, Ace."
Der Pilot lächelte dünn. "Wenn es dich beruhigt, ich habe sie nur etwas weich geklopft. Sie mir gegenüber etwa gewogen gemacht. Ich bin der einzige an Bord, der fließend Sekurr spricht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mich jemand bittet, beim Verhör zu assistieren. Tremane ist nicht der Mann, der einen Vorteil ungenutzt lässt. Das bisschen, was diese Akarii wissen, so wenig es auch ist, kann ein Vorteil sein. Und wenn sie nur den Namen ihres Schiffs und seinen Heimathafen nennen können. Dann wissen wir wenigstens von einer Korvette, wo wir sie suchen müssen. Haben oder nicht haben, Quicksilver. Du als Spacer müsstest das verstehen."
"Keine Sorge, ich bin nicht mehr böse auf dich. Nicht mehr." Gönnerhaft klopfte sie ihm auf die Schulter. "Schließlich bin ich auch ein Profi, wenngleich auf anderen Gebieten als du." Sie zog die Augenbrauen zusammen. "Sprich es nicht aus. Denke es nicht einmal. Nein, denke nicht einmal daran, nicht daran zu denken, Ace."
Der Pilot hob abwehrend die Arme. "Keinen blassen Schimmer, zu welch obskuren Deutungen du mich hier verführen willst."
"Oh, verführen ist eine gefährliche Wortwahl.", schnurrte sie und tätschelte seine Wange.
"Ich mag dich auch, Quick.", erwiderte Ace und tätschelte seinerseits ihre Wange.
Die beiden sahen sich in die Augen und mussten lachen. Zumindest der Punkt der Welt schien wieder einigermaßen in Ordnung zu sein. Letztendlich konnte und durfte ausgerechnet sie, die Kontaktfrau an Bord, nicht plötzlich lernen, wie man auf jemanden dauerhaft böse war. Akarii ausgenommen.
"Wenn ihr spielen wollt, macht das gefälligst nicht in meinem Maschinenraum", knurrte Ghost ärgerlich. "Ace, du bist hier fertig."
"Ist das ein Rausschmiss?", argwöhnte der Pilot.
"Ich dachte, du duschst besser. Um diese Zeit müsste sie frei sein. Die Dusche."
Die Augen des Piloten erhellten sich. "Stimmt. Gute Idee. Ich schaue heute Abend noch mal rein. Und Quick, du darfst jederzeit zu einem Umtrunk zu mir kommen."
"Ach, diese alte Masche. Willst du mich betrunken machen und sehen was passiert?"
"Ich falle ins Alkoholkoma, und du trinkst meine Vorräte aus.", sagte Ace säuerlich. "Niemand verträgt so viel wie du."
"Ein guter Grund, das Angebot anzunehmen." Sie winkte ihm übertrieben. "Bis später. Vielleicht. Wenn du Glück hast."
Ace schnaubte amüsiert und sprintete die Treppe hoch. Ein vollkommen unnötiger Beweis seiner Spannkraft und seiner Energie. Wie nett.
"Ist wohl nix für dich, der Junge?", argwöhnte Ghost, während er den Kopf und den linken Arm in ein Aggregat steckte. "Er ist ein netter Bursche."
"Und nicht in mich verknallt. Abgesehen davon würde sich wohl nur Toro freuen wenn er an Bord kommen würde. Und keiner würde sich freuen, wenn ich die alte Lady verlasse. Und ich meine das Schiff."
Ghost lachte glucksend, fingerte mit der Rechten nach einem neuen Werkzeug und setzte seine Arbeit fort.
Quicksilver lächelte still. Nein, das war kein Thema für sie. Beides kein Thema für sie. Sie hielt sich an Sachen, die erreichbar waren, die sie sehen konnte. So wie zum Beispiel Teufel, die nachtschwarze Schiffskatze, die gerade an ihr vorbei tollte. Dabei spielte sie mit einem Beutel, in dem eine klare Flüssigkeit rund um die Akarii-Hand schwamm, die in ihr konserviert war. Ach, die Zuckerlösung. Der kleine Teufel musste sie gerochen haben, und nun war das Schleckermaul drauf und dran...DIE HAND EINES TOTEN AKARII AUSZUPACKEN! Ihr wurde heiß und kalt zugleich, während die schwarze Katze mit den spitzen Fangzähnen ein Loch ins Plastik zu beißen versuchte. Verdammt! Wenn Ghost die Akarii-Hand sah, und eins und eins zusammenzählte...Er galt nicht umsonst als das Schiffsgewissen! Das bedeutete dann eine Standpauke, und noch schlimmer, ein Minus in die Kasse, wenn er alle Akarii-Artefakte ins Weltall schmiss. Da war der alte Mann unerbittlich.
Langsam ging Quicksilver in die Hocke und versuchte die schwarze Katze anzulocken. "Miez, miez."
Die ließ sich jedoch nicht beirren. Sie schaffte es endlich, ein Loch hinein zu beißen. Sie ließ sofort vom Beutel ab und begann die austretende Flüssigkeit aufzulecken.
"Hast du was gesagt?", fragte Ghost, während er Anstalten machte, wieder aus der Maschine hervor zu kommen.
"Suchst du ein Werkzeug?", rief sie hastig und eilte mit schnellen Schritten auf den Chefingenieur zu. "Ich helfe dir." Dabei verscheuchte sie Teufel von der Zuckerlache.
"Danke. Gib mir mal den Ionenschneider. Den kleinen. Verdammt, wo ist Ace, wenn man ihn braucht?"
Sie hob das Werkzeug und drückte es Ghost in die Rechte, während ihr Blick Teufel nicht aus den Augen ließ. Sie musste diese Hand haben, und das so schnell wie möglich, bevor Ghost, bevor einer der Marines, bevor einer dieser verdammten Terry-Offiziere auch nur etwas davon ahnte! Die schwarze Katze hatte sich wieder beruhigt und trottete zum Beutel zurück, um weiter die süße Pfütze aufzulecken. "Ksch! Ksch!"
"Was?" Ghost schreckte hoch, und stieß sich den Kopf. "Autsch!"
"Ich wollte wissen, ob du noch was brauchst!"
"Was? Nein, in drei Minuten bin ich fertig. Dann mache ich Feierabend hier."
Drei Minuten. Drei Minuten, um die Hand zu bekommen. Na, wenn Teufel sich mit der Pfütze begnügte, brauchte sie ihn nur vom Beutel fortjagen, aufheben und...Mit Entsetzen beobachtete sie Teufel dabei, wie er von der Pfütze abließ. Stattdessen grub er seine Zähne in den Beutel, der ohne die Flüssigkeit für ihn besser zu packen war. Zufrieden mit sich, seiner Beute und der Welt begann Teufel davon zu trotten. Stolz reckte er den Kopf in die Höhe. Er trottete von ihr fort. "Oh, oh, oh..." Auf die große Treppe zu, hoch zum Laderaum, zu den Marines! "Wenn du mich nicht mehr brauchst...", rief sie und sprintete los. Die Antwort des Ingenieurs hörte sie schon nicht mehr. Gerade noch rechtzeitig sah sie, wie Teufel durch die Tür schlich, die natürlich auch für Katzen passierbar war - mitten hinein in den Lagerraum voller Marines. Unbekümmert schlich die Katze zwischen den Beinen der Menschen entlang, und es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein Marine genauer hinsah, was die Katze da im Maul trug!
"ACHTUNG!", rief sie gellend, mit einer kläglichen, schrillen Stimme. Aber es zeigte Wirkung. Die gut gedrillten Marines stellten sich sofort stocksteif auf. Hab acht, nannten sie das. Eine Sekunde verging. Zehn. Zwanzig. Teufel suchte sich seinen Weg, hin zur bugwärtigen linken Ecke. Eine halbe Minute. Eine ganze. Noch immer zeigten die Soldaten keine Reaktion und keine Neugier. Junge, konnte man das wirklich einem Menschen antrainieren?
"Was ist denn hier los?", klang die leidlich amüsierte Stimme von Lilja auf, als sie die Treppe von den Offizierskabinen herunter kam. Ihr folgte Ace, den Helm der Pilotin in der Hand. Sie selbst trug Fliegermontur. Also half er ihr beim ‚rausgehen‘, wie die Flieger es unter sich nannten.
Verlegen pfeifend sah Quicksilver an die Decke, nachdem sie sich sicher war, dass Teufel hinter einer Kiste verschwand. "I-ich wollte das nur mal ausprobieren, das mit dem Achtung, und so."
Ace grinste breit. "Rühren", sagte er in mäßiger Lautstärke, aber dennoch lockerte sich die Haltung der Marines. Ein paar böse Blicke trafen die Spacerin, während sie durch die Reihen schritt, und ihr bestes Entschuldigungslächeln auflegte. Wenn sie nur zu der Kiste kam... Wenn sie nur die verdammte Hand in, Tschuldigung, die Hände bekam...Und warum mussten Ace und Lilja jetzt stehen bleiben und miteinander diskutieren? Ausgerechnet so stehend, dass Ace die Kiste im Blickfeld hatte? Die Marines hatten die Katze ignoriert. Aber Ace?
Sie wusste nicht worüber die beiden redeten, aber hier ging es mindestens um zweitausend Real!
"Ace, um mal auf unser Gespräch zurückzukommen... Was hast du denn noch Schönes in deinem Rucksack für einen intimen Abend zu zweit?"
Natürlich, wie hätte es anders sein können? Ausgerechnet jetzt musste Teufel, natürlich mit der Hand, hinter der Kiste hervor kommen.
"Intimer Abend zu zweit?", fragte Lilja erstaunt.
Ace wollte zu der Pilotin herüber sehen, doch Quicksilver griff zu und hielt sein Kinn fest. "Es ist sehr unhöflich von dir, mir bei so einem wichtigen Thema nicht in die Augen zu sehen, Superpilot.", gurrte sie. Innerlich schwitzte sie Blut und Wasser, als Teufel hinter Liljas Beinen entlang strich, und die erste Stufe der Treppe erklomm.
"Die aggressive Seite an dir ist neu, Quick. Sehr interessant.", scherzte Ace.
Lilja zog eine Augenbraue hoch, bevor sie grinsen musste. "Ach, das ist also die Verfallszeit deiner großen Liebe zu mir, Ace." Sie winkte grinsend ab und ging tiefer in den Raum. "Schon gut, ich wollte den Witz nur ein letztes Mal bringen. Du wirfst mir doch sonst immer vor, weniger Humor als ein magenkranker Geier zu haben. Schwatzt nur, Kinder. Mama ist beschäftigt."
Lilja wandte sich vollends ab und ging in Richtung ihrer Maschine.
Quicksilver atmete innerlich auf, während Teufel Stufe auf Stufe erklomm.
"Ich könnte dir einen schönen Doppelkorn anbieten. Oder einen schönen, feinen Seafort Black Label. Den wollte ich eigentlich für den letzten Abend an Bord aufheben." Er lächelte dünn. "Keine Sorge, ich erwarte rein gar nichts, außer ein wenig Gesellschaft."
"Oh, vielleicht solltest du ein wenig mehr erwarten, Superpilot. Nur vielleicht.", sagte sie mit ihrer besten rauen Stimme, während Teufel endlich oben im Gang verschwand. Augenblicklich ließ sie sein Kinn los, huschte an ihm vorbei und versetzte seinem Allerwertesten einen liebevollen, extra harten Klaps. "Oder auch nicht, Superpilot. Oder was dazwischen!"
Was redete sie da überhaupt? Egal, Hauptsache, sie konnte jetzt endlich Teufel einfangen!
Sie sprintete die Treppe hoch und schwitzte Blut und Wasser, als sie im Gang Georges und Erikssen interessiert miteinander parlieren sah. Teufel schlenderte zwischen ihren Beinen hindurch, unbeschwert eine Katastrophe beschwörend.
"OHA!", rief Quicksilver, und hatte die Aufmerksamkeit der beiden Offiziere. Sie lächelte verlegen. "Bahnt sich da etwa eine kleine Schiffsromanze an?" Sie fühlte, wie Schweiß ihre Stirn herab rann. Die beiden standen vor der Kabine der Ärztin, aber die von Commander Georges lag weiter hinten im Gang, Richtung Cockpit. Genau da, wo Teufel sich nun hingehockt hatte, den Beutel mit der Hand vor sich hin drapiert.
"Schiffsromanze?" Georges schien lachen zu wollen. "Entschuldigung, aber was soll so ein flottes Mädchen wie der Doktor mit einem alten, verstaubten Bücherwurm wie mir anfangen?"
Das schien er wirklich ernst zu meinen.
"Jedenfalls vielen Dank für das interessante Gespräch, Lucas. Ich werde mich jetzt hinlegen. Morgen wird ein langer Tag." Die Ärztin drückte Georges die Hand, nickte Quicksilver zu, und verschwand in ihrer Kabine.
Georges gähnte. "Dann will ich auch mal..."
"Da wäre eine Sache, die mich wirklich interessiert!", rief die Spacerin, als Teufel herzzerreißend zu maunzen begann. Wenn sich der Archäologe jetzt umdrehte... "Und zwar, Sir, ist es doch eine wichtige Frage, ob der Mond nicht mehr als Artefakte der untergegangenen Superkultur beherbergt. Ich meine, ich habe die Aufzeichnungen gesehen, als die Korvette fast den Boden geknutscht hat, und das muss doch woran gelegen haben."
Die Miene des Wissenschaftlers hellte sich merklich auf. "Ah, eine interessante Frage." Sofort bewölkte sich sein Gesicht. "Aber Sie sollten solche Fragen gar nicht stellen. Sie sollten so etwas nicht einmal ansatzweise wissen. Nicht, bevor wir genug wissen, um zumindest sagen zu können, dass irgendwas irgendwo war. Und wenn ich Sie wäre, Miss, würde ich nicht unbedingt Commander Tremane mit diesen Vermutungen konfrontieren. Ist besser für Sie."
Der Wissenschaftler wandte sich um und ging.
Quicksilver fuhr ein eisiger Hauch über den Rücken, als der Blick Georges zu Teufel rüber ging. "Na, Miez, Miez? Was hast du denn da feines?"
Tunnelblick, ausgerechnet jetzt! Sie spürte, wie die Ohnmacht nach ihr griff, ihr die Beine wegtreten wollte. Nicht so kurz vor dem Ziel! Aber vielleicht lenkte ihr Heldentod den Eierkopf wenigstens noch etwas ab.
Zwei schlanke Hände griffen nach der Katze, und nahmen sie auf die Arme. Eine sehr filigrane Rechte griff den Beutel und steckte ihn sich in die Außentasche ihrer Jacke.
Quicksilvers Tunnelblick verschwand, und sie erkannte die Kapitänin. Oh, am liebsten hätte sie sich vor lauter Erleichterung hier an Ort und Stelle zusammengerollt und leise geschluchzt.
"Braver Teufel. Hast du Frauchen ein Geschenk mitgebracht?", gurrte Jayhawker, und kraulte die schwarze Katze hinter den Ohren.
"Ein Geschenk?", fragte Georges interessiert.
"Kennen Sie keine Katzen?", erwiderte die Kapitänin. "Wenn eine Katze einen Besitzer hat, legt sie ihm manchmal etwas Totes vor die Tür. Eine Art Tribut."
"Ah, interessant. Und was hat Teufel Ihnen gebracht?"
"Eine Ratte!", rief Quicksilver schnell. "Deshalb haben wir ja auch zwei Katzen an Bord! Sie kommen an Orte, an die wir nicht kommen, und sie verhindern, dass die Biester unsere Kabel zerfressen!"
"Das sah merkwürdig verschrumpelt für eine Ratte aus.", merkte er nachdenklich an.
"Eine New Boston-Ratte. Die Biester sind da mutiert", erklärte Jayhawker in sachlichem Ton. "Die Katzen sollen sie fangen, aber nicht fressen. Sie sind nicht genießbar für sie. Deshalb habe ich sie Teufel auch weggenommen, bevor er vor lauter Bauchweh das ganze Schiff zusammenmaunzt. Aber braver Teufel. Hast einen schönen Fang gemacht."
"Interessant.", sagte Georges in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er das Gegenteil meinte. "Ich werde mich dann in meine hoffentlich Rattenfreie Unterkunft zurückziehen. Gute Nacht, Skipper. Gute Nacht, Miss."
Als sich die Tür hinter ihm schloss, sah Jayhawker mit einem nach Erklärung heischenden Blick zu ihr herüber.
Hilflos hob sie die Arme. "Die Zuckerlösung. Er hat sie aufgeschleckt"
"Ich würde lachen, wenn es nicht so absurd wäre. Kümmere dich darum, dass die anderen Sachen besser gesichert werden", befahl Jayhawker und ging wieder in ihre Kabine.
"Ja, Ma'am." Halb erleichtert, halb wieder in Panik verließ sie den Laufgang. Moment, da war ja immer noch die Pfütze aus Zuckerwasser im Maschinenraum! Hörte der Ärger denn niemals auf? Verdammt, ob Ghost ihr glauben würde, dass sie inkontinent war und Zucker hatte?
Während sie zwei Stufen auf der Treppe gleichzeitig nahm, murmelte sie: "Jetzt kann ich den Black Label wirklich gut gebrauchen, Ace!"
Cattaneo
Cunningham
TRS Pierre Le Grand
Sprungpunkt Golf, Sterntor
Ann Reuther lächelte, als Chief Henniges mit seiner Geschichte über den Landgang auf New Boston begann. Die Lieutenant Commander und Erster Offizier der Fregatte hatte die ausschweifende Geschichte, welche mit jeder Erzählung fantastischer wurde, schon vier oder fünf Mal gehört.
Es war die so genannte Hundewache an Bord der Le Grand und als XO brauchte sie nicht auf der Brücke sein, da weder Captain noch Erster Offizier Wache gingen. Für beide galt eigentlich eine vierundzwanzig-Stunden Rufbereitschaft.
Doch wo jetzt ein unerfahrener Offizier wie Lieutenant Carlos Riviera Wache ging, hatte sich Commander Reuther ihren noch nicht erledigten Papierkram mit in die Zentrale genommen und es sich mit einer Thermoskanne Kakao am Kartentisch im hinteren Bereich gemütlich gemacht.
Zusammen mit zwei anderen Fregatten schob die Le Grand Wache an einem der vielen Sprungpunkte, die Sterntor seinen Namen gaben.
Die Le Grand war so etwas wie ein Schulschiff der Marine. Turnusmäßig wurden gerade frisch ausgebildete Matrosen auf die Fregatte geschickt, um ihre ersten Weltraumerfahrungen zu machen. Ein Großteil der ehemaligen Crew wurde dann an die Front verschifft.
An und für sich ein unsägliches Unterfangen für die Le Grand, wäre da nicht der eingearbeitete Stock an Unteroffizieren und Senioroffizieren gewesen.
Auf vielen Schiffen der Flotte wären Leute wie Ann Reuther und Matthias Henniges fehl am Platze gewesen. Zu selbstständig, zu kollegial mit den Mannschaften und zu vorlaut.
Die Le Grand hingegen brauchte solche Offiziere und Unteroffiziere, da sie nicht nur neue Mannschaften bekam, sondern auch einen guten Schwung von der Akademie oder den Reserveoffizierslehrgängen kommenden Junioroffizieren.
Man konnte selbst von voll ausgebildeten Ensigns und Junior Lieutenants nicht erwarten, dass sie schon wussten, wie das wirkliche Leben spielte, und so brauchte es Leute, die im Zweifelsfall eingriffen, wenn etwas schief läuft.
So taten sie an Bord der Le Grand das beste, um ihrer geliebten Navy den Schubs in die richtige Richtung zu geben. Mit der nächsten Generation von Nachwuchsraumfahrern.
Commodore Seamus Long hatte es mal in Worte gefasst: „Entgegen der allgemeinen Meinung der Traditionalisten unserer Navy unterlaufen wir einem ständigen Wandel. Es ist an uns ein solides Fundament für die nachfolgenden Generationen zu legen und zu lernen, zu lernen und zu lernen. Denn wer aufhört besser zu werden, der hört auf gut zu sein.“
Lieutenant Riviera lachte los und riss Ann aus ihren Gedanken. Sie hatte die Pointe verpasst, wo der Hafenmeister in die zwischen den Gewürzgurken versteckte Peperoni gebissen hatte.
Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf und wollte sich wieder den Leistungsberichten der Mannschaftsdienstgrade zuwenden, da meldete sich der Sensorgast zu Wort:
„Sprungkontakt, Entfernung zwo-vier-vier Klicks …“
Der vielleicht neunzehn jährige Matrose verstummte.
Als er mit großen Augen Chief Henniges anblickte identifizierte ihn Ann als Paul Eddings, seit knapp zwei Wochen zwanzig Jahre alt.
Der alte Unteroffizier stupste Lieutenant Riviere mit dem Fuß leicht an und der wachhabende Offizier regte sich: „Identifizieren Sie den Bogey, Mr. Eddings und benennen Sie es korrekt.“
„Aye-aye, Sir. Sensoren zeigen einen Frachter, Merkur-X, identifiziere Bogey als Merchant drei. Kurs zwo null acht, Beschleunigung vierzig km/s.“
Hennigs pfiff leicht: „Merkur-X, sind Sie sicher Eddings?“
„Yes, Sir…ich meine ja Chief, ganz sicher.“
Ann musste grinsen, aber Merkur-X ließ etwas bei ihr klingeln.
„Scheiß die Wand an, so einen alten Kahn hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“, kommentierte Henniges und schob sein Basecap etwas nach hinten.
„In Ordnung, wenn er sich in zwei Minuten nicht identifiziert, funken wir ihn an.“, entschied Riviera. Zwei Minuten waren für einen Handelsraumer zur Identifizierung etwas arg kurz bemessen, aber er wollte nicht als lasch dastehen, wo der XO ihm über die Schulter blickte.
Tatsächlich aber brauchte er nicht allzu lange warten, da machte der Signalgast Meldung: „Lieutenant Riviera, Sir, wir haben einen Identifikationscode bekommen. Sie werden es nicht glauben, der ist State-of-the-Art.“
„Ähhh ...“, machte Reviera und überlegte kurz: „Die Edward Low müsste ihn doch auch auf den Schirm haben, sobald die Low bestätigt, bestätigen Sie ebenfalls.“
Die XO der Le Grand blinzelte überrascht, eben noch der forsche Kommandant und jetzt Mr. Vorsicht? Aber der Merkur-X ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
„Mr. Henniges, vergleichen Sie die Sensordaten mit der aktualisierten Fahndungsliste!“
Die Brückencrew, welche nur aus der reduzierten Nachtschicht, Wachoffizier, Stellvertreter, Rudergänger, ein Waffensystemtechniker, einem Signalgast und einem Sensorgast bestand, blickte sich zu ihr um.
„Aye-aye, Ma'am.“, der Senior Chief, der auch Chef der kleinen Signalabteilung der Le Grand war, ließ sich auf seinen Sessel an der Signalstation fallen und machte sich an die Arbeit.
Commander Reuther trat derweil an den Kommandostand heran und wandte sich an den diensthabende Signalgast: „Mrs. Emedolu, warten Sie in jedem Fall mit der Bestätigung.“
Henniges drehte sich zu ihr um: „Es handelt sich um die Emeral Jade, sie steht auf der Fahndungsliste und ist in Gewahrsam zu nehmen, darf aber nicht geentert werden.“
„Steht da auch, weshalb unser Rosteimer da draußen gesucht wird?“
„Negativ Ma'am.“
Ann überdachte kurz ihre Möglichkeiten: „Hat die Neddy Low schon bestätigt?“
„Ja Ma'am.“, antwortete der Signalgast.
„Dann werden wir ebenfalls bestätigen.“, sie trat zurück an den Kartentisch und bedeutete Riviera und Henniges ihr zu folgen.
„Warum befehlen wir ihr nicht einfach zu stoppen, Ma'am?“ Fragte der diensthabende Lieutenant.
„Weil sie derzeit einfach wieder aus dem System springen kann und wir erst in zwanzig Minuten hinterher springen können. Und dann werden sie einen Vorsprung haben.“
„Aber wir sind schneller als sie.“
„Wir haben hier aber auch noch einen Job zu erledigen, Lieutenant.“, rief Henniges ihm freundlich ins Gedächtnis.
Sie spielte die Position der Jade und der Le Grand auf dem Kartentisch ein und ließ die aktuellen Kurse anzeigen. Der Kurs der Jade ging direkt ins System hinein.
„Wir werden folgendes machen, wir werden der Jade einen Einflugkorridor zuweisen, der sie zwingt einen kleinen Umweg zu machen und es uns erlaubt, dass wir uns bequem hinter sie setzen. Mr. Riviera, berechnen Sie die entsprechenden Kurse. Chief, Sie werden dann die Jade anfunken und den Kurs zuweisen und befehlen Funkstille zu halten.“
„Wird das funktionieren?“ wollte Riviera zweifelnd wissen, „Was erzählen wir denen, wenn sie nachfragen?“
„Dann sagen wir ihnen, sie sollen die Fresse halten, wir sind das Militär und müssen uns niemandem erklären.“, Henniges feixte vergnügt.
„Aber …“, begann der junge Wachoffizier.
„Aber was?“ Die XO blickte ihn aufmunternd an.
„Sollten wir nicht den Captain informieren?“
„Der Captain bekommt auch so schon zuwenig Schlaf, wir werden ihn schon noch früh genug aus dem Bett hochjagen.“
Emerald Jade
Sprungpunkt Golf, Sterntor
Sarah Victor wunderte sich, wieso Tremane ausgerechnet bei der Heimkehr Hummeln im Hintern hatte. Zwanzig Minuten vor dem Sprung waren er und sein Schatten auf der Brücke der Jade aufgetaucht und atmeten ihr den Sauerstoff weg.
Nach dem Sprung hatte er befohlen einen Identifikationscode zu übermitteln, noch bevor sie von den Patrouillen angerufen wurden.
Augenscheinlich wollte sich der große Anführer ihrer Expedition nicht mit irgendwelchen Formalitäten herumschlagen. Eine der beiden Fregatten hatte sofort Freigabe erteilt.
Als die Antwort der zweiten Fregatte ausblieb, hatte Tremane in einem Anfall von Ungeduld ein wütendes 'Pennen die denn da' geknurrt.
Wahrscheinlich war die Mission so geheim, dass selbst die eigenen Leute da draußen nichts mitbekommen durften. Verdammte Terries. Andererseits, je eher sie Tremane und seine Bande loswurde, desto eher konnten sie und ihre Crew wieder ihre eigenen Wege gehen.
Gerade als Tremane die Brücke wieder verlassen wollte knackte das Funkgerät: „SS Emerald Jade! SS Emerald Jade! Hier spricht die Fregatte TRS Pierre Le Grand. Kommen!“
Jayhawker wollte schon antworten, blickte jedoch nochmal zu Tremane, dessen Augen zu Schlitzen geworden waren.
Der Geheimdienstler nickte leicht, was sollten sie auch tun.
„TRS Pierre Le Grand, hier ist die Emerald Jade, was können wir für Euch tun, Jungs?“
Die Stimme, die durch das Kom zu hören war, ließ unterschwellige Autorität erahnen.
„Emerald Jade, Pierre Le Grand, wir weisen Ihnen einen Flugkorridor zu, aufgrund des hohen Verkehrskommens müssen wir Sie etwas umleiten. Darüber hinaus sind alle Funkkanäle überschwemmt, halten Sie daher Funkstille.“
Jayhawker verdrehte die Augen. Wirklich Super, da wollte sie Tremane und Konsorten so schnell wie möglich loswerden und war hier mitten in ein Manöver geraten, wo die Terries, wieder einmal, alle Register zogen.
„Verstanden Pierre Le Grand, wir erwarten den zugewiesenen Korridor.“, Sarah Victor schaltete das Funkgerät ab, „Na Super, ein Manöver, jetzt kann sich unsere Rückkehr noch eine ganze Woche verzögern. Können Sie nicht noch einen ihrer kleinen Genehmigungscodes aus der Tasche ziehen, Tremane?“
„Ungern, sind Sie sicher, dass die solche Sperren wegen eines Manövers verhängen?“
„Natürlich, in so etwas war die Navy schon vor dem Krieg groß, und was sollte es anderes sein? Die Echsen werden wohl nicht so wahnsinnig sein, Sterntor anzugreifen.“
Tremane schnaufte: „Wohl kaum.“
TRS Pierre Le Grand
Sprungpunkt Golf, Sterntor
„Wir sind jetzt außerhalb ihrer Sensorreichweite, Ma'am.“, meldete der Sensorgast.
Ann Reuther bestätigte die Meldung mit einem knappen Nicken: „Ausgezeichnet, Rudergänger, gleichen Sie unseren Kurs an und hängen Sie sich an ihre Sechs.“
„Aye-aye, Ma'am.“
„Mr. Henniges, rufen Sie den Captain auf die Brücke.“
Chief Henniges nickte kurz und wählte dann die Kapitänskabine an: „Brücke für Kommandant…guten Morgen Sir, Commander Reuther bittet Sie auf die Brücke.“
Als Commander Nelson Rice, der Captain der Pierre Le Grand, auf der Brücke erschien, sah seine Uniform recht zerknittert aus. Er hatte wohl wieder in voller Uniform geschlafen, wie es viele, nach Reuthers Geschmack zu viele der alteingesessenen Stammcrew der Le Grand taten.
Ein widerlich intensiver Geruch nach Deodorant machte deutlich, dass Rice sich zumindest eine irische Dusche gegönnt hatte, ehe er auf die Brücke kam.
„Also Ann, wo gibt es Probleme?“
„Wir haben einen Merkur-X, der ganz oben auf der Fahndungsliste steht, der sich versucht hat mit einem hochwertigen Sicherheitscode an uns vorbei zu schummeln.
Das Schiff, die Emerald Jade, ist zu stoppen und unter Arrest zu nehmen. Wir dürfen es jedoch nicht entern.“
Commander Rice war auf einmal hell wach. Für jeden jüngeren Offizier mochten diese Befehle einfach nur Befehle sein, die man auszuführen hatte. Doch für jeden, der länger gedient hatte, sagte diese Order eine Menge.
Die Standartvorgehensweise ein Schiff zu arretieren besagte, dass man das Schiff zu stoppen hatte, dann ein Prisenkommando der Größe und der wahrscheinlichen Gefahr angemessen an Bord gehen lassen musste. Einen Lieutenant oder Ensign, der dort das Kommando übernahm, einen erfahrenen Unteroffizier als dessen Stellvertreter – nach Rice Auffassung als Hirtenhund für den Junioroffizier, ein paar Mannschaften für die vitalen Schiffsfunktionen als Rudergänger, Funker und ein Ingenieursassistenten sowie ein Schützenteam Marines.
Dann eskortierte man das aufgebrachte Schiff in den nächsten Hafen. Währenddessen wurde vom Prisenkommando eine Erfassung der Besatzung und der Fracht des betreffenden Schiffes vorgenommen.
Der Befehl nicht an Bord zu gehen konnte nur zwei Möglichkeiten haben: Entweder es war etwas gefährliches an Bord, dass wäre aber im Regelfall mitgeteilt worden, oder das Naval Intelligence Corps wollte geheim halten, was an Bord war.
Und wenn der Nachrichtendienst damit in Verbindung gebracht wurde, musste man vorsichtig sein.
„Wir könnten Übungsalarm geben, bevor wir uns der Jade nähern,“, schlug Reuther vor, „würde unserer Mannschaft sicherlich mal wieder gut tun.“
Rice nickte gedankenverloren und überprüfte nochmal die Positionen der Jade und der Le Grand sowie der übrigen beiden Fregatten.
Sie waren noch außerhalb der Sensorreichweite, die man einem Frachter wie der Jade zugestehen durfte.
Schnell ging er seine Optionen durch: Er konnte das HQ informieren und auf Instruktionen warten. Damit war er aber gelähmt und die Jade konnte frei agieren, bis er seine Befehle erhielt.
Dann konnte er jetzt auf Angriffsentfernung zur Jade gehen, das Schiff stoppen und anschließend Meldung machen, damit hätte er immerhin einigermaßen Kontrolle über die Situation und würde vor allem den Handlungsspielraum der Jade einschränken.
Tatsächlich konnte er als Kommandant vor Ort auch auf die Order des HQ pfeifen, die Emerald Jade stoppen und entern lassen. Dafür brauchte er hinterher nur einen guten Grund und sein Bauchgefühl, dies wäre die beste Option, würde nicht ausreichen.
Andererseits wurde dieses Gefühl von fast dreißig Jahren Diensterfahrung, die er sich vom einfachen Matrosen, der mit siebzehn Jahren angeheuert hatte, bis hin zum Commander einer Fregatte erarbeitet hatte, untermauern.
„XO, wir werden folgendermaßen vorgehen: Als erstes lassen Sie Klar Schiff machen, dann informieren wir die Eddy Low und die Martin Frobisher, dass wir die Emerald Jade aufbringen werden und nach Victoria Station eskortieren werden.“
Ann stutzte etwas: „Klar Schiff?“
„Ich denke ja, wir werden uns wohl noch entscheiden müssen, ob wir die Jade entern oder nicht, da will ich auf alles vorbereitet sein.“
„Aye-aye, Sir.“, Reuther nach das Mikrophon der Bordsprechanlage und gab Alarm: „Gefechtsstation! Gefechtsstation! Alle Mann auf Gefechtsstation!“
Ihr schiffsweit übertragender Ausruf wurde von metallischen Gekreische der Sirene untermahlt.
Wie auf hunderten von Schiffen verteilt über fast vierhundert mal achtzig Lichtjahre, welche die Grenze zwischen der Bundesrepublik Terra und dem Akariischen Sternenimperium darstellte, setzt der Befehl eine gut geölte und trainierte Maschinerie in Gang.
Junge Männer und Frauen springen aus ihren Betten und hetzen zu ihren Stationen. Geschützstände, Werferbatterien und Rettungsstationen werden besetzt.
Zwanzig Minuten sind der Richtwert, von der Erteilung des Befehls bis zur letzten Bestätigung auf dem als 'Christbaum' bezeichneten Display auf der Brück.
Zwanzig Minuten, in der jeder Mann zu seinem Posten gekommen sein muss, die Krankenstation für die Aufnahme von Verwundeten bereit sein muss, die Marines sich zur Abwehr von Entertruppen aufgestellt haben müssen, die Geschütze bemannt, die Shuttles startklar, die Druckschotten entlang des Schiffskörpers geschlossen, die Raketenwerfer bemannt, vorgeladen und geöffnet sein müssen.
Zwanzig Minuten, eine Zeit, die ein Flottenträger aufgrund seiner schieren Größe niemals erreicht hatte, die Kreuzer kaum schaffen konnten und die von den kleinen Korvetten und gut eingespielten Fregatten rekordverdächtig unterboten wurde.
Den Rekord hatte bis vor kurzem die TRS Minion gehalten mit sieben Minuten dreizehn Sekunden.
Die unerfahrene Besatzung der Pierre Le Grand braucht, angetrieben von ihren ehrgeizigen Junioroffizieren und den erfahrenen Unteroffizieren, achtzehn vierundvierzig.
Dann erschien die letzte Meldung auf dem Christbaum der Le Grand und die Lampen auf der Brücke wurden auf Gefechtsbeleuchtung umgeschaltet.
„Mr. DeLancie,“, sprach der Captain den Eloka-Offizier an, „bringen Sie das ECM auf volle Leistung, der Frachter soll unsere Annäherung erst so spät wie möglich bemerken.“
„Aye-aye, Sir.“
„Rudergänger, bringen Sie uns auf Schussentfernung! TO: Ich will eine Feuerleitlösung für weite, mittlere und kurze Entfernung.“
Die Le Grand führte einen kurzen Sprint durch. Es war für die Fregatte der Oliver Hazard Perry Class ein leichtes den alten Frachter einzuholen.
Als sie auf mittlere Raketenreichweite waren befahl Captain Rice das ECM herunterzufahren und an seinen Signalmeister gewandt: „Mr. Henniges, funken Sie die Jade an und informieren Sie sie, dass sie unter Arest stehen.“
„Aye-aye, Sir.“
Emerald Jade
Sprungpunkt Golf, Sterntor
Auf der Emerald Jade hatte man von der Annäherung der Fregatte so gut wie nichts mitbekommen.
Nur ein Flackern des Radarschirms, als das ECM an Bord der Le Grand hochgefahren worden war, hätte Commander Fuchida ein Hinweis sein können, doch er schob diese Tatsache auf das Alter der Ausrüstung mit der er hier arbeiten musste und die Malträtierung welch selbiger bei dem, was die Crew der Jade euphemistisch als 'Schlacht von Medusa' bezeichneten.
Auf der kleinen Brücke des Frachters war es durch Tremane und Falkner wieder mal sehr eng. Der Geheimdienstoffizier schien so kurz vor ihrer Rückkehr aufgeregter zu sein denn je, und Sarah Victors Haltung an der Steuerkonsole machte Fuchida deutlich, dass die Kommandantin der Jade tatsächlich kurz davor war, den Anführer ihrer kleinen Expedition der Brücke zu verweisen.
Wahrscheinlich hielt allein der Grund, dass sie damit wohl wenig Erfolg haben würde, sie davon ab.
Nach der langen Zeit an Bord dieses Rattenfrachters freute sich der Sensoroffizier schon regelrecht auf seine Rückkehr auf die Relentless und die Duschen an Bord, die besser Verpflegung, die besseren Freizeitmöglichkeiten und, und, und…
Plötzlich zeigte der Bildschirm ein Echo.
„Kontakt, auf sechs-null-null! Entfernung: eins-neun-zwo-tausend, schnell näher kommend!“
Ehe einer der Anwesenden auch nur nachfragen konnte, dröhnte eine bekannte Stimme aus den Lautsprechern, die standartgemäß auf den Notkanal empfingen: „SS Emerald Jade! SS Emerald Jade! Hier ist die TRS Pierre Le Grand! Stoppen Sie augenblicklich Ihre Maschinen und bereiten Sie sich darauf vor, nach Victoria Station eskortiert zu werden! Sie stehen unter Arrest! Jeglicher Widerstand wird mit tödlicher Gewalt beantwortet werden! Ich wiederhole: Hier ist die TRS Pierre Le Grand! Stoppen Sie augenblicklich Ihre Maschinen und bereiten Sie sich darauf vor, nach Victoria Station eskortiert zu werden! Sie stehen unter Arrest! Jeglicher Widerstand wird mit tödlicher Gewalt beantwortet werden!“
Sarah Victor gingen fast die Augen über, als sie sich mit Zornesröte an Tremane wandte.
Diese entschlüpfte, leise dass nur Falkner es hören konnte, ein überraschtes Keuchen.
„Was hat das zu bedeuten, Tremane?“ Fauchte die Kommandantin und Eignerin der Emerald Jade, „Das sind Ihre Leute, warum drohen die uns mit tödlicher Gewalt?“
„Halten Sie die Klappe.“, knurrte Tremane.
„Was für ein Spiel treiben Sie? Was für ein Problem haben Sie mit der verfluchten Navy?“
„Halten Sie die Klappe!“
Doch bei Jayhawker waren dabei alle Dämme zu brechen: „Rettungskapsel mit abgeschlachteten Menschen! Ein Akarii-Kriegsschiff! Und jetzt Ihre scheiß-verfluchte-drecks-Terrynavy!“
Falkner war mit zwei Schritten bei Victor und packte sie am Kragen.
„Halten Sie die Klappe.“, zischte die schlanke Geheimdienstlerin, dass selbst Fuchida zusammenzuckte.
Wie hypnotisiert starrte Tremane einen Augenblick auf den Deckenlautsprecher, dann griff er beherzt zum Microphon: „TRS Pierre Le Grand, hier spricht Commander Andrew Tremane, Sicherheitscode nein-sieben-vier-vier-Alpha-Tango-null-vier. Wir befinden uns auf einer offiziellen Mission. Ich weise Sie an, uns weiterfahren zu lassen.“
„SS Emerald Jade, TRS Pierre Le Grand, stoppen Sie augenblicklich Ihre Maschinen und bereiten Sie sich darauf vor, nach Victoria Station eskortiert zu werden! Sie stehen unter Arrest! Jeglicher Widerstand wird mit tödlicher Gewalt beantwortet werden!“
„Aber das ist doch unser Ziel.“, brach es Victor hervor, obwohl sie noch Falkers heißen Atem im Gesicht spührte.
„TRS Pierre Le Grand,“, schrie Tremane ins Funkgerät, „verifizieren Sie augenblicklich meinen Sicherheitscode und brechen Sie die Verfolgung SOFORT ab!“
Der Lärm auf der kleinen Brücke der Jade hatte schon weitere Zuschauer angelockt.
TRS Pierre Le Grand
Sprungpunkt Golf, Sterntor
Während Chief Henniges die Emerald Jade immer noch aufforderte zu stoppen, glich man unter Hochdruck den genannten Sicherheitscode ab.
Lieutenant Commander Ann Reuther riss bei dem Ergebnis überrascht die Augen auf, handelte es sich bei dem Code nicht um die Identifizierung eines Offiziers des NIC, sondern eines Feldagenten des TIS. Die junge Frau hatte so schlau sein wollen und nun wurde ihr Leben sehr viel komplizierter.
„Brechen wir die Verfolgung ab, Captain?“
Nelson Rice schnalzte mit der Zunge, schüttelte dann jedoch mit dem Kopf: „Wir haben hier den schriftlichen Befehl, dieses Schiff zu arretieren. Lassen Sie sich die Order vom HQ bestätigen, dann sehen wir weiter.“
„Und was machen wir solange mit der Jade?“
„Wir stören weiter ihren Langstreckenfunk und Mr. Henniges kann ja gerne mit denen da drüben weiter diskutieren.“
„Aye, Sir.“
Während sich Reuther zu einem von Henniges Signalgasten begab meldete sich der zweite Offizier, der Astrogator Lieutenant Commander Wesley Van Holm, zu Wort: „Und was machen wir, wenn die dort nicht wirklich hören wollen, Skipper? An Bord sollen wir den Befehlen nach nicht gehen?“
„Wir werden in Energiewaffenreichweite sein, wenn das Hauptquartier antwortet, und müssen keine Raketen für den Kahn verschwenden.“, Rice zwinkerte seinem zweiten Offizier zu.
Während über Funk der Tonfall schärfer wurde näherte sich die Le Grand der Emerald Jade auf die Reichweite ihrer Lasergeschütze an, doch die Bestätigung des Arrestbefehls für die Emerald Jade kam schneller als erwartet.
Die digitale Signatur ließ direkt erkennen, dass die Befehle vom NIC Hauptquartier auf Victoria Station kam und nicht von der Operationsabteilung der 5. Flotte.
„Und Mr. Henniges, irgendein Ergebnis?“
Der Signalmeister der Le Grand riss frustriert sein Headset vom Kopf: „Negativ, Skipper, der Penner hat zwar ein anschauliches Repertoire an Drohungen parat, aber sonst nichts.“
„Wo Sie doch so gut auf Drohungen reagieren, Chief.“
„Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich seine Nasenhaare mit den Haaren verknote die seiner Mutter aus dem Arsch wachsen, aber ich glaube nicht, dass ich zu ihm durchgedrungen bin oder ob er mir überhaupt zugehört hatte.“
Der Skipper der Le Grand atmete tief durch: „Mrs. Vidal: Geben Sie drei Warnschüsse ab, fünf Schuss Salve, zehn Grad über ihren Bug!“
Die taktische Offizierin der Le Grand bestätigte und gab die Befehle an ihre Geschützcrews weiter.
Emerald Jade
Sprungpunkt Golf, Sterntor
Auf der Brück der Jade schien allein Falkners Präsenz dafür zu sorgen, dass Sarah Victor sich nicht auf Tremane stürzte oder sofort die Maschinen stoppte.
Andrew Tremane hatte eine ganze Weile gegen den Funker der Fregatte angeschrien, der nach Falkners Meinung ein erfahrener, sehr erfahrener Unteroffizier sein musste.
Die Entgegnungen Tremane gegenüber kamen ihr nicht vor, als ob dessen Gesprächspartner der Geduldsfaden riss.
Schließlich hatte Fushida versucht das Hauptquartier von der Emerald Jade aus anzufunken, doch die sie verfolgende Fregatte blockierte alle Langstreckenkommunikation und so fähig der Sensoroffizier der Relentless auch war, die Ausrüstung der Jade hatte keine Chance gegen die ECM-Anlagen der Le Grand, schon gar nicht auf so geringe Entfernung.
Lieutenat Commander Georges und Lieutenant Davis hatten vorgeschlagen, den Befehlen nachzukommen, der Irrtum müsse sich ja aufklären.
Lilja hingegen hatte vorgeschlagen, dass sie mit einem Jäger das Abschirmfeld der Fregatte durchbrechen könnte, um das HQ zu verständigen.
Aus reiner Erfahrung wusste Falkner, dass Tremane diesen Vorschlag tatsächlich in Erwägung gezogen hatte. Seine ganze Haltung, seine Miene und seine Stimme machten für sie deutlich, dass er sich das Hirn zermarterte, wie er seine Daten vor einem Zugriff durch die Flotte retten konnte.
Auch wenn sein logischer Verstand ihm schon gesagt hatte, dass er nicht mehr weiter kam, so war da noch dieser Wahn dem er erlegen war, sein Hunger den es zu stillen galt, sein Moby Dick, den er erlegen musste. All jenes, was ihn soweit getrieben und gebracht hatte.
Und auch Falkner überlegte fieberhaft, wie sie die Situation retten konnte, wie sie Tremane dazu bringen konnte, den Befehlen der Le Grand zu folgen, ohne ihn hier öffentlich, vor den Leuten, die er angelogen, bestochen und erpresst hatte, zu zerstören.
Zum Glück wurde ihr wohl die Entscheidung abgenommen. Kurz hintereinander zischten dreimal fünf Energiebolzen über das Kanzeldach der Emerald Jade hinweg.
Mit wutverzerrtem Gesicht blickte Sarah Victor zuerst zu Tremane, dann zu Falkner, welche die andere Frau am Arm packte. Sie konnte die Entschlossenheit in den Augen ihres Gegenübers lesen.
Der Deckenlautsprecher der Emerald Jade meldete sich wieder: „SS Emerald Jade, SS Emerald Jade, TRS Pierre Le Grand Actual hier.“
„Ah, deren Captain.“, bemerkte Falkner, bevor irgendjemand anderem Tremanes verständnisloser Blick auffallen konnte.
„Dies war unsere letzte Warnung. Sollten Sie nicht augenblicklich stoppen, werden wir sie manövrierunfähig schießen und in Schlepp nehmen.“
Langsam, kaum merklich schüttelte Falkner den Kopf.
Tremane, der immer noch zur Kanzel hinaus blickte nahm das Mikrophon vor dem Mund: „TRS Pierre Le Grand, SS Emerald Jade, wir stoppen unsere Maschinen.“