Hinter den feindlichen Linien - Season 6 - Brennendes All

Cattaneo
Tyr

Irgendwo im republikanischen Raum

Captain Los erwiderte abwesend den Gruß des Posten, der die Tür zum Quartier des Admirals bewachte und betätigte den Türsummer: „Admiral, hier Captain Los. Es gibt Neuigkeiten von unserer Nachrichtenabteilung.“
Statt einer Antwort glitt die Tür auf.
Insgeheim hatte sie gehofft, dass Admiral Taran vielleicht zu beschäftigt sein würde, aber die Götter der Sternenleere, die der Flottenkommandeur so gerne in seine Flüche einflocht, waren offenbar nicht gewillt, ihr eine Gnadenfrist zu gewähren.
Sie konnte den abwechselnd monotonen oder aufreibenden Dienst bewältigen, die unregelmäßigen Arbeitszeiten und die rund-um-die-Uhr-Bereitschaft, die der Admiral von seinen Untergebenen erwartete. Und dass Taran sie gelegentlich als Resonanzkörper und Reflektor für seine militärischen, politischen und manchmal auch recht philosophischen Überlegungen verwendete, betrachtete sie fast als eine Art Privileg.
Aber sie mochte es nicht, den Boten spielen zu müssen. Vor allem nicht in diesem Fall.

Admiral zweiter Klasse Mokas Taran befand sich momentan nicht im Dienst, aber natürlich trug er Uniform. Vielleicht schlief er sogar in dem recht schmucklosen aber unterschwellig einschüchternden Dienstanzug. Falls er überhaupt jemals schlief. Manchmal zweifelte sie daran.
Im Augenblick hatte er sich jedenfalls lässig zurückgelehnt, die Ellbogen auf die Stuhllehnen gestützt, die Hände locker vor der Brust ineinander verschränkt. Inzwischen wusste Los, dass dies üblicherweise bedeutete, dass Taran irgendetwas beschäftigte, dass er etwas ausbrütete. Eine neue Manöversequenz, einen politischen Winkelzug…
In bequemer Griffweite des Admirals stand ein Glas mit einer blassblauen Flüssigkeit und schmuckloser Teller, auf dem ein Dutzend schmaler, dunkelgrüner Blätter arrangiert worden war, die man dick mit einer hellgrünen Paste bestrichen hatte und die von dunkelroten, rohen Fleischstreifen gekrönt wurden.

Thera Los schnupperte kurz und unterdrückte den Wunsch, die Nase zu rümpfen.
Obwohl er es in seiner Jugend anscheinend ziemlich wild getrieben hatte, war der Vizeadmiral ein Mann mit überschaubarem Sündenregister. ‚Nun ja, wenn man da die Verschwörung gegen Jor nicht mit einrechnet.’
Taran schikanierte seine Untergebenen nicht, und achtete im Allgemeinen auf professionelle Distanz. Er war berauschenden Getränken nicht abgeneigt und Los war sich sicher, dass er gelegentlich Aufputschmittel nahm. Aber dabei gab es eine Linie, die er nie überschritt, und selbst als sie Taran einmal angetrunken erlebt hatte, war er zivilisiert geblieben.
Er rauchte nicht, spielte nur aus Geselligkeit und aß ziemlich mäßig. Sogar sein zweifellos vorhandener Ehrgeiz und seine Arroganz wurden durch eine selbstironische Ader, seinen Realitätssinn, seine Selbstbeherrschung und Erziehung in Schach gehalten.
Doch das hier war eine weitere seiner Schwächen. In den Jahren seines Exils hatte Taran sich offenbar an die…ziemlich exotische Küche der T’rr gewöhnt, was die gelegentlich angesetzten Dienstdinners zu einer riskanten Angelegenheit machte – zumindest für jene Offiziere, die noch die Küche der Zentralwelt gewöhnt waren.
Angeblich hatten Tarans Vorlieben den neuen Chefkoch der Kahal beinahe in die Meuterei getrieben, bevor er sich dazu durchringen konnte, die Situation als Herausforderung seines Könnens zu verstehen. Der Admiral hatte bedenkenlos die ihm zur Verfügung stehenden Privilegien genutzt, um etliche Kubikmeter Tiefkühlstauraum für seine Privatvorräte zu reservieren.
Los Vorgesetzter musterte sie und kurz spielte ein spöttisches Lächeln um seine Lippen: „Ah, Los. Wollen Sie einmal probieren?“
„Vielen Dank, aber ich habe schon…“
„Kommen Sie schon. Das ist ein Befehl.“ Ihr gefiel das Grinsen ihres Vorgesetzten nicht. Aber Thera Los wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Also schickte sie sich in das Unvermeidliche und griff nach dem Teller.
„Rollen Sie das Blatt…nein, in Längsrichtung. Richtung so. Und jetzt…“
Mit einem stummen Stoßgebet schob die Stabschefin den Happen in den Mund und biss mit Todesverachtung zu. Genauso gut hätte sie auch an einem Plasmawerfer ziehen können. Während das geschmackliche Äquivalent einer Feuerwelle durch ihren Rachen und ihre Speiseröhre rollte und sie hustend nach Luft schnappte, schob ihr Taran hastig das Glas zu: „Vorsichtig, vorsichtig. Nehmen Sie einen Schluck, schnell.“
„Argh…Danke, mein Lord.“ Thera Los schluckte hastig, und riss überrascht die Augen auf. Die fast geschmacklose Flüssigkeit hatte das Brennen auf ein erträgliches Level gesenkt, der es ihr erlaubte, das Aroma der T’rr-Speise zu erforschen, ohne sich dabei den Rachen zu verbrennen. „Das…schmeckt ziemlich gut.“
„Noch ein Bissen?“
„Äh…vielleicht später.“

Der Admiral schob sich selber eines der belegten Blätter in den Mund und nahm einen kleinen Schluck. Dabei zuckte er nur kurz: „Es heißt, das volle Aroma der Lura-Blätter erschließt sich nur dem, der es schafft, ihr Feuer nur durch einen einzigen Tropfen Cza zu löschen. Allerdings kenne ich keinen Akarii, dem das bisher gelungen ist.
Nun, genug damit. Haben Sie die letzten offiziellen Nachrichtensendungen von der Heimatwelt gesehen?“
Thera Los wusste sofort, auf was Taran anspielen musste. Und sie war über die Gnadenfrist, die ihr Taran dadurch gewährte, nicht gerade traurig. Und verachtete sich gleichzeitig selber ein klein wenig wegen dieser Schwäche: „Ja, Admiral.“
Dass man Ilis in den Rang der Unvergesslichen erhoben hatte, war im Offizierskorps der Rikata-Kampfgruppe nicht unumstritten. Dafür war die Taufe von gleich drei Trägerschiffen mit ebenso großer wie fast einhelliger Befriedigung zur Kenntnis genommen worden. Nur einige Schwarzseher hatten kritisch moniert, dass nur eines der Schiffe ein ‚richtiger’ Flottträger und die anderen beiden nur ein Umbau und ein Beuteschiff waren.
Das war es, was die meisten Offiziere in diesem Zusammenhang beschäftigte – das, und die Frage, ob man einen der Träger in den Draned-Sektor schicken würde. Vielleicht kalkulierten einige Captains auch über die politischen Implikationen der Veranstaltungen, doch für die meisten der niedrigeren Dienstränge war das alles viel zu weit weg.
Und da Taran sich über sein Privatleben in der Regel ausschwieg, hatte vermutlich kaum einer registriert, dass die Verlobte des Flottenführers sowohl bei der Denkmalseinweihung als auch der Schiffstaufe anwesend gewesen war. Aber im Augenblick meinte Taran natürlich etwas anderes.
„Das Bild der Einigkeit und der Stärke, das die Regentin und die Spitzen der Regierung boten, hat sicherlich dazu beigetragen, das Vertrauen in die Zukunft zu stärken. Ich bin sicher, dieses Zeichen der Geschlossenheit wurde allgemein mit Freude und Erleichterung aufgenommen, Admiral.“
Taran grinste kurz angesichts des zynischen Untertons, der in der Stimme seiner Stabschefin mitschwang. Er nickte zustimmend: „Nur nicht bei den Cousins unserer geliebten Regentin, würde ich vermuten. Dass der alte Allecar sich hinter Linai stellt, das konnte ja nicht überraschen. Aber Latasch… Hmm…Und wie passt Rallis da rein...
Aber seit wann fühlt sich Dero dazu berufen, den Menschenfreund zu spielen? Der Frieden mit der Konföderation war nötig und klug, aber er legt da zu viel Enthusiasmus rein. Das werden die Traditionalisten und die Streitkräfte nicht so gerne hören. Solange er so dicht hinter der Regentin steht, fällt das auch auf sie zurück. Und er muss doch wissen, dass er als Anwalt und Ex-Unteroffizier nicht unbedingt geeignet ist, so eine Position zu propagieren…“
Mit einem kurzen Achselzucken schien der Befehlshaber der Flottenkampfgruppe seine Überlegen beiseite zu schieben und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Stabschefin zu: „Sie sagten, Sie kommen von unserer Nachrichtenabteilung. Haben Sie gute oder schlechte Neuigkeiten?“
„Eine schlechte. Bei der anderen…bin ich mir noch nicht so ganz sicher.“
„Dann fangen Sie am besten mit dem unangenehmen Teil an. Dann haben wir das hinter uns.“
Flüchtig fragte sich Captain Los, ob Taran vielleicht aus dieser Einstellung heraus so frühzeitig zu der gegen Jor gerichteten Offiziersfronde gestoßen war.

„Wir haben eine unverschlüsselte Breitband-Nachricht aus dem Hauptquartier von Hochlord Qulat empfangen, Admiral.“
Mokas Taran runzelte die Stirn und richtete sich jäh auf. Jede Spur von Nachdenklichkeit oder Amüsement war mit einmal verschwunden. Ein kalter, gefährlicher Unterton schwang in seinen Worten mit: „Captain Los, es gibt keinen ‚Hochlord’ Qulat. Es gibt einen Hochverräter dieses Namens, den vor ein Kriegsgericht und dann ein Erschießungskommando zu stellen wir leider noch nicht die Zeit und die Gelegenheit hatten. Ein Mann, der früher einmal im Draned-Sektor den Posten eines Gouverneurs bekleidete, bevor er sich entschloss, durch seine Rebellion gegen das Imperium seinen Eid, seine Pflicht und die Ehre seiner Familie in den Schmutz zu treten. ‚Hochlord’, Pah! Warum nicht gleich König? Oder Imperator, da er ja schon mal dabei ist…“
„Verzeihen Sie, mein Lord.“
„Schon gut. Nur lassen Sie uns das niemals vergessen. Also, was hat diese Drehh’can* uns und der Galaxis mitzuteilen? Wenn der Nachrichtendienst das Kommunique für erwähnenswert hält, dann muss es wohl wichtiger sein, als die üblichen Eitelkeiten und Selbstbespiegelungen dieser Narren.“
Davor hatte sich Thera Los schon die ganze Zeit über gefürchtet. Das war einer der Augenblicke, in denen sie bedauerte, dass ihr Verhältnis zu Taran rein beruflich geblieben war. Wenn ihre Beziehung eine…informellere Natur gehabt hätte, dann hätte sie seine Reaktion besser abschätzen können. ‚Ja, und vielleicht hätte er mir auch gleich noch die Ehe angetragen. Egal. Bleibt zu hoffen, dass er es nicht den Boten büßen lässt.’
Jor hatte einmal als Reaktion auf eine – zugegebenermaßen sehr schlechte – Nachricht einen Gefangenen eigenhändig geköpft, der zu allem Überfluss auch noch der Sohn einer hochrangigen TSN-Offizierin gewesen war. Und Gerüchten zufolge hatte mindestens ein subalterner imperialer Offizier seine Rolle als Überbringer schlechter Nachrichten mit der sofortigen Versetzung zu den Marines gebüßt.
Die Stabschefin unterdrückte ein Seufzen und streckte die Hand mit dem Datenchip aus: „Vielleicht sollten Sie sich das besser selber ansehen, Admiral.“
Taran musterte sie kurz und nickte knapp: „Also gut.“

Es begann mit einem martialischen Fanfarensignal, während das persönliche Wappen der Qulat-Familie aufblitzte – ein schwarzes Sirash über einem gespaltenen roten Rundschild auf weißem Grund. Das Logo wurde durch einen Akarii in Uniform ersetzt, der die Abzeichen eines Captains trug. Thera Los kniff kurz die Augen zusammen – man hatte die traditionelle Uniform modifiziert. Auch die Abzeichen des ‚Regierungssprechers’ entsprachen nicht imperialen Standards. ‚Qulat verschwendet keine Zeit.’
Auch wenn der Separatistenführer nicht persönlich auftrat, seine Präsenz war dennoch unübersehbar, denn die rechte Seite des Bildschirms wurde von einer holographischen Großaufnahme des ‚Hochlords’ dominiert. Bevor man ihn zum Systemgouverneur ernannte, hatte er lange Jahre in der imperialen Armee gedient und in diversen Kolonialkriegen eine ganze Anzahl von Orden und Auszeichnungen verdient. Dem hoch gewachsenen, stattlichen Qulat gelang es, auch in seiner selbst kreierten Fantasieuniform eindrucksvoll zu wirken.
Taran presste die Lippen zusammen, während der ‚Captain’ zu sprechen begann.
„Schiffe und Truppen des unrechtmäßigen und diktatorischen Militärregimes, das beansprucht die Kontrolle über den Draned-Sektors innezuhaben, unternahmen vor zwei Tagen einen Versuch, die von ihnen initiierte Aggression auf Dal IV auszuweiten. Unsere Streitkräfte stellten den feindlichen Invasionskonvoi…“
Thera Los schaltete auf Durchlauf. Sie kannte die Botschaft. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihren Vorgesetzten. Reglos lauschte Taran den Worten von Qulats Sprecher. Wenn man von dem gelegentlichen Zucken seiner Augenlieder absah, dann hätte man meinen können, dass der Flottenbefehlshaber und Militärkommandeur des Draned-Sektors sei zu Stein erscharrt.
„…triumphaler Sieg…Feind zog sich unter schweren Verlusten zurück…hunderte Gefangene…“

Ein Szenenwechsel brachte den ‚Hochlord’ auf den Bildschirm. Der ehemalige Gouverneur
richtete seine dunkeln Augen auf die Zuschauer, während er hinter seinem monumentalen Schreibtisch mit dem Habitus eines Hof haltenden Adligen saß: „Ich rufe all jene Akarii, die nicht länger gewillt sind, sich durch das repressive und ungerechte Militärregime eines Verschwörers unterdrücken zu lassen! Ich rufe all jene, denen ihre Heimat – der Draned-Sektor – WIRKLICH am Herzen liegt. All jene, die genug haben von falschen und gebrochenen Versprechungen. Was hat Generalgouverneur Colar Ras jemals für uns getan? Wollen wir uns wirklich einem Mann unterordnen, der zweimal vor den Menschen flüchten musste? Der nicht genug Mut und Stärke hatte, um auf seinem Posten auszuharren? Wo ist die Flotte Tarans, für die so viele unserer Systeme ihre besten Einheiten abgaben, auch auf Kosten ihrer eigenen Sicherheit? Wo ist dieser Verband, dessen eigentliche Pflicht und Schuldigkeit es sein müsste, die Sicherheit und den Schutz unserer Planeten zu garantieren? Niemand weiß es! Sie hat uns im Stich gelassen! Das einzige, was das Militärregime des ehemaligen Verschwörers Taran uns gebracht hat, waren neue Opfer, diktatorische Gesetze und die Aufhebung unserer durch die Tradition und das Gesetz garantierten Rechte! Den Verlust unserer besten Raumschiffe.
Es ist an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen! Man hat uns aufgegeben! Man hat uns verraten! Es ist an der Zeit, dass sich der Draned-Sektor dieser Tatsache stellt und auf seine eigene Stärke besinnt. Es ist an der Zeit sich zusammenzuschließen im Kampf um den Erhalt unserer Freiheit und unserer Rechte. Mein Ruf gilt all jenen echten Patrioten, die nicht länger gewillt sind, sich, ihre Brüder und ihre Kinder zu opfern in einem sinnlosen…“

Mit einem wütenden Schrei schoss Taran in die Höhe. Eine blitzschnelle Bewegung – der schwere Keramikteller ließ den Bildschirm mit einem lauten Knall in tausend Stücke zersplittern.
Der scharfe Geruch der T’rr-Speise wurde von dem Gestank verschmorter Elektronik überlagert.
Die Eingangstür glitt auf, und der Wache stehende Marine stürzte ins Zimmer, während seine Augen und der Lauf seiner Waffe nach einer Bedrohung suchten: „Admiral! Was…“
„RAUS. SOFORT!“ Der Marine zuckte zusammen, salutierte verwirrt und wandte sich zum Gehen. Thera Los machte Anstalten ihm zu folgen, doch Tarans Stimme hielt sie zurück: „Sie nicht, Los. Sie bleiben.“ Die Stimme ihres Vorgesetzten klang seltsam verzerrt, fast erstickt, duldete jedoch keinen Widerspruch. Also blieb sie.
Die Krallen des Admirals fuhren mit einem enervierenden Kratzen über die Tischplatte, die Taran gepackt hatte, als wollte er sie aus der Verankerung reißen: „Dieser…dieser von einem Arigo** gezeugte BASTARD! Ich…weigere mich zu glauben, dass in seinen Adern das Blut einer imperialen Adelsfamilie fließt…
Wir werden ein Militärtribunal zusammenrufen. Ein Standgericht. Für seinen Verrat kann es nur ein Urteil geben. Nur eine Strafe. Ich will sein Todesurteil! Wenn wir ihn erst einmal haben…werde ich mich nicht mehr mit irgendwelchen Formalitäten aufhalten.
Wir werden seine Familie deportieren. Sein Wappen und die Leiber seiner Ahnen verbrennen. Seine Heimstatt werden wir den Erdboden gleichmachen und Salz in die Asche sähen!“
„Mein Lord…“
Der Admiral riss den Kopf herum und fixierte seine Untergebene wutentbrannt. Er öffnete den Mund…dann zögerte er. Langsam wie unter großen Anstrengungen lösten sich seine Hände von der Tischplatte, während sein Atem keuchend ging. Ein paar Augenblicke war dieses Keuchen das einzige Geräusch im Raum.
„Wie viele meiner Schiffe und Soldaten hat dieser Verräter auf dem Gewissen? Wie hoch sind Vorcas Verluste?“ Vorcas war der von Taran eingesetzte Interimskommandeur für den Draned-Sektor.
„Es war eine Falle. Qulats Streitkräfte hatten den Sprungpunkt vermint. Wir haben einen Hilfskreuzer und mehrere Raketenschnellboote verloren. Mindestens ein weiterer Hilfskreuzer und eine Korvette wurden schwer beschädigt, konnten sich aber zurückziehen. Dazu kommen die Schäden und Mannschaftsverluste bei anderen Schiffen. Und ein zum Truppentransporter umgebautes Passagierschiff musste sich mit etwa zwei Bataillonen Armeesoldaten an Bord ergeben.“
„Die Verluste des Gegners?“
„Unbekannt. Vermutet wird die Vernichtung von zwei kleinen Hilfskriegsschiffen und die Beschädigung einiger weiterer Einheiten.“

Der Admiral ließ sich müde in den Kommandosessel fallen und schüttelte schwerfällig den Kopf: „Es sind nicht nur unsere Verluste. Die lassen sich irgendwann ersetzen.
Und es hat ja schon einige Zusammenstöße und Kämpfe mit den Rebellen gegeben. Aber jetzt in diesem Augenblick…
Nach dem Tod Eliaks war es die Flotte und die Armee, auf die sich die Herrschaft des Imperiums im Draned-Sektor stützte. Und wie stehen wir jetzt da? Ich habe es kommen sehen, verdammt. Ohne die Rikata-Kampfgruppe ist unsere Kontrolle über den Sektor keine Kupfermünze wert. Was soll Vorcas machen, wenn tatsächlich noch weitere Systemgouverneure und Kommandanten die Seiten wechseln?
Und schlimmer noch…Selbst wenn es keine weiteren Verräter gibt, wie stehen wir vor den unterworfenen Völkern da? Wie soll ich Frieden mit den T’rr schließen, wenn ich nicht einmal die AKARII unter Kontrolle habe? Schlimmer noch, Qulats ‚Botschaft an das Universum’ ist eine offene Einladung für die Menschen, ihre Offensive gegen den Draned-Sektor zu erneuern. Falls sie es noch nicht gemerkt haben sollten, dass die Rikata-Kampfgruppe den Sektor verlassen hat – jetzt wissen es. Eine einzelne Trägerkampfgruppe könnte ein halbes unserer Dutzend Systeme erobern oder zusammenschießen, ohne auch nur langsamer fliegen zu müssen.“
„Ich glaube nicht, dass die Menschen momentan eine Trägerkampfgruppe entbehren können. Oder auch nur ein Kreuzergeschwader. Nicht nach dem Wegfall der Konföderierten.“
„Falls sie nicht auf die Idee kommen, Ilis Coup zu kopieren. Ein bewaffneter Vorstoß nach T’rr…
Wenn sie Colar Ras zum dritten Mal zur Flucht zwingen…oder ihn diesmal aus dem Loch sprengen, in das sich unser Generalgouverneur verkrochen hat…“
„Es ist unwahrscheinlich, dass die Menschen ein solches Abenteuer wagen werden. Sie müssen sich schließlich nicht nur über ihre konföderierte Flanke Sorgen machen. Die Manticore-Kampfgruppe hat ihre Angriffsbereitschaft demonstriert…“
„Ein bisschen kostspielig für eine Demonstration.“
„…und muss deshalb blockiert werden. Und wenn wir erst über Parrak auftauchen und Lay Rian sich in Marsch setzt…“
„Ja, wir werden über Parrak auftauchen. Bleibt nur die Frage, ob wir das System auch wieder verlassen können. Und ob wir dann noch etwas finden, zu dem wir zurückkehren können. Ich will nicht der erste Sektor-Militärkommandeur sein, der den ihm anvertrauten Raumsektor nur deshalb verloren hat, weil er gerade abwesend war.“
„Vorcas Flotte ist immer noch kampfkräftiger als die Flotten der Separatisten.“
Taran nickte langsam: „Sie haben Recht. Selbst wenn sie sich zusammenschließen - und das glaube ich nicht. So denken diese Männer und Frauen nicht. Wenn sie vernünftig agieren würden, dann hätten sie erst gar nicht rebelliert. Sie trauen sich gegenseitig nicht und ihr Ego ist zu groß, als dass sie sich Qulat so einfach anschließen würden. Und was die bisher loyalen Verbände und Welten angeht…hoffen wir, dass der Geheimdienst, das Kriegsrecht und die Vernunft sich als stärker erweisen, als die lächerlichen Platituden und Allüren eines größenwahnsinnigen Verräters.“ Er presste die Lippen zusammen: „Dennoch. Das wird er teuer bezahlen. Und wenn ich ihn eigenhändig erschießen oder jedes Haus auf seinem Planeten bis auf die Grundmauern niederbrennen muss – er wird dafür bezahlen!“

Mit einem Ausdruck, den man am besten als etwas verlegen bezeichnete, musterte Taran die von ihm angerichtete Verwüstung: „Ich sollte wohl besser einen Messegasten einbestellen.“
Thera Los atmete erleichtert aus. Anscheinend war der von ihr erwartete Ausbruch vorüber. Na ja, verglichen mit Jor…hatte der Admiral die ganze Sache doch ganz gut aufgenommen.
„Vielleicht wollen Sie sich vorher noch die andere Nachricht ansehen, die der Geheimdienst abgefangen hat.“
„Die, von der Sie nicht wissen, ob sie gut oder schlecht ist?“
„Ja, mein Lord. Diese Informationen konnte unser Nachrichtendienst aus dem zivilen Funkverkehr der Menschen extrahieren. Es geht um den TSN-Verband, der auf der Jagd nach Prinz Jor in den Draned-Sektor geschickt wurde.“
„Ich weiß nicht, ob das von den Menschen ganz besonders kühn oder ganz besonders dumm war. Vielleicht beides. Denn wenn Jor immer noch Kronprinz, Kriegsminister und Großadmiral wäre…dann wären wir wohl inzwischen im vollen Rückzug. Ich hätte niemals die KAHAL und die CHA’KAL zusammenziehen können. Ha! Vermutlich würden die Menschen dann bald über Akar stehen.“
Thera Los kommentierte das nicht. Ihr war klar, dass ihr Vorgesetzter einfach noch ein wenig Dampf ablassen musste. ‚Und besser Jor, als ich.’
„ Wir konnten den Aufenthaltsort der COLUMBIA und der ‚Angry Angels’ verifizieren.“ Die Stabschefin reichte Taran ihr tragbares Datapad, das Taran mit einem reumütigen Blick auf den zerstörten Bildschirm der Tischanlage entgegennahm. Schweigend studierte er die Analysen des Nachrichtendienstes: „Wie verlässlich sind diese Annahmen?“
„Wir haben keine Bestätigung aus anderen Quellen. Aber der Nachrichtendienst glaubt auch nicht, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt. Immerhin wurden die ‚Angry Angels’ in drei Schlachten schwer dezimiert, ihr Träger beschädigt und ihr Begleitschutz auf eine Handvoll Kreuzer und ein paar Zerstörerdivisionen reduziert. Nach unseren Einschätzungen hatte das Fliegergeschwader nach der letzten Schlacht nur noch eine Gefechtsstärke von fünfzig bis sechzig Prozent.“
„Hm. Es sei denn, Sie haben die Reste ihres Eliteverbandes zu einem leichten Geschwader zusammengefasst und auf einem ihrer Majestic-Träger in den Einsatz geschickt. Aber warum sollten sie das tun…
Vermutlich haben Sie Recht. Also liegt die COLUMBIA in der Werft. Und die ‚Angry Angels’ werden aufgefrischt und reorganisiert.
Tja. Chance oder Bedrohung…Ich verstehe, was Sie meinen. FALLS die COLUMBIA in absehbarer Zeit wieder in den Kriegseinsatz zurückkehren sollte…verdammt.“
„Das ist zwar möglich, doch wenig wahrscheinlich. Zweifellos waren die Beschädigungen dieses Flottenträgers sehr schwer.“
„Das sollte auch wohl besser so sein, wenn ich daran denke, wie die beiden Träger des Manticore-Verbandes aussehen…
Egal. Was auch immer die Menschen mit ihrem Elitegeschwader vorhaben, das ändert nichts.“
Thera Los war da etwas anderer Ansicht. Ihrer Meinung nach konnte das ALLES verändern. Aber sie wusste, wann sie besser den Mund hielt: „Wie Sie meinen, Admiral.“
Taran warf ihr einen ausdrucklosen Blick zu: „Denken Sie nicht, dass ich das auf die leichte Schulter nehme. Aber jetzt genug damit – es liegt nicht mehr in unserer Hand. Wir haben unsere Befehle.
Bis dahin…kann es sicherlich nicht schaden, wenn wir für unsere Bordgeschwader die Feinddossiers zu den ‚Angry Angels’ aktualisieren. Und außerdem…Stellen Sie auch ein Dossier zu Qulat zusammen. Flotten- und Mannschaftsstärke, seine Offiziere…das übliche eben.“
„Jawohl, Admiral.“
„Und bei Gelegenheit informieren Sie Matir, Lukat, Zanni und Gelek über ihre Teilnahme an dem Kriegsgericht, das unter meinem Vorsitz zusammentreten und Qulat in Abwesenheit zum Tode durch Erschießen verurteilen wird.“
„Soll ich ihnen das so sagen, Admiral?“
Taran schnaubte amüsiert. Offenbar hatte er sich wieder gefangen: „Abgesehen von der Sache mit dem Erschießen, ja.“
„Und wer soll Qulat verteidigen?“
Ein hässliches Lächeln huschte über Tarans Züge: „Ich glaube, da habe ich auch schon einen geeigneten Kandidaten.“
„Zu Befehl. Wenn das alles wäre, mein Lord.“
„Schon gut. Ich denke, fürs erste reicht es. Sie können gehen.“
„Mein Lord.“ Thera Los salutierte und wandte sich zum Gehen. An der Tür ließ sie Tarans Stimme noch einmal kurz innehalten: „Captain Los. Sollte es noch mehr derartiger Nachrichten geben…Kommen Sie direkt zu mir. Und falls es das war, was Sie befürchteten – ich pflege nicht auf den Boten zu schießen. Dazu habe ich nicht einmal annähernd genug kaiserliches Blut in den Adern. Denken Sie immer daran, dass ich die Wahrheit wissen will. Keine Beschönigungen. Vielleicht werde ich dann manchmal etwas laut…aber das gilt nicht Ihnen. Ich weiß, für wen ich meine Wut und meinen Hass aufsparen muss.“
„Jawohl, mein Lord.“


************
* „geborstene Klinge“, bezeichnet einen Verräter, Verbannten oder Eidbrecher

** das Arigo ist eine mittelgroße, zweibeinige Laufechse von Akar, aus dem sich in prähistorischer Zeit der Ur-Akarii entwickelte. Trotzdem (und trotz geltender Verbote) wird dieses Tier teilweise immer noch illegalerweise gejagt und als Delikatesse verzehrt
Cattaneo
Cunningham

Die ewige Stadt von Pan'chra, Akar


Als das Zentralgestirn des Heimatsystems der Akarii im feurigen Abendrot am Horizontersank erstrahlte das Stadtpalais von Lev Zuuni, der Erzherzogin von Zuuni, Nachfahrin des edlen Königsklans der Zuuni, im gemütlichen Zwielicht.
Als direkte Nachfahren ehemaliger souveräner Fürsten war der Stand der Zuuni im Adelsforum auf Akar etwas Besonderes. Ihnen gebührte auf Erlass des ersten Imperators die Anrede Königliche Hoheit und nicht Mylord, wie dem restlichen niederen Adel der Akarii, was für einen Zuuni alle anderen Adligen darstellten, außer den wenigen Nachfahren anderer Fürsten und natürlich der imperialen Linie.
Ein wenig rücksichtsvoller Vorfahre von Lev hatte es einst so ausgedrückt: „Euer Majestät, königliche Hoheiten, LEUTE ...“
Dies hatte zu einigen Jahrhunderten an Fehden mit niederen Herzögen und einigen Grafen geführt. Fehden, welche die Zuuni selbstverständlich überlebt hatten. Fehden, die letztlich den Einfluss der Zuuni und ihrer Verbündeten noch weiter gestärkt hatten.
Manche sagten, Lev Zuuni sei die Lichtgestalt im Zirkel des verstorbenen Kanzlers Raleth Gor gewesen.
Sie hingegen sah ihre Position in dieser Runde etwas kritischer, dennoch war an ihr selbst kein negatives Stigma hängen geblieben, und so buhlten in Tagen wie diesen die verschiedenen Interessengruppen um die Gunst der Erzherzogin, und wie es sich für eine Zuuni gehörte hielt sie bei diesen Treffen Audienz, statt irgendwelchen Einladungen zu folgen.
So schien es, dass ihr Stadtpalais in diesen Tagen eine ähnliche Betriebsamkeit aufwies wie ein Raumhafen. Und zu allem Überfluss kamen nicht nur Leute, die sie her gebeten hatte oder denen sie auf Anfrage eine Audienz gestattet, sondern auch Leute, die nicht mal um ein Treffen gebeten hatten.
Als ihr Hausmarschall den Besuch von Admiral zweiten Ranges Kern Ramal angekündigt hatte, hatte Lev kurz mit dem Gedanken gespielt ihren ehemaligen Weggefährten einfach so wegzuschicken.
Doch stattdessen wandte sie sich an ihren Besucher: „Wenn Ihr gestattet Mylord, werde ich Euch kurz allein lassen und mich um den Admiral kümmern, wenn Ihr irgendwelche Wünsche habt, so wendet Euch doch bitte an Karras.“
Der jüngere Akarii nickte: „Selbstverständlich königliche Hoheit, ich habe jede Menge Zeit mitgebracht, ich bin sogar etwas froh meinem Palais zu entfliehen, es geht dort im Moment fast genauso geschäftig zu wie hier.“
„Arik,“, sagte die Erzherzogin zu ihrem Hausmarschall, „bitte führt den Admiral in das blaue Zimmer.“
„Sehr wohl königliche Hoheit.“
Lev verließ ihre über zwei Stockwerke reichende Bibliothek und ging durch einen der äußeren Flure zum blauen Zimmer. Der Flur war zum Garten hin mit einer Glasfront versehen und ließ sie den Anblick der parkartigen Anlage genießen, den sie und ihre Vorfahren als ihren Garten bezeichneten. Die Gemälde auf der anderen Seite, welche ihr Ur-ur-ur-ur-Großvater einst selbst gefertigt hatte, beachtete sie hingegen nicht. Ihr Vater hatte Unsummen verschwendet um die Bilder wieder in Familienbesitz zu bekommen und letztlich sogar einen imperialen Erlass erwirkt, dass das akariische historische Museum ein Bild zurückgeben musste. Zum wiederholten Mal dachte sie darüber nach, dieses wieder dem Museum zurückzugeben, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, welches es nun war.
Mit einem innerlichen Achselzucken entschied sie wieder einmal, dieses Problem der nächsten Generation überlassen.
Als sie das blaue Zimmer betrat, eigentlich ein größerer Salon mit mehren Sitzgelegenheiten und Vitrinen, die Schätze ihrer Familie beinhalteten, war Kern Ramal schon hineingeführt worden.
Der Admiral verbeugte sich auf überraschend angemessene Art und Weise: „Euer königliche Hoheit, habt vielen Dank, dass ihr mich trotz meines überfallartigen Besuches empfangt.“
Seit Jors Tod hatte sich allgemein viel von dem Verhalten des…kaiserlichen Bastards, ja ihr gefiel die Bezeichnung, des kaiserlichen Bastards, verändert. Gerüchten zufolge sollte er noch immer sehr auf brausend sein, doch sollte er auch sehr grüblerisch geworden sein: „Schickt Euch Euer Herr und Meister oder kommt Ihr um in eigener Sache vorzusprechen?“
Sie deutete auf einen der bequemen Sessel, schenkte danach zwei Weinkelche voll und offerierte dem Admiral einen. Sie hatte die Kelche gerade so voll geschenkt, dass sie ihre Pflicht als Gastgeberin nicht vernachlässigte, ihrem Gegenüber aber zu verstehen gab, sich kurz zu fassen.
„Nun, zum einen, königliche Hoheit, habe ich keinen Herrn und Meister und zum anderen habe ich keine eigene Sache. Meine Sache ist das Wohl des Imperiums.“
Lev Zuuni lachte auf: „Kommt jetzt der Punkt, an dem Ihr mir sagt, dass wenn ihr auf dem Thron sein würdet, wäre dies zum Besten des Imperiums, weil ihr all Euer Streben in diese Richtung ausgerichtet habt?“
Ramal schoss in die Höhe und machte einen Schritt auf sie zu und einen Augenblick glaubte sie doch tatsächlich zu weit gegangen zu sein: „In meinen Adern mag das Blut von Jor Thelams Onkel fließen, dennoch bin ich nicht Teil der imperialen Linie, ja nicht mal Teil der imperialen Familie. Ich bin Sohn des Grafen Ramal von Den'Dur! Und so wie ich Euch einschätze wisst Ihr auch ganz genau, warum ich nicht Teil der imperialen Familie bin.“
„Natürlich, weil in Euren Adern nicht nur das Blut von Jor Thelams Onkel fließt, sondern auch das seiner Mutter. Die Grafen von Den'Dur waren seit Anbeginn der Zeit Vasallen der Zuuni, Eure Mutter hat Euch in diesem Palais zur Welt gebracht. Also wenn Ihr nicht zu mir gekommen seit um meine Gunst zu erbitten, Euch dabei zu helfen Eure Abstammung offen zu legen und Euren Anspruch zu unterstützen, warum kommt Ihr zu mir, Sohn das Grafen Den'Dur, Vasall der Zuuni?“
„Nun, eigentlich bat mich Herzog Allecar bei Ihnen vorzusprechen. Der Kampf um die Thronfolge ist jetzt etwas…ah persönlicher geworden. Und einer der Thronkandidaten hat sein Missfallen erregt.“
„Rallis Thelam. Ich kann ihn verstehen, Dero ist gefährlich und viele sehen seinen Einfluss sehr skeptisch, Rallis wird damit viel Zuspruch gewonnen haben.“
„Und sich viele Feinde gemacht haben.“, entgegnete Ramal, „Meliac Allecar IST gefährlich und sein Einfluss im Adelskonklave ist nicht unerheblich, und er ist sehr konservativ.“
Sehr konservativ, dachte Zuuni, nach ihrer politischen Neuausrichtung machte das Allecar zu ihrem Feind. Verwundert blickte sie zu Ramal herüber: „Wie konservativ?“
Dessen Blick wanderte zu einer Vitrine mit antiken Dolchen, jene, die noch zusätzlich mit Gift bestückt worden. Einer der vielen Dolche hatte in der Hand eines Den'Dur vor über sechstausend Jahren einst die interne Nachfolge des Hauses Zuuni geregelt: „Erzkonservativ!“
„Ich verstehe, und er wünscht jetzt, dass ich mich politisch gegen Rallis stark mache und für wen eintrete?“
„Oh, er hofft darauf, Großvater des nächsten Imperator zu werden.“
Zuuni versuchte jegliche Reaktion zu unterbinden, doch war sie sich sicher, dass Ramal gesehen hatte, wie sich ihre Krallenfinger stärker in die Armlehne des Sessels bohrten oder wie sich leicht ihre Augen weiteten: „Und Ihr wollt ernsthaft, dass Allecar und seine Spießgesellen für Jahrzehnte Kontrolle über den Palast...“
„Ich sagte, ich will das Beste für das Imperium! Und was wir in den letzten fünf Jahren nicht sahen ist, dass Linai das Schlimmste verhinderte, was Raleth Gor dem Reich antat! Was wir ihm antaten! Ich will, nein ich verlange von Euch, dass Ihr Linai Thelam beisteht, sie schützt so gut wie Ihr es vermögt. Mit Eurer Macht, mit Eurem Einfluss und wenn nötig mit Eurem Leben! Ich fordere die Ehrenschuld des Hauses Zuuni gegenüber den Grafen Den'Dur ein!“
Viertausend Jahre waren eine lange Zeit. Manch einer mochte sagen, dass man von niemand nach so langer Zeit eine Ehrenschuld eintreiben konnte.
Aber noch heute erinnerte sie sich, als wäre es gestern, wie ihr Vater ihr auf dem Totenbett in Anwesenheit von Kern Ramals Adoptivvater die Ehrenschuld übertrug, welche das Haus Zuuni nun seit mehr als fünfzig Generationen mit sich trug. Eine lange Zeit für Zinsen, die aufliefen.
Langsam erhob sie sich und machte einen leichten Knicks, einen wirklich leichten, ihrer Stellung als Erzherzogin von Zuuni einem niederen Grafensohn angemessen: „Lord Admiral Kern Ramal von Den'Dur, das Haus Zuuni wird alles in seiner Macht stehende tun, um Linai Thelam zu schützen. Von heute an, bis zur seinem Ende!“
Ramal nickte und öffnete seine Uniformjacke. Darunter holte er einen antiken Dolch hervor, der mit dem Wappen und Ornamenten des Hauses Zuuni verziert war. Der materielle Wert dieser Waffe mochte fast eine Million imperialer Platinmünzen entsprechen. Von seiner Veräußerung könnte eine fünfköpfige Familie mindestens vierzig Zyklen gut leben.
Für das Haus Zuuni war sein Wert unermesslich. Er stand für ihre verpfändete Ehre und für die Seelen von mehr als fünfzig Generationen von Zuuni. Der mit diesem Dolch verbundene Eid war den Zuuni heiliger als die Treue zum Imperium.
Er überreichte ihr den Dolch: „Ich habe schon zu viel Eurer Zeit in Anspruch genommen, königliche Hoheit. Mein Vater bat mich noch Euch den Dank des Hauses Den'Dur zu übermitteln und Euch seiner Loyalität zu versichern, von Anbeginn der Zeit bis zu seinem Ende.“
„Es ist das Haus Zuuni, welches zu Dank verpflichtet ist, bitte richtet Eurem Vater meine herzlichsten Grüße und meine Liebe aus.“

Nachdem ihr Hausmarschall den Admiral hinausgeleitet hatte, legte sie den antiken Dolch in eine Seidenschatulle um ihn später im Familienschrein für die nächsten Jahre aufzubahren. Ein Jahr für jede Generation von Zuuni, deren Seelen und deren Eid heute eingelöst worden war.
Danach ging sie schnellen Schrittes zurück in ihre Bibliothek. Dort wartete noch immer ihr Gast, der nun in einem Buch über die Politik der Jarresh-Herrschaft blätterte.
Der junge Akarii blickte auf und erhob sich: „Ich hoffe das Treffen war zufriedenstellend, königliche Hoheit.“
Ganz gegen ihre Gewohnheit lächelte sie gelöst: „Ja, Mylord, das könnte man so sagen.“
Ihr Gast wartete, bis sie sich gesetzt hatte, ehe er selbst wieder Platz nahm.
„Aber wenden wir uns doch wieder der aktuellen Politik zu,“, sagte sie mit einem Blick auf das Buch, was er auf den Beistelltisch legte, „hat Eure Tante denn nicht wenigstens angedeutet, welchen Thronanwärter sie befürwortet?“
Arlemas Rian legte den Kopf schräg: „Meine Tante hatte nie etwas für Politik übrig, dass ihr niemand aus dem engeren Familienkreis jemals zugetraut hätte, in der Flotte überhaupt aufzusteigen. Doch wie wir nun alle wissen muss man sich nicht um das politische Parkett zu kümmern, um Großadmiral zu werden.“
„Die Zeiten müssen nur schwierig genug sein“, stimmte Zuuni zu, „das heißt, Ihr habt freie Hand in der Adelskonklave?“
„Nun, bis meine Tante mir etwas anderes sagt…ja.“


TRS Pierre Le Grand
Sterntor, FRT

Die Pierre Le Grand fuhr nun seit drei Tagen neben dem uralten Trampfrachter. Aus der Situation heraus hatte Captain Rice Alarmstufe drei ausgegeben. Getreu dem alten Motto der Navy: Semper Paratis. Die Besatzung der Le Grand war übermäßig nervös. Eine Tatsache, die hauptsächlich auf der Unwissenheit beruhte, welche die ganze Situation kennzeichnete.
Die Emerald Jade sollte arretiert aber nicht betreten werden. Um Fluchtversuche zu vereiteln war der Einsatz aller Mittel genehmigt worden, die Jade durfte aber unter keinen Umständen zerstört werden.
Der Funkverkehr der Jade sollte unterbunden werden und sämtliche Kommunikation mit dem Schiff sollte durch einen der leitenden Offiziere erfolgen. Alles unterlag der Geheimhaltung.
Man konnte die Crew der Jade nicht untersuchen, aber das Mistral Naval Hospital hatte mehrere Anfragen gestellt. Ein paar diskrete Fragen der Bordärztin der Le Grand an einige ihrer Kollegen hatten ihr die Informationen eingebracht, dass der betreffende Arzt nicht vom Mistral kam, sondern Arzt im hiesigen Krankenhaus der Army war, und dass dieser Major David Trochevsky ein Experte auf dem Gebiet der biologischen und chemischen Kriegsführung war.
Langsam stank die Sache wirklich zum Himmel.
Als die Geschichte noch kurioser wurde, hatte wiedermal Chief Henniges Dienst an der Funkanlage. Was zwar als Chef der Signalabteilung normal war, aber ein Verstoß gegen die geltenden Anweisungen, da er keiner der Senioroffiziere war.
Er war gerade dabei sich eine Zigarette zu drehen, als der Funk knackte: „Hallo? Pierre Le Grand hören Sie mich?“
Der altgediente Unteroffizier zog die Stirn kraus, legte die Zigarette beiseite und setzte sich das Headset auf: „Hier ist die Pierre Le Grand, wer spricht da?“
„Gott sei Dank, Sie müssen uns helfen!“
Ein schneller Check seiner Systeme sagte ihn, dass er von der Emerald Jade angerufen wurde: „Emerald Jade, Pierre Le Grand, mit wem spreche ich da.“
„Oh, entschuldigen Sie, mein Name ist Georges. Sie müssen uns helfen, es ist wirklich dringend und ich habe nicht viel Zeit, ich vertrete zurzeit Lieutenant Commander Fuchida, der mal austreten musste. Ich äääh bin Lieutenant Commander vom NSC.“
Henniges verdrehte die Augen, dass erklärte, warum der Kerl keine Ahnung von Funkdisziplin hatte: „Emerald Jade, Pierre Le Grand, welche Art von Notfall liegt vor?“
„Hören Sie, wir müssen hier diese Pampe essen, Proteine zu einem ungenießbaren Brei zusammengerührt, Sie haben doch eine vernünftige Küche da drüben und Kühlräume, Sie müssen uns was Anständiges zu Essen rüberschicken…es ist absolut grauenvoll...“
„Hey, mit wem sprechen Sie da?“ Ertönte eine weitere Stimme aus dem Funk.
„Mit mir selbst…es ist ja sonst kein intelligentes Wesen an Bord dieses Seelenverkäufers...“
„Wo zum Teufel treibt sich Fuchida rum...“, der Funkverkehr brach ab.

„...Sie müssen uns was Anständiges zu Essen rüberschicken...“
Commander Rice schaltete die Aufnahme ab und seine Führungsoffiziere brachen in schallendes Gelächter aus.
„Das nenne ich mal echten Notfall,“, kommentierte der leitende Ingenieur der Pierre Le Grand und trank von seinem Kaffe, „ein wirklich echter Eins-A-Notfall.“
Rice warf seinem LI einen finsteren Blick zu. Zumindest versuchte er es, konnte aber auch nicht ganz ernst bleiben: „Also, wie reagieren wir darauf?“
„Wir dürfen das Schiff nicht betreten,“, antwortete Lieutenant Martino Rossi, der Chef des Marines Platoon an Bord der Le Grand, „unsere Anweisungen waren da eindeutig, Sir.“
„Darüber hinaus sollten wir das Schiff vielleicht besser nicht betreten.“, warf die Chefärztin ein, „Das Interesse dieses…Spezialisten an der Emerald Jade sollte uns sehr vorsichtig machen.“
„Sind Sie gar nicht neugierig, Clair?“, wollte Rice wissen.
Die Bordärztin schüttelte den Kopf: „Nein, Sir.“ Dabei klang sie aber alles andere als überzeugend. Jeder in der Runde wusste, dass Clair Dubois die Neugierde in Person war. Wenn sie könnte, hätte sie sämtliche Kantinen verwanzt, um ja nichts vom Bordklatsch zu verpassen. An Bord ging der Witz um, wenn man über die genauen Befehle Bescheid wissen wollte, musste man nur ins Lazarett gehen, die Informationen waren genauer als die Mitteilungen des HQ.
Ann Reuther war die nächste, die sprach: „Den Kriegsartikeln und dem interstellaren Raumrecht zufolge sind wir jetzt für die Crew der Jade verantwortlich. Ich denke der Notruf verpflichtet uns, nachzusehen.“
„Das verstößt ganz klar gegen unsere Befehl.“, kam es von Rossi wie aus der Pistole geschossen. Ein 'wie ich bereits gesagt habe' hing in der Luft.
„Kein Befehl dieser Welt kann uns unserer Pflicht dem Gesetz gegenüber entbinden,“, jetzt hatte sich Dubois vorgebeugt und der neugierige Glanz war in ihre Augen getreten, „darüber hinaus könnte sonstwas passiert sein, vielleicht musste…Commander Georges so in Rätseln sprechen. Es könnte Mord und Totschlag da drüben los sein.“
Rossi schnaufte verächtlich: „Das ist selbst für Sie etwas viel konstruiert, Doktor.“
Dubois zuckte mit den Schultern.
„Sie haben noch nichts gesagt, Chief?“ Rice blickte seinen Signalmeister an.
Henniges schob sein Cap nach hinten: „Wir könnten Ihnen auch einen Wagen mit Pizza rüberschicken, ohne an Bord zu gehen. Einfach in die Luftschleuse schieben und gut is'.“
„Ich denke, das wäre durchaus vertretbar.“, stimmte Rossi widerwillig zu, wobei er dem Chief einen abschätzigen Blick zuwarf. Er nahm dem altgedienten Unteroffizier vieles krumm. Henniges war bei den Unteroffizieren der Marines sehr beliebt und konnte sogar besser schießen als er. Auch beneidete er ihn über die engelsgleiche Ruhe, die der ältere Mann ausstrahlte.
Rice nickte bedächtig, während er nachdachte, wie er weiter vorgehen wollte. Als er eine Entscheidung getroffen hatte, richtete sich der Captain der Pierre Le Grand in seinem Sessel auf: „Doktor, Sie werden mit einem kleinen Kommando an Bord der Emerald Jade gehen und den Gesundheitszustand unserer Gefangenen untersuchen. Sie werden alle Gefangenen soweit möglich identifizieren. Chief Henniges wird Sie begleiten, zusammen mit einem kleinen Team Spezialisten und einer kleinen Truppe Marines. Clair, auch wenn Sie Lieutenant sind, Henniges hat das Kommando, Sie werden keine Extratouren unternehmen. Ist das angekommen?“
„Aye-aye, Skipper.“
„Ich muss protestieren,“, meldete sich wieder Rossi zu Wort, „als Kommandant des Marine-Detatchments sollte ich das Enterkommando befehligen!“
„Sie brauche ich aber hier, Martino, wenn dort drüben etwas schief geht, müssen Sie meine Jungs rauspauken.“
Der junge Lieutenant setzte kurz an, schloss wieder den Mund, nickte dann: „Aye-aye, Sir!“
„Also, Doc,“, wollte Henniges wissen, „wie gehen wir rüber?“
„Leichte Bio-Ausrüstung, Gasmasken und Handschuhe. Körperkontakt ist zu vermeiden. Ich brauche zwei Medics als Unterstützung.“
Der Chief nickte: „Okay, ich hätte dann gerne Crocker und vier seiner besten Leute, dann nehme ich noch Donovan und Shanks mit. Sonarschocker für die beiden, unsere Sannis und die Marines, MP-Armbinden und natürlich noch ordentliche Bewaffnung für Crocker und Co, sowie für mich.“
„Crocker wäre auch meine erste Wahl,“, bestätigte Rossi, der mit stolzgeschwellter Brust da saß, „ich werden den zweiten Halbzug in Bereitschaft halten. Raumrüstungen und schwere Waffen, dass wir jeden Widerstand niederkämpfen können.“
„Gut, dann machen wir es so, wegtreten!“
Rossi federte hoch und war aus dem Raum verschwunden, ehe noch jemand aufstehen konnte.
Henniges schüttelte den Kopf: „Skipper, wenn drüben etwas schief geht, könnten Sie bitte warten, bis die Army eine Truppe da hat, weil wenn der die Jade stürmt, sind WIR die ersten, die drauf gehen.“
„Hätten Sie ihn lieber dabei gehabt?“
„Nein, Sir.“
„Sehen Sie“, meinte Rice, „und seine Leute drillen kann er gut. Gott schütze uns nur vor dem Tag, an dem er an die Front kommt.“
„Amen.“, schloss sich Reuther an.


Shuttle 01 der TRS Pierre Le Grand

Das einfache Sturmshuttle war voll bewaffnet worden und der Lieutenant, der es flog, war froh endlich einmal raus zu kommen. Hinten stand ein Warmhaltewagen voll mit der besten Pizza, welche die Kombüse der Pierre Le Grand aufbieten konnte.
Staff Sergeant Jim Crocker blickte in die Gesichter seiner vier Leute, drei relativ grüne Privates und ein erfahrener Corporal.
Die Privates hielten ihre für den Enterkampf verkürzten H&K Sturmgewehre nervös in den Händen. Ihr erster echter Einsatz. Perkins sah aus, als ob er kurz vor einem Magenkrampf stünde. Crocker überprüfte nochmal den Sitz seines eigenen taktischen Geschirrs und des Weges des Gewehrs von der Vorhalte in die Schussposition. Zufrieden ließ er die Waffe los und sie wanderte von links nach rechts vor der Brust, so dass er bequem seine Seitenwaffe ziehen konnte. Die Sonarschocker waren relativ neu im Arsenal der Marines, obwohl sie bei Spezialeinheiten der Polizei schon ein alter Hut waren. Sie waren dazu da einen Gegner kampfunfähig zu machen, ohne ihn zu töten oder ernstlich zu verletzen.
Aus dem regulären Polizeidienst waren sie relativ schnell wieder verschwunden, weil sie als nonlethale Waffe jegliche Hemmung zum Einsatz nahmen und von ihnen exzessiv Einsatz gemacht wurde, vor allem aber weil sich die wirklich schweren Jungs von ihr nicht so richtig einschüchtern ließen.
„Also hergehört, Kinders: Ihr werdet wenn wir da reingehen die Sturmgewehre am Geschirr hängen lassen und die Schocker nehmen. Ich will nicht, dass ihr wen abknallt, weil einer hektisch wird und ich will auch nicht, dass ihr falsche Hemmungen habt. Aber Ihr seit Marines! Im Zweifel schießt Ihr zuerst!“ Er wandte sich an seinen Corporal: „Hudson: Du bleibst beim Shuttle und Du scheißt auf Deinen Schocker, wenn einer von denen unser Schuttle betreten will, gibst Du ihm eins mit dem Kolben oder legst ihn gleich um.“
Hudson grinste: „Geht klar, Sarge.“
Dann wandte sich Crocker zu Henniges um: „Dir brauche ich ja nichts zu erklären, Du hast ja schon mal eine Impulspistole eingesetzt und ich nehme an für Dich ist der Schocker auch nur Deko.“
Henniges nickte: „Hat keine richtige Autorität das Ding, aber für unsere Sanis und die anderen ist es schon das richtige, so legen sie zumindest nicht jemand aus Versehen um.“
„Hast Du denn noch etwas zu sagen, ehe wir andocken, Chief.“
„Klar“, Henniges rückte die MP-Armbinde zurecht: „Hergehört: Wir vertreten hier das Gesetz! Dort drüben mögen aufsässige Messingständer sein, die versuchen werden ihren Rang ins Spiel zu bringen. Wir sind hier die Militärpolizei und das sind unsere Gefangenen. Wir haben das Sagen. Wenn ihr eine Anweisung dreimal wiederholen müsst und er oder sie noch immer dagegen angehen, dann schießt ihr. Dafür sind dann die Schocker gut. Ist das angekommen?“
Die Bestätigungen waren nicht so wirklich enthusiastisch.

Vorne im Cockpit des Shuttles kontrollierte der junge Pilot nochmal die Statusanzeigen und schwenkte dann auf die Emerald Jade ein.
„Zeit, dass wir sie anfunken, Bobby.“, meinte sein Copilot, ein junger Lieutenant des Marine Corps. Normalerweise wären entweder beide Piloten von der Navy oder dem Marine Corps gewesen, doch auf Sterntor war die Personallage etwas komisch, so war es nicht ganz unüblich, dass sich gerade die Wachgeschwader Piloten aus beiden Truppen teilen mussten.
Auch stellten die beiden Lieutenants Robert Bennet und Claus Wachinsky schon die Hälfte des fliegenden Personals der Pierre Le Grand. Dies war eine der Sektionen, die absolut unterbesetzt war und am Rande des möglichen arbeitete.
Bobby Bennet öffnete einen Kanal: „SS Emerald Jade! SS Emerald Jade! Hier Shuttle null-eins von der TRS Pierre Le Grand! Bereiten Sie ihre Steuerbordschleuse zum Andocken vor, wir kommen an Bord!“
„Shuttle null-eins, Emerald Jade,“, erklang eine autoritäre Stimme, „dazu muss unser Kommandierender Offizier die Erlaubnis geben.“
„Emerald Jade, Shuttle null-eins,“, antwortete Bennet, „Sie werden augenblicklich unseren Anweisungen Folge leisten und JETZT ihre Schleuse zum Andocken vorbereiten oder wir werden uns einen Weg durch die Außenhaut sprengen! Haben Sie verstanden, Mister?“
„Ich wette, dass ist ein Admiral, mit dem Du da gerade sprichst.“, meinte Wachinsky, als Bennet den Funkknopf los ließ.
Tatsächlich klang die Antwort so, als ob sein Gegenüber ein Admiral wäre.
Doch Bennet verweigerte dem Offizier im Cockpit der Emerald Jade jegliche weitere Kommunikation, sondern hielt geradewegs auf die Andockschleuse an Steuerbord zu. Tatsächlich schien derjenige am anderen Ende der Leitung die Nutzlosigkeit seines Unterfangens einzusehen und bereitete die Schleuse vor.
Nicht ganz so sanft, wie er es gerne gehabt hätte dockte Bennet an. Ein kräftiger Schlag ging durch das Shuttle.
„Na, hoffentlich habe ich drüben nichts kaputt gemacht.“, kommentierte der Pilot das, um seine Unsicherheit zu überspielen.
„Wenn Du den Rost abgeklopft hast, bricht der Kahn jetzt auseinander. Hast Du schon mal so einen Seelenverkäufer gesehen?“
Bennet verneinte und aktivierte das Intercom: „Sehr verehrte Damen und Herren, vielen Dank dass sie mit B and S Spacetravels geflogen sind, wir haben unser Ziel erreicht und an ihrem Hotel Los Schrotthaufen angedockt. Da die Stewardess von den Strapazen im Cockpit noch so erschöpft ist, müssen Sie sich selbst raus lassen.“


Emerald Jade
Sterntor, FRT

Es kam wirklich selten vor, dass Jean Falkner heiß und kalt zugleich wurde, oder sich ein Knoten in ihrer Magengegend bildete oder gar kalter Schweiß auf dem Rücken.
Als sie und Tremane die Nachricht des Enterkommandos erreicht hatte, war dieser einfach wortlos aufgesprungen und spurtete quasi in Richtung Hangar.
Schnell versuchte sie ihn einzuholen und schaffte es tatsächlich am letzten Absatz in den Hangar.
„Andrew,“, zischte sie, „mach jetzt keinen Quatsch. Wenn wir hier ohne großen Skandal rauskommen wollen, müssen wir kooperieren.“
Beinahe wäre sie in ihn hineingelaufen, als er stehen blieb und sich umdrehte: „Ich werde nicht zulassen, dass hier jemand einfach so herumstöbert und unsere Aufzeichnungen findet oder die Rettungskapsel oder sonst etwas Verdächtiges!“
„Andrew...“
Doch Tremane war nicht zu stoppen, er war schon wieder in Richtung Hangar unterwegs: „MCKENNA!“
Der Lieutenant des 217. Assault Regimentes trat ihnen entgegen: „Ja…Sir?“
Die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf schräg gelegt, Tonfall und Art der Frage, all das grenzte schon an Insubordination. Falkner war schon aufgefallen, dass der Lieutenant seit der Ankunft in Sterntor wirklich die Schnauze voll hatte.
„Da kommt ein Enterkommando an Bord,“, antwortete Tremane, das Auftreten des Marines ignorierend, „ich will, dass Sie es empfangen!“
„Soll'n wir sie erschießen? Oder überwältigen?“ McKennas Haltung änderte sich von ablehnend zu perplex.
„Nein, Sie sollen denen nur zeigen, wer hier das Sagen hat, und dass die sich nicht alles erlauben können.“
„Aye Sir,“, auf einmal wirkte der Lieutenant enthusiastisch, „Nakato, Goldiere, Halgin zur Luftschleuse an Steuerbord, Bereithalten zur Abwehr von Enterern!“
In das Marineskommando an Bord der Emerald Jade kam Bewegung. Schutzwesten wurden angelegt, Waffen geladen, überprüft und mit vollem Tragegeschirr angelegt.
McKenna selbst legte nur sein Waffengeschirr an und verzichtete sowohl auf den Helm als auch die Weste.
„Sarge, halten Sie die Leute zurück.“, McKenna deutete auf die Zusammenrottung von Crewmitgliedern der Emerald Jade, Dr. Erikson, Georges und den beiden TSN Piloten, die von dem Wirbel im Hangar angelockt wurden.
Dann trabte er gefolgt von Tremane und Falkner seinen Männern hinterher, welche im Gang vor der Luftschleuse Stellung bezogen, so gut es ging Deckung suchten und das Schott ins Visier nahmen.
McKenna selbst stellte sich provokativ in die Mitte des Ganges, das Gewehr in Vorhalte.
Jedem der ungebetenen Gäste deutlich machend, wer hier der Sheriff war.
Leicht versetzt hinter ihm bauten sich Tremane und Falkner auf. Tremane, der ordentlich geladen war, verschränkte die Hände ablehnend vor der Brust und versuchte mit seinem Blick den Schott einzuschmelzen.
Falkner seufzte innerlich, würde sie also die Stimme der Vernunft spielen müssen – wieder einmal.

Schließlich ging ein Ruck durch die Jade, das Shuttle der Pierre Le Grand hatte angedockt und die nächsten zwei Minuten zogen sich dahin wie altes Kaugummi.
Was sie zu sehen bekamen als sich der Schott öffnete, überraschte sie alle.
Als erstes wurde der Blick auf die Gasmasken gelenkt, die ihre Besucher trugen. Kurz war Falkner drauf und dran 'Gas' zu rufen, doch dann hätten McKenna und seine Leute wohl rein aus Reflex das Feuer eröffnet.
Zum Glück bemerkte sie rechtzeitig, dass hinter der Shuttleluke eine Quarantäneschleuse eingehängt worden war. Außerdem, wenn das Team von der Le Grand mit Gas arbeiten würde, trügen die Marines voll versiegelte Gefechtspanzer und nicht nur Gasmasken und Schutzhandschuhe.
Man sah die Emerald Jade als biologische Gefahrenzone, wurde Falkner klar: „Andrew, jetzt ganz vorsichtig und wenn wir das schlau anstellen und artig sind, kommen wir hier sicher noch gut weg.“
An der Luke des Shuttles ging ein Marine in Stellung und nahm McKenna ins Visier.
Einer der beiden führenden Männer der Shuttlecrew nahm eine ähnliche Haltung wie der Lieutenant ein: „Legen Sie die Waffe auf den Boden, Sir, treten Sie zur Wand und identifizieren Sie sich!“
Der Sprecher war ein Senior Chief Petty Officer und die Stimme kam Falkner wage bekannt vor. McKenna jedoch schien genug davon zu haben von jemanden herum geschubst zu werden: „Lieutenant Mitch McKenna, 3. Zug, Easy Company, 2. Bataillon, 217. Assaultregiment und einen Teufel werde ich tun!“
Der Mann neben dem Chief ließ sein Sturmgewehr los und das Geschirr finge es auf, so dass das Gewehr die Mündung nach links unten zeigend vor der Brust des Marines hängen blieb und zog seinen Stunner: „Legen Sie augenblicklich die Waffe weg und treten Sie an die Wand!“
Einen Augenblick herrschte Schweigen im Gang, und vor Falkners inneren Auge geriet die Situation außer Kontrolle: ein Sonarschocker summte, dann würden McKennas Leute das Feuer erwidern, die Crew des Shuttles würde auch schießen, falls sie gegen die Elitesoldaten des 217. ankamen. Zwei der rangniederen Marines des Enterkommandos hatten sich deutlich versteift, als McKenna sich identifiziert hatte.
Dieser drehte sich ein wenig zu dem Sergeant, der eben seinen Stunner gezogen hatte: „Was glauben Sie wird hier geschehen, wenn Sie mich betäuben?“
„Dann wird niemand an Bord der Jade seine Pizza erhalten, LT.“, war die kaltschnäuzige Antwort.
Die beiden Marines aus McKennas Zug an der rechten Gangseite blickten sich an.
„Pizza?“, fragte Goldiere, „Sie haben Pizza für uns mit, Sarge?“
„Hey, LT., geben Sie Ihre Waffe ab, ich will meine Pizza!“
„Schnauze, Nakato!“
Die Waffen der Marines zeigten schon nicht mehr auf das Enterkommando, die Küche der Emerald Jade hatte bei allen ihren Tribut gezollt. Selbst Falkner musste feststellen, wie ihr Magen Purzelbäume schlug.
„Eine Meuterei für eine schlechte Pizza,“, raunte Tremane ihr zu, „ich glaub‘s nicht, die könnten den Leuten tatsächlich für etwa Futter alle Geheimnisse entlocken.“
„Ich werde Dich zukünftig daran erinnern, für eine bessere Küche zu sorgen.“, murmelte Falkner zurück und dann lauter, „In Ordnung, Lieutenant, lassen Sie das Kommando an Bord.“
„Na dann, Sie werden entwaffnet,“, sprach jetzt wieder der Chief, „registriert und medizinisch untersucht! Jeglicher Widerstand wird mit Gewalt beantwortet werden!“
PFC Nakato grinste und entlud sein Sturmgewehr: „Solange Sie uns nicht die Pizza streichen, werden wir brav wie die Lämmer sein, Chief.“
„Ich fasse es nicht“, knurrte Tremane resigniert, „die Elite unserer Streitkräfte und sie knicken für Pizza ein.“
Das Enterkommando rückte weiter vor und am Ende der Truppe wurden drei Gestalten in Navyuniformen mit Rotkreuz-Binden sichtbar.
Letztlich mehr als unwillig wurden die Marines des 217. Assaultregimentes entwaffnet und alle Besatzungsmitglieder der Emerald Jade und die Mitglieder der Expedition wurden registriert.
Die Navyangehörigen mit den MP-Armbinden brachten das Cockpit des Trampfrachters unter ihre Kontrolle.
Tremane wusste, wenn jetzt irgendetwas aus dem Ruder lief, würde die gesamte Mission gescheitert sein. Der Sergeant, der das kleine Marineskontingent der Entertruppe anführte, war sehr nervös und hielt von allen anderen so weit wie möglich Abstand.
Falkner berichtete ihm, dass das Sturmgewehr der Sergeanten auf Automatikmodus gestellt war und alle Sicherheitsrichtlinien beiseite schiebend hatte der Marine den Finger nicht länger an der Waffe, sondern am Abzug.
Das Schreckensszenario, das Falkner ihm ausgemalt hatte, würde dann dafür sorgen, dass alles hochkochen würde.
Sollte einer aus der Crew der Jade mucken, einer der Marines des 217ten oder einer der beiden Piloten Schwierigkeiten machen und der Sergeant überreagieren, würde er wohl mit einer langen Salve den halben Frachtraum leerfegen können. Sechzig Schuss, in einer flüssigen Bewegung der Waffe und bei der Austrittsgeschwindigkeit würden wohl die ersten zwanzig Ziele jeweils drei Schuss in den Oberkörper bekommen.
Diese an und für sich kleine Waffe, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, in den Händen eines nervösen Mannes, der gleichzeitig ein geschulter Killer war, das löste Beklemmung in ihm aus. Irgendwie war diese Gefahr viel realer als die Akarii-Korvette, was letztlich absoluter Quatsch war.
Doch zu seiner Erleichterung waren McKennas Marines doch zu diszipliniert um aufzumucken. Auch wenn die Marines der Pierre Le Grand im Gegensatz zu McKennas Elitetruppe wie halbe Hemden wirkten, so schienen die MP-Armbinden ihnen Autorität über die nun entwaffneten Kameraden zu verleihen.
Und auch Sarah Victor schien die Gefahr erkannt zu haben, die von dem unbekannten Mann hinter der Gasmaske ausging und hielt ihre Crew ruhig. Die Kapitänin der Emerald Jade hielt quasi bei der Registrierung und Untersuchung jedem ihrer Leute die Hand.
Die erste Bewährungsprobe stellten dann tatsächlich Dr. Eriksen und Lucas Georges da. Erstere, weil sie die Autorität der jüngeren und rangniederen aber in medizinischen Routineaufgaben sicherlich bewanderte Ärztin nicht anerkennen wollte, letzterer schien einfach nur noch nach der Pizza zu geifern.
Aber bei beiden sah Tremane keinen Grund einzuschreiten, die MP-Armbinden sorgten letztlich auch bei den beiden Lieutenant Commanders dafür, dass sie kuschten. Letztlich musste er aber doch einschreiten, als Lieutenant Commander Pawlitschenko an der Reihe war.
Als sie entwaffnet und durchsucht werden sollte, kam es zu einem regelrechten Tumult und weder das gute Zureden ihres Fliegerkameraden noch die Aussicht auf gutes Essen schien die blöde Kuh vom hohen Ross herunterzuholen.
„Commander Pawlitschenko: Sie werden Ihre Waffen, auch das Messer, abgeben, sich durchsuchen und UNTERsuchen lassen!“ Treman stellte sich dabei direkt vor sie, blickte ihr tief in die Augen und versuchte alle Autorität aufzubringen, die er konnte.
Dabei versuchte er nicht daran zu denken, dass er nun zwischen ihr und dem Marinesergeant stand, der sein Gewehr schon auf ihren Bauch gerichtet hatte.

Es war lange her, das Jim Crocker echte, wahrhaftige Angst verspürt hatte. Der Krieg hatte aus dem jungen übermütigen Ledernacken einen erfahrenen Unteroffizier werden lassen. Zweimal verwundet, dreimal belobigt und von seinen Offizieren immer hoch angesehen.
Weder bei der Schlacht von Aboris noch von Elbors Ridge war ihm die Angst in die Glieder gefahren.
Aber es war immer einfach gewesen, den Akarii auf der anderen Seite sich als genau so ein armes Schwein wie man selbst vorzustellen. Man wusste im Regelfall nicht, ob man es jetzt mit einem imperialen Eliteregiment zu tun hatte, oder frisch aufgestellten Einheiten Wehrpflichtiger. Gut, die Akarii hatten eine durchweg durchtrainierte Freiwilligenarmee, aber die Chance mit echten Elitetruppen zusammenzukrachen war doch wirklich gering.
Und nun stand er hier mit drei unerfahrenen Marines einem ganzen Zug Elitesoldaten gegenüber, die in einem fairen Kampf seine Jungs und wohl auch ihn in der Mitte durchbrachen.
Zum ersten mal in seinem Leben wünschte er sich, sie hätten auf Martino Rossi gehört, wären hier mit dem ganzen Platoon in Raumrüstungen eingedrungen und hätten jeden erstmal niedergeknüppelt und gefesselt, eine Dosis Reizgas in die Fresse und dann weitersehen.
Frieden durch überlegene Feuerkraft!
Als sich der Rummel um die Jagdpilotin legte, hätte er am liebsten aufgestöhnt vor Erleichterung. Aber schon kam die nächste Überraschung, die hielten sich drei Hausakarii auf dem Kahn.
„Hey Chief,“, funkte er Henniges an, „vielleicht kommst Du mal runter, die haben hier ein paar POWs und Du sprichst doch ein paar Brocken Akarii.“
„Bin schon unterwegs.“, der Chief klang so ruhig wie eh und je. Manche hatten halt mehr erlebt als andere. Und ein paar Brocken Akarii, ha! Henninges hatte gegen Ende eines Unteroffiziersabends auf der Le Grand ein ganzes Gedicht auf einer Akariisprache rezitiert.

Als Henniges in den Hangar runter kam, war Doc Dubois dabei sich die drei Akarii anzusehen. Ein großer Pilot stand daneben und versuchte zu helfen, offenbar sehr zum Leidwesen der Bordärztin der Le Grand.
„Was haben die zu essen bekommen?“
„Naja, das gleiche wie wir,“, antwortete der Pilot, „ich habe versucht, darauf zu achten, dass sie nicht viel weniger bekommen.“
Der Seitenblick den der Pilot, der Henniges so im Profil wage bekannt vorkam, einem weiblichen Besatzungsmitglied des Rattenfrachters zuwarf, sprach Bände.
„Ah, Chief,“, Dubois sah zu ihm auf, „würden Sie die Akarii bitte fragen, wie sie behandelt worden sind, ob ihnen etwas fehlt.“
„Dosh ne rahh...“, begann der Pilot.
„Mit Ihnen habe ich nicht gesprochen, Lieutenant!“ Fuhr Dubois auf.
„Außerdem heißt es Dosh na rahh…“, warf Henniges ein und wandte sich an die drei POWs: „Ta Narra redoch dosh na rahh.“
Die drei Akarii sahen sich unsicher an und einer, derjenige mit dem höchsten Rang, einem Corporal der Infanterie vergleichbar, sprach dann für sich und seine Kameraden.
„Ne'ee kalla.“, versuchte Henniges den Redefluss etwas zu verlangsamen.
Schließlich bedankte sich der Unteroffizier bei dem Akarii und drehte sich wieder Dubois zu: „Er meint, sie wären im großen und ganzen ganz gut behandelt worden, abgesehen von der ungenießbaren Nahrung, aber da die Besatzung wohl nichts anderes bekommen hat, wollte er da nicht wirklich meckern, außer dass die Rationen zu klein gewesen seien.“
„Die Schuppenflechten können froh sein, dass sie noch leben!“
Henniges drehte sich um und sah die weibliche Jagdpilotin vor sich. Dem Akzent nach war sie wohl Russin oder russischstämmig.
Er legte der gerade auffahrenden Ärztin eine Hand auf die Schulter: „Ganz ruhig Doc...“
„Ich will aber nicht ruhig sein! Diese…Wesen stehen in Ihrer Obhut, Sie haben für sie zu sorgen!“
Die Pilotin trat noch einen Schritt auf die Ärztin zu: „Lieutenant: Diese WESEN haben versucht uns umzubringen, versuchen uns zu unterjochen!“
„Und nichts davon entbindet...“
„GENUG JETZT!“ Tremane war hinzugetreten und stellte sich zwischen Lilja und die Ärztin: „Niemand muss sich hier vor Ihnen rechtfertigen Doktor. Sie sind der Meinung, die Akarii sein unterernährt, dann geben Sie endlich ihre Carepakete aus und sorgen sie täglich für anständige Verpflegung, denn jetzt sind SIE ja hier verantwortlich.“
„Das werden ich, SIR.“, damit rauschte Doktor Dubois von dannen.
Während Tremane sich zu Lilja umdrehte um sie böse anzufunkeln, bemerkte Ace gegenüber Henniges: „Sie sprechen aber gut Sekur.“
„Es geht so Lieutenant, aber sind Sie nicht das einarmige Projekt von diesem einem Arzt aus Baracke K auf Hellmountain gewesen?“
„Sie waren in Hellmountain, Chief?“
„Ich war der Akarii-Flüsterer aus Baracke B, einer der Erstlingsbesucher.“, antwortete Henniges, in der Hoffnung, dass er leise genug sprach damit ihn kein anderer hörte.
„Daran erinnere ich mich nicht, Chief, warum hat der Geheimdienst Sie denn nicht gefischt, wo sie doch so gut Akarii können?“, automatisch hatte Ace, der neugierig geworden war, die Stimme gesenkt. Er versuchte dem kleineren Mann in die Augen zu blicken, was bei der Gasmaske gar nicht so einfach war.
„Weil ich mich auch an nichts erinnere, Sie verstehen?“
Henniges Funkgerät knackte und einer seiner Crewman meldete sich: „Wir haben Kontakt zur Pierre Le Grand, Chief, der Skipper will Sie sprechen, und zwar Pronto!“
„Verstanden, bin auf dem Weg,“, und an Ace gewannt, „nicht vergessen Lt., an nichts erinnern.“
Damit wandte er sich ab und trotte in Richtung Cockpit der Emerald Jade.

Dort angekommen zwängte er sich hinter die Funkstation: „TRS Pierre Le Grand, SS Emerald Jade, kommen.“
„SS Emerald Jade, TRS Pierre Le Grand, Actual,“, meldete sich sofort Commander Rice, „wir haben mit dem HQ gesprochen, man ist von unserer Eigeninitiative alles andere als begeistert, will aber schleunigst ein paar Daten haben.“
„Piere Le Grand, Emerald Jade, hören Sie Skipper, was wenn ich Ihnen sage, dass wir hier einen Zug Elitemarines, zwei Leute vom Nachrichtendienst, zwei NSCler und zwei Piloten gefunden haben?“
„Emerald Jade, Pierre Le Grand, Actual, das klingt verdammt nach verdeckten Operationen, Chief. Irgendwelche Anzeichen einer Krankheit oder so etwas?“
„Pierre Le Grand, Emerald Jade: Negativ Skipper,“, Henniges pausierte kurz, „zumindest soweit ich das beurteilen kann, nur leichte Anzeichen von Lagerkoller, kleineren Reibereien und dem Wunsch nach echter Nahrung. Aber welche Frage sich aufdrängt, wenn dass hier BlackOps-Typen sind, warum sollten wir die stoppen?“
„Emerald Jade, Pierre Le Grand, Actual: Das werden Sie gleich wissen, Chief, ich habe die Anweisung erhalten, Commander Andrew Tremane und Lieutenant Commander Jean Falkner festzunehmen. Ihr Besitz ist sicherzustellen. Hören Sie Matthias, so wie das läuft, riecht das verdächtig danach, dass da mehrere Dienste um den Status des Platzhirsches kämpfen.
Ab sofort werden Sie buchstabengetreu ihren Befehlen folgen.“
„Pierre Le Grand, Emerald Jade, habe verstanden, Commander Tremane, Andrew und Lieutenant Commander Falkner, Jean sind festzunehmen. Auf wessen Anweisung?“
„Emerald Jade, Pierre Le Grand, Actual: Der Befehl stammt vom JAG Corps, unterzeichnet von Rear Admiral Rhodan Dimitris, Leitender JAG-Offizier 5. Flotte.“
„Pierre Le Grand, Emerald Jade: Copy.“
Damit war das Gespräch beendet. Henniges erhob sich und instruierte über sein Funkgerät Sergeant Crocker und trabte dann zum Frachtraum der Jade zurück.
Dort wurde gerade die Pizza verteilt. Commander Tremane stand etwas abseits und schien darauf zu warten, dass alle 'seine' Leute versorgt waren.
Jean Falkner, die eben noch in der Schlange stand, schien erfasst zu haben, dass Crocker und er Tremane einkreisten und sich auf ihn zu bewegten und gesellte sich schnell zu ihm und machte diesen auf Henniges und Crocker aufmerksam.
Chief Henniges baute sich vor den beiden auf, nicht zu dicht, dass Crocker nicht mehr schießen konnte, nicht zu weit, dass er rufen musste: „Commander Tremane, Commander Falkner auf Befehl des Judge Advocal General, 5. Flotte, erkläre ich Sie beide für verhaftet. Sie haben das Recht Aussagen, die sie selbst belasten würden, zu verweigern, Sie haben das Recht auf einen vom JAG Corps gestellten Anwalt. Alles was Sie von jetzt an sagen, kann durch die Strafermittlungsbehörden der TSN gegen Sie verwendet werden. Die Anklage folgt. Haben Sie mich verstanden?“
Zu seiner Überraschung antwortete Tremane fast augenblicklich: „Ja, wir haben Sie verstanden.“
„Gut, treten Sie das Gesicht voran an die Wand, heben Sie die Hände und spreizen Sie die Beiden.“
Beide taten wie befohlen, Falkner zögerte unmerklich.
„Haben Sie irgendwelche Gegenstände in den Taschen, an denen ich mich verletzten könnte, Ma'am?“
„Wenn Sie gestatten, Chief, händige ich Ihnen mein Arsenal freiwillig aus.“
„Gut,“, Henniges trat einen Schritt zurück, legte auf Falkner an und aktivierte den Laserpointer, „schön langsam und bitte alles nach rechts legen.“
Falkner tat wie geheißen, ging dabei mit der Sorgfalt eines Profis vor, arbeitete langsam, informierte Henniges, was sie aus welcher Tasche holte und legte es rechts neben den Fuß. Als sie damit fertig war nahm sie wieder die Grundstellung ein, Hände über Kopfhöhe an der Wand, leicht vorgebeugt, die Beine gespreizt.
Henniges trat an sie heran, schob ihre Sachen mit dem rechten Fuß beiseite, so dass sie erstmal aus Falkners Reichweite waren, dann tastete er sie schnell ab. Anschließend legte er ihr Handschellen an, wobei die Hände auf den Rücken kamen.
Dann durchsuchte er Tremane, der gar nicht erst darum bat seine Sachen selbst aus den Taschen zu holen, da er wusste, dass er nicht Falkners Gemütsruhe aufbringen konnte.
Während er die beiden durchsuchte schien im Hangar alles und jeder den Atem angehalten zu haben, doch das änderte sich schlagartig, als bei Tremane die Handschellen klickten.
„Senior Chief Henniges,“, es war wieder die russische Pilotin und diesmal schien es hatte sie Verstärkung, ein asiatischer Lieutenant Commander hatte neben ihr Position bezogen. Sein Namensschild wieß ihn als Fuchida aus, „ich verlange jetzt endlich eine Erklärung! Warum werden wir arrestiert? Warum werden die Commander Tremane und Falker verhaftet?“
„Ich weiß es nicht.“
„Damit lassen wir uns nicht abspeisen,“, donnerte der Asiate, „wir sind verdiente Offiziere der TSN, Commander Pawlitschenko ist für die PVM vorgeschlagen, wir werden hier ohne Angabe von Gründen festgehalten, jetzt verhaften Sie den Missions…unseren kommandierenden Offizier! Sie behandeln uns hier wie Verräter...“
Erschrocken blickte Fuchida zu der Russin hoch, kaum dass er das letzte Wort ausgesprochen hatte. Doch diese fixierte immer noch Henniges: „Sie werden uns endlich Antworten geben, Mister!“
Henniges knurrte unter seiner Gasmaske. Ach zur Hölle mit dem Ding, wie soll man sich da vernünftig unterhalten können. Mit einem kräftigen Ruck nahm er sich die Schutzmaske vom Kopf und trat auf die beiden Lieutenant Commander zu.
Abgesehen von Dubios, die erschrocken aufkeuchte, erziehlte seine Handlung eine gewisse Schockwirkung, auch bei den verdienten Offizieren: „Warum Sie alle arresstiert worden sind? weil dieses Schiff auf der offiziellen Fahndungsliste der Navy stand. Die beiden anderen hier werden von mir verhaftet, weil mein Skipper es mir befohlen hat. Der hat nämlich einen Haftbefehl vorliegen, unterzeichnet vom leitenden JAG-Offizier der 5. Flotte, einem Admiral Dimitris. Den Grund für diesen Haftbefehl hat er mir nicht mitgeteilt, also weiß auch mein Skipper nicht, warum. Mein Skipper, der übrigends seine Karriere riskiert hat, damit Sie was Vernünftiges zu essen bekommen, denn eigentlich sollen wir dieses Schiff nicht betreten. Was meinen Sie, warum wir so verkleidet hier auftauchen, häh?“
„Deine Waffe, Chief.“, sagte Sergeant Crocker, der in der Nähe stand, bevor einer der Offiziere etwas antworten konnte, „Du bist jetzt kontaminiert und wirst dieses Schiff nicht ohne Genehmigung verlassen.“
„Ich weiß, Sarge,“, Henniges sicherte sein Gewehr und reichte es dem Sergeanten, „ich habe mir gedacht, die könnten hier einen Gefängniswärter gebrauchen. Den Stunner darf ich behalten?“
„Klar, Chief.“, Crocker hängte sich die zusätzliche Waffe über die Schulter und brachte dann die beiden Festgenommenen in die Messe und sorgte dafür, dass Corporal Hudson bei den beiden als Wache aufgestellt wurde.
Ein weiterer Marine wurde vor den Quartieren von Tremane und Falkner postiert.
Irgendwie hatte Henniges das Gefühl, die Show würde noch ernster werden.
Cattaneo
Tyr

T’rr, Irgendwo im Rebellengebiet

Hätte jemand Ariel ‚Goliath’ Jogiches vor einem halben Jahr erzählt, dass er auf einem von den Akarii kontrollierten Planeten überleben könnte, auf dem zu allem Überfluss auch noch ein Bürgerkrieg tobte, er hätte es nicht geglaubt. Und hätte derselbe dann auch noch behauptet, dass Goliath in diesem Bürgerkrieg Partei ergreifen und anfangen würde, sich…ja, fast zu Hause zu fühlen, dann hätte er den Typen für verrückt erklärt.
Und doch war genau das passiert.
Vermutlich war es jetzt von Vorteil, dass sein Verhältnis zu Eltern und Geschwistern bestenfalls lose gewesen war. Es gab keine Frau, keine feste Freundin, keine Kinder – nicht einmal wirklich enge Freunde – die auf ihn warteten. Er war immer das gewesen, was Kano eine ‚herrenlose Welle’ nannte. Das Korps war Heimat und Familie gewesen, und nach seiner Versetzung zu den Angry Angels hatte das Geschwader diese Funktion nur teilweise ausfüllen können. Er blieb ein Marine. Das hatte ihn etwas isoliert, aber hatte ihm auch erleichtert, loszulassen, nachdem man ihn auf T’rr zurückgelassen hatte.

Und was seine neue ‚Familie’ anging…
Die T’rr waren ganz bestimmt keine ‚edlen Wilden’ in einem Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung und eine Demokratie made by FRT, wie sich manche Romantiker zusammenphantasierten oder die republikanische Propaganda suggerierte.
Sie konnten rücksichtslos bis zur Grausamkeit sein, und entschlossen bis zum Fanatismus. Die brutalen, blutigen Regeln dieser kriegerischen Gesellschaft hatten ihn mehr als einmal geschockt und abgestoßen, erschienen ihm wie Relikte aus einer früheren Epoche, die nicht zu einem Volk passten, das den Griff nach den Sternen gewagt hatte.
Aber die T’rr waren mehr als das – und auch mehr als die eiskalte, abgestumpfte, reptilienhafte Logik der Rebellenoffiziere, die ihr blutiges Handwerk in den brutalen Kolonialkriegen gelernt hatten, in die sie die Akarii früher geschickt hatten.
Sie konnten loyal sein, großzügig, humorvoll und neugierig – eben ‚menschlich’.
Auch wenn sie diese Charakterisierung vermutlich als Beleidigung empfunden hätten. Man durfte nicht den Fehler machen, sie zu ‚menschlich’ zu sehen. Es hatte ihm ein paar angeknackste Rippen gekostet festzustellen, dass Berührungen bei den T’rr einen ganz anderen Stellenwert hatten, als bei den Menschen. Und dass es manchen T’rr an der notwendigen Geduld fehlte, der ‚Weichhaut’ seine kulturelle Ignoranz nachzusehen.
T’rr klopften anderen nicht einfach mal auf die Schulter. Und sie gaben sich auch nicht die Hand. Jemanden – vor allem einen Höherstehenden – unaufgefordert zu berühren, konnte als Herausforderung zu einem Duell interpretiert werden. Oder provozierte zumindest eine ziemlich brutale Reaktion. Eine Berührung zuzulassen, und sei sie noch so flüchtig, war hingegen ein ziemlicher Vertrauensbeweis. Und dann gab es da auch noch zahllose Regeln und Abstufungen, die einen Ethnologen vermutlich mit Begeisterung erfüllt hätten. Übungskämpfe zum Beispiel waren etwas völlig anderes, und fester Bestandteil der T’rr-Kultur.

Immerhin, spätestens seit seiner Beteiligung an dem Kommandounternehmen, das die Akarii eine Korvette gekostet und eine imperiale Raumstation beschädigt hatte, hatten die meisten Mitglieder der Rebellengruppe angefangen, ihn zu respektieren. Von einem Faustpfand, einer exotischen Trophäe, war er zu einem der ihren geworden. Na ja, fast. Ein paar gab es natürlich, die ihn auch weiterhin bestenfalls als ein Kuriosum ansehen. Auch in dieser Hinsicht waren die T’rr ziemlich…menschlich. Außerdem gab es wahrscheinlich keinen Guerilla, der es nicht komisch fand, dass selbst die ‚kleine’ Arima ihn bei sieben von zehn Übungskämpfen auf den Boden schicken konnte.

Es war Goliath erstaunlich leicht gefallen, die Sprache der T’rr zu lernen – oder zumindest den verknappten Militärjargon, in den sich eine Reihe von Akarii-Fetzen mischten. Zwar hatten die T’rr die linguistische Kastenteilung nicht so weit getrieben wie ihre Akarii-‚Herren’, aber die ‚Guerillasprache’ der rebellierenden Soldaten, ehemaligen Bauern und Landarbeiter verhielt sich zu der ‚Oberschichtsprache’ der gebildeten T’rr-Eliten ungefähr so, wie Pidgin-Englisch zu den Werken Shakespeares.
Jedenfalls hatte Arima so etwas angedeutet und mokierte sich immer noch köstlich über seine ‚barbarische’ Aussprache. Nicht, dass ihr Englisch so viel besser war. Allerdings konnte sie auch nur auf seine Fähigkeiten zurückgreifen. Und auf das elektronische Überlebenshandbuch und einige andere Gebrauchstexte, die zu seiner Ausrüstung gehört hatten.
Natürlich hatte sie von ihm auch ziemlich schnell die im Marinekorps und TSN üblichen Flüche gelernt. Er hatte einen ziemlich peinlichen Nachmittag damit verbringen müssen, ihr deren Bedeutung zu erklären. Außerdem mussten sie ihre Sprachstunden inzwischen überwiegend auf die seltenen Gelegenheiten begrenzen, bei denen sie beide auch die Zeit dazu hatten – zum Beispiel die Mahlzeiten. Sobald Goliaths Kenntnisse in der T’rr-Sprache als halbwegs zufrieden stellend eingestuft worden waren, wurde Arima wieder verstärkt in ihrem früheren Aufgabenbereich eingesetzt: der Übersetzung und Entschlüsselung feindlicher Dokumente und Funksprüche.
Doch auch wenn ihre Treffen inzwischen vor allem auf Kosten seiner knappen Freizeit gingen, genoss er diese Augenblicke. Es tat unheimlich gut, ein paar Worte Englisch zu hören, die nicht nur aus seinem eigenen Mund kamen. Und außerdem...
Arima war das, was einem vertrauten Gesicht am nächsten kam. Sie war das erste Lebewesen auf diesem Planeten gewesen, das ihn nicht nur als Gegner, Werkzeug oder Geisel behandelt hatte. Und im Gegensatz zu ihren Kameraden und Kameradinnen war ihr auch nicht egal, was jenseits des Sternenclusters geschah, der das ehemalige T’rr-Imperium bildete. Beziehungsweise, sie ordnete es nicht ausschließlich der militärischen und politischen Nützlichkeit unter, wie es Major Tular tat. Obwohl sie mit vier oder fünf Jahren ‚Dienstzeit’ bei der Guerilla eindeutig kein Neuling mehr war und schon mindestens drei Loyalisten getötet hatte.

Apropos Nützlichkeit…
Major Tular, der eine etwa sechshundert Mann starke und von mehreren tausend Sympathisanten, Helfern und Informanten unterstützte Rebellengruppe kommandierte, hielt ihn inzwischen offenbar für zu wertvoll, um ihn bei einem weiteren Kommandoeinsatz zu riskieren. Langweilig waren die letzten Monate allerdings dennoch nicht gewesen. Man hatte ihn als Verbindungs- und Versorgungsflieger eingesetzt – und was für Maschinen er dabei auf wortwörtlich halsbrecherischen Dschungelpisten starten und landen musste, das konnte selbst einem erfahrenen Piloten graue Haare bescheren. Die oft vorsintflutlichen Konstruktionen mussten praktisch auf Baumhöhe geflogen werden, ohne Aktivortung, immer mit der Gefahr im Nacken, vom gegnerischen Radar erfasst zu werden, und die Aufmerksamkeit eines loyalistischen Militärschwebers oder gar eines Akarii-Kampffliegers auf sich zu ziehen.
Wenn er nicht gerade flog, dann galt es meist irgendeine Maschine zu warten, zu reparieren oder auszuschlachten.
Seit dem Ende der Regenzeit waren die Flüge seltener geworden. Ohne die Stürme und sinnflutartigen Regenfälle wuchs die Gefahr, von der Luftüberwachung erfasst zu werden. Wenigstens hatte der Feind darauf verzichtet, die Trockenzeit mit der üblichen ‚Herbstoffensive’ einzuleiten. Auch seine Luftwaffe hielt sich zurück, sah man von den üblichen Überwachungsflügen ab. Doch die meisten der feindlichen Jagdbomber, Schlachtflieger und Angriffsschweber blieb offenbar auf dem Boden. Warum sie das allerdings taten, war nicht nur Goliath ein Rätsel, zumal die Loyalisten noch während der Regenzeit einige ziemlich wuchtige Schläge ausgeteilt hatten. Unter anderem hatten kleine Verbände von Spezialeinheiten den Dschungel infiltriert, um nach lohnenden Zielen für Luft- und Artillerieschläge zu suchen, Terror zu verbreiten und einzelne Guerillas und kleine Gruppen zu liquidieren.
Es war eines dieser Kommandos gewesen, das Goliath damals beinahe einkassiert hatte. Die Guerillas hassten und fürchten diese unsichtbare Gefahr, und die Mitglieder der Spezialeinheiten waren gut beraten, sich besser nicht gefangen zu geben. Einfache Loyalisten-Soldaten hatten es da besser. Die wurden üblicherweise schnell getötet.
Aber sowohl die regulären Truppen als auch die Spezialeinheiten der Loyalisten hielten sich momentan zurück. Und auch die Akarii-Truppen hatten ihre Operationen auf einige Sicherungs- und Säuberungsaktionen in der Nähe wichtiger Provinzstädte, Militärbasen und Nachschubwege beschränkt. Das bedeutete, dass die Guerilla im Hinterland erstaunlich frei agieren konnte.

Und deshalb waren sie jetzt auch losgeschickt worden. Eine kleine, mit Major Tulars Einheit locker verbündete Guerillagruppe war auf ein notgelandetes loyalistisches Angriffsshuttle gestoßen, und hatte diesen unerwarteten Glücksfund sofort weitergemeldet. Es kam sehr selten vor, dass die Guerilla auf eine auch nur halbwegs intakte oder gar reparable Feindmaschine stieß. Normalerweise sprengten die Akarii und die Loyalisten die Wracks, oder bombardierten sie so lange, bis nur noch Trümmer übrig waren. Auf keinen Fall wollten sie, dass die Guerilla Bordkanonen, Lenkwaffen oder gar einsatzfähige Kampfflieger in die Hände bekam. Aber dennoch kam es vor – und so ein Glücksfund war es natürlich wert, die talentiertesten Leute schickten.
‚Aber…,’ so hatte der Major festgestellt, ‚…meine besten Leute sind bereits im Einsatz. Also schicke ich dich, Mensch.’ Vermutlich sollte das ein Witz sein. Bei dem narbengesichtigen Veteranen war das schwer zu sagen.

Wie auch immer, kaum sechs Stunden später waren sie auf dem Weg. ‚Sie’, das waren Goliath, zwei Mitglieder der technischen Abteilung, sechs Träger, vier Kämpfer als Eskorte…und Arima. Welche Aufgabe sie bei der Expedition haben sollte, darüber hatte sie sich ausgeschwiegen. Entweder sollte sie ein Auge auf ihn haben, oder…Oder er hatte Recht mit seiner Vermutung, dass ihre Tätigkeit für den Nachrichtendienst der Guerilla auch solche Aufgaben wie Kurierdienste umfasste.
Ungeachtet der abgeflauten Kampfhandlungen hatten die Guerillas auf ihrem Marsch äußerste Wachsamkeit walten lassen.
Deshalb arbeiteten sie jetzt auch nur tagsüber an der Maschine, damit das Licht der Schweißbrenner sie in der Dunkelheit nicht verraten konnte. Und deshalb war ihr ‚Basislager’ mehr als einen Kilometer von dem Wrack entfernt errichtet worden.

Die notgelandete Maschine war in einem grauenhaften Zustand. Normalerweise hätte Goliath das Wrack als Totalverlust abgeschrieben. Aber die Guerilla war notorisch knapp an Flugmaschinen. Ein gepanzertes Angriffsshuttle würde eine beachtliche Steigerung der Schlagkraft ‚seiner’ Gruppe bedeuten. Und deshalb wühlten sie sich jetzt schon den vierten Tag durch die Antriebsanlage der Maschine in der zunehmend fragwürdigen Hoffnung, diesen Schrotthaufen wieder zum Fliegen zu bringen.
Dennoch, ihm gefiel diese Arbeit. Er war oft genug dem Tod von der Schippe gehüpft, so dass er auch mal eine eher…intellektuelle und handwerkliche Herausforderung schätzen konnte.
Offenbar ging es den T’rr so ähnlich. Obwohl sie in ihrer Wachsamkeit kaum nachzulassen schienen, wirkten sie irgendwie gelockerter. Sogar die Kämpfer, die zum Schutz des Technikerteams abgestellt worden waren.
Und ganz besonders Arima. Nachdem sie auf dem Anmarsch zweimal eine halbe Nacht lang verschwunden und erst im Morgengrauen wieder aufgetaucht war, ohne dass ihn jemand über den Grund ihrer Anwesenheit informieren wollte, schien sie die Expedition als so etwas wie einen Campingurlaub anzusehen.
Obwohl ihre technischen Fertigkeiten bestenfalls durchschnittlich waren, hielt es sie so gut wie nie im Basislager. Was auch ganz gut war, denn Kochen konnte sie überhaupt nicht – eine Aufgabe, die an den Wachmannschaften hängen blieb. Die ehemaligen Bauern und Landarbeiter verstanden sich erstaunlich gut darauf, die knappen Rationen durch Vertreter der lokalen Flora und Fauna aufzubessern. Goliath hatte begonnen, sich an das für einen menschlichen Gaumen sehr…würzige Essen zu gewöhnen. Inzwischen schmeckte es ihm sogar. Allerdings hütete er sich, nach der genauen Zusammensetzung und Zubereitungsart der Mahlzeiten zu fragen. Das nützte jedoch nicht viel, denn es fand sich immer jemand – im Zweifelsfall Arima – der ihn über die...pikanteren Einzelheiten des Speisezettels informierte.

Ansonsten ging die junge T’rr Goliaths Technikerteam zur Hand und löcherte ihn mit Fragen über die Republik und die menschliche Gesellschaft, die sie für ziemlich barbarisch zu halten schien. Ihre Neugier und gute Laune war ansteckend. Es fiel leicht zu vergessen, dass sie schon mehr als einmal getötet hatte. Oder dass sie kein Mensch war.
Doch jedes Mal, wenn seine Gedanken diesen Punkt erreichten, rief sich Goliath selbst zur Ordnung. Dass ging dann doch zu weit. Vielleicht litt er auch schon langsam unter so etwas wie einem Dschungelkoller. Und dennoch…
Wenn er über einen ihrer Witze lachen musste, wenn er das Leben und den Optimismus sah, der in ihren Augen und ihren Bewegungen zu liegen schien, dann regten sich manchmal recht seltsame Gefühle in ihm.
Er konnte nur hoffen, dass das niemand bemerkte.

***

Der Tag hatte wie üblich begonnen – ein karges Frühstück, eine knappe Lagebesprechung, bei der auch die täglichen Pflichten und Aufgaben verteilt wurden und dann der Aufbruch zur Arbeit. Vier Träger und zwei Wachposten blieben im Basislager zurück. Bei der ‚Baustelle’ nahm eine der übrigen Wachen sofort den üblichen Spähposten im Wipfel eines der teilweise über 30 Schritt hohen Urwaldriesen ein. Ausgerüstet mit einem Funk- und Radarscanner und einem leistungsfähigen Fernrohr sollte er Goliaths Team so gut es ging vor Überraschungen absichern.
Die zweite Wache sollte die Sicherheit am Boden sicherstellen, unterstützt durch die Tatsache, dass die meisten Mitglieder des Bergungsteams mehr oder weniger schwer bewaffnet waren. Die Schuss- und Nahkampfwaffen galten nicht nur etwaigen feindlichen Patrouillen. Die Dschungel von T’rr beherbergten auch eine ganze Reihe aggressiver Raubtiere, die durchaus nicht abgeneigt waren, einen T’rr – oder auch einen Menschen, was das betraf – auf ihre Speisekarte zu setzen.

Wie an jedem Tag war Goliath auch heute binnen kürzester Zeit in Schweiß gebadet, was die T’rr wie immer ungemein zu amüsieren schien. Die wechselwarmen Echsenwesen schwitzten nun einmal nicht und kamen trotz der schwülwarmen Hitze mit einer Pro-Kopf-Wassermenge aus, die bei einem Menschen unweigerlich zu einem Kreislaufkollaps geführt hätte.
Goliath war ganz froh, nicht ALLE der Wortspiele und Redewendungen zu verstehen, die die T’rr sich gegenseitig zukommen ließen. Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf das Triebwerk des Angriffsshuttles. Das musste man den T’rr lassen – ihre einheimische Technik war nicht mit der der Akarii zu vergleichen und wahrscheinlich auch etwas primitiver als republikanisches Know How – aber sie war robust und unschlagbar in der Fähigkeit, auch in dieser schwülheißen Treibhaushölle zuverlässig zu funktionieren. Bei einem terranischen Standardshuttle wäre inzwischen wahrscheinlich die Hälfte der Systeme durch Kurzschlüsse dauerhaft lahm gelegt worden.
Da die T’rr an jeder Hand einen Finger weniger als die Menschen hatten, hatte er sich an die Handhabung einiger Geräte erst gewöhnen müssen, aber inzwischen bereitete ihm das keine Probleme mehr.

Goliaths Konzentration wurde gestört, als am Rand seines auf das Innenleben des Shuttles konzentrierten Blickfeldes eine schlanke, vierfingerige Hand auftauchte, und vorsichtig den Schweiß abwischte, der längst das schmale Stirnband durchtränkt hatte, das eigentlich seine Augen vor den salzig brennenden Tropfen schützen sollte.
Arima führte ihre Hand an die Nase, schnupperte kurz und murmelte ein paar halblaute Worte, die einen der Techniker dazu veranlassten, amüsiert mit seinen Zähnen zu klacken.
Der ehemalige Pilot war sich ziemlich sicher, dass der Scherz auf seine Kosten ging, aber im Augenblick beschäftigte ihn eher die Tatsache, wie dicht die junge T’rr jetzt auf einmal neben ihm stand. Und die Art und Weise, wie sie ihn berührt hatte.
Die Außerirdische schien etwas sagen zu wollen, hielt dann aber inne und musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er am ehesten als nachdenklich oder gar überrascht bezeichnet hätte. Der Augenblick schien sich zu dehnen und nur am Rande registrierte Goliath, dass sich die Geräusche des Dschungels abzuschwächen schienen.
Dann allerdings begriff er, dass sie tatsächlich verstummt waren.
Cattaneo
Tyr

Es war ein Überfall, wie er typisch für diesen Planeten und diesen Krieg war – schnell, brutal, überraschend. Die fast lautlosen Laserimpulse, die aus Unterholz hervorzuckten, wurden von keinem Ruf, keiner Warnung angekündigt. T’rr schrieen auf oder sackten stumm zusammen, während die weißgelben Lichtblitze sich in Körper, Glieder und Köpfe bohrten. Einer der Träger wurde von einer Salve regelrecht geköpft, während der Wachposten unter dem Einschlag von mindestens einem halben Dutzend Treffer zuckte wie eine Marionette, deren Fäden durcheinander geraten waren.
Einer der Techniker erwiderte das Feuer ungezielt, bis ein Laserstahl seinen Brustkorb in einen verschmorten Krater verwandelte.
Goliath fand sich flach auf dem Boden liegend wieder. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich fallengelassen zu haben – vermutlich hatten seine Marines- und Pandora-Reflexe gegriffen. Abwesend registrierte er, dass Arima neben ihm lag. Entweder dank ihrer eigenen Reflexe, oder weil er sie ebenfalls zu Boden gezogen hatte. Die junge T’rr fauchte etwas und versuchte sich aufzurichten, während sich nach ihrer Laserpistole tastete. Der ehemalige TSN-Pilot langte nach vorne und drückte die T’rr wenig zartfühlend zu Boden. Um ein Haar hätte sie ihm reflexartig die Krallen der rechten Hand in die Augen gestoßen, aber dann begriff sie offenbar doch, dass es Selbstmord gewesen wäre, jetzt den Kopf zu heben.

Inzwischen war das ohnehin nur schwach und kurz aufflackernde Abwehrfeuer bereits wieder verstummt, während die immer noch unsichtbaren Schützen sich die Zeit nahmen, die überlebenden T’rr von Goliaths Gruppe einzeln aufs Korn zu nehmen.
Mit einer Ruhe, die ihn selbst überraschte, registrierte Goliath, dass keine der Lasergarben in seiner Nähe einschlug, obwohl seine Deckung alles andere als perfekt war. Fürchteten die Angreifer, das Shuttle zu beschädigen, wenn sie ihn ins Visier nahmen? Sie konnten ihn doch nicht übersehen haben. Oder hieß das etwa…
Noch ehe er den Gedanken fertig ausformulieren konnte, handelte er bereits, indem er Arima erneut an der Schulter packte und hinter sich schob.
„Was…“
„Halt den Mund!“
Sie stieß ihm zwar den Ellbogen in die Rippen, gehorchte aber.

Schlagartig verstummte der Beschuss. Ein paar Augenblicke herrschte eine merkwürdig unnatürliche Stille.
Und dann waren sie auf einmal da, tauchten aus dem Grünbraun des Unterholzes auf. Sie hätten sich genauso gut aus der stickigheißen Urwaldluft materialisieren können. Fleckige Tarnnetze, Zweige und Blätter verhüllten ihre Körper, so dass Goliath auf den ersten Blick nicht hätte sagen können, ob es sich bei den Angreifern um Akarii, T’rr oder sogar Menschen handelte. Erst als sie sich in Bewegung setzten, erkannte er, dass es sich um T’rr handeln musste. Sie hatten nicht denselben Körperbau wie die Akarii. Und kein Mensch konnte sich derart geschmeidig und lautlos bewegen.
Schweigend, langsam glitten sie näher mit der kalten Bedachtsamkeit und Zielstrebigkeit einer jagenden Schlange oder eines Kaimans, der sich seiner Beute näherte. Als eine der vier Gestalten kurz seine Waffe zur Seite schwenkte und zwei kurze Laserimpulse in den sich noch schwach regenden Körper eines Trägers jagte, geschah das mit einer Beiläufigkeit, die Goliath erschütterte – und das, obwohl er als Ex-Marines und Pandora-Veteran bereits einiges gewöhnt war.
„Goliath…“ Arimas Stimme war nur ein leises, fast unhörbares Flüstern.
„Ich weiß. Lass dir nichts anmerken. Vielleicht…“
Einer der Angreifer bellte einen kurzen Befehl und gestikulierte mit der linken Hand, während seine Rechte die Waffe hielt. Auch wenn Goliath nicht jedes Wort verstand, er begriff den Sinn. Er sollte aufstehen und von Arima wegtreten. Sofort.
Der Ex-Pilot biss die Zähne zusammen und ignorierte den Befehl. Und die dunkle Mündung der Waffe – der VIER Waffen – die auf ihn gerichtet waren.
Der Befehl wurde wiederholt, schärfer diesmal, begleitet von einer unmissverständlichen Bewegung des Waffenlaufs. Goliath blieb wo er war.
Einer der Angreifer – vermutlich der Anführer – murmelte einen Fluch und gestikulierte kurz. Während er und zwei seiner Kameraden stehen blieben, schlug der vierte einen kleinen Bogen.
Goliath wusste, dass er dieses Spiel nicht mehr lange würde spielen können. Seine eigene Waffe lag neben dem Werkzeugkasten, zwei Meter – eine halbe Welt – von seinem Standpunkt entfernt. Einer der Angreifer würde über kurz oder lange zum Schuss auf Arima kommen. Die junge Guerilla war zwar bewaffnet, aber wenn sie jetzt das Feuer eröffnete, dann würden die Angreifer vermutlich ihre bisherige Zurückhaltung vergessen und ihre überlegene Feuerkraft ins Spiel bringen. Außerdem…sie trugen wahrscheinlich Körperpanzer. Goliath war sich nicht sicher, ob Arimas alte Laserpistole die Panzerplatten so einfach durchschlagen konnte. Schlechte Karten, wenn jeder Schuss ein Treffer sein musste. Offenbar war die junge T’rr zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Wie Goliath wartete sie auf den richtigen Augenblick.
Jetzt riskierte der TSN-Pilot doch einen Blick nach oben. Wo zum Teufel…

Diesmal waren es die Angreifer, die überrascht wurden, als der in dem Wipfel eines Urwaldriesen verborgene Wachposten endlich das Feuer eröffnete. Zwei der Angreifer wussten vermutlich nicht einmal, was mit ihnen geschah. Von mehreren Strahlenimpulsen durchbohrt, sackten sie zu Boden. Ihre beiden Kameraden reagierten mit der Geschwindigkeit einer angreifenden Schlange. Blitzschnell rollten sie sich in verschiedene Richtungen ab. Während der eine sich dabei umdrehte und noch in der Drehung eine Salve nach der anderen in das Blättergewirr der Baumkrone schickte, kam der andere auf die Beine und rannte in einem unregelmäßigen Zickzackkurs auf das Shuttle zu. Vermutlich wollte er dort Deckung suchen, um dann ebenfalls den Wachposten aufs Korn zu nehmen. War es Glück oder ein gutes Auge – er wandte Goliath und Arima dabei nur die Flanke, nicht aber den Rücken zu.
Doch zumindest die junge T’rr hatte gar nicht die Absicht, ihre Zeit mit einem unsicheren Schuss auf ein bewegliches Ziel zu vergeuden. Stattdessen stieß sie Goliath zur Seite, zielte kurz – und jagte dem anderen Angreifer zwei Schüsse in den Nacken.
Goliath nahm sich keine Zeit, um sich von der Wirksamkeit ihrer Treffer zu überzeugen. Stattdessen warf er sich nach vorne und riss seine eigene Waffe aus dem Futteral.
Es war keine moderne Laser-, sondern eine geradezu vorsintflutliche Feuerwaffe. Aber sie funktionierte und war in einem guten Zustand, dafür hatte er gesorgt. Und die zwanzig Elf-Millimeter-Sprengpatronen gaben ihm genug Feuerkraft, um einen Gila-Waran zu stoppen. Hoffentlich war das genug.

Noch während er die Sicherung löste und die Waffe mit dem Daumen auf Salvenmodus schaltete, stieß er sich mit den Füßen vom Boden ab und sprang auf die massive Tragfläche des Shuttles, balancierte kurz sein Gewicht aus und erklomm den gewölbten Rumpf der Maschine. Irgendwo ertönte das leise Zischen eines schallgedämpften Lasers – nicht Arimas Waffe – und Goliath unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen. So würde er ihr nicht helfen können. Und sich selbst auch nicht.
Seine Rechte packte die Kante einer Panzerplatte, ein kräftiger Ruck – und er war auf dem Rücken des Angriffsshuttles.
Und sah den Angreifer vor sich, der im Schutz des Shuttlerumpfes Deckung gesucht hatte. Irgendetwas – vielleicht ein Geräusch, eine Ahnung – veranlassten den T’rr, aufzublicken und kurz trafen sich ihre Blicke. Die gelben Augen mit den schwarzen, geschlitzten Pupillen wirkten unnatürlich groß. Der T’rr riss die Waffe nach Oben, schien kurz zu zögern…
Die ersten drei Treffer wurden von den Platten des Körperpanzers aufgefangen, ließen ihn jedoch straucheln, nach einem sicheren Stand suchen. Währenddessen wanderte die Salve dem Rückstoß folgend langsam nach Oben und zerfetzte Halsansatz und Kehle, rissen den Unterkiefer ab, verwandelten den Kopf in eine blutige Ruine. Ohne dem T’rr, den er soeben getötet hatte, einen zweiten Blick zu gönnen, duckte sich Goliath, während er herumwirbelte und dabei beinahe den Halt verloren hätte.

Aber der Kampf war vorbei. Das kurze, zweimalige Zischen von Arimas Waffe zeigte nur, dass sie jetzt das tat, was die Angreifer zuvor mit den Kameraden der jungen Guerillera getan hatten. Sie ging auf Nummer sicher.
Goliath musste den Impuls unterdrücken, den Kopf zu schütteln, ihn in seinen Händen zu vergraben. Das ergab keinen Sinn. Es war alles viel zu schnell gegangen. ‚Du bist nachlässig geworden.’ Schwerfällig ging er in die Hocke und ließ sich vom Rücken des Shuttles fallen, kam ungeschickt auf, musste sich am Rumpf des Angriffsgleiters abstützen.
„Arima.“
Die Aufständische drehte sich um. Auch ihre Augen waren weit aufgerissen, ähnelten auf unheimliche Art und Weise den Augen des T’rr, den Goliath soeben erschossen hatte. Das hektische Blinzeln und die Art und Weise, wie ihre Zunge über ihre Lippen und Zähne fuhr, verrieten ihm, wie aufgewühlt sie war: „A'shen te. Ich…lebe.“
Ein schmerzerfüllter Hilferuf ließ sie herumfahren.

Der Sturz musste mörderisch gewesen sein. Ironischerweise schien der Angreifer den auf dem Baum verborgenen Wachposten verfehlt zu haben. Doch bei dem Versuch, dem Sperrfeuer auszuweichen, hatte ihr Kamerad offenbar den Halt verloren. Der dreißig Meter tiefe Fall durch das dichte Astwerk hatte die Tarnkleidung des Wachpostens genauso zerfetzt, wie seine Haut.
So mittelmäßig Goliaths T'rr-Kenntnisse auch war, er verstand nur zu gut, was der Verwundete scherzerfüllt hervorstieß: „Ich…habe sie nicht kommen sehen.“
Arima murmelte irgendetwas Beschwichtigendes, während in ihrer Hand ein arretierbares Klappmesser mit einschneidiger Klinge auftauchte, mit dem sie die Kleidung des Verwundeten auftrennte: „Jetzt sind sie alle tot. Du hast gut geschossen.“
„Kein Funkspruch, kein Geräusch…wer…warum…“
„Das braucht dich erst mal nicht zu kümmern. Halt still.“
Goliath half Arima so gut es ging bei ihrer Untersuchung. Und fühlte sich nutzlos. Er wusste ja nicht einmal, wie die inneren Organe oder der Knochenbau der T’rr aussah, was sie für einen Blutkreislauf hatten…
Aber auch so sah er genug. Mindestens ein Arm und beide Beine des Postens schienen gebrochen. Selbst die Schuppenhaut der T’rr und ihre ungewöhnlich stabil und hart wirkenden Knochen konnten keinen 30-Meter-Sturz abfedern.
„Heh…Glatthaut…gut geschossen. Ach verdammt, diese Schmerzen. Es tut so weh…“
Arima beugte sich über ihren Kameraden und drückte sanft, fast zärtlich seinen Kopf zurück: „Es ist gleich vorbei.“
Die Augen des Verwundeten zuckten, er öffnete den Mund – und dann drang ihm die Klinge der jungen T’rr in die Kehle. Sein Körper zuckte noch ein paar Mal, während ein gurgelndes Pfeifen aus seinem Mund drang, dann lag er still.

Das Ganze war so schnell geschehen, dass Goliath nicht einmal daran hatte denken können, einzugreifen. Nichts was er bisher erlebt hatte – auch nicht der brutale Überfall – hatte ihn darauf vorbereiten können. Der hünenhafte TSN-Pilot zuckte zurück, als hätte man ihn geschlagen: „WAS…warum hast du das getan, verdammt?!“
„Dal rat shen ka. Ich habe seine…Schmerzen verkürzt.“
„Du hast ihn ermordet! Er hätte es schaffen können, verdammt! Das war keine tödliche Wunde! Wir hätten ihn retten können!“
Die Untergrundkämpferin sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Sie überschüttete ihn mit einem kaum verständlichen Schwall von Schimpfwörtern, bevor sie sich zusammenriss und ihre Ausprache langsamer und deutlicher wurde: „Ak'dan! Du verstehst nicht! Die Schüsse müssen bis zum Basislager zu hören gewesen sein. Aber niemand hat uns angefunkt. Djevak ras cal! NIEMAND DORT IST AM LEBEN. Kent va! WIR SIND ALLEIN! Wir können ihn nicht tragen! Wir werden auf der Flucht sein! Ne'shen! Es WAR eine tödliche Wunde!“
„Wir hätten…“
„Was?! Ihn hier lassen? Wenn es Nacht wird, dann...dus Arrat, Ducen...finden ihn die Tiere. Und wenn er Pech hat, finden ihn unsere Verfolger. Dann hätte er geredet. Und wäre gestorben. Vara'shen...langsamer, qualvoller.“
„Aber…“
„Ne! Nichts aber! Vorar shiat, Dak'dur! Erklär mir nicht, wie unser Krieg ist, Mensch!“ Wütend schoss sie in die Höhe und stolzierte zu einem der getöteten Angreifer. Ihre Stimme klang scharf und schneidend, auch wenn sie es vermied, ihn anzusehen: „Such nach Rationen, Waffen, Munition, Wasser. Viel Wasser für dich, Mensch. Du wirst es brauchen. Vort. Vort. Schnell. Schnell. Denk daran, du wirst alles tragen müssen.“
„Aber…“
„Vort!“
Die nächsten fünf Minuten vergingen in einem angespannten, fast feindseligen Schweigen, während sie hastig alles zusammenrafften, was sie bei ihrer Flucht gebrauchen konnten. Viel war es nicht.

Dann war es Arima, die das Schweigen brach. Eben noch hatte sie mit einem der Headset-Koms hantiert, die sie bei den Toten gefunden hatte. Jetzt schleuderte sie es mit einer jähen Handbewegung beiseite, so dass das empfindliche Gerät mit einem lauten Knacken am Rumpf des Angriffsshuttles zerschellte. Mit einem wütenden Schrei trat sie dem T’rr, den Goliath erschossen hatte, in das fast vollständig zerstörte Gesicht, wieder und wieder. Dickflüssiges Blut, Fleisch-, Haut- und Knochenfetzen wurden durch die Luft geschleudert, befleckten ihre Marschstiefel.
Mit ein-, zwei Schritten war Goliath bei seiner Schicksalsgefährtin und riss sie zurück: „Was soll das? Wir müssen weg hier, das hast du selber gesagt!“
„Ak'dan! Du verstehst das nicht! Daan'Tanar! Ein kaiserlicher Gardist, Shass! Du Dummkopf!“
Goliath runzelte verwirrt die Stirn, dann glaubte er zu begreifen. Die Akarii hatten den Planeten früher mithilfe eines ‚loyalen’ T’rr-Herrschers kontrolliert, der nicht viel mehr als eine Marionette gewesen war. Seine Ermordung – keiner wusste durch wen – hatte die jüngste und heißeste Phase des Guerillakrieges eingeleitet.
„Also gut, er ist ein Loyalist. Aber was…“
„Shass…Dummkopf! Na Agadac'Trr! Ich meine nicht diese Verräter! Die Einheit von Generalin Lis da’Tan.“
„Und…“
„Es ays DA’TAN! DA’TAN! Kaiserblut! Sie gehört zum alten Widerstand! Familien, die niemals...ar'ca tir. Das Knie gebeugt haben. Sie kämpfen seit Generationen. Die meisten wurden ausgerottet, deportiert…
Sie hassen Männer wie Major Tular und seine Leute. dacT'rr. Nur halbe T'rr für sie. Patrioten der…wie sagt ihr, der letzten Stunde, die vorher für die Akarii kämpften.
Sie...hassen uns, weil unsere Kommandeure nicht...ay a Tan... zum alten Adel gehören. Weil... wir T’rr a'dar na T'rr. Ein neues T'rr wollen.“
„Und deswegen dieses Massaker? Es stehen immer noch mehrere Akarii-Armeekorps auf diesem Planeten, die Loyalisten machen Jagd auf euch und ihr…“
„Vas'T'rr! Es geht um die Zukunft! Vas'T'rr an t'rra. Grund genug. Und außerdem…diese Krieger haben uns aus EINEM ganz bestimmten Grund angegriffen. Ar'dana seet. Du weißt es. Du hast es gesehen. Sonst wären wir beide schon tot, Dak'dur. MENSCH!“
Goliath schüttelte den Kopf, aber er wusste, dass sie Recht hatte: „Aber das ist doch verrückt. Ich bin Pilot. Ein bisschen Mechaniker…“
„Varas na ca, vara a ca. Nicht das, was du kannst. Das, was du BIST! Sie...sind sehr viel weniger als wir, die meuternden Kolonialtruppen, die Jungen, die T’rr a'dar na T'rr...ein anderes T’rr wollen.
Sie halten noch ein paar entlegene Gebiete im Hinterland, aber in den Städten…
Ihr habt sie ignoriert. Weil sie schwächer sind, altmodischer... kein Bündnis schließen wollen. Eure Leute habt ihr...zu uns geschickt. Den neuen Verbänden des Widerstandes.
Ich glaube…die Generalin wollte das…korrigieren. Sie wollte ihren eigenen Menschen. So könnte sie...den Kontakt zu euren Kommandos erzwingen. Waffen, Kommunikationsmittel, Anerkennung…
Sie wollten dich.“
„Und warum ausgerechnet mich? Ich bin schließlich kein verdammter Militärberater oder Geheimagent. Ich bin nicht mal Kommandosoldat! Nur ein notgelandeter Pilot mit Marines-Vergangenheit und ein paar Sternen auf der Maschine.“
„Va na dana Com'dir. Das weiß die Generalin nicht. Warum dich…? Weil unsere Gruppe klein ist. Weil wir...itara han go. In guter Reichweite sind. Weil wir in den letzten Jahren ein paar Scharmützel mit da’Tans Garden hatten…“

Er konnte die blutige Guerillakrieglogik nicht leugnen, die aus ihren Worten sprach. Auch wenn er es gerne getan hätte.
„Das ist krank.“
„T'rr yan T'rr. Das ist T’rr. Ich dachte, das hättest du begriffen. Spielt keine Rolle...ob es gefällt.
Sie werden uns jagen.“
„Sollten wir nicht wenigstens versuchen, den anderen…?“
Arima schüttelte eigensinnig den Kopf: „Djevak ras cal! Ras kal. Niemand am Leben, der uns helfen kann. Niemand, dem WIR helfen können. Wir gehen. A'shen te, de. Wir haben überlebt. Ich lasse nicht zu, dass sie gewinnen, nur weil du Held spielen willst.“
Goliath überprüfte Gewicht und Handlichkeit eines erbeuteten Schnellfeuerlasers und pfiff beeindruckt durch die Zähne. Das war schon etwas anderes als einige der Waffen, mit denen Tulars Truppe ausgerüstet war. ‚Wo kriegen die so etwas her?’ Dann schob er diesen Gedanken als im Augenblick nicht wichtig beiseite: „Wie lange werden wir brauchen, was meinst du? Auf dem Hinweg…“
„Rechne nicht so. Wir haben keine Träger und können die Pfade nicht nutzen. Und wir sind auf der Flucht.“
„Du kannst einen richtig aufbauen.“
Arima antwortete nicht, während sie ihren deutlich voluminöser gewordenen Rucksack schulterte und den Sitz überprüfte. Goliath registrierte, dass ihre Augen zwar ständig in Bewegung blieben, dabei jedoch jeden Blickkontakt mit ihren toten Kameraden mieden.
Er begriff. Ihre Wut und die unheimlich kaltblütige Zweckmäßigkeit, die ihre Handlungen zu bestimmen schienen, waren ihre Möglichkeit, weiter zu funktionieren.
Arima hatte das Gesetz des Urwalds verinnerlicht, auf eine Art und Weise, die sie manchmal etwas schizophren wirken ließ. ‚Oder wie man das auch immer nennt.’ Schwäche, Zögern und Zweifel konnten tödlich sein.
‚Diese’ Arima, die auch schon früher gelegentlich unter ihrer eigentlich weltoffenen, neugierigen und – für eine T’rr – regelrecht emotionalen Natur hervorschimmerte, hatte es ihr ermöglicht, zu überleben. Er wusste nicht, ob er wissen wollte, was dazu notwendig gewesen war, um ‚diese’ Arima entstehen zu lassen.

Er war mit seinen – für sein Naturell ungewöhnlich reflexiven – Überlegungen gerade an diesem Punkt angekommen, als er bemerkte, dass seine Gefährtin offenbar mit ihren Marschvorbereitungen fertig war und ihn jetzt musterte: „Fertig?“
Goliath wog prüfend seinen eigenen Rucksack – mindestens achtzehn Kilogramm – unterdrückte ein Seufzen und schulterte die Last. Dazu kamen noch ein Kommandodolch, der Schnellfeuerlaser, seine Pistole und die Munitions- und Energieclips. Und zwei Wurfgranaten. Er hatte sich entschieden, die alte Feuerwaffe als Reserve zu behalten.
„Fertig, Arima…“
„Wir haben genug Zeit vertrödelt. Wir hätten das Shuttle verminen sollen. Aber keine Zeit mehr dazu. Sie werden bald hier sein.“ Was auch immer vorhin zwischen ihnen gewesen war – wenn da überhaupt etwas gewesen war – der Augenblick war vorbei. Als wäre er niemals passiert. ‚Ist vielleicht auch besser so, bevor ich noch irgendeine Dummheit begehe.’
„Du führst.“
Zehn Sekunden später lag die Lichtung verlassen dar – wenn man von den Leichen absah. Egal was auch immer sie vorher gewesen waren, welche Ziele, Träume und Hoffnungen sie motiviert hatten, jetzt waren sie nur noch totes Fleisch. Fleisch, das die Tiere des Dschungels anziehen würde. Die Insekten machten den Anfang, doch bald würden größere Räuber folgen.
Cattaneo
Tyr

Sterntor-System, Victoria-Station

Lieutenant Kano ‚Ohka’ Nakakura trat durch die fast lautlos sich öffnende Tür und salutierte: „Sie wollten mich sprechen, Commander?“
Die Geschwaderchefin der Angry Angels winkte kurz ab: „Stehen Sie bequem, Lieutenant. Das hier ist kein Strafrapport.“
‚Aber warum bin ich dann hier?’ Der Staffelchef der ‚Butcher Bears’ blieb auf der Hut. Jedes mal, wenn er mit einem Vorgesetzten zu tun hatte, wurde er sich aufs Neue der Fragilität seiner Position bewusst. Ja, wenn er wenigstens Lieutenant Commander gewesen wäre…
Aber solange er nur Lieutenant war, saß er gewissermaßen nur auf Abruf auf seinem Posten.
Falls Raven wusste, was für Gedanken und uneingestandene Selbstzweifel den japanischen Offizier quälte, dann zeigte sie es nicht. Natürlich hätte sie dazu auch hinter Kanos ausdruckslose Miene blicken müssen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Bildschirm der in ihrem Schreibtisch verankerten Datenwiedergabeinheit. Dann blickte sie sie kurz auf: „Sie können sich ruhig setzen, Lieutenant. Das wird ein wenig dauern.“
„Danke, Commander.“
„Ich muss Ihnen gratulieren. Die Übungsergebnisse der Butcher Bears sind gut. Fast zu gut für eine Einheit, die so viele Abgänge zu verkraften hatte. Und was die Anzahl der Flug- und Simulatorstunden angeht, so gehört Ihre Schwadron zur Spitze.“
„Danke.“
Die Geschwaderchefin grinste kurz: „Ich bin allerdings nicht sicher, ob Ihre Untergebenen das genauso zu schätzen wissen. Wie kommen Sie mit den Neuen klar?“
„Sie fügen sich gut ein.“
„Auch Lieutenant Agyris?“
„Ich habe keinen Grund zur Klage, Commander.“ Allerdings hätte sich Kano auch lieber die Zungenspitze abgebissen, als ohne Not irgendetwas zu sagen, was Zweifel an seiner Kompetenz wecken konnte. Und wahrscheinlich wusste Raven das auch. Er fragte sich leicht beunruhigt, warum die CAG ausgerechnet Agyris erwähnt hatte. Die temperamentvolle Pilotin mit dem problematischen Callsign ‚Huntress’ – genauso wie die kürzlich gefallene Führerin der Blauen Staffel – war immer für eine Überraschung gut: „Ihre Flugleistungen sind mehr als überdurchschnittlich. Sie ist mindestens so gut wie Crusader, La Reine oder Goliath.“
„Nun, da auch die Blauen momentan Ruhe halten, haben wir zumindest diese Krise erfolgreich überwunden.“ Es zuckte um die Lippen der Geschwaderchefin, dann wurde sie wieder ernst: „Ist Ihre Schwadron kampfbereit?“
Kano überlegte kurz und entschloss sich dann, der Wahrheit den Vorzug zu geben: „Was die Einsatzleistung im Einzel- und Rottenkampf angeht, ja. Aber ich brauche noch mehr Zeit für den Sektions- und vor allem den Staffelkampf. Es wäre einfacher, wenn wir dazu häufiger auf die Unterstützung der anderen Schwadronen zurückgreifen könnten…“
„Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber wie Sie wahrscheinlich wissen, mussten auch die anderen Staffeln Verluste ausgleichen und Neulinge anlernen.“ Die Geschwaderchefin runzelte ungehalten die Stirn: „Einige Staffelführer scheinen jedoch zu meinen, dass sie dennoch genug Zeit für irgendwelche Extratouren haben.“
Kano wusste natürlich genau, auf wen die CAG anspielte. Aber mit Ace war er immerhin halb und halb befreundet und Lilja stand nicht nur im Rang höher, sondern war auch noch seine ehemalige Staffelkameradin und Flügelfrau. Also enthielt er sich eines Kommentars.

In diesem Augenblick ertönte der Türsummer. Samantha Burr betätigte einen Schalter, und mit dem leisen Zischen der sich öffnenden Tür trat George ‚Blackhawk’ Lincoln ein, der neue Kommandeur der Gelben Staffel. Seine Ehrenbezeugung war vielleicht etwas weniger zackig als Kanos Gruß, aber sie kam mit der Routine jahrzehntelanger Übung: „Commander. Lieutenant Nakakura.“
„Setzen Sie sich, Lieutenant Commander. Und Sie können sich auch wieder hinsetzen.“ Das galt Kano, der sich bei Blackhawks Erscheinen erhoben hatte. Die Geschwaderchefin musste ein Augenrollen unterdrücken und Blackhawk hätte beinahe gelächelt. Kanos Hang zur Förmlichkeit überstieg manchmal schon ein wenig den üblichen Rahmen.
„Ich nehme an, auch die Gelbe Staffel macht gute Fortschritte.“
Vielleicht bildete Kano sich das nur ein, doch ihm war, als wenn Raven das Wörtchen ‚auch’ absichtsvoll betont und ihm dabei einen Blick zugeworfen hätte.
„Sie haben meine Berichte erhalten, Commander. Wir machen Fortschritte, aber wir brauchen mehr Zeit. Wenigstens haben die Veteranen der Gelben bereits Erfahrung dabei, zusammen zu arbeiten…“
„Da wir schon dabei sind…Ich hoffe, Sie haben Pallardo auf seinen Platz verwiesen.“ Der Umstand, dass der hitzköpfige Indianer vor ein paar Wochen nur haarscharf an einem Prozess wegen schwerer Sachbeschädigung und versuchtem Todschlag vorbeigeschrammt war, hatte schnell die Runde gemacht. Auch wenn Piloten auf Freigang häufig über die Stränge schlugen – SO ETWAS war seit Brawlers Weggang eigentlich nicht mehr vorgekommen. Kano presste die Lippen zusammen. Pallardos…Probleme erinnerten ihn zu sehr an einen Vorfall, den er am liebsten vergessen hätte. Aber genauso gut hätte er sich auch wünschen können, nicht mehr atmen zu müssen. Dass er und Pallardo so kurz hintereinander in derart…gewaltsame Ereignisse verwickelt worden waren, hätte ein Zufall sein können. Pallardo prügelte sich häufig und gerne, auch innerhalb des Geschwaders. Dennoch…
Er war damals dabei gewesen, bei dem Aufklärungsflug durch das Medusa-System. Ob er auch die gleichen…Albträume gehabt hatte? Und dann war noch die Befragung durch die NIC-Offizierin und diese merkwürdige medizinische Untersuchung.
Außerdem hatte Pallardo zeitweilig auch seinem Kommando unterstanden, und er und Kano waren nicht gerade als Freunde auseinander gegangen. Er war froh gewesen, ihn wieder zu den Gelben abschieben zu können. Blackhawk hingegen schien sich wegen seinem Problempiloten keine Sorgen zu machen: „Ich denke nicht, dass er noch einmal Schwierigkeiten machen wird.“
Kurz kräuselten sich Ravens Lippen zu einem sardonischen Lächeln. Und diesmal war sich Kano sicher, dass die Geschwaderchefin ihn ansah: „DAS habe ich schon mal gehört, glaube ich.“ Dann blickte sie auf den in ihren Tisch eingelassenen Bildschirm, runzelte leicht die Stirn und trommelte ungeduldig mit den Fingern der rechten Hand, als würde sie auf etwas warten.
Wie als Antwort darauf ertönte erneut der Türsummer. Diesmal war es Lone Wolf. Wenn Kanos Gruß zackig und Blachawks routiniert, dann war Cunninghams Salut bestenfalls lässig zu nennen.
Die Geschwaderchefin überging das und wies auf den verbliebenen freien Stuhl: „Nun, da wir endlich vollständig sind…“
„Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.“
Raven schnaubte amüsiert. „Das glaube ich nicht. Erst wenn Sie mal pünktlich kommen, Lone Wolf. Sie werden sich noch bei Ihrer Beerdigung verspäten…“
„Das will ich doch hoffen…“
„Genug geschwätzt. Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, habe ich Sie nicht nur rufen lassen, um über die Performence ihrer Staffeln zu reden. Es gibt eine Aufgabe für Sie und ihre Piloten. Es geht um eine neue Waffe, einen leichten taktischen Atomsprengkopf zum Einsatz gegen feindliche Schiffe, Stationen und Bodenstellungen. Die taktische Bezeichnung lautet ASM-95 Arrow. Reichweite 20.000 Kilometer, Zielauffassungszeit 10 Sekunden.“
„Welche Sprengkraft?“ Kano hatte sich vorgebeugt. Er hatte schon Gerüchte gehört – aber Gerüchte gab es immer. Das hier, das war etwas anderes.
„Ungefähr halb so stark wie bei einer Maverick.“
„Ein Atomprügel, der an einen Überlegenheits- oder Allzweckjäger geschnallt werden kann?“ In Lone Wolfs Stimme schwang eine gehörige Portion Skepsis mit.
„Das ist der Sinn.
Sie alle wissen, dass die Schlagkraft unserer leichten und Hilfsträger äußerst begrenzt ist, da sie keine oder nur wenige Atomwaffenträger aufnehmen können. Und selbst die nukleare Schlagkraft unserer Flottenträger kann sehr schnell an ihre Grenzen stoßen. Wie wir alle in der letzten Schlacht der COLUMBIA feststellen mussten.“
Kano fragte sich, ob der letzte Satz eine Spitze gegen den ehemaligen Geschwaderchef enthielt. Aber vermutlich las er da zuviel rein – nun ja, das…angespannte Verhältnis zwischen Raven und Lone Wolf war schließlich nicht gerade ein Geheimnis.
„…die Arrows haben das Potential, die Nuklearschlagkraft unserer träger-, boden- und stationsgestützten Kampffliegereinheiten um fünfzig bis achtzig Prozent zu steigern.“
„Aber nur auf Kosten unserer normalen Gefechtsbestückung, vermute ich.“
Raven bestätigte Blackhawks Worte mit einem knappen Nicken: „Alles hat seinen Preis.
Griphen und Falcons müssten auf ihren gesamten normalen Gefechtsatz verzichten, und selbst die Nighthawk kann maximal vier Raketen - Sparrows und Amrams – tragen, wenn man sie mit zwei Arrows bestückt. Die Maschine wird etwas…schwerfälliger und die Reichweite wird herabgesetzt.“
„Keine guten Rahmenbedingungen für einen Kurvenkampf mit Bloodhawks.“ kommentierte Kano trocken.
Lone Wolf lachte schnaubend, wurde dann aber schnell wieder ernst: „Dennoch würden wir immer noch beweglicher als eine voll bestückte Thunderbolt sein. Dazu die zusätzliche Schlagkraft bei Störeinsätzen…Außerdem dürfte das für die Akarii eine hübsche Überraschung werden. Und wenn sie sich erst einmal von dem ersten Schock erholt haben, dann werden sie sich bei jeder anfliegenden Jägerrotte fragen müssen, ob die ihnen nicht ein paar hübsche Eier in den Korb legen wollen.“ Er grinste kurz und fuhr fort: „Außerdem können wir so vielleicht diesen Idioten Paroli bieten, die glauben, dass in Zukunft der Krieg nur noch von Großkampf- und Flugabwehrschiffen gewonnen werden würde.“

Raven zuckte mit den Schultern: „Gut möglich, dass solche Überlegungen auch eine Rolle gespielt haben, aber die budget- und beschaffungspolitischen Spielereien im Flottenstab brauchen uns wohl wenig zu kümmern.
Die neue Waffe ist zwar bereits erprobt worden und befindet sich in der Produktion, dennoch befinden wir uns einer recht heiklen Phase. Nach dem eher durchschnittlichen Abschneiden der Hydra-Werfer ist man vorsichtig geworden. Auch wenn die Werfer sich inzwischen in bestimmten Situationen bewährt haben, rechtfertigten die Ergebnisse kaum die aufgewendeten Summen und die anfänglichen Produktionszahlen. Man will diesen Fehler nicht wiederholen.
Deshalb sind die bisherigen Produktionschargen relativ gering. Man will sichergehen, dass die Waffe sich im Einsatz bewährt, bevor man in die Massenproduktion geht. Immerhin liefern gleichen Fabriken, die die Arrows produzieren sollen, auch unsere anderen Marschflugkörper. Man will keine Kapazitäten verschwenden.“
„Und wir sollen dafür sorgen, dass die neue Waffe ein voller Erfolg ist.“ Lone Wolf wirkte durch seine Feststellung nicht im Geringsten eingeschüchtert oder beunruhigt, obwohl er sich doch anfänglich nicht sehr optimistisch über die Fähigkeiten der neuen Waffen geäußert hatte.

Die Geschwaderkommandeurin nickte: „Sie drei repräsentieren unseren gesamten Nighthawk- und Griphen-Bestand. Die Griphen ist zwar nicht unbedingt optimal für eine Bestückung mit Arrows geeignet, aber im Gegensatz zur Falcon ist sie auch für taktische Unterstützungseinsätze konzipiert, während wir die Blauen und die Grünen weiterhin vor allem in ihrer Eigenschaft als Geleit- und Abfangjäger einsetzen sollten. Die Griphen ist ein stabilerer Waffenträger als die Falcon, die zudem ihre überlegene Schnelligkeit und Wendigkeit einbüßen würde.
Wir wissen noch nicht genau, wie viele Gefechtsätze Arrows wir erhalten und wann sie eintreffen werden. Aber wenn die COLUMBIA wieder ins Gefecht geschickt wird – und wenn bis dahin die erste Charge an Bord ist – dann will ich auch Piloten haben, die sie einsetzen können.
Lieutenant Nakakura – die Schwarze Staffel bildet unsere primäre Arrow-Einheit, während die Gelben und die Roten die Reserve bilden.“
Das kam unerwartet. Cunningham zuckte überrascht zusammen, während Kano sich unwillkürlich noch gerader aufrichtete: „Wir werden Sie nicht enttäuschen, Commander.“
Blackhawk reagierte weniger offensichtlich. Er blinzelte nur kurz, und konzentrierte sich dann auf seine beiden Kollegen.
Raven fixierte ihren früheren Vorgesetzten kurz, wandte sich dann wieder dem Kommandanten der Schwarzen Schwadron zu und fuhr fort: „Die Schwarze Staffel hat die meiste Erfahrung mit solchen Einsätzen und Sie selber haben ja sogar ein paar Einsätze als Jagdbomberpilot fliegen können. Schlachtfliegereinsätze und Angriffe auf feindliche Raumschiffe gehören zum festen Übungsrepertoire Ihrer Einheit.
Machen Sie sich keine Illusionen. Ihre neue Aufgabe bedeutet vor allem weitere Überstunden. In ein paar Tagen sollten Sie die nötigen Unterlagen und Übungssoftware erhalten. Und Übungsraketen, wenn Sie mit der Einweisung und den Simulatorübungen fertig sind. Fallweise werden Sie Unterstützung durch Piloten unserer Jagdbomberschwadronen erhalten. Vergessen Sie jedoch niemals, dass die neue Waffe nur eine Ergänzung unseres Arsenals darstellen soll, keinen Selbstzweck. Ich erwarte, dass Sie die Primäraufgaben ihrer Staffel im Auge behalten, und dass die Performance ihrer Schwadron nicht unter der neuen Aufgabe leidet.“
„Selbstverständlich, Commander.“
„Normalerweise würde ich eine solche Verantwortung ja in die Hände eines Staffelchefs legen, der mehr Erfahrung hat, aber wie gesagt, die Griphen sind nicht optimal. Und was die Roten angeht…Sie haben ein paar der besten Piloten unseres Geschwaders unter ihrem Kommando, Cunningham. Aber für meinen Geschmack sind da zu viele Stars unter ihrem Kommando. Zu wenige Teamplayer.“
Lone Wolf grinste schief. Oder vielleicht fletschte er auch die Zähne: „Und dabei hat sich Skunk doch gerade selber aus dem Spiel genommen. Und Ace haben Sie ja höchstpersönlich an die Blauen weitergereicht.“
Raven grinste auf die gleiche Art und Weise wie Cunningham: „Sie, Darkness und Monty haben sich einfach zu viel Mühe gegeben, die Butcher Bears zu einer Schlächerstaffel aufzubauen. Ich wäre dumm, wenn ich die Waffe nicht nützen würde, die man mir in die Hand gedrückt hat.
Ungeachtet dessen bin ich sicher, dass die Gelben und die Roten beim Umgang mit den neuen Waffen dieselben Ergebnisse erzielen werden, wie ich sie von den Schwarzen erwarte.“
„Wenn die neuen Wunderwaffen eintreffen.“ Cunninghams Stimme klang jetzt etwas bissig.
„Das werden sie. Vielleicht nicht in dieser Woche, vielleicht auch nicht in zwei oder drei…Aber es ist ja nicht so, als ob wir momentan irgendwohin könnten.
Gibt es sonst noch irgendwelche Fragen?
Gut. Und denken Sie bitte daran, dass dies alles der Geheimhaltung unterliegt. Schärfen sie das auch ihren Leuten ein. Ich will kein Gerede auf Landgang.“
„Es hat aber schon Gerüchte gegeben.“ wandte Kano ein.
„Es gibt immer Gerüchte. Aber wenn es danach gehen würde, dann hätten wir inzwischen auch voll einsatzfähige Robotschiffe. Und genetisch optimierte und kybernetisch aufgerüstete Supersoldaten. Sorgen Sie dafür, dass es bei den bisherigen Gerüchten bleibt. Sie können weggetreten.“

Vor der Tür wandte sich Lone Wolf zu Kano um. Sein sonst recht ausdrucksstarkes Gesicht wirkte im Augenblick genauso ausdruckslos, wie die ungerührte, stoische Miene des japanischen Lieutenant: „Vermutlich sollte ich gratulieren, dass Raven so viel Vertrauen in Sie und Ihre Staffel setzt. Sie können sich freuen.“
„Es war Ihre Staffel, Commander. Sie können sich ebenfalls freuen.“
„Touche. Das sollte ich wohl tun. Na dann…viel Glück. Wir haben alle viel zu tun.“
Kano war sich ziemlich sicher, dass der ehemalige Geschwaderchef eigentlich noch etwas anderes hatte sagen wollen. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, so schnell wie möglich die Rahmenbedingungen für ihre zukünftige Zusammenarbeit festzulegen, doch er bezweifelte, dass das jetzt der richtige Augenblick war. Lone Wolf warf dem abwartend an der Wand lehnenden Blackhawk einen undeutbaren Blick zu, drehte sich dann um und stiefelte davon.
Kano sah seinem ehemaligen Vorgesetzten nicht unbedingt fröhlich hinterher. Aber natürlich ließ sich das bei ihm schwer sagen.
Dann wandte er sich Blackhawk zu – noch ein ehemaliger direkter Vorgesetzter: „Lieutenant Commander?“
Der ältere Mann grinste flüchtig: „Entspannen Sie sich, Lieutenant. Ich habe keine Probleme mit Befehlen und Entscheidungen meiner Vorgesetzten. Solange sie vernünftig sind.
Aber Sie sollten sich vielleicht fragen, aus welchen Gründen unsere Geschwaderchefin Sie noch vorgezogen hat. Und warum in dieser Form.“
„Sir?“
„Sie hat sich nicht gerade enthusiastisch angehört. Entweder um dafür zu sorgen, dass sie sich die Bevorzugung nicht zu Kopf steigen lassen, oder damit wir es leichter schlucken können, nur die Ersatzspieler für die Schwarzen zu sein.
Aber wenn das der Fall war, warum hat Sie dann ihre Entscheidung überhaupt so deutlich gemacht? Und dazu noch mit so…freundlichen Worten über die Staffel ihres Vorgängers.“
Kano konnte sich denken, worauf Blackhawk damit anspielte. Wenn Raven von Starallüren sprach, dann meinte sie natürlich auch Lone Wolf selber: „So habe ich das noch nicht gesehen.“
„Dann sollten Sie es sich vielleicht angewöhnen.“
„Es ist ja nicht so, als hätte Raven uns allen ein funktionstüchtiges Trackball-Modell vor die Nase gehalten. Es geht nur um eine Waffe für eine Aufgabe, für die die Nighthawks eigentlich nicht gedacht waren.“
„In der sich die Butcher Bears aber bereits ein paar Mal bewährt haben. Die das Potential für einige entscheidende, prestigeträchtige Erfolge hat. Gerade WEIL ihre Maschinen ursprünglich nicht dafür konzipiert waren.“
„Erst einmal müssen diese Waffen eintreffen. Dann brauchen wir die geeigneten Ziele…und wir müssen durchkommen. Es ist ja nicht so, als würde uns Raven auf einen feindlichen Träger ansetzen.“
„Ja, aber WENN sie es tun würde, dann wäre die Schwarze Staffel offenbar die erste Wahl.
Nun ja, Lone Wolf hatte Recht. Wir alle werden viel zu tun haben. Und Sie und ich, wir müssen gleichzeitig auch noch einen ganzen Haufen Neulinge und Veteranen in eine funktionswichtige Einheit verwandeln. Es wäre vernünftig, wenn wir uns dabei auch weiterhin ergänzen würden.“
Kano lächelte vorsichtig: „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Auch wenn das vielleicht nicht für alle Ihre Leute zutrifft.“
Blackhawk erwiderte das Lächeln: „Was Pallardo angeht, so kann er das vermutlich als eine Lektion in Langmut betrachten. Er kann das gebrauchen.
Also dann…bis bald.“
„Lieutenant Commander. Und…danke.“
„Wir fliegen immerhin auf derselben Seite.“
Cattaneo
Cattaneo

Eine Leibgarde von Lügen

Auf der Emerald Jade hatte sich einiges geändert, seitdem Andrew Tremane und Jean Falkner verhaftet worden waren. Relativ bald nach dem ersten – offenbar ziemlich ahnungslosen und unbedarften – Enterteam waren einige Personen aufgetaucht, die im Gegensatz zu der Besatzung der Pierre le Grand sehr genau wussten was sie wollten und womit sie es zu tun hatten. Jedenfalls bildeten sie sich das ein. Es handelte sich um Vertreter des JAG, des NCID und des NIC, jeder für sich Spezialist auf seinem Gebiet, so dass man von einer geradezu beeindruckenden Zurschaustellung beruflicher Kompetenz sprechen konnte. Es befanden sich mindestens drei Commander oder Lieutenant Commander unter den Neuankömmlingen, beziehungsweise deren Äquivalent beim NCID, der als Behörde des Verteidigungsministeriums keine militärischen Dienstränge hatte. Beim NIC konnte man sich zudem nicht so ganz sicher sein, ob es sich dabei nicht um einen Angehörigen des TIS handelte, der 'unter falscher Flagge segelte'. Es hatte schon Fälle gegeben...und außerdem sollten auch NIC-Leute gelegentlich mal gelogen haben.
Man hatte den Rest der Passagiere und Crew unter Quarantäne gestellt und ihnen das Verlassen des Schiffs untersagt. Die Wachen waren korrekt aber effizient. Nur Falkner und Tremane wurden wirklich strikt bewacht, doch auch der Rest der Expeditionsteilnehmer sollte sich ruhig verhalten. An Bord der Emerald hätte es allerdings ohnehin nicht genug Quartiere gegeben, um alle Personen einzuschließen. Das Schiff wurde gründlich untersucht, ebenso die Menschen und Akarii an Bord. Die Quarantäne erschwerte allerdings die Untersuchung, denn die „Besucher“ mussten Atemschutzgeräte und Handschuhe tragen, bis feststand, dass das Schiff keine Seuchengefahr darstellte. Da dies jedoch eine der Begründungen für die Festsetzung war, war der Freigabe keine hohe Priorität zugewiesen. Immerhin hätte dies bedeutet, dass die Festsetzung der Passagiere und Crew dann noch etwas fragwürdiger würde. Dass es sich allerdings nur um einen Vorwand handelte, wurde den Passagieren und der Crew spätestens zu dem Zeitpunkt klar, als Wachen und Verhörpersonal schrittweise den Gebrauch der Schutzanzüge reduzierten, auf die Dauer waren die „Ganzkörperkondome“ einfach zu lästig.

Zwar hatten lediglich die TIS’ler das Pech, fast rund um die Uhr verhört zu werden, aber auch die übrige Besatzung wurde sporadisch befragt, soweit die Bedingungen an Bord dies zuließen. Man hatte sich nicht nur aus Gründen der Quarantäne dagegen entschieden, die Crew und die Passagiere vom Schiff zu entfernen, sondern vermutlich auch, weil dann das Gezänk losgegangen wäre, wem sie denn eigentlich in Obhut zu geben seien. Die Bewachung übernahmen inzwischen berufsmäßige Militärpolizisten und NIC-Angehörige. Die Marines der Pierre Le Gand hielt man wohl für etwas zu unerfahren, außerdem sollten sie nichts erfahren, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Die Verpflegung hatte sich verbessert, doch die Emerald Jade war nicht wohnlicher geworden. Jedenfalls standen alle Passagiere und die Crew unter Kontaktsperre. Wenn sie meinten, einen Anwalt zu brauchen, dann wurden sie kaltschnäuzig an das JAG verwiesen. Nichts sollte nach draußen dringen, ehe die Untersuchung abgeschlossen war. Soweit der Plan.

Angesichts soviel versammeltem Fachwissen und -kräften hätte es eigentlich wenig Schwierigkeiten bereiten müssen, die gewünschten Informationen zu sammeln, die Schuldigen zu identifizieren, wenn es welche gab, und der Gerechtigkeit – bei Wahrung der Rechte der Angeklagten – ihren Lauf zu lassen sowie die Unschuldigen zu entlasten. Ja, das hätte es…
Doch wie so oft war es das nicht. Das Problem war nicht nur, dass jede beteiligte Partei ihre ganz eigenen Interessen hatte, der JAG andere als der NCID, und beide wieder ganz andere als der NIC. Dem JAG und NCID ging es vor allem darum, dass man Flottenpersonal für eine anscheinend nicht abgesegnete Operation abgezweigt hatte – und zwei funkelnagelneue Kampfflieger. Der NIC hingegen wollte wissen, wie und auf wessen Befehl Tremane es geschafft hatte, so erfolgreich unter „falscher Flagge zu segeln“, sprich sich als NIC-Mann auszugeben. Und auf die Ergebnisse der Mission war man ebenfalls gespannt – etwas, was den anderen vollkommen egal war.
Der Geist der Kooperation, mit dem die Sicherstellung der Emerald Jade in die Wege geleitet worden war, hatte unter diesen Bedingungen nicht lange vorgehalten. Dafür waren die verschiedenen Organisationen einfach zu sehr in liebgewordenen Rivalitäten befangen. Immerhin kannte man sich seit Jahren und hatte mehr als einmal im Revier des anderen gewildert und war – das war am schlimmsten – auch dabei erwischt worden. Und dies hier war möglicherweise ein richtig dicker Fisch, der sowohl einen steilen Karrieresprung als auch – wenn man es vermasselte – einen tiefen Karriereabsturz bedeuten konnte. Vor allem wenn es um Zugriff auf die beiden Hauptverdächtigen ging, war deshalb keiner geneigt, den Konkurrenten den Vortritt zu überlassen. Außerdem waren die wichtigsten Zielpersonen ohnehin eine Klasse für sich. Man konnte nicht einfach einen JAG-Lieutenant oder auch einen Etappenoffizier des NIC in ein Zimmer mit einem höherrangigen TIS-Mitglied sperren und dann erwarten, dass er die gewünschten Ergebnisse anbrachte. Schon gar nicht, wenn man kaum Gelegenheit für eine stringente Verhörtechnik hatte, weil man sich ständig mit anderen Verhörteams abwechseln musste, damit die auch einmal an die Reihe kamen.

Die Situation hatte sich spätestens in dem Moment zusätzlich verschärft, als die Sicherstellung der Emerald richtig offiziell wurde und sich herumzusprechen begann. So etwas ließ sich einfach nicht geheim halten, vor allem weil NCID und JAG wesentlich weniger…man konnte es liberal, flexibel oder einfach ignorant nennen…mit den Grundrechten von Festgesetzten und mit der entsprechende Meldepflicht bei den Vorgesetzten verfuhren, als etwa der NIC. Irgendwer in einer der drei Organisationen oder auf der Pierre Le Grand hatte praktisch zwangsläufig sein Maul nicht halten können.
Folglich hatte es nicht allzu lange gedauert, und Rear-Admiral Chris Mithel höchstpersönlich hatte höflich aber bestimmt und mit stählernem Unterton bei allen drei beteiligten Organisationen angefragt, wie es denn käme, dass man ihn nicht informiert hätte, als man einen seiner bewährten Brückenoffiziere unter Quarantäne stellte. Und wer denn bitteschön die Verantwortung für diese Maßnahme übernommen hätte…Leider hatte der Admiral gute Verbindungen auf Sterntor, und er hatte persönlich den Einsatz von Lieutenant Commander Fuchida abgesegnet – auf die Expertise eines Mannes mit der nötigen Sicherheitseinstufung. Eine Admiralsanfrage war nichts, womit sich niedere und auch höhere Dienstgrade gerne belasteten, und einen Admiral verärgern wollte erst Recht keiner.

Bei dem Rest der Crew und Passagiere sah es im Moment noch nicht ganz so schlimm aus. Die Crew der Emerald hatte ohnehin keine Fürsprecher – fiel allerdings auch ziemlich außerhalb der Jurisdiktion von JAG und NCID, die nicht gerade begierig waren, auch noch die Zivilverwaltung einzuschalten. Bei den beiden Piloten und den Marines hatten sich die jeweiligen „Besitzer“ noch nicht gemeldet. Doch obwohl sowohl die Geschwaderchefin der Angry Angels als auch Colonel Hammersmith nicht über so viele Kontakte und Zuträger wie Rear-Admiral Mithel verfügten, es würde nicht ewig dauern, bis auch sie etwas erfuhren. Und der Umstand, dass einer der Piloten zur mehr oder minder weitläufigen Verwandtschaft einiger hochrangiger Persönlichkeiten gehörte, machte die Situation nicht besser – selbst wenn besagte Verwandtschaft nicht immer gut beleumundet war, wie etwa Commodore Davis, der nach der mehr als umstrittenen Friedensmission die Gastfreundschaft der Akarii genoss.
Auch die NSC-Mitarbeiter würde man nicht ewig unter Verschluss halten können, immerhin hatten auch sie Vorgesetzte, die sie irgendwann zurückerwarteten. Kurz und gut, die Lage war nicht gerade zum Besten für die Fänger, die sich eigentlich noch nicht ganz sicher waren, was ihnen eigentlich ins Netz gegangen war und was sie damit anfangen sollten.

Auch die Verhöre selbst liefen nicht so erfolgreich wie gewünscht. Tremane und Falkner mauerten mit Routine, Einfallsreichtum und Ausdauer, die unter anderen Umständen bewundernswert gewesen wären. Sie gaben zu, was sich nicht bestreiten ließ, doch bei allem darüber hinausgehenden spielten sie auf Zeit, wohl wissend, dass dieses Gut für ihre Gegenüber begrenzt war.
Die üblichen Verhörspielchen verfingen sich bei ihnen so gut wie gar nicht, immerhin hatte der TIS zum Gutteil die Verhörrichtlinien für die anderen Ermittlungsdienste entworfen und bildete seine Leute schon routinemäßig darin aus, Befragungen nicht nachzugeben. Andere Verhörziele waren weniger renitent, aber auch nicht so gut informiert. Die Crew der Emerald, die wahrlich wenig Loyalität zur Mission und ihren Planern verspürte, legte Mann für Frau die Karten auf den Tisch, hatte aber nicht mehr als ziemlich wertlose Blätter zu bieten. Nicht, dass sie irgendwelchen Respekt vor den „Terry-Cops“ hatten, sie sahen lediglich nicht ein, warum sie für andere Terries noch mehr Unannehmlichkeiten auf sich nehmen sollten. Die Kapitänin bangte vor allem um ihre Bezahlung und war schon deshalb fuchsteufelswild, wenn sie nur an Tremane dachte. Doch sie und ihre Crew waren zwar mehr als willig, Tremane und Falkner vor dem ersten Hahnenschrei dreimal zu verraten, doch wussten sie weder, wie Tremane die Operation aufgezogen hatte, noch wer möglicherweise hinter ihm stand und ob er neben dem offiziellen Auftrag irgendwelche Hintergedanken hatte. Auch über die Ergebnisse der Bergungsaktion war die Crew nur ungenügend informiert worden. Die Doktoren Georges und Eriksen waren ebenfalls relativ kooperativ, doch auch sie hatten wenig zu sagen. Zumal die Dinge, von denen sie etwas verstanden, doch oft etwas über dem Horizont der Fragenden lagen. Es musste offen bleiben, was die Verhörspezialisten von einigen Ideen und Monologen Georges’ hielten - jedenfalls ließen sie ihn schon nach kurzer Zeit weitestgehend in Ruhe. An interstellarer Mythologie und Geschichte und den Implikationen für die galaktische Antike waren wohl nur wenige Menschen aufrichtig interessiert, vor allem wenn sie daran dachten, wie sich so etwas in einem Verhörprotokoll ausnahm.

Freilich war nicht jeder an Bord so hilfsbereit, egal ob er oder sie so viel zu sagen hatte. Lieutenant Commander Pawlitschenko zum Beispiel war alles andere als kooperativ. Sie legte ein aggressives Selbstbewusstsein an den Tag, das sich aus dem Bewusstsein speiste, nichts falsch gemacht zu haben, und aus der Erbitterung, wegen etwas, was sie als ihre selbstverständliche und von oben abgesegnete Pflicht angesehen hatte, festgehalten zu werden. Begreiflicherweise war sie nicht sehr gut auf Tremane zu sprechen, nachdem der offenbar sowohl ihr als auch ihrer Geschwaderchefin gegenüber geflunkert hatte, was die Legalität der Mission anging. Aber sie versteifte sich darauf, dass NCID und JAG und besonders der NIC das mit dem Verantwortlichen klären und sie gefälligst rauslassen sollten. Auf sie würden sicher weitere Aufgaben warten. Und nachdem sie das erklärt hatte, wurde sie störrisch, als man durchblicken ließ, dass so ein Verhalten und so eine Erklärung nicht unbedingt als ausreichend betrachtet wurden.
Im Moment befand sich die Russin in ihrer Kabine und ließ eine neue Runde von Fragen durch einen Angehörigen des NCID über sich ergehen. Unter normalen Umständen hätte das Ambiente eher den Verhörenden bevorzugt. Die Quartiere waren so eng, dass sich der Befrager immer im Wohlfühlbereich des Verhörten befand, der zudem in nicht eben bequemer Haltung auf dem Bett sitzen oder wie ein Bittsteller im Raum stehen musste. Es gab nicht einmal einen Tisch, der Distanz hätte schaffen können, und die triste Einrichtung der Quartiere – in denen die Männer und Frauen an Bord der Emerald jetzt seit gut einem Monat festsaßen – war ebenfalls nicht gerade ermutigend. Doch in diesem speziellen Fall schien sich der Verhörende fast unbehaglicher zu fühlen als die Verhörte.
„Also, Lieutenant Commander, wie kamen Sie dazu, sich für diesen…Einsatz zu melden?“ Die Stimme des jungen Mannes klang bemüht gelassen und routiniert, aber sowohl Gelassenheit als auch Routine zeigten offenbar bereits gewisse Abnutzungserscheinungen. Wie auch Liljas Geduld, ohnehin nicht eine ihrer herausragenden Eigenschaften: „Das habe ich doch bei mindestens drei Gelegenheiten dreien Ihrer Freunde erklärt. Ich erhielt eine Anfrage, und unsere Geschwaderchefin hatte diese Anfrage abgesegnet. Ich verstehe nicht, was daran so schwierig zu verstehen seien soll…“ Ihr Tonfall unterstellte, dass sie ihre Gegenüber inzwischen für etwas begriffsstutzig hielt.
Der Agent behielt ungeachtet der kaum verhohlenen Herablassung den Faden, jedenfalls im Moment noch: „Und auf eine einfach Anfrage hin brachen Sie ihren ersten Landurlaub in der FRT seit…über einem Jahr ab? Obwohl Sie gerade erst von einer ernsthaften Verletzung genesen waren und dringend Erholung brauchten? Was sollte Sie denn dazu bewegt haben? Sie wollen mir weismachen, dass Sie nicht noch andere Beweggründe hatten?“
Die Russin schnaubte unwillig, ohne Zweifel mit einem verächtlichen Unterton, der auch in ihrer Stimme zu hören war: „Nur fürs Protokoll – wenn es um so einen Einsatz geht, würde ich Flitterwochen, Mutterschaftsurlaub und die Beerdigung meiner Großmutter auf einmal sausen lassen. Es hieß, der Einsatz ist kriegswichtig. Er war von oben abgesegnet. Das mag Ihnen ja nicht so viel bedeuten, aber für mich wiegt das schwerer als mein wohlverdienter Urlaub. Vermutlich bin ich deshalb Staffelchefin, Lieutenant Commander, habe fast 40 Abschüsse und bald mehr Orden als auf meine Brust passen.“ Das letzte kam nicht so sehr prahlerisch als fast etwas mitleidig heraus. Der NCID-Mann biss sich auf die Lippe. Oh ja, DAS hasste er. Die Herablassung der Fronttruppen, die auf die rückwärtigen Dienste herabsahen und sich für etwas Besseres hielten, vor allem wenn diese nicht mal einen militärischen Rang hatten. Die Russin trat auch prompt nach, ohne ihre Arroganz zu verbergen: „Meine Akte kennen Sie ja. Ich habe mich bisher IMMER nach einer Verletzung wieder zurückgemeldet, so schnell es möglich war. Und wissen Sie warum ich es auch diesmal tat? Ich bin nicht bei der Navy um die Galaxis zu sehen oder weil das Essen so gut ist. Wir haben Krieg, und da muss man eben mal auf die persönliche Bequemlichkeit verzichten. Ich habe mich gemeldet, weil ich unter den Angry Angels zu den am besten qualifizierten und verfügbaren Piloten für jede Art von Mission gehörte. Mehrere unserer Staffelchefs und Topasse waren gefallen, andere – wie etwa der ehemalige Chef oder Commander Burr – nicht abkömmlich. Soll ich bei einer möglicherweise kriegswichtigen Mission eine auf ,Nach Ihnen, bitte sehr!’ machen? Wenn dabei jemand mitmacht, der weniger gut geeignet ist und dann draufgeht, wäre es MEINE Schuld. Das Schicksal meines Geschwaders ist unklar, ich wurde im Moment nicht gebraucht. Folglich wäre es nur logisch, sich zu melden. Sicher, ich dachte dabei auch daran, dass es sich in meiner Akte nicht schlecht machen würde, falls die Angels aufgelöst und ich versetzt werde. Nicht, dass ich es unbedingt nötig hätte, Pluspunkte zu sammeln.“

Ihr Gegenüber unterdrückte ein Seufzen. Das war genau die Taktik, die die Russin auch in den anderen Gesprächen an den Tag gelegt hatte. Offensiv auftreten unter Verweis auf ihre überlegene Dienstmoral und Leistungen. Dem ließ sich nicht viel entgegenhalten, da sie sich einfach weigerte, Zweifel an ihrer Darstellung ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.
„Und Ihnen sind nie Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte gekommen?“
Lilja lächelte verzerrt, kein sehr schöner Anblick: „Eine Operation anzweifeln, zu der meine Geschwaderchefin ihr Einverständnis gibt? Wo ein Commander den Oberbefehl hat? Und drei Lieutenant Commander von der Flotte und dem NSC mit von der Partie sind? Wo das ruhmreiche 217. Sturmregiment ein Begleitkontingent stellt? Ich weiß ja nicht, wie es beim NCID oder JAG zugeht, aber wo ich herkomme, da wird den Vorgesetzten gehorcht und nicht ihre Kompetenz angezweifelt oder Befehle in Frage gestellt.“ Gleichsam mit Verspätung fügte sie hinzu: „Natürlich nur, so lange diese nicht gegen geltendes Recht und den Diensteid verstoßen.“
„Und Ihnen sind auch später nie Zweifel gekommen?“ Diese Frage kam mit deutlich ungläubigem Ton.
Die Russin schüttelte mit störrischer Miene den Kopf: „Nein, nicht wirklich. Sicher, diese ganze Geschichte von den Trümmerstücken klang nicht wie das, was ich erhofft hatte. Aber wenn das NSC mit von der Partie war und der TIS – die sind ja wohl auf ihrem Gebiet etwas kompetenter als ich, finden Sie nicht? Dass Andreeew…“ sie dehnte den Namen etwas höhnisch, offenbar hielt sie inzwischen keine großen Stücke auf den Geheimdienstler mehr, wenn sie es je getan hatte„…vom TIS kam, war auch kein Grund zum Misstrauen, obwohl er uns zunächst belogen hatte. So laufen black ops nun einmal. Soviel weiß sogar ich.“
„Aber Ihnen muss doch klar sein, wie verdächtig das Ganze wirkte – so viele hochkarätige Leute ins Nirgendwo schleppen, auf einem rostigen Seelenverkäufer wie diesem, mitten ins Niemandsland und mit so einer…fantastischen Mission?“
Die Russin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Hochkarätig? Na ja, teilweise. Ich weiß ja nicht, ob die Akarii oder wer auch immer Sehnsucht danach haben sollte, sich von Georges mit seinen Theorien zutexten zu lassen, aber da wissen Sie vielleicht mehr als ich. Berufsmäßiges Misstrauen gegenüber meinen Kameraden und Vorgesetzten gehört jedenfalls nicht zu dem, was man mir beigebracht hat. Da sollten Sie sich eher jemanden vom NIC suchen, oder ihre eigenen Leute. Ich bin Kampfpilotin, und zwar eine verdammt gute. Ich bin auch eine gute Pistolenschützin, ich kann mit dem Messer und ohne Waffen kämpfen, habe praktisch einen Ingenieursabschluss in Raumfahrt und ich kann eine Staffel verwalten und auch erfolgreich ins Gefecht führen. Ich kann sogar kochen und singen, wenn es Not tut. Aber ich bin keine Tschekistin, und ich finde es ziemlich lächerlich, dass man auch noch deren Fähigkeiten von mir verlangt.“

Diesmal hätte der NCID-Mann beinahe eine Grimasse geschnitten. Schon wieder eine Sackgasse, gegen die man schlecht etwas sagen konnte. Eine Warnung konnte er sich aber nicht verkneifen, denn der Sarkasmus der Russin ging ihm inzwischen gründlich auf die Nerven, außerdem benutzte sie immer wieder Begriffe und Redewendungen, mit denen er beim besten Willen nichts anfangen konnte, und er hatte den Verdacht, dass sie das mit Absicht machte: „Sie sollten das hier gefälligst ernst nehmen! Es geht schließlich nicht um irgendwelche Bagatellen. Glauben Sie, ein entsprechender Eintrag wäre gut für Ihre Akte?“
Die Pilotin bleckte die Zähne: „Bisher hat mir NIEMAND gesagt, worum es hier eigentlich gehen SOLL. Geheimnisverrat? Desertion? Illegale Nebengeschäfte mit antiker Alientechnik? Ich habe langsam den Eindruck, Sie wissen selber nicht, was Sie Tremane und seiner Vize – ganz zu schweigen vom Rest – vorwerfen wollen. ICH habe nichts Falsches getan. Jeder meiner Schritte bis zum Start der Emerald war gedeckt, und alles was ich danach getan habe auch. Machen Sie sich mal lieber Gedanken darüber, warum diejenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre, nichts gemerkt haben, falls hier etwas Illegales vor sich gegangen ist. Die zuständigen Wachhunde für so etwas sind nicht das Raumjägerkorps, der NSC, die Flotte oder die Marines.“
Liljas „Gegner“ überlegte offenbar ernsthaft, ob er diesen Streit weiterführen sollte. Aber inzwischen war er zu der Ansicht gekommen, dass ihm das nichts brachte. Er hatte Besseres zu tun, als sich mit einer störrischen Pilotin zu zanken. Er nahm also wieder den ursprünglichen Faden des Gesprächs auf: „Hatten Sie je den Eindruck, dass neben dem offiziellen Auftrag noch etwas anderes im Gange war? Dass die offizielle Mission nur ein Vorwand war?“
„Nein. Zu keiner Zeit. Was auch? Wenn uns Tremane an die Akarii hätte verkaufen wollen, oder an die Korsaren der Sternenleere...“ letzteres klang wieder etwas spöttisch: „…dann hätten wir uns mit dem rostigen Seelenverkäufer, wie Sie ihn so schön nennen, kaum heraushauen können, da? Wenn er uns an die Fritzen verkauft hätte, meinen Sie, die wären mit einer fast ebenso vergammelten Korvette wie unserem eigenen Dampfer aufgetaucht? Und dann auch noch so inkompetent gewesen, dass wir ihnen die Eier abschneiden konnten?“ Da war sie wieder, die gelinde Verachtung der Pilotin. Das unausgesprochene: ,Was weißt du schon vom Krieg und vom Feind?’ Der junge Regierungsagent wusste es nicht, aber derartige Gefühle reservierte Lilja vor allem für die „Schnüffler“ und „Moralapostel“, die sie aus ganz eigenen Gründen nicht eben schätzte. Er bemühte sich jedoch, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen: „Hatten Sie das Gefühl, dass Einzelpersonen an Bord andere Absichten als die hatten, die sie offen zeigten? Benahm sich irgendwer möglicherweise besonders verdächtig?“
Die Russin behielt ihren Sarkasmus bei: „Ich dachte, darauf hätte ich eben schon geantwortet. Na ja, abgesehen davon, dass unser Herr Doktor einen Spleen mit irgendwelchen längst vergammelten Aliens hatte, die Crew uns mit Proteinfraß abfüllte um uns überteuerte Konserven zu verticken und es das Gerücht gab, dass Tremane mit Falkner nicht nur Gedanken und Dienstmarke sondern auch das Bett teilt, wüsste ich nicht, was mir aufgefallen seien sollte. Zweifelsohne alles verdächtige Hinweise, die mein Misstrauen hätten wecken müssen.“
Ihr Gegenüber warf ihr einen frustriert-erschöpften Blick zu. Offenbar schien er jetzt eine neue Taktik probieren zu wollen: „Also gut. Kommen wir also zu Einzelabläufen. Schildern Sie das erste Gespräch mit Commander Tremane…“

Eine gute Stunde später hatte sich auch diese Taktik als nutzlos erwiesen. Lilja hatte auf alle Fragen eine Antwort gewusst – oder sich einfach darauf berufen, dass sie sich nach ein paar Wochen nicht mehr so genau erinnerte. Im Geist ging der NCID-Mann seine Anweisungen durch. Er hatte die Aussagen der Pilotin noch einmal abklopfen sollen, ob sie sich in Widersprüche verwickelte. Aber da war nichts, worauf er den Finger legen konnte. Und über die Strategie von Tremane und Falkner war hier auch nichts neues zu erfahren. Die Russin schien zu der Sorte Mensch zu gehören, die Befehle selten in Frage stellten. Wenn man ihr einen guten Köder vor die Nase hielt, schnappte sie todsicher zu. Das war für einen Psychologen vielleicht interessant – dass die Veteranin immer noch das Bedürfnis zu haben schien, sich zu beweisen, aber vielleicht litt sie einfach an „Brustschmerzen“* oder war eine simple Kommisseele, die außer dem Krieg nichts anderes mehr kannte. Der Typ von Offizieren, die für jeden Sonderauftrag zu haben waren. Kurz und gut, das war nichts, was ihn weiterbrachte. Er wollte das Gespräch schon einstellen, als er sich an etwas erinnerte, worum ihn ein Lieutenant Commander des NIC gebeten hatte. Die Frau war bemerkenswerter höflich, ja geradezu freundlich gewesen, bedachte man die zunehmend gereizte Atmosphäre zwischen den Dienststellen. Und worum sie ihn gebeten hatte – nun, das berührte nicht wirklich das, was den JAG oder NCID interessierte, denn diese wirre Geschichte mit Alienartefakten war doch wohl eher was für Phantasten oder Nervenärzte. Also warum nicht…

Er räusperte sich kurz, denn inzwischen fühlte er sich schon so erschöpft, als hätte man ihn selbst gründlich ins Gebet genommen.
„Nun gut, genug davon. Ich würde aber gerne noch Ihre Meinung zum Erfolg der Mission hören. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse? Insbesondere die Bergungsaktion im Medusa-System und die Funde im Asteroidengürtel.“
Liljas Gesicht spannte sich, aber diesmal nicht vor Entrüstung oder spöttischer Erheiterung. Vielmehr wurde es mit einem Mal ziemlich ausdruckslos, wie ihr Stimme, die geradezu gelangweilt klang: „Ich hätte ja gedacht, es interessiert Sie mehr, dass die Akarii da herumkutschieren und dass wir ihnen die Schwanzschuppen gekappt haben. Aber meinetwegen. Wenn Sie die Gesteinstrümmer meinen, die wir geborgen haben – also ich weiß nicht, inwieweit die für was anderes gut sein sollen, außer als verstrahlte Souvenirs. Aber da sollten Sie sich lieber an die Spezialisten wenden.“
„Ich will keine Ratschläge von Ihnen, sondern eine Antwort. Sie glauben also nicht, dass Sie von einer zerstörten vorterrastellaren Raumstation stammen? Relikte einer untergegangenen Hochzivilisation sind? Wie beurteilen Sie persönlich die Funde?“
Die Pilotin gab einen Laut von sich, der wie eine Mischung aus Knurren, Schnauben und Grunzen klang – es war manchmal erstaunlich, was sie alles in einige wenige Töne legen konnte: „Keine Ahnung. Es ist mir eigentlich auch egal. Da wäre wohl Georges Ihr Mann. Fragen Sie ihn, aber bringen Sie für die Antwort eine Menge Geduld mit, denn er wird sie mindestens eine halbe Stunde lang zutexten. Unter uns, ich finde, der gute Doktor sollte eher Science-Fiction Romane schreiben. Der kann Ihnen auch gleich erklären, dass Väterchen Frost und Baba Yaga eigentlich Aliens waren. Von einer Hochzivilisation habe ich jedenfalls nichts gesehen.“
„Und was halten Sie vom Zwischenfall mit der Mary C?“ Bei sich wunderte sich der NCID-Agent, warum der NIC sich für diesen Raumfahrerschwank interessierte, aber er fragte trotzdem nach.
Das Gesicht der Russin blieb so neutral wie ihre Stimme: „Meine persönliche Meinung? Die haben irgendetwas Hochverstrahltes an Bord geholt, oder eine prähistorische Grippe, und ein Teil der Besatzung ist davon erwischt worden. Das muss nicht mal von Medusa stammen, wer weiß, was die vorher an Bord hatten. Anschließend sind die Kranken oder was sie auch immer waren in die Rettungskapsel gegangen oder reingezwungen worden. Der Rest ist getürmt, und die in der Kapsel sind krepiert. Ende der Geschichte.“
Der Ermittler seufzte resignierend. Auch seine Geduld war ziemlich erschöpft, und hier kam er wohl nicht mehr weiter: „Gut, das war es dann.“
Lilja musterte ihn, jetzt wieder etwas spöttisch: „Werden Sie und ihre Leute die Spielchen nicht langsam müde? Ich glaube ja, hier gibt es keine Verschwörung oder so zu entdecken. Und schon gar kein Mysterium. Vielleicht ein paar Geheimdienstler, die ihre Kompetenzen überschritten haben. Aber wenn Sie mich fragen – so was passiert in diesem Krieg dauernd.“
Der NCID-Mann zuckte mit den Schultern: „Meinen Job mache ich auch ohne Ihre Ratschläge. Machen Sie sich lieber Gedanken über ihre eigene Lage.“ Diese ominöse Warnung schien an der Russin abzuprallen wie ein einzelner leichter Laser am Schild ihrer Falcon. Alles, was sie entgegnete, war ein sarkastisches: „Man sieht sich.“

In einem anderen Zimmer betrachteten zwei Augenpaare eine ganze Reihe von Monitoren und Anzeigen. Die Neuankömmlinge hatten Tremanes Wanzen gefunden – genauer gesagt hatte die Kapitänin ihnen brühwarm erzählt, wo sich etwas finden ließ – und sie für eigene Zwecke umfunktioniert. So konnte man die Verhöre ungesehen beobachten, aufzeichnen und analysieren. Das entsprach vielleicht nicht ganz den Vorschriften…aber wer wollte das schon zu eng sehen? Und man konnte einige der Schäfchen rund um die Uhr in Beobachtung behalten.
Die NIC-Offizierin musterte aufmerksam die Anzeigen. Ihre Stirn war nachdenklich gerunzelt. Ihr Kollege warf ihr einen fragenden Blick zu, schwieg jedoch, bis sie von selbst das Wort ergriff: „Hm…interessant. Bei dieser Pilotin – ich werde einfach nicht schlau aus ihr.“ Der andere Sicherheitsoffizier legte den Kopf leicht schief: „Hat sie gelogen?“
„Nein. Das ist es ja eben. Ihre Körpersprache ist ziemlich offensichtlich und leicht zu interpretieren während des gesamten Verhörs. Ich hab’ das mit den bisherigen Aufzeichnungen abgeglichen. Sie weiß offenbar wirklich nichts über Tremanes Manöver, und sie hat sich aus etwas albernem Pflichtgefühl und Ehrgeiz gemeldet. Wenn ich ihre Akte analysiere, würde ich sagen, es gibt wenig, was sie für die Aussicht auf die PMV nicht tun würde. Aber…“ sie zögerte und klopfte mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Beunruhigung auf das Pult: „…es gibt Themen, bei denen sie vollkommen dichtmacht. Und dann hat sie ihre Miene und ihre Gesten fast perfekt unter Kontrolle. Sicher, sie hat Kurse über das Verhalten im Falle der Gefangenschaft absolviert, aber trotzdem…“
„Du meinst, sie hat was zu verbergen?“
„Vielleicht. Ich weiß nicht. Ich werde nicht aus ihr schlau – vor allem verstehe ich nicht, WARUM sie bei einigen Themen dichtmacht. Wieso sollte sie bei der Frage nach dem Asteroidengürtel mauern? Oder wenn es um die Mary C geht. Wir haben ihre Fluglogs, und nichts deutet darauf hin, dass es Gründe gäbe, etwas zu verheimlichen. Also warum?“ Die Frau lächelte etwas geisterhaft: „Der einzige Punkt wo sie ebenso dicht macht, war die Frage, ob die Gefangenen korrekt behandelt wurden. Aber nach allem was ich gehört habe, hätte sie nichts dagegen gehabt, die Echsen ohne Raumanzug zu kielholen. Also nichts, was über ein paar verbale Entgleisungen hinausginge. Auch das ist eigentlich kein Grund zu mauern…“
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob sie lügt. Man sagt ja, in Kriegszeiten wäre die Wahrheit so kostbar, dass man sie mit einer Leibgarde von Lügen umgeben müsse. Oder umgedreht. Man umgibt die Wahrheit mit Wahrheiten, damit sie nicht auffällt. Aber das werden wir schon rauskriegen – spätestens wenn Tremane und Falkner endlich singen.“ Und dass sie auspacken würden, daran konnte kein Zweifel bestehen. Der NIC würde die Wahrheit schon noch an den Tag bringen, wie immer diese auch aussah.

* Brustschmerzen ist (wie „Halsschmerzen“) ein Flottenausdruck für die Gier nach Orden, die auf der Uniform an der Brust oder einem Halsband getragen werden. Wird generell auch für Personen benutzt, die ohne Rücksicht auf sich selbst und andere auf eine Beförderung aus sind.
Cattaneo
Cattaneo

Frischlinge bei der Arbeit I

Die Klänge der Nationalhymne der Colonial Confederation schmetterten durch den Äther und erstarben schließlich nach einem letzten Fanal. Für einen Augenblick herrschte Stille, gerade lange genug, um Spannung aufkommen zu lassen, was denn als nächstes zu erwarten sei. Dann meldete sich die Stimme eines Mannes. Er sprach Englisch, doch die Art und Weise wie er die Vokale und Konsonanten betonte, deutete darauf hin, dass die Worte nicht aus einer menschlichen Kehle kamen.
„Achtung, Achtung, hier ist die Stimme des Widerstandes. Hier ist Deneb. Konföderierte sprechen zu Konföderierten. Wir senden für Hannover, für Port Panama, für Ahleb, für die Männer und Frauen gleich welcher Rasse auf den Schiffen der Konföderation, für unsere Kameraden in den Internierungslagern. Wir bringen Nachrichten aus dem Krieg.“ Die Stimme vermied zumindest im Moment überdramatisches Pathos und klang relativ sachlich, als sie fortfuhr:
„Das Terranische Flottenoberkommando gibt bekannt, dass mit der Giuseppe Garibaldi und der Potemkin zwei weitere überschwere Flottenträger der Lexington-Klasse in Dienst gestellt wurden. Die Schiffe haben ihre Bordgeschwader übernommen und sind damit gefechtsklar. Sie werden in Kürze bei den Einsatzverbänden erwartet…
Mehrere lokale Versuche von imperialen Raidern, in den republikanischen Raum oder die befreiten kaiserlichen Territorien vorzudringen, wurden durch die Verbände der TSN vereitelt. Dabei wurden eine Korvette und ein Minenleger vernichtet, eine weitere Korvette und eine Fregatte erlitten Beschädigungen…
Die Zahl der Soldaten, Milizionäre und Zivilisten aus der Konföderation, die sich bereiterklärt haben, den Kampf gegen das Kaiserreich an der Seite der Bundesrepublik Terra fortzusetzen, übersteigt inzwischen die 30.000, davon über die Hälfte militärische und zivile Raumfahrer. Ebenso melden sich immer mehr Zivilisten, die Hilfsaufgaben im technischen und medizinischen Bereich übernehmen wollen. Besonders stark vertreten sind unter den Freiwilligen Vertreter der Völker der T’rr, Soridachi und Akarii. Nicht nur durch die TSN entwaffnete Angehörige der Streitkräfte melden sich, es gibt auch weiterhin einen konstanten Zustrom aus dem Gebiet der Konföderation. Neben Einzelpersonen und kleinen Gruppen stoßen immer wieder Schiffe zu den Freiwilligen. So verließ die ,Hukbalahap’, ein auf Grenzpatrouille befindlicher Minensucher der Insurgent-Klasse, ihre vorgeschriebene Position und stellte sich den Wachschiffen der TSN mit der Bitte, in den Kampfeinsatz gegen die imperialen Streitkräfte geschickt zu werden. Gleiches gilt für den bewaffneten Frachter Spirit of Raffehlen, Teil der lokalen Gefechtsreserve der CN. Anscheinend haben die Wachschiffe der Colonial Navy inzwischen den Befehl erhalten, weitere Desertionen auch ziviler Schiffe nötigenfalls mit Gewalt zu unterbinden, um die Vertreter des Imperiums nicht zu verärgern…
Wie soeben bekannt wurde, haben die führenden Vertreter der Tonari-Enklaven auf den FRT-Welten Thordall, Winston und New York ihre Bereitschaft bekundet, sich finanziell mit zehn Millionen Real am Unterhalt und der Ausrüstung der Freiwilligen aus der Colonial Confederation zu beteiligen. Wie die Tonari in einer kollektiven Stellungnahme bekannt gaben ,unterstützen und bewundern wir den Entschluss dieser Männer und Frauen, die bereit sind zu kämpfen, damit nicht noch mehr Welten und Rassen das Schicksal der unseren teilen. Wir haben das Imperium kennen gelernt und appellieren an alle freiheitsliebenden Wesen, sich ihm zu widersetzen, solange sie noch die Möglichkeit haben. Zögern bedeutet zu warten, bis es zu spät ist, wie es einst für uns zu spät war’. Das Reich der Tonari wurde während eines Konfliktes mit dem Imperium Opfer einer erbarmungslosen ethnischen Säuberung, die nach Schätzungen maximal ein Viertel der mehrere Milliarden zählenden Bevölkerung überlebte. Die Tonari regten überdies an, aus Angehörigen anderer Völker aus dem Gebiet des Imperiums oder blockfreien Nationen weitere Freiwilligeneinheiten zu bilden. Sie versicherten, sich auch bei deren Ausstattung umfassend zu beteiligen…
Ersten Schätzungen zufolge wurden in den letzten zwei Monaten aus der Colonial Confederation mehr als 200 Millionen Zigaretten und andere Luxusgüter, besonders Schokolade, in das Imperium ausgeführt. Dabei übernahm die Firma Jockham, deren Betreiber in enger verwandtschaftlicher Beziehung zum Kriegsminister des Kaiserreiches und Ehemann der amtierenden Regentin stehen, einen Großteil des Vertriebs. Experten schätzen den Geschäftsgewinn der Firma Jockham allein aus diesen Exporten auf umgerechnet mindestens 100 Millionen Real. Tobarii Jockham übernahm den Posten als Kriegsminister nach dem Tod von Prinz Jor Thelam in der Schlacht von Tukama, unmittelbar vor dem heimtückischen Angriff auf Hannover. Er gehört seitdem zusammen mit Admiral Kal Ilis, dem Schlächter von Hannover, zu den gesuchten Hauptkriegsverbrechern, deren Auslieferung Vorausbedingung für jeden Frieden zwischen der FRT und dem Imperium ist…“

Die gesamte Durchsage dauerte insgesamt etwa eine Viertelstunde und präsentierte sich als relativ bunte Mischung, wenngleich der Fokus eindeutig auf dem Kampfgeschehen und allem was damit zusammenhing lag. Mit der Objektivität nahm der Sprecher es anscheinend nicht so genau, aber die Spitzen richteten sich besonders gegen das Imperium und die führenden Architekten und Nutznießer des Friedensvertrages in der Colonial Confederation. Vorwürfe gegen das Gros des Militärs oder die einfache Zivilbevölkerung der Konföderierten wurden tunlichst vermieden. Danach waren zunächst die Klänge eines konföderierten Soldatenliedes zu hören. Als der Sprecher schließlich fortfuhr, gab er seiner Stimme einen dramatischen Unterton:
„Und nun spricht zu Ihnen Rear-Admirälin Jacqueline Bouisseau, die ranghöchste der Freiwilligen im Kampf gegen das Imperium, vormals Kommandeurin der Reservefliegerverbände auf Hannover.“

Wieder gab es eine kurze Pause, dann meldete sich die Admirälin zu Wort. Sie sprach klar akzentuiert und schien auf jedes einzelne Wort Gewicht zu legen.
„Landsleute – meine Brüder und Schwestern. Ich grüße euch, egal von wo ihr mich hört – in den Quartieren der Freiwilligenverbände, in den Internierungslagern der FRT oder in der Konföderation, unser aller Heimat. Ich weiß, einige von euch werden sich fragen, ob ich wirklich frei reden kann, ob ich nicht nach dem Diktat der FRT spreche. Ich kann ihnen nur mein Wort als Offizierin geben, bei meinem eigenen Leben schwören und bei dem, was mir mehr als dieses Leben bedeutet – dem Eid auf die Konföderation und ihre Bürger – dass ich aus freiem Entschluss und meiner aufrichtigen Überzeugung folgend zu ihnen spreche. Andere werden in mir eine Deserteurin sehen, weil ich die Streitkräfte und das Staatsgebiet der Konföderation unter Mitnahme von Militärmaterial verlassen und mich in den Dienst einer anderen Macht gestellt habe. Ich bitte jedoch auch sie, ich bitte euch alle, mir trotzdem zuzuhören, ehe ihr ein Urteil fällt. Ob ihr mir glauben und folgen werdet, das müsst ihr alle selber entscheiden. Doch lasst euch nicht vorschreiben – von keinem Vorgesetzten, keinem Generalgouverneur und schon gar nicht vom Imperium – wem ihr zuhört und wie ihr über seine und ihre Worte richtet! Das ist die stolze Tradition unserer gemeinsamen Heimat und der Streitkräfte, denen anzugehören ich viele Jahre die Ehre hatte. Es war diese Tradition, die mich auf meinen Weg geführt hat, die Tradition der Unabhängigkeit und Selbstbehauptung, die uns von den Gründervätern in die Wiege gelegt wurde. Aus all diesen Gründen bitte ich euch – hört mich an.“

Die Offizierin, deren Stimme zum Schluss beschwörend geworden war, mitgerissen von ihren eigenen Worten, stoppte kurz, wie um sich zu sammeln. Dann fuhr sie wieder ruhiger fort, sorgfältig abwägend, doch bald wurde ihre Stimme wieder leidenschaftlicher. Obwohl sie keine berufsmäßige Rednerin war, machte sie ihre Sache gut, vermutlich weil sie von Spezialisten gebrieft und vorbereitet worden war. Verlor man in einer Ansprache vollkommen die Fassung und verhaspelte sich oder brüllte, dann stieß man viele Zuhörer ab. Doch zu wenige Emotionen nahmen jedem Beitrag die Wirkung, weil er nicht glaubhaft erschien. Jacqueline Bouisseau traf jedoch fast immer das richtige Maß – und auch das war wohl beabsichtigt, denn ihre Ansprache sollte nicht ZU perfekt wirken: „Es sind inzwischen einige Monate seit der Schlacht von Hannover vergangen. Die zahllosen Toten sind – so dies möglich war – beerdigt, bei den Verschollenen besteht keine Hoffnung mehr auf Wiederkehr. Der Rauch aus den von feindlichen Geschützen zerstörten Gebäuden unserer geliebten Hauptstadt, die einmal als eine der schönsten Städte der bekannten Galaxis galt, hat sich gelegt. Die zahllosen Tränen der ersten Trauer und Wut sind getrocknet, sie fließen nur noch in der Einsamkeit und Stille. Es wird Zeit, dass man Bilanz zieht.
Die Streitkräfte der Colonial Navy sind gespalten, unsere Heimat selbst ist mit sich uneins. Viele der Besten sind als Verteidiger der Heimat gegen den heimtückischen Angriff gefallen, andere sind in terranischer Internierung, haben sich freiwillig in die Hand der TSN begeben, und viele andere erwarten die Befehle unserer Regierung, die vor dem Imperium kapituliert hat, denn sie haben geschworen, dieser Regierung zu gehorchen, und sie vertrauen verzweifelt – wenn auch oft nicht ohne Zweifel – darauf, dass diese Regierung weiß, was sie tut. Ja, es stimmt, die Vernichtung Hannovers in einer Entscheidungsschlacht wurde vermieden. Generalgouverneur Cochrane und die ihm loyalen Militärs hielten den Kniefall vor den heimtückischen Aggressoren und Massenmördern wohl für einen angemessen Preis für diesen ,Erfolg’. Die Konföderation hat jetzt ,Frieden’.
Doch was ist das für ein Frieden? Ist es nicht ein Frieden, von dem vor allem die Thelams, die Ilis’, die Jockhams, die Allecars profitieren, diejenigen, die im Blut des konföderierten Volkes wie im Blut der Bürger der FRT und so vieler anderer Völker gebadet haben? Jene, die unsere geliebte Hauptstadt in Schutt und Asche legen ließen und die für den Tod zehntausender Männer, Frauen, Kinder, Soldaten wie Zivilisten, verantwortlich sind? Sicher, einige Brocken von den Reichtümern, die es jetzt im ,Frieden’ zu scheffeln gibt, bleiben auch übrig für jene, die bereit sind ihnen Handlangerdienste zu leisten. Ja, der Handel blüht wieder! Wir liefern Schokolade und Zigaretten an das Imperium, damit sich jene die Zeit vertreiben können, deren Waffen so viele unserer Landsleute umbrachten, und die jetzt gegen unsere Verbündeten von der TSN kämpfen. Sollen wir vielleicht stolz sein, dass die Besatzungstruppen auf den Welten der T’rr und Soridachi wieder Zigaretten haben? Soll es uns mit Zufriedenheit erfüllen, dass der Hof auf Akar wieder genug Schokolade bekommt um Feste anlässlich des Massenmordes an unseren Landsleuten zu veranstalten? Es wird Edward Cochrane sicher mit Freude erfüllt haben, dass der Kriegsverbrecher Kal Ilis inzwischen in die Reihen der unvergesslichen Helden des Imperiums aufgenommen wurde, wie so viele feige Mörder vor ihm – sicher wurden bei dem Fest auch konföderierte Schokolade und Tabak gereicht. Welche Hand ballt sich nicht zur Faust bei diesem Gedanken? Sicher nicht die von Cochrane und seinesgleichen! Nein, für einige Wesen – Menschen und kaiserliche Akarii, nicht aber akariische Konföderierte, die sich das Wertvollste ihres Volkes bewahrt haben – sind zehntausende, ja hunderttausende Tote offenbar kein ausreichender Hinderungsgrund, um sich nicht im Interesse des gemeinsamen Profits an einen Tisch zu setzen. Vielleicht werden sie ja sogar ein paar Blumen für die Grabmäler der Gefallenen spenden, so pietätvoll sind sie wohl.“

Der Hohn in der Stimme der Admirälin war schneidend geworden, und auch ihre folgenden Worte waren voll Spott und Bitterkeit zugleich: „Aber lassen wir einmal die Frage beiseite, für wen sich dieser Frieden AUSZAHLT und konzentrieren wir uns darauf, wie er den Streitkräften und der Bevölkerung der Konföderation VERKAUFT werden soll – als Rettung vor Zerstörung und als Ende eines mörderischen Krieges, als Schritt in eine prosperierende Zukunft. Doch was nützt uns allen dieser Frieden wirklich? Uns, nicht den edlen Häusern des Kaiserreiches oder den Exporteuren, uns, den Menschen, Akarii, T’rr, Soridachi und Angehörigern anderer Völker in der Konföderation. Ist es nicht so, dass Cochrane und seine Admiräle in ihrer Kurzsichtigkeit einfach eine Schlacht verschoben haben, die kommen wird, ja kommen muss – der finale Kampf um unsere Freiheit und Selbstbestimmung? Denn steht nicht fest, dass der Vertrag nicht einmal das Papier wert sein wird, auf dem er geschrieben ist, falls die FRT ebenfalls fallen sollte? Ist nicht jedem klar, dass das Imperium die Rechte unserer Bürger – darunter viele, die schon einmal vor ihm flohen oder Nachkommen von Flüchtlingen sind – missachten wird, sobald es sich nicht mehr zurückhalten muss?
Wer dies bezweifelt, kennt die Geschichte des Kaiserreiches nicht, kennt nicht das rassistische Sendungsbewusstsein, auf dem das Imperium aufbaut. Wer sich nicht beugt – und vor dem Kaiser soll sich jeder beugen – wird gebrochen werden, nichts anderes besagt die Geschichte JEDES Volkes, das heute zum Imperium gehört. Warum sind wohl Millionen Akarii, T’rr und Soridachi und zahllose Angehörige anderer Völker unter großen Risiken geflohen? Ja, JETZT haben wir einen maßvollen ,Frieden’. Man muss jedoch hinzufügen ,NOCH’. Denn wer ist so naiv zu glauben, dieser Frieden würde ewig halten? Werden jene ihn achten, die heimtückisch Manticore überfielen, ohne einen Grund dafür zu haben? Haben nicht wir, die wir neutral waren und nicht mehr wollten, als in Frieden gleichberechtigt mit den anderen Nationen der Galaxis zu leben, zu Anfang des Krieges mehr als deutlich zu spüren bekommen, was NEUTRALITÄT in den Augen der kaiserlichen Flotte wert ist, wie viel Respekt man ihr auf Akar bezeugt? Kann auch nur EINER glauben, dass die Vertreter des Imperiums von heute so viel anders sind als jene, die den Überfall auf uns und die FRT befahlen?
Nur die Lage ist eine andere, und sollte sie sich ändern, dann wird jeder Schutz hinfällig sein, den wir noch genießen! Warum wohl war das Imperium, warum waren der Massenmörder Ilis und der kaiserliche Speichellecker Allecar so ,großzügig’? Aus Großmut, weil sie das vergossene Blut dauerte? Sie, die selbst ihre eigenen Truppen in einem wahnwitzigen Va banque-Angriff hinopferten? Man muss kein Hellseher sein, um den wahren Grund zu erkennen! Bis vor kurzem zappelte die kaiserliche Bestie noch im tödlichen Würgegriff zweier stählerner Fäuste, der TSN und CN, die langsam aber unaufhaltsam das Leben aus ihr herauswürgten! Die kaiserliche Flotte gab es schließlich auf, diese stählernen Fäuste anzugreifen, die sich als unüberwindbar erwiesen hatten – wie sich erst kürzlich über Karrashin erneut zeigte. Stattdessen griffen sie unseren weichen Bauch an – und Cochrane, dieser Narr, löste die eine Faust, die konföderierte, von der Kehle der Bestie. Schlimmer noch, er kniete sogleich vor ihr nieder, darauf bauend, sie würde ihn nicht verschlingen, so lange sie noch im Griff der zweiten Faust nach Luft schnappte. Kann es etwas Törichteres geben? Es wäre seine Pflicht und seine Möglichkeit gewesen, der Bestie die Kehle herauszureißen – wenn auch zu einem hohen Preis, das will ich nicht leugnen. Aber nur so hätte er die Gefahr auf ewig bannen können! Und unsere Flotte, unsere Bevölkerung wäre bereit gewesen ihm zu folgen.
Denn wenn es etwas gibt, wofür die Konföderation steht, dann dafür, dass sie ihre Freiheit höher schätzt als faule Kompromisse – so ist die Konföderation erst entstanden, nur deshalb wurde sie zum Hafen für die Flüchtlinge so vieler Rassen. Wir haben es seit jeher besser verstanden, aufrecht zu kämpfen als unter dem Joch in ,Frieden’ zu leben. So aber lieferte er uns alle der Gnade dieser Bestie aus, die ihr wahres Gesicht so oft schon enthüllt hat, da mögen die Allecars und wie sie alle heißen noch so parfümiert daherschwätzen. Und nun können wir nur beten, dass die einzelne Faust, die noch die Kehle des Untiers umklammert, genug Kraft hat, um es zu erdrosseln – oder dass die Bestie auf einmal zu einem Lamm wird, wenn es nichts mehr geben sollte, was sie zurückhält. Es fällt schwer zu glauben, dass irgendwer so dumm ist, darauf zu zählen!
Sollte die TSN geschlagen werden – werden wir dann nicht alleine kämpfen müssen, wenn es dem Imperium gefällt, auch den neuen Vertrag zu brechen, wie es schon einmal unsere Neutralität mit Füßen trat, wenn es den Entschluss fasst, unsere Bürger in die Sklaverei zurückzuschleppen, oder was ihm auch immer gerade in den Sinn kommt? Gewiss werden wir das!“

Die Rear-Admirälin schwieg einen Moment. Als sie fortfuhr, klang sie resignierend: „Nun, vielleicht irre ich mich auch, und es wird niemals zu diesem Kampf kommen. Denn wenn es nach Cochrane und seinesgleichen geht – werden wir dann nicht gleich nachgeben, wenn die imperiale Bestie nur drohend knurrt? Widerstand ohne Hilfe der TSN wäre so wenig aussichtsreich, so verzweifelt, so sehr den alten, auf Hannover so schmählich verratenen Idealen der Konföderation entsprechend, dass die Kapitulanten von heute wohl ein weiteres Mal der ,Klugheit’ den Vorzug geben würden. Und wenn das heißt, dass der imperiale Geheimdienst Jagd auf Dissidenten machen kann, wir zu einem wirtschaftlichen Handlanger des Kaiserreiches degradiert werden, zu einem Edelstein in der Krone des Imperators – was macht es? Wenn man servil genug ist, bleiben vielleicht auch weiterhin ein paar Brocken übrig, vor allem für die gehorsamsten Diener, darauf rechnen die Cochranes – und die Thelams und Allecars bestärken sie in dieser Sklavenmoral. Sicher kann man auch dann noch Zigaretten und Schokolade verkaufen – so lange es den Imperialen nicht gefällt, auch das in die Hand zu nehmen. Doch ist es das, wofür die Konföderation geschaffen wurde? Ist das die Konföderation, in der wir leben wollen? Haben unsere Soldaten ihren Diensteid geschworen, um unsere Heimat der Knechtschaft und Halbsklaverei auszuliefern? Noch dazu an das Volk, dessen Sklavenketten so viele unserer Mitbürger – die Akarii, die T’rr und die Soridachi – entflohen sind? Allein der Umstand, dass gerade Angehöriger dieser Rassen einen so großen Anteil an dem sich nun formierenden Widerstand nehmen, ist wohl Antwort genug! Angesichts dessen kann unsere Antwort auf den faulen ,Frieden’ der Imperialen nur lauten: Nein – wir beugen uns niemals, so lange noch Atem in uns ist!“
Sie holte tief Luft: „Deshalb habe ich den Weg eingeschlagen, den andere schon vor mir beschritten haben, und auf dem uns unzählige weitere nachfolgen. Ich habe mich dem Kampf gegen die Verbrecher verschworen, die hunderttausende unserer Landsleute ermordet haben. Und wenn dies bedeutet, dass ich mein Zuhause verlassen muss, dass man mich Verräterin nennt und ich nicht in meine unterworfene Heimat zurückkehren kann, dann bringe ich dieses Opfer, so schwer es mir fällt. Seite an Seite mit den Soldaten und Offizieren der Streitkräfte der FRT, Seite an Seite auch mit den Freiheitskämpfern auf dem Gebiet des Imperiums werden wir nicht von den Fahnen gehen, bis unsere Heimat befreit ist und wieder ihren Platz als gleichberechtigte Nation unter den Völkern der Galaxis einnehmen kann. Wir werden die Fahne der Freiheit aufheben und weiter tragen zu den Sternen, als Leuchtfeuer für die Unterworfenen und als Drohung für die Unterdrücker. Wir werden nicht kapitulieren, bis nicht die verantwortlichen Hauptkriegsverbrecher, vor allem Kal Ilis und Kriegsminister Jockham, ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden wie es bereits mit Jor Thelam geschah! Die rauchenden Trümmer unserer Hauptstadt und die endlosen Listen unserer Opfer sind uns Verpflichtung und Mahnung! Wir stellen uns dieser Verpflichtung. Mit Hilfe der FRT rufen wir die Confederated Army of Volunteers ins Leben – in der Hoffnung, dass wir bald Seite an Seite mit Freiwilligen anderer Völker und Nationen kämpfen werden. Für die Dauer des Krieges werden wir die Waffenbrüderschaft mit den TSN und allen anderen Feinden des Imperiums ehren, in der festen Überzeugung, dass nur gemeinsam unser aller gemeinsamer Feind zu besiegen ist. Unsere Reihen stehen jedem offen, ungeachtet von Rasse, Geschlecht, Glauben oder Rang – es ist nicht wichtig, wer man war, wichtig ist nur, wie man sich hier und jetzt, in der Stunde der größten Not, entscheidet. Gemeinsam werden wir – Seite an Seite mit der TSN – den Armeen des Imperiums die Stirn bieten, so lange es notwendig ist. Wem seine Heimat am Herzen liegt, der schließe sich uns an, unterstütze uns mit Nachrichten und Geld. Kein Beitrag ist zu gering, dass er nicht von Nutzen ist. Wir brauchen euch! Gemeinsam werden wir siegen!“

Wieder ließ die Sprecherin eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr, jetzt wieder mit ruhiger Stimme: „Einige werden entgegen, schön und gut – doch was für Verbündete sind denn die Streitkräfte der FRT? Ihre Schiffe haben zahlreiche konföderierte Kriegs- und Handelsschiffe interniert, einige wurden dabei beschädigt, Militärangehörige wurden verletzt, einige auch getötet. Denen sollen wir beistehen, mit denen macht IHR euch gemein? Ich verstehe die Bitterkeit, die aus solchen Worten spricht, verstehe die Enttäuschung aufgrund des Verhaltens der Terraner, vor allem nachdem CN und TSN so lange brüderlich Seite an Seite gekämpft haben. Ich will diese Taten der TSN nicht gutheißen oder verharmlosen. Dennoch bitte ich euch, die Dinge für einen Moment mit den Augen der FRT zu sehen, um ihr Handeln wenn nicht zu billigen, so doch zu verstehen.
Ihre Streitkräfte haben so wie die unseren – ja mehr noch – seit Kriegsbeginn einen hohen Blutzoll zahlen müssen. Bei Manticore fiel der stärkste Schlag, und zehntausende Soldaten und Zivilisten verbrannten im atomaren Feuer. Millionen Bürger der FRT sind inzwischen ermordet worden, wurden verstümmelt oder versklavt. Die Vorstellung eines Kapitulationsfriedens mit dem Kaiserreich ist für ihre Landsleute angesichts der zahllosen imperialen Kriegsverbrechen nahezu undenkbar, so wie es für viele von uns war. Angesichts des schnellen Nachgebens der Regierung der Konföderation mussten die Kommandeure der TSN fürchten, dass Teile unserer Flotte in die Hand der kaiserlichen Streitkräfte fallen könnten. Vergesst nicht, der Generalgouverneur hatte denen die Hand gereicht, die an ihren Fingern das Blut zehntausender seiner Soldaten und Wähler hatten. In dieser Situation, während die Ruinen unserer Hauptstadt noch brannten, einen faulen ,Frieden’ zu machen – zu welcher Treulosigkeit wäre so jemand nicht in der Lage? Seine neuen Partner hatten ja kaum Zeit gehabt, sich notdürftig von dem Blut der Einwohner und Verteidiger Hannovers zu säubern, da kroch er schon vor ihnen! Und wie wir inzwischen wissen, war Cochrane bereit nicht nur zu kapitulieren, er lieferte den Kaiserlichen sogar zwei Schiffe aus, die der Stolz unserer Flotte waren und auf denen tausende Männer und Frauen für unser aller Freiheit gefallen waren – Menschen und Nichtmenschen, die hundertmal mehr Ehre und Mut besaßen als er. Hundertmal eher hätte Cochrane, wenn er schon vor den Sendboten des Kaiserthrons einknickte, die Zerstörung der Schiffe fordern müssen!
Erinnert euch auch, dass Cochrane kapitulierte, obwohl er doch wissen musste, dass vor Ort der Kampf hätte fortgesetzt werden können, so lange bis die Flotten der TSN und CN in beispielloser Vergeltung über die feigen Massenmörder in kaiserlicher Uniform gekommen wären. Diese rächenden Flotten standen bereit, sie schickten sich an zu springen, als dieser so genannte Waffenstillstand bekannt wurde. Viele derjenigen, die in diesen Flotten dienten und dann interniert wurden, haben sich inzwischen den Reihen der Freiwilligen angeschlossen. Sie haben mir erzählt, wie sie und die TSN darauf gebrannt hatten, unsere Heimat zu retten, zu befreien und zu rächen. Ich selber war auf Hannover, und ich bitte auch die anderen Veteranen der Schlacht, sich zu erinnern. Wir waren geschlagen, als Cochrane kapitulierte, das will ich nicht bestreiten, wir hatten furchtbare Verluste erlitten – doch waren wir wirklich gebrochen? War uns jeder Funken Mut, Stolz und Freiheitsliebe abhanden gekommen, Ideale, die jedem Konföderierten von Kind auf vermittelt wurden? Hätten wir nicht noch weiterkämpfen können, ja müssen? Hatten wir nicht Waffen, Kampfflieger und Panzer genug, um den Kaiserlichen einen hohen Preis für ihren Sieg abzufordern? Hätte nicht Hannover zum Grab für die Aggressoren werden können, wenn Cochrane und seine Befehlshaber mehr Weitsicht und Entschlossenheit aufgebracht hätten – Eigenschaften, zu denen sie von Amts wegen verpflichtet waren? All diese Fragen lassen sich nur mit einem klaren ,JA!’ beantworten. Ich war nur eine unter vielen, die noch bis zum letzten entschlossene Männer und Frauen unter sich hatte, die noch nicht aufgeben wollten. Sie waren Konföderierte im besten Sinne des Wortes, standhaft dort, wo unsere Regierung und militärische Führung versagten! Nur diese Führung scheiterte – nicht die Völker, die Zivilisten und die Soldaten. Angesichts dieses Zusammenbruchs handelte die TSN, um die Zivilisten der FRT zu schützen, wie es ihre Aufgabe ist. Und lieber sehe ich die Schiffe in der Hand der TSN, als sie wie die John Paul Jones und die Independence als Trophäen ins Imperium verschleppt zu sehen! Ja, unsere Schiffe die in der Hand der TSN sind, sind der Konföderation genommen worden. Doch ich sage euch, das Imperium wird diese Schiffe wiedersehen – bemannt mit Freiwilligen der Konföderation, der FRT und anderer Völker, die Rechenschaft einfordern für die Toten dieses und anderer Kriege! Und dann wird sich zeigen, wer dem Vermächtnis unserer Gründerväter mehr Ehre erweist – die ,desertierten’ und internierten oder die in imperiale Knechtschaft ausgelieferten Schiffe!“

Von der Ruhe und Zurückhaltung war nichts mehr zu spüren, als sie mit einem flammenden Appell schloss: „Meine Brüder und Schwestern – Soldaten, Offiziere, Zivilisten gleich welcher sozialen Schicht und welchen Berufes! Menschen, Akarii, T’rr, Soridachi oder Angehörige anderer Völker! Ich beschwöre euch, wägt meine Worte gut ab. Denkt daran, dass eine solche Chance nur einmal in hundert Jahren kommt! Kämpfen wir heute und beenden wir die imperiale Bedrohung nicht nur für uns, sondern auch für kommende Generationen, damit nicht diese den Kampf ausfechten müssen, für den wir zu feige waren! Ich beschwöre euch, brecht die Ketten aus Angst, Gehorsam und Gleichgültigkeit, die euch zurückhalten! Schließt euch uns an oder unterstützt unsere Mission durch Worte, Taten und Geld. Befreit euch selbst – dann werden wir gemeinsam die Konföderation, die Bundesrepublik und alle anderen Völker von diesem Alpdruck befreien!“

Für eine Weile herrschte Schweigen, dann meldete sich der ursprüngliche Sprecher wieder: „Das war Rear-Admirälin Jacqueline Bouisseau, inzwischen im selben Rang in die Verbände der CAV übernommen…“
Währenddessen atmete die ehemalige Konföderierte mehrmals tief durch und sackte in ihrem Stuhl zusammen. Endlich war dieser mentale Spießrutenlauf überwunden! Es war weiß Gott nicht leicht so lange zu sprechen, auch wenn sie als Admirälin dergleichen gelernt hatte. Aber zu wissen, dass es nicht nur aufgenommen, sondern zumindest als Audiobotschaft an Millionen, ja Milliarden Zuhörer gesendet wurde – das war noch etwas anderes. Ein Glück, dass sie ein gutes Deodorant bekommen hatte, dachte sie säuerlich. Nur langsam normalisierte sich ihr Puls, der die ganze Zeit gerast hatte wie bei einem Dauerlauf. Als die Tür aufging, lächelte sie schief – der Neuankömmling war keine Überraschung für sie, tatsächlich, es war Charles Bayonne, wie sie vermutet hatte: „Wollen Sie mir jetzt die Note mitteilen, die sie für meinen Vortrag für angemessen halten? Bin ich versetzungswürdig?“ fragte sie.
Der Geheimdienstoffizier lächelte schmal: „Wenn Sie so wollen. Nicht schlecht für jemanden, der auf dem Gebiet ein Neuling ist. Einiges wird man noch verbessern können, aber ich denke, es war die richtige Mischung.“
Die Offizierin schnaubte: „Sie meinen, wo ich schon meine Seele verkauft habe, sollte ich es schon richtig machen?“ Es war ihr anzumerken, dass ihr das alles nicht ganz leicht fiel. Die eigenen Vorgesetzten und den Regierungschef so harsch zu kritisieren und zu Ungehorsam, ja Widerstand gegen sie aufzurufen war nichts, woran sie sich schon vollkommen gewöhnt hatte. Zwar verabscheute sie Cochrane und fühlte sich von ihren Vorgesetzten verraten, hielt sie für kurzsichtig und töricht, weil sie den sicheren – wenn auch kostspieligen – Sieg gegen Kal Ilis aus der Hand gegeben hatten und damit den Kampf und Tod so vieler Soldaten und Zivilisten entwerteten. Aber Abneigung gegen etwas und offenes Handeln dagegen waren zwei verschiedene Dinge. Sie hatte zunächst gedacht, die TSN würde sie vielleicht in einen Jäger stecken, bestenfalls ihr das Kommando über ein Freiwilligengeschwader oder auch ein Schiff geben. Das wäre eine Chance gewesen, einige offene Rechnungen mit den Imperialen zu begleichen.
Aber man hatte sich entschlossen, sie lieber anders zu „verwerten“. Als hochrangigste Überläuferin war sie Gold wert – viel zu kostbar, um sie nur an die Front zu schicken. Sie sollte helfen, den Frieden zwischen Konföderation und Imperium zu diskreditieren. Weitere Überläufer und mehr Freiwillige unter den Internierten waren natürlich ein gerne gesehener Bonus. Aber ihr war klar, es ging um weit mehr. Indem man sie als Symbol aufbaute, übte man Druck auf Hannover aus und schürte bei den Akarii Misstrauen gegenüber den neuen „Freunden“. Schon einmal, weil viele Imperiale nicht verstehen würden, wie eine Regierung zulassen konnte, dass eine Admirälin mit ihren Leuten desertierte, oder dass zehntausende Soldaten den Gehorsam verweigerten. In der Akariigeschichte kam so etwas kaum vor. Mehr als ein kaiserlicher Militär und Politiker würde insgeheim mutmaßen, Teile der konföderierten Militär- und Staatsführung hätten ihre Hände im Spiel, oder seien zumindest untragbar inkompetent. Auf Hannover würde man das in Rechnung ziehen müssen, denn wer konnte schon wissen, ob sich diese Kräfte auf Akar nicht durchsetzten und eine Straf- oder Besetzungsaktion in die Wege leiten würden. Man würde in der Konföderation also auch künftig gegenüber dem Imperium wachsam bleiben müssen. Dies aber würde wiederum das Misstrauen des Kaiserhofs schüren. Die Konföderation hatte ja schon einmal einen Verbündeten verraten – die TSN. Würde sie nicht unter Umständen wieder umfallen, diesmal zuungunsten des Kaiserreiches? Und wie sollte man auf Hannover wie auf Akar damit umgehen, wenn der zivile Druck in der Konföderation zunahm? Keine Regierung konnte es kalt lassen, wenn ihr die Soldaten und Bürger davonliefen. Das Imperium würde anfangen sich zu sorgen, ob die Friedensbefürworter wirklich fest im Sattel saßen, und das würde bedeuten, sie mussten zumindest gewisse Flottenverbände in Bereitschaft halten. Schließlich und endlich würde jede Störung des fragilen neuen Nebeneinanders von Imperium und Konföderation vor allem der FRT nützen.

Die Rear-Admirälin war eine kluge Frau und hatte schnell erkannt, dass sie so noch viel nützlicher seien konnte, als nur in der Position einer Soldatin. Dennoch, ganz glücklich war sie nicht. Die Verantwortung war noch um einiges größer als die, an die sie schon gewöhnt war. Doch das ließ sie sich nach Möglichkeit nicht anmerken, obwohl sie sich kaum Illusionen darüber machte, sonderlich viel vor ihren neuen „Arbeitgebern“ verbergen zu können. Und sie ging auch den Lobeshymnen nicht leicht auf den Leim.
Der TIS-Mann wirkte nachdenklich, fast fürsorglich, ohne dass sie ihm das wirklich abnahm. Andererseits hatte er natürlich ein fundiertes Interesse daran, dass sie ,funktionierte’: „Denken Sie daran, diese Art der Kriegsführung ist mindestens ebenso wichtig wie das Zerstören kaiserlicher Schiffe. Eine gute Rede kann mehr bewirken als ein Flottenzerstörer.“
Jacqueline nickte: „Ich weiß. Ich hoffe nur, es bringt auch wirklich etwas.“ In ihrer Stimme klang etwas Kritik an: „Das hängt natürlich auch davon ab, wie schnell SIE zeigen, dass es Ihnen ernst ist. Der erste Kampfeinsatz von Freiwilligen ist nicht weniger wert als meine Worte – und ihre gute Behandlung. Ich kenne Ihre Befürchtungen. Aber im Krieg müssen wir alle Wagnisse eingehen. Sie, indem sie mich arbeiten lassen – und Sie müssen meine Leute kämpfen lassen.“ Sie seufzte: „Hoffen wir im Interesse unserer beider Nationen, dass es etwas bringt.“
Bayonne lächelte ironisch: „Dafür gibt es einen relativ einfachen Indikator. Wir warten einfach ab, wie laut das Geschrei auf Hannover ist und wie hoch die kaiserlichen Emissäre angesichts dieses Stichs springen.“
Die Admirälin kicherte – eine ungewöhnlich gelöste Reaktion: „Ja, da würde ich auch gerne Mäuschen spielen…ich bringe Sie aber lieber nicht in Verlegenheit indem ich frage, ob Sie ihre eigenen Quellen haben, um das aus erster Hand beobachten zu können. Dann müssen Sie mich nicht belügen, und ich muss nicht so tun, als würde ich es ihnen abkaufen.“
Bayonne war insgeheim erleichtert. Die Admirälin akzeptierte ihre Rolle ungewöhnlich bereitwillig. Er kannte genug Betonköpfe, die nicht so einfach bereit gewesen wären, auf einen direkten Kampfeinsatz – zumindest im Moment – zu verzichten, und die vor allem diesen „anderen“, psychologischen Krieg als unter ihrer Würde befunden hätten. Manche Militärs verachteten Politik, Geheimdienstarbeit und Propaganda gleichermaßen, auch in der FRT. Glücklicherweise zählte die Admirälin nicht zu dieser Sorte Menschen. Und sie war nicht zu ignorant oder zu stolz, um sich Ratschläge anzuhören und diese auch zu befolgen. Nun, das lag wohl daran, dass es ihr vor allem um den Zweck ging, nicht den Weg oder die Mittel. Mit geheimer Genugtuung registrierte er, wie die Admirälin noch ein paar ermutigende Worte mit dem akariischen Nachrichtensprecher wechselte, der inzwischen Pause hatte. Oh ja, sie wusste wie man mit Leuten umging, teils weil sie es gelernt hatte, teils ganz instinktiv. Auch deshalb war sie Gold wert – eine Flaggoffizierin einer Streitmacht, die Wesen aus so vielen Rassen und ethnischen Gruppen relativ harmonisch vereinte, ein Wissen, das den Offizieren der FRT oft noch fehlte.
Die Offizierin hatte wandte sich wieder an ihren Begleiter: „Nun, was steht als nächstes auf dem Programm?“ Der Geheimdienstler musste nicht lange nachdenken, er hatte die Punkte ohnehin im Kopf: „Ein Besuch in einem Internierungslager – wir ziehen immer mehr Konföderierte auf Deneb zusammen. Und anschließend, fürchte ich, werden Sie einige Senatoren und Industrielle anbetteln müssen, zusätzliche Mittel für die Formierung der Freiwilligenverbände lockerzumachen.“ Er grinste gleichsam beruhigend und selbstironisch: „Keine Sorge, einer von unsere Leuten wird mitbetteln.“
Jacqueline Bouisseau lächelte schief: „Da kann ich ja froh sein, dass Sie nicht auch noch von mir verlangen, durch einen Reifen zu springen oder Feuer zu spucken…“
Cattaneo
Cattaneo
Frischlinge bei der Arbeit II

Kampfkreuzer der Hunley-Klasse Tatanka Yotanka*, Sterntor

Lieutenant Commander Walentin Pawlitschenko blickte sich unauffällig um. Die Worte der übergelaufenen Rear-Admirälin, die aus dem Schiffslautsprecher drangen, ließen ihn nicht kalt. Er hielt sich selber für einen Patrioten, immerhin war er so erzogen worden. Er konnte sich also ungefähr vorstellen, wie schwer es der Frau gefallen sein musste, ihre Heimat – sowohl die Nation als auch die Streitkräfte – zu verlassen. Aber er durfte sich nicht ablenken lassen, immerhin hatte er bestimmte Aufgaben, und die würde er erfüllen. Ein beträchtlicher Teil der Besatzung der Bug-Feuerstellung des Kreuzers lauschte aufmerksam, wenngleich die Gründe unterschiedlich waren. Die Mienen schwankten zwischen andächtiger Aufmerksamkeit, gelassener Zustimmung bis hin zu reservierter Skepsis. Offene Ablehnung zeigte niemand – natürlich, wer an den Worten grundsätzlich etwas auszusetzen gehabt hätte, der wäre gar nicht hier gewesen. Gedanklich taxierte und bewertete der junge Offizier was er sah, machte sich virtuelle Notizen. Dann, nach einem sichernden Rundblick ob ihn auch sonst keiner bemerkte, warf er einem weiblichen Second Lieutenant, die als Lademeisterin für einen Harpoon-Werfer fungierte, einen heimlichen Seitenblick zu. Sie nickte kaum merklich, bevor sie betont in eine andere Richtung blicke. Auch er wandte sich wieder von ihr ab.
Er wartete noch einige Augenblicke, damit die Propagandasendung noch etwas nachwirken konnte, dann erhob er die Stimme: „Meine Damen und Herren – zurück an die Arbeit. Countdown beträgt noch fünfzehn Minuten.“ Als seine Untergebenen ihn kurz musterten, ehe sie sich wieder auf ihre Stationen begaben, unterdrückte er ein Schaudern, eine Leistung, auf die er nicht wenig stolz war. Einige Aspekte seiner neuen Aufgabe waren wirklich… gewöhnungsbedürftig.

Spätestens als man ihn informierte, wie genau er sich auf seinen „Sondereinsatz“ vorbereiten sollte, hatte er sich einmal mehr an die Weisheit erinnert, dass man einem geschenkten Gaul eben DOCH besser ins Maul schaute. Er hatte sich ja gefreut, als man ihn von seinem alten Zerstörer auf einen Kreuzer versetzte und dabei gleich noch eine Beförderung in Aussicht stellte – die er dann auch erhalten hatte. Aber dafür war der Auftrag wirklich heikel und kompliziert, ja sogar etwas anrüchig. Nun, wer hätte je gehört, dass es beim Militär etwas umsonst gab, oder auch nur billig?
Ihre Aufgabe bestand nämlich zum einen darin, Schiffe für den Kampfeinsatz vorzubereiten, die sie bisher nur aus Lehrfilmen und theoretischen Briefings kannten. Die TSN hatte nach dem Verrat der Colonial Confederation eine ganze Reihe von Schiffen des ehemaligen Verbündeten beschlagnahmt. Es handelte sich zwar vor allem um leichtere Typen, aber es waren auch einige Kreuzer und sogar Trägerschiffe dabei. Und natürlich hatte die Flotte ein großes Interesse daran, diese Einheiten schnell in die eigenen Streitkräfte einzugliedern. Selbst Fregatten und Zerstörer waren ein wertvoller Zugewinn, allein um die rückwärtigen Wachverbände und die Garnisonsverbände in den eroberten Akarii-Gebieten zu verstärken. Für die schweren Einheiten galt dies umso mehr. Dieser Krieg hatte einen Rachen aus Stahl, Zähne wie Rasierklingen und einen unersättlichen Hunger. Allein die letzten Schlachten, etwa bei Karrashin, hatten zahllose Schiffe gekostet. Und was lag näher, als diese Verluste und den Wegfall der Colonial Navy durch die internierten Einheiten zumindest halbwegs zu kompensieren? Deshalb hatte man einige Schiffe zur Erprobung, Überholung und auch zur späteren Verwendung nach Sterntor gebracht – zu der zentralen Drehscheibe der FRT schlechthin. Außerdem waren sie hier in sicherem Abstand zur CC und zum Imperium. Neben der Tatanka Yotanka handelte es sich bei den um Sterntor zusammengezogen Schiffen um den Kirow-Kreuzer Maxim Gorki, dazu kamen ein Ulysses-Zerstörer und drei Fregatten der Ferregut-Klasse. Sie standen kommissarisch unter dem Befehl des TSN-Commodore Mutiu Ikeda – einem hochgewachsenen Farbigen, der drei Jahre lang als Verbindungsoffizier an Bord des CN-Trägers Beverley Harrington gedient hatte, einem Schiff der Zeus-Klasse. Er hatte reichlich Erfahrung mit der konföderierten Mentalität und im Umgang mit NOHM-Kollegen**.

Offenbar war momentan noch umstritten, ob man die Schiffe in einem eigenständigen Geschwader einsetzen oder auf mehrere Schwadronen aufteilen würde. Auch die Frage nach der Befehlsgewalt war noch ungeklärt. Unter den Freiwilligen waren auch mehrere Commander und Captains, außerdem munkelte man, dass sich ein oder zwei internierte Commodores ebenfalls für die Angebote der TSN interessierten. Doch die Terraner waren sich nicht sicher ob sie das Wagnis eingehen wollten, Schiffe mit konföderierten Kapitänen zu versehen. Darauf zu verzichten schien nicht unbedingt ratsam, könnte es doch gerade die qualifizierten Offiziere brüskieren, doch konnte man den Überläufern so weit trauen? Ungeachtet dieser offenen Fragen arbeitete man jedoch seit Ankunft der Schiffe auf Sterntor mit Hochdruck daran, sie wieder einsatzbereit zu machen. Die erbeuteten Trägerschiffe der Konföderierten wurden offenbar an einem anderen Ort – den man sorgfältig geheim hielt – auf den erneuten Einsatz vorbereitet. Man ging wohl davon aus, wenn der konföderierte Geheimdienst oder die Akarii etwas unternehmen würden, dann vor allem gegen diese Schiffe.
Wie dem auch sei – die TSN war jedenfalls bereit, für die Indienstnahme der Beuteschiffe einen Mann wie ihn, der zwar seit Anfang des Krieges und länger bei den Fahnen war und immer gute Arbeit geleistet hatte, aber eben auch nicht als strahlender Held oder technischer Überflieger galt, zum stellvertretenden Chef der Waffenabteilung zu machen und eine Rangstufe aufrücken zu lassen.
Nun, hätte es sich nur darum gehandelt, den Umgang mit einem neuen Schiff zu lernen – das wäre ja noch gegangen. Die meisten für diese Mission abkommandierten Männer und Frauen waren erfahren, sie hatten zum Gutteil wie er noch die ausführlichere prä-Manticore-Ausbildung genossen und nicht den „Schnellwaschgang“ der Kriegsjahre. Walja hatte sich problemlos mit den Statistiken seines neuen Schiffes, eines Kreuzers der Hunley-Klasse, vertraut machen können. Immerhin waren die CN-Schiffe für eine überwiegend menschliche Besatzung konstruiert worden, und trotz aller Selbstdarstellung stellten die Matrosen der Confederation in etwa dieselben Ansprüche an ihre Quartiere wie TSN-Besatzungen. Auch die Bedienungselemente entsprachen gewissen Normen, nicht zuletzt weil ein beträchtlicher Teil der CN-Technik auf TSN-Schiffen basierte. Es hatte ein wenig Gemaule gegeben, weil das Schiff nicht den modernsten terranischen Modellen entsprach – die Harpoon-Werfer zum Beispiel waren in der TSN bereits weitestgehend ausrangiert worden. Dafür war die Bewaffnung mit Geschützen bei den Hunleys für Schiffe dieser Größe durchaus beeindruckend und der Grad der Automatisierung war es auch. Die Schilde waren stark, die Panzerung allerdings ziemlich mies. Nein, an den Leistungsparametern gab es nicht allzu viel zu kritisieren. An dem Namen gab es auch nichts auszusetzen, immerhin hatte der Patron des Schiffes tapfer und überaus geschickt gegen einen vielfach überlegenen Feind gekämpft, der ihm und seinen Leuten nicht die Möglichkeit für ein Leben nach ihren Überzeugungen lassen wollte. Der Ausgang dieses Kampfes war freilich wenig ermutigend. Aber damit konnte man sich abfinden.

Doch die TSN war nicht nur daran interessiert, die Schiffe des ehemaligen Verbündeten einzusetzen. Und das führte ihn zum eigentlichen…komplizierten…Teil seines Sonderauftrages. Schon kurz nach der Internierung der CN-Einheiten hatte sich eine wachsende Zahl von Soldaten und Offizieren bereiterklärt, den Krieg an der Seite der TSN fortzusetzen. Die Rekrutierungsbemühungen, die auf Anstoß der Flotte durchgeführt wurden, trafen durchaus auf ein gewisses Echo, besonders nachdem Details über die Zustände auf Hannover bekannt wurden. Die Propaganda der Terraner machte ohnehin Überstunden, um die Internierten zu bearbeiten und auf freundliche Art weich zu kochen. Auch aus der Colonial Confederation waren weitere Soldaten und Zivilisten desertiert, um sich den Truppen der FRT anzuschließen.
Und nun würde es die Aufgabe von Walja und seinen Kollegen sein, mit ehemals internierten Konföderierten oder Überläufern zusammenzuarbeiten, mit Crewmitgliedern und Offizieren, die man aus den verschiedensten Internierungslagern zusammengesammelt hatte, von einfachen Matrosen eines Flottentankers bis hin zu einem weiblichen T’rr-Commander, die bisher eine Korvette kommandiert hatte, jetzt aber bereit war, nötigenfalls als Erster, Zweiter oder sogar Dritter Offizier zu dienen, wenn sie nur gegen das Imperium kämpfen konnte. Und das war das eigentlich Heikle dabei – bei den Freiwilligen handelte es sich nicht nur um Menschen. Was für neun von zehn – vielleicht sogar für neunundneunzig von hundert – terranischen Flottenangehörigen eine vollkommen neue Erfahrung war. Natürlich gab es auch einige Nichtmenschen in der FRT – zum Beispiel Tonari, aber auch T’rr, Soridachi und sogar einige Akarii-Dissidenten. Aber es waren insgesamt im Vergleich zur menschlichen Bevölkerung nur sehr wenige, und die dienten üblicherweise nicht in den Streitkräften, sondern blieben für sich. Die meisten TSN-Angehörigen hatten bisher nicht einmal einen Nichtmenschen von Angesicht zu Angesicht gesehen, vielleicht abgesehen von toten oder gefangenen Akarii. Doch unter den Freiwilligen waren sogar noch mehr Nichtmenschen, als es in der CN ohnehin üblicherweise gab – wohl weil die T’rr, Akarii und Soridachi ihre eigenen Gründe hatten, das Kaiserreich zu hassen und einem Frieden mit ihm zu misstrauen. Auch das war für die FRT ein gefundenes Fressen gewesen, zumindest in propagandistischer Hinsicht. Zudem waren ausgebildete Soldaten etwas, das man gut gebrauchen konnte. Auf der anderen Seite waren besonders NIC und TIS besorgt, unter den Freiwilligen könnten sich auch feindliche Agenten verbergen – Angehörige des konföderierten Geheimdienstes oder gar imperiale Schläfer – gleichgültig wie realistisch diese Befürchtungen waren. Der Druck aus Flottenstab und Politik war jedoch zu groß, um sich durch diese Bedenken völlig vom Einsatz der Freiwilligen abhalten zu lassen. Die TSN brauchte nicht nur ausgebildete Leute und Schiffe, sie brauchte vor allem Leute, die mit DIESEN Schiffen umgehen konnten.

So hatte man einen Kompromiss gefunden. Nach einem Screening der Freiwilligen würde man sie zum Kampfeinsatz zulassen – aber der NIC und der TIS würden insgeheim ein argwöhnisches Auge auf die Neulinge behalten, noch wachsamer, als man üblicherweise war. Man würde die Freiwilligen nach Möglichkeit nicht vollkommen autonom einsetzen, sondern ihnen „Stabilisatoren“ aus bewährten Flottenangehörigen beigeben. Außerdem würde ein Teil der handverlesenen TSN-Angehörigen, die mit den Freiwilligen zusammenarbeiten sollten, als Informanten rekrutiert werden. Und deshalb war Walja hier. Er hatte zusammen mit anderen Flottenangehörigen einen nachrichtendienstlichen Schnellkurs absolviert, zudem war es seine Aufgabe, sich weiterhin in ,Sensibilisierungskursen’ für den Umgang mit nichtsmenschlichen Mitstreitern zu qualifizieren – und damit auch diese besser überwachen zu können. Bei verdächtigen Anzeichen sollte umgehend Meldung gemacht werden. Dass die Terraner sich generell mit Äußerungen über die politische und militärische Führung der CC, erst recht aber über die CN und die einfachen Zivilisten zurückhalten sollten, verstand sich natürlich von selbst und war noch vergleichsweise leicht zu berücksichtigen. Im Haus eines Gehängten redete man nicht vom Strick…
Nicht, dass ihm dieser Auftrag sonderlich gefiel, aber er sah die Notwendigkeit ein. Und so sperrte er – und andere wie er – die Augen und Ohren auf. Sie waren sogar aufgerufen, sich unauffällig und behutsam mit ihren neuen Kameraden anzufreunden – ohne zu dick aufzutragen.
Die ersten Tage waren eine ziemliche Tour de Force gewesen. Auf einmal mit…Wesen…zusammenzuarbeiten, die man bisher nur aus Filmen kannte – wenn überhaupt – war schon eine Sache für sich. Von der 700 Mann starken Besatzung der Tatanka Yotanka waren etwas über die Hälfte ehemalige Konföderierte, und von denen wiederum war fast jeder zweite ein NOHM. Aber sie verstanden ihr Fach, daran konnte kein Zweifel bestehen. Und ob Menschen oder nicht, sie brannten darauf, wieder in den Einsatz zu gehen. Ironischerweise waren etliche von ihnen motivierter als einige altgediente und kriegsmüde TSN-Offiziere, die Walja kennen gelernt hatte. Natürlich – wer an Konföderierten hier war, der war ein Überzeugungstäter. Die Internierungslager waren nicht SO schlimm, anders als einige Kriegsgefangenenlager, dass man nur um dort wegzukommen den Tod in der Schlacht riskiert hätte. Und die Männer und Frauen (oder sagte man Männchen und Weibchen bei den NOHM?) waren sich darüber im Klaren, dass sie zusätzlich den Zorn ihrer Regierung riskierten. Für die Dauer des Krieges würden sie kaum eine Möglichkeit bekommen, heimzukehren. Ob sie nicht auch später mit Strafen würden rechnen müssen, blieb offen. Walja war kein Mann, der voreilig Sympathien verschenkte, aber er hoffte, für bewährte Freiwillige würde es nach Kriegsende die Möglichkeit geben, in der FRT zu bleiben, sollte ihnen zuhause ein Prozess drohen.

Dank der Unterstützung der Freiwilligen lief der Kreuzer jedenfalls inzwischen bemerkenswert gut – relativ gesehen. Immerhin handelte es sich hier nicht um eine komplette Schiffscrew, die gemeinsam den Umgang mit dem Schiff gelernt hatte, sondern um Besatzungsmitglieder, die von einem Dutzend Einheiten der TSN und CN zusammengeholt worden waren. Wenigstens verstanden auch die Nichtmenschen Englisch.
Dennoch war es nicht leicht gewesen, sich an manche der Neulinge zu gewöhnen. Walja war nicht gerade das, was man einen Rassisten nannte – im Unterschied etwa zu seiner geliebten Tanjuschka, die vermutlich bei einem Akarii, der ihr unvermittelt über den Weg gelaufen wäre, das Messer gezogen und wohl auch gebraucht hätte. Aber die fremdartigen Gesichter und Gesten, die eindeutig nichtmenschlichen Laute und selbst der Geruch – oder das Fehlen davon…
Ohne die Sensibilisierungskurse wäre die Zusammenarbeit wohl katastrophal verlaufen. Viel zu leicht hätten die TSN’ler – die anders als ihre neuen Kameraden keine Erfahrung mit dieser Art von inter-Spezies-Kommunikation hatten – etwas missverstehen können. Akarii und T’rr blinzelten eben nicht wie Menschen, und sie zeigten Gefühle anders. Vor allem die Soridachi rochen auch anders. Nur gut, dass die TSN daran gedacht hatte, die Crews vorzubereiten und einige ehemalige Verbindungsoffiziere abkommandiert hatte!
Doch inzwischen lief die Zusammenarbeit eigentlich ganz gut. Wie sich dies aber im Einsatz bewähren würde – das blieb abzuwarten. Er warf einen Blick auf die Uhr – noch fünf Minuten…

***

Weltraum um Sterntor, etwa zur selben Zeit

„Auf, auf, ihr feurigen Stallions – es geht in die Schlacht!“ Ina „Imp“ Richters Stimme klang wie immer penetrant gutgelaunt. Dies war eine Eigenschaft, die ihre alten und neuen Untergebenen meistens schätzten, an anstrengenden Tagen aber aus ganzem Herzen verabscheuten – obwohl sie das regelmäßig wieder vergaßen. Seit Liljas Dienstantritt als Staffelchefin hatte sich das sogar noch verstärkt. Es war einfach nicht fair, wenn die Chefin so gut wie nie Schwäche und Nachsicht zeigte, und ihre Stellvertreterin im Ausgleich dazu eigentlich immer guter Dinge zu sein schien. Auf jeden Fall war es das nicht, wenn man selber auf dem Zahnfleisch kroch. Bildlich gesprochen – während Lilja mit der Peitsche antrieb, ohne selber zurückzubleiben, rannte Imp mit einem Grinsen auf den Lippen vorne mit.
Aus diesem Grund war es nicht verwunderlich, dass ihr ein Chor von stöhnenden Lauten antwortete, wobei es kaum einen Unterschied zwischen Neulingen und Veteranen – also Piloten, die zumindest seit Karrashin dabei waren – gab. Die Grünen hatten einen gewohnt anstrengenden Tag hinter sich. Imp schien ihren Ehrgeiz darin zu setzen, die Staffel aus einem Roh- in einen exzellent geschliffenen Diamanten zu verwandeln, bis Lilja wieder da war. Wie sie gut gelaunt wissen ließ, würde man ihr das noch danken, wenn die Chefin zurück sei. Zumindest die Veteranen gaben ihr Recht. Außerdem war ihre Kritik weitaus weniger beißend als die Liljas, wenn auch ebenso treffsicher. Jedenfalls hatten sie alle heute schon etliche Stunden Übungsflüge im Raum und im Simulator hinter sich, und zeigten langsam Ermüdungserscheinungen. Einzig Marine, die aus ihrer Zeit beim Corps noch ganz andere Dinge gewöhnt war, und Fidai, der sich niemals so eine Blöße gegeben hätte, schwiegen zu dem Jammerchoral. First Lieutenant Cougar, ein Pilot des Geschwaders der Victoria-Station, der die Staffel bei dieser Übung komplettierte um die fehlende Chefin zu vertreten, jammerte offenbar aus reiner Solidarität mit.

Imp kannte natürlich keine Gnade: „Was muss ich da hören? Oh Schande über mich, dass ich so einer saft- und kraftlosen Schar vorstehe! Sind meine wackeren Streiter etwa schon müde? Hier wird nicht schlappgemacht, so lange die Chefin noch kann – wenn unsere stählerne Lilie wieder da ist, werdet ihr euch noch umsehen! Und was soll das Gejammer? Ihr seid doch gerade erst aus dem Urlaub gekommen! Habt ihr es etwa mit dem Feiern übertrieben? Denkt daran, die Schiffsärzte verschreiben nötigenfalls auch ,Aufbaumittel' für, ähm, heiklere Leistungs- und Konditionsprobleme, wenn ihr es bei der Kontaktpflege zum Flying Circus übertrieben habt.“
Damit hatte sie wieder die Lacher auf ihrer Seite, natürlich wieder mit Ausnahme von Fidai. Die deutsche Staffel-XO der Grünen galt weder als Spielverderberin noch als enthaltsam – immerhin unterhielt sie eine alles andere als geheime Beziehung mit einem Staffelkameraden. Aber sie hatte sich angelegentlich schon etwas bissig über die Art und Weise geäußert, wie gewisse Dinge auf der Derflinger offenbar gehandhabt und vor allem auch herumerzählt wurden. Sie und Shoki hatten nicht lange gebraucht, um einiges darüber herauszukriegen. Ihre gemeinsame Wortschöpfung vom „Love Boat“ der Flotte machte bei den Angry Angels bereits die Runde, und war nicht unbedingt freundlich gemeint. Es war freilich nicht auszuschließen, dass jemand anderes schon mal früher auf dieselbe Idee gekommen war. Inzwischen war das Intermezzo an Bord der ,Derfi’ jedoch vorüber, der Träger war wieder auf dem Weg zum Sprungpunkt.

Als die Pilotin fortfuhr, war sie wieder ernst geworden – nun, soweit das bei ihr möglich war: „Ihr wisst doch, good old Ironside Mithel nimmt solche Sache sehr ernst. Ihr wollt doch wohl keine schlechte Benotung von ihm bekommen? Oder Schuld sein, wenn Mama Imp oder unser einsames Wölfchen eine kriegen?“
Dem ließ sich freilich wenig entgegenhalten. Der frischgebackene Rear-Admiral hatte reichlichen Gebrauch von seinem neuen Rang gemacht, als es darum ging, für seine Kreuzerschwadron Manöverpartner zu organisieren. Der Flottenoffizier sah keinen Grund, an falscher Stelle zu sparen, und so hetzte er ohne Rücksicht auf die Spritkosten sowohl seine eigenen Schwadron als auch sonst jeden los, den er überreden, befehligen, dominieren oder sonst wie herumkriegen konnte. Dazu gehörte auch das Geschwader der Columbia, das ja ohnehin auch künftig eng mit Mithels Kreuzern zusammenarbeiten würde. Und die Garnisonsverbände wollten nicht als Spielverderber dastehen, zumal sich zwischen ihnen und den Angels eine gewisse Rivalität herrschte, wer denn eigentlich die Besseren waren. Piloten eben…
Heute stand ein besonderer Leckerbissen auf dem Programm – ein koordiniertes Großschiff- und Kampffliegermanöver. Teile der Schwadron 2.3 würden einige andere Schiffe angreifen, die zur Garnison von Sterntor gehörten. Mithels Schiffe würden dabei Unterstützung durch Teile des Bordgeschwaders der Victoria-Station und der Angry Angels erhalten. Die Übung galt als anspruchsvoll, denn Mithel hatte die Etna, die Hagen von Tronje und die Nestor abkommandiert um, wie es hieß, einen kleineren „gegnerischen“ Flottenverband anzugreifen. Unterstützung würden die drei leichten Kreuzer durch je zwei Staffeln Falcons und Nighthawks sowie eine Jagdbomber- und eine Bomberstaffel erhalten. Es sollte die Zusammenarbeit der verschiedenen Einheiten besonders unter Verwendung der Feuerleit-, Kommando- und Kommunikationseinrichtungen der Etna erprobt werden, seit jeher ein heikler und wichtiger Punkt. Aus diesem Grund – und weil die Kommandeurin eine bereits bewährte Untergebene Mithels war – hatte die Etna auch das Kommando.

*******

Captain Solveig Sturlasdottir hatte sich entsprechend ins Zeug gelegt, immerhin stand sie nach dem Verlust ihres letzten Schiffes in der Schlacht von Karrashin unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Sie hatte natürlich nur vage Vorstellungen, um wen es sich beim Gegner eigentlich handelte und wo er sich aufhielt – immerhin sollte die Übung praxisnah sein. Aber sie war eine erfahrene Soldatin. Folglich hatte sie ausgehend von den Informationen über das Terrain etwas ausgeknobelt. Sie hatte nur etwas weniger als die Hälfte der Jäger bei sich behalten und bewegte sich mit ihren Kreuzern und unter Einsatz der Aufklärungsshuttles als Voraussicherung auf das Manövergebiet zu. Die übrigen Jäger – die grüne und rote Staffel der Angels und die Hammer-Staffel der Victoria-Station – waren in einem „Horizontschleicher“, sprich einem Bogen, auf das Manövergebiet zumarschiert, verstärkt durch zwei mit ECM ausgerüsteten Jagdbomber. Sie sollten auf die Sichtmeldung des Hauptverbandes warten und nach einer Annäherung in Schleichfahrt überraschend zuschlagen. Dabei hing viel von den Leistungen des Etna-Computers ab, um das Vorgehen zu koordinieren. Verbindung zum Hauptverband hielten zwei SWACS-Shuttle der Kreuzer. Es war nicht zu übersehen, dass Mithel für einen Mann mit dem Ruf erheblicher Traditionsverbundenheit geradezu exzessiven Gebrauch von den kleinen Einheiten seiner Schwadron machte – eine Eigenart, die auch seine Untergebenen kopierten.

Jedenfalls, den drei Kampffliegerstaffeln kam eine Aufgabe von beträchtlicher Wichtigkeit zu – dessen war sich auch ihr Kommandeur bewusst. Lucas „Lone Wolf“ Cunningham hatte immer noch etwas zu knabbern, um sich an seine neue Juniorrolle im Geschwader zu gewöhnen. Als ob in den letzten Wochen nicht genug auf ihn eingeprasselt sei! Nicht ohne klammheimliche Häme registrierte er, dass es seiner Nachfolgerin nicht anders erging – einschließlich des zeitweiligen Verlusts zweier ihrer Schwadronschefs, wo man sie gerade am dringlichsten gebraucht hätte. Er hatte jedoch nicht vor, sich irgendeine Blöße zu geben – und sei es offene Schadenfreude – die ihm Raven unter die Nase reiben konnte. Also hielt er seine Schäfchen beisammen. Seine Mitteilung, dass der Manöverbereich in weniger als einer Minute erreicht würde und man mit „Feindkontakt“ rechnen müsste, war es auch gewesen, die Imp zu ihrer launigen Ansprache veranlasst hatte. Die drei Staffeln flogen in dichter Formation und mit gedrosselter Geschwindigkeit, um sich nicht zu weit aus dem ECM-Bereich der zwei Jagdbomber zu lösen und ihre Triebwerkssignaturen gering zu halten. Die Grünen und Roten leisteten gute Arbeit – wie nicht anders zu erwarten, jedenfalls wenn man sie gefragt hätte. Aber auch die Hammer-Crusader waren offenbar gut ausgebildet worden. Lone Wolf bleckte die Zähne zu einem Grinsen. Eigentlich waren Übungen ja ein Stückweit Kinderkram – wie das Fliegen im Simulator, jedenfalls für Asse wie ihn. Den richtigen Krieg konnten sie noch immer nicht simulieren, weil die Teilnehmer eben wussten, dass es nicht ernst war. Aber auch sie gaben einem die Chance sich zu beweisen. Und die würde er nutzen… Bloß schade, dass sie hier nicht den Einsatz dieser neuen Mini-Nukes ausprobieren konnten. Gegen einen Feind, der wahrscheinlich keine eigenen Jäger hatte, wären sie gerade richtig gewesen. Aber nein, dafür waren die Dinger wohl noch zu „geheim“, jedenfalls trainierten heute nur die Gelben und Schwarzen damit, die deshalb nicht mit von der Partie waren.

********

Kreuzer Tatanka Yotanka

Der Gefechtsalarm heulte auf wie ein gestochenes Schwein. Walja bellte: „Aaaauuuffff Gefechtsstationen!“ und nahm selbst seinen Posten ein, doch er registrierte zugleich mit nicht geringer Befriedigung, dass seine Untergebenen bereits automatisch handelten. Langsam bekam auch er die Handgriffe hin, obwohl er neidlos zugeben musste, dass seine Untergebenen oft noch etwas schneller waren. Als stellvertretender Waffenoffizier war sein Platz hier – nicht, noch nicht auf der Brücke. Aber das störte ihn wenig. Mit einigem Stolz machte er sich daran, den Waffeneinsatz der Tatanka zu koordinieren – wesentlich mehr Feuerkraft, als ihm jemals zuvor unterstanden hatte. Hier „unten“ hatte man nur eine vage Vorstellung vom Schlachtverlauf und wusste zumeist nicht, worauf man eigentlich zielte – das war Sache der Brückenoffiziere. Aber ohne ihn und seine Leute waren all diese Offiziere so nutzlos wie ein Kropf. Kurz darauf kamen die ersten Zielangaben für die Raketenwerfer. Im Eifer des Gefechts fiel es Walja leicht zu vergessen, dass etliche seiner Untergebenen keine Menschen waren, und dass er die Aufgabe hatte, sie alle zu überwachen…

Die ehemaligen konföderierten Schiffe – denn sie alle würden im Manöver die Funktion der Gegner für die detachierten Kreuzer der Schwadron 2.3 und die ihnen zugeteilten Kampfflieger übernehmen – formierten sich neu. Die zwei Kreuzer und die vier leichteren Einheiten operierten heute das erste Mal gemeinsam. Auch dahingehend handelte es sich um einen Test.
Der Kommandeur des Freiwilligenverbandes reagierte schnell und aggressiv auf die Bedrohung. Sowie er festgestellt hatte, dass er es nur mit zwei leichten und einem Flakkreuzer zu tun hatte, die von einigen Jägern beleitet wurden, formierte er seinen Verband zu einer Angriffsformation, deren Kern die zwei Kreuzer und der Zerstörer bildeten. Die Fregatten liefen vorneweg. Er wartete nicht etwa auf die Angreifer, sondern setzte sofort Kurs auf sie, in einer geneigten Flugbahn, die es ihm ermöglichen würde, alle Geschütze ins Spiel zu bringen. So sollte den TSN-Schiffen die Möglichkeit genommen werden, das „T zu kreuzen“ oder Vorteil aus der größeren Reichweite ihrer überschweren Schiff-Schiff-Raketen zu ziehen, die den CN-Schiffen einiges voraushatten. Dabei wahrten die ehemaligen Konföderierten eiserne Disziplin. Auch der Zerstörer mit seiner größeren Reichweite feuerte nicht – wozu auch, seine wenigen Marschflugkörper wären leicht abgefangen worden. Die terranischen Kreuzer ließen sich nicht lange bitten – während die sie begleitenden Jäger ausschwärmten, spuckten die Schiff-Schiff-Raketenwerfer die ersten Salven aus. Natürlich erfolgten die Abschüsse nur simuliert, aber auf den Anzeigen sah es schon ziemlich beeindruckend aus…
„Abwehrfeuer koordinieren – Vektoren für die leichten Werfer folgen. Geschütze in drei Gruppen fassen…Zielkoordinaten wie folgt…!“ Auf die Weisungen der Brücke richteten Walja und seine Untergebenen ihre Waffen aus und begannen, die anfliegenden Vampire abzuwehren.

*******

Jäger-Angriffsverband

Lone Wolf pfiff zufrieden wenn auch etwas atonal vor sich hin. Bisher lief alles nach Plan, na ja, fast alles. Der Gegner hatte den Köder geschluckt und ging die drei Kreuzer mit aller Entschlossenheit an. Gut, der Beschuss aus den terranischen Exocet-Werfern war nicht annähernd so effektiv wie erhofft. Die ehemaligen CN-Schiffe koordinierten ihr Feuer weit besser als erwartet, und nicht nur in der Abwehr. Die Konföderierten hatten bisher nur eine Fregatte verloren, die als schwer getroffen markiert zurückgefallen war. Sie zeigten aber nicht die geringste Entmutigung und reduzierten die Distanz zügig, bis ihre Raketen den Gegner erreichen konnten. Wollten die TSN-Schiffe nicht ihre Jäger im Stich lassen, mussten sie die Sache ausfechten. Die Konföderierten schlossen immer weiter auf, im festen Entschluss, ihre Rohrartillerie in Einsatz zu bringen – natürlich, die gegnerischen Kreuzer waren beide ihren Gegnern im Zweikampf in dieser Hinsicht überlegen. Die Konföderierten konzentrierten ihr Feuer in einem Ausmaß, wie es selbst für die Angehörigen von Mithels Schwadron ungewohnt war, zumal zwei der Kommandeure ja Neulinge waren. Captain Sturlasdottir gab sich zwar beste Mühe, den Beschuss der Schiffe zu koordinieren, aber offenbar gab es da noch gewisse Defizite. Die Etna, ihr Dauntless-Kreuzer und zusätzlich auch das Flaggschiff, bekam die ganze Feuerkraft der gegnerischen Schiffe ab, und es war abzusehen, dass sie es nicht mehr lange abwehren konnte. Captain Sturlasdottir führte ihr Schiff durchaus effektiv, aber unter dem wütenden Dauerbeschuss war selbst die starke Abwehr des Flakkreuzers überlastet. Die Jäger und Jagdbomber konnten daran wenig ändern – bei ihrem Anflug gerieten sie in zwei volle Verbandssalven leichter Raketen, der die Jabos zersprengte.
Nun, Zeit für seinen großen Auftritt…

Bisher war die drei Staffeln aus Angry Angels und Victoria-Geschwader dank des ECM nicht erfasst worden. Der Gegner war also noch ahnungslos, zumal Cunninghams Flieger aus einer vollkommen anderen Richtung als die Kreuzer und übrigen Kampfflieger nahten. Der Chef des Mischverbandes öffnete eine Richtfunkverbindung: „Geschwindigkeit erhöhen – Grüne Staffel, Flankenschutz, Hammer, Zielerfassung Rotte eins ist Hunley Alpha, zwei und drei Kirow Alpha. Rote Staffel – Flightweise Bomber unterstützen nach eigenem Ermessen!“ Nicht mehr lange, und sie würden über die ehemaligen Konföderierten hereinbrechen wie das sprichwörtliche jüngste Gericht…

Die grüne Staffel hatte befehlsgemäß eine enge Formation bewahrt. Imp war durchaus stolz auf die Leistungen gerade der Neulinge, und das schloss den Victoria-Piloten ein. Immerhin waren die nur bedingt als erfahren zu bezeichnen, doch in den letzten Wochen hatten sich die Frischlinge ziemlich gut gemacht. Natürlich blieb abzuwarten, ob sie sich auch in einem richtigen Kampfeinsatz so gut halten würden. Das Potential hatten sie in jedem Fall. Mit einem stillen Seufzer erinnerte sie sich jedoch einmal mehr daran, dass Potential leider vielfach nicht ausreichte…
Doch während sie noch diesen Gedanken nachhing und dabei die Entfernungsangaben im Auge behielt, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Da war doch…
„Grün Zwölf, Meldung – Ihre Flugbahn wird instabil!“
Die Stimme von Grün Zwölf – bezeichnenderweise handelte es sich dabei um Timor Wenner alias Bad Luck – klang nervös: „Sir ähm Ma’am, ich erhalte hier komische Schubdaten, ich…“ weiter kam er nicht, als sich die Dinge schon überschlugen. Bad Lucks Jäger fing an zu bocken, was seinen Vorgesetzten Ajay “Guardsman” Devgan zu einem gewagten Ausweichmanöver nötigte. Bad Luck handelte folgerichtig und beschleunigte abrupt, um sich vom Pulk abzusetzen, damit er nicht einen Kameraden rammte. Die Flugordnung der grünen Staffel löste sich schlagartig auf, als die anderen Piloten dem potentiellen Irrläufer auswichen. Mit einem Ohr bekam Imp mit, wie Lone Wolf aufgebracht eine Erklärung verlangte, aber im Moment hatte sie andere Sorgen. Sie erinnerte sich nur zu gut an den fatalen Unfall während der Schlacht von Tukama, bei dem Monty und Renegade umgekommen waren. Und auch Huntress war wahrscheinlich von ihrem wracken Jäger zum Tode verurteilt worden. Doch ein gründlicher Blick belehrte sie, dass es hier offenbar nicht so schlimm stand. Nichts deutete darauf hin, dass der Jäger von Bad Luck Feuer gefangen hatte. Also blieb ihr nur, einen Funkspruch abzusetzen, man solle die Maschine einsammeln. Der Übungsordnung gemäß musste sie die Erfüllung des Kampfauftrages über Notmaßnahmen stellen, außer es bestand direkte Lebensgefahr für den Havaristen. Also bemühte sie sich, möglichst schnell wieder Ordnung in ihre Truppe zu bringen. Für Bad Luck, der seinen Jäger abrupt abbremste, sobald er einen gewissen Sicherheitsabstand erreicht hatte, könnte sie momentan nicht viel tun.

*******

Kreuzer Tatanka Yotanka

Die Feuerbefehle überschlugen sich förmlich: „Achtung – Potomac“, das war der Name des Ulysses-Zerstörers, „meldet feindliche Jäger im Anflug, unter ECM-Schutz, haben Formation jedoch aufgelöst! Genaue Zahl noch unklar. Maxim Gorki gibt Planquadrate für Sperrfeuer mit leichten Raketen vor. Entfernung im Moment noch 40.000, näher kommend!“
Lieutenant Commander Pawlitschenko bemühte sich, den Überblick zu behalten und die verschiedenen Befehle umzusetzen. Auch wenn es nur eine Übung war, er spürte das Adrenalin durch die Adern strömen. Mit einer Mischung aus Faszination und Stolz beobachtete er, wie Akarii, T’rr und Menschen Hand in Hand arbeiteten, ihre Finger fast synchron über die Armaturen wanderten: „Harpoon-Werfer unablässig weiterfeuern auf Dauntless Alpha – Energiegeschütze unterstützen!“ Mit einem Ohr bekam er mit, wie vernichtende Wirktreffer auf dem feindlichen Flakkreuzer gemeldet wurden. Einmal mehr zeigte sich, wie ungenügend die Dauntless-Klasse für einen Kampf mit Rohrartillerie gerüstet war, selbst die modernisierten Einheiten mit ihrer verstärkten Panzerung. Zugleich gab er Zielangaben für die zwei 20-rohrigen Sparrow-Werfer des Kreuzers. Koordiniert von der Potomac ignorierten die konföderierten Schiffe für einen Moment die gegnerischen Atomraketen, deren Abwehr den Impulslasern überlassen wurde. Weit über 100 Anti-Jägerraketen – oder eher ihre simulierten Gegenstücke – flogen als geballter Pulk den angreifenden Jägern entgegen. Und dann noch einmal so viele. „Feuerwechsel – Raketenwerfer wieder für Nahbereichsabwehr einsetzen. Rohrartillerie – folgende Geschütze zur Jägerabwehr detachieren…“

Die Angry Angels konnten dem Sperrfeuer nur zum Teil ausweichen. Vor allem die Crusaders der Victoria-Station mussten schwere Verluste hinnehmen. Weniger als die Hälfte kam schließlich zum Schuss, der Rest war „zerstört“ oder wurde als schwer beschädigt markiert, musste vorzeitig feuern oder abdrehen. Das reichte allerdings aus, um den Kirow-Kreuzer mit Hilfe der TSN-Kreuzer zu vernichten. Die verbleibenden Phantome und Falcons konnten jedoch nur wenig am Gesamtergebnis ändern. Die schweren Einheiten verbissen sich im Nahkampf, und hier setzte sich die Artillerie der Konföderierten schließlich durch. Razor, der die Jagdbomberstaffel befehligte, gab schließlich den Befehl zum Rückzug – unmittelbar nachdem Cunningham von einem Tachyonengeschützturm „abgeschossen“ worden war. Die Angry Angels und die Piloten der Victoria-Station, die noch übrig waren, lösten sich vom Gegner. Es war kein glorreicher Sieg für eine von beiden Seiten, sondern eine wütenden und verbissene Kaschemmenprügelei. Captain Sturlasdottirs viel versprechender Plan war jedoch gescheitert, wenngleich zum Gutteil einfach auch – in doppelter Hinsicht – an „Bad Luck“. Der Pilot dieses Namens sah wohl dem zu erwartenden Anpfiff seitens seiner Vorgesetzten angstvoll entgegen – doch ausschlaggebend würde sein, ob er oder sein Jäger für den Zwischenfall verantwortlich waren. Am Ende der Übung waren die drei TSN-Kreuzer ausgeschaltet, die meisten der Jäger ebenso. Unter den „Gefallenen“ waren auch Lone Wolf und Imp. Die Konföderierten hatten neben der Maxim Gorki noch zwei Fregatten und den Zerstörer verloren. Alles in allem war es ein knapper Punktsieg für die Konföderierten.

Der Punktrichter des ganzen Unternehmens ließ sich jedenfalls wieder einmal keine Emotionen anmerken, als er das Ergebnis zur Kenntnis nahm. Die Relentless hatte das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtet, während die Sensordaten aller Schiffe bei ihr zusammenliefen. Rear-Admiral Chris Mithel schien die „Vernichtung“ seiner Kreuzer nicht ernsthaft übel zu nehmen. Dafür waren Übungen ja da – sie sollten hart und fordernd sein. Das Manöver hatte in einem erbitterten Nahkampf geendet, und wer wusste besser als er, dass solche Schlägereien einen Großteil der Gefechte mit den Imperialen ausmachten? Der Commodore kündigte an, dass er die Ergebnisse noch mit den einzelnen Kapitänen durchsprechen würde. Selbst Mithel kanzelte üblicherweise Kapitäne nicht öffentlich ab, wenn es sich vermeiden ließ. Nicht, dass das zu erwarten war. Er fand auch für die konföderierten Schiffe lobende Worte. Der Admiral meinte, wenn sie im Ernstfall mit demselben Eifer angreifen würde, habe er nicht den geringsten Zweifel, dass sie ihrer Sache Ehre machen würden. Commodore Ikeda gratulierte seiner Gegnerin, die wie er die Schlacht nicht „überlebt“ hatte, zu ihrem innovativen Plan, was diese erwiderte.

Der Bordlautsprecher der Tatanka Yotanka erwachte zum Leben: „Achtung, Durchsage vom Commodore. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen mitteilen, dass ich mit den Leistungen der Stationen zufrieden bin. Einzelbewertungen nehmen die unmittelbaren Vorgesetzten vor. Ich weiß, dass Sie alle dem Tag entgegenfiebern, an dem diese Schiffe in den Einsatz gehen werden. Angesichts der Fortschritte, die Sie bei der Zusammenarbeit gemacht haben, kann ich Ihnen versichern, dass dieser Tag nicht mehr fern ist. Durch Ihre Leistungen haben Sie bewiesen, dass Mannschaften zweier Flotten, zahlreicher Schiffe und vierer Rassen harmonisch zusammenwirken können. Dies wird nicht unbemerkt bleiben. Weitermachen.“
Walja fiel in das Gejohle ein, das nicht nur die ehemaligen Konföderierten anstimmten. In solchen Momenten vergaß man, was sie alle voneinander trennte, und womit so mancher schwer zu ringen hatte. Oder zumindest stellte man es kurzzeitig in den Hintergrund.
Allerdings nicht ganz: „Also, Jungs und Mädels, zur Feier des Tages gebe ich heute Abend in der Kantine einen aus!“ verkündete Lieutenant Commander Pawlitschenko. Nun war er das Ziel des Jubels. Er unterdrückte die Stimme seines Gewissens, die ihn plagte. Sich mit Leuten anzufreunden, vor allem um sie auszuhorchen, das war irgendwie schäbig…aber es war nun einmal seine Mission. Doch vorerst schob er diese Gedanken von sich.

*********************

* Tatanka Yotanka, bekannter unter dem Name Sitting Bull, war einer der letzten großen Häuptlinge der amerikanischen Ureinwohner. Besonders berühmt wurde er für seine Rolle bei der Vernichtung der 7. US-Kavallerie und für seine legendären Worte: „Der Große Geist hat mich zu einem Indianer gemacht, nicht zu einem Agenturindianer!“ Er musste schließlich kapitulieren und mit seinem Volk in die Internierung gehen. Schließlich wurde er von Kollaborateuren im Dienste der Amerikaner bei einer missglückten Verhaftung ermordet.
** NOHM – Slangausdruck für NO HuMan, Pl. NOHMS, steht für Nichtmenschen, wird mitunter verwendet um nicht den Begriff Alien zu verwenden.
Cattaneo
Cunningham

Victoria Station
Büro des CAG 127. Fighter Wing Angry Angels

„Herein.“, forderte Raven schon fast automatisch auf, als die Türglocke ihres Büros erklang. Zu viele Leute gingen in ihrem Büro ein und aus.
„Ich habe da jemanden.“, verkündete Lone Wolf Cunningham, als er sich ungefragt in einen der beiden Besucherstühle setzte.
Fragend hob die Geschwaderführerin eine Augenbraue.
„Lieutenant Commander Van Dahlmeyer, ist Fluglehrer auf der Akademie, könnte aber sofort die blaue Staffel übernehmen.“
Raven schnaufte: „Vergessen Sie’s, unsere beiden Schäfchen sind wieder aufgetaucht. Sitzen in Quarantäne. Sind an Bord eines alten Seelenverkäufers namens Emerald Jade ins System geschlichen, wurden aber aufgegriffen.
Viel konnte ich nicht herausfinden, selbst Ihr Schwiegervater wusste nicht, was genau da abläuft.“
„Was zur Hölle haben Sie mit meinem Schwiegervater zu schaffen?“
„Einer meiner Piloten hat ihm in den Pool gereihert,“, bei diesen Worten musste die Bomberpilotin schmunzeln, „wie dem auch sei, ich will, dass Sie sich der Sache annehmen und mir meine Staffelführer zurückholen.“
„Seit wann bin ich hier zum Botenjungen degradiert worden?“
„Sie haben den nötigen Rang um dort auf den Tisch zu hauen und dreist genug sollten Sie ja nun auch sein, also zischen Sie ab.“
Lucas Cunningham funkelte seine ehemalige Untergebene und jetzige Vorgesetzte wütend an und erhob sich: „Sie sollten mich lieber nicht demütigen.“
Ravens Kopf fuhr hoch: „Setzen! Sofort!“
Während sie nun dran war ihn wütend anzustarren, musste sie zweimal tief durchatmen, um nicht laut zu werden: „Wenn ich Sie daran erinnern darf, Commander, sind Sie zu mir gekommen und haben um einen Job gebeten.
Und wenn Sie glauben, ich hätte nicht bemerkt, wie sie ihren Posten als Operationsoffizier dieses Geschwader schamlos ausnutzen, dann sind sie nicht halb so intelligent, wie ich bereit bin Ihnen zuzugestehen.
Aber wenn ich Sie tatsächlich hätte demütigen wollen, dann wüsste heute das ganze Geschwader, was für ein einfältiger und großspuriger Hanswurst sie in den ersten Kriegswochen gewesen sind.
Maul halten, Commander“, unterbrach sie seinen aufkommenden Protest, „ich habe Ihre Akte gelesen und mal abgesehen von einigen Eskorteinsätzen war Manticore ihre erste Kampferfahrung. Und Junioroffiziere, die Ihnen auf der Redemption untergeordnet waren hatten mehr Kampfeinsätze hinter sich als sie. Radio, Chopper und ich, wir hatten unseren Einjahrestörn über Pandora. Ich selbst habe den blutigen März miterlebt, wir wussten was Krieg bedeutet, während Sie den Veteran gaben und CAG spielten, ohne von Tuten und Blasen Ahnung zu haben.
Ich nutze die wenigen Ressourcen, die diesem Geschwader geblieben sind, so gut ich kann. Ich nutze sie so gut ich kann, obwohl Ihre Anwesenheit in diesem Geschwader für mich eine erste Bedrohung ist. Also, wenn ich meine Arschbacken zusammenkneifen kann und Sie zum Wohle des Ganzen ertragen kann, dann sollten sie die ihren auch zusammenkneifen können und ihre verdammte Pflicht erfüllen.“
Lucas funkelte sie hasserfüllt an: „Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, CAG!“
„Doch, das ist es! Sollte das nicht so sein, brauchen Sie sich nicht daran machen Ace und Lilja abzuholen, dann können Sie ihre Tasche packen und Dahlmeyer sagen, dass er hier eine Staffel bekommt. Die rote nämlich.
Sie sind hier freiwillig und genauso freiwillig können sie wieder gehen. Ihre Entscheidung!“
Lucas erhob sich, er wirkte auf seine CAG recht nachdenklich und ging zur Tür. Dort hielt er einen Moment inne, als würde er mit sich selbst ringen: „Ich gehe, Ace und Lilja organisieren, Ma’am.“
„Sieg?“ fragte Raven in den Raum, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, „Vielleicht, vielleicht nicht.“
Sie rief bei ihrer Stellvertreterin an: „Irons, ich habe da einen Job für Dich.“



Victoria Station
Genaue Position unbekannt

Jerome Gibbons lächelte. Innerlich, denn äußerlich ließ er sich ganz bestimmt nicht ansehen, wie sehr es ihn amüsierte, dass Jean Falkner seine beiden Azubis gerade verbal auszählte.
Thomas Zaspel und Marko Caprese waren mit dem guten alten Spiel guter Cop, böser Cop in das Verhörzimmer gegangen. Thomas, den guten Cop, ignorierte sie komplett und sprach nur mit Marko. Doch statt auf seine Fragen zu antworten, erzählte sie dem bösen Cop, was der gute Cop alles falsch machte.
Dabei behielt sie ihre ruhige, fast schon liebenswürdig, hilfsbereite Stimme bei und reagierte so wenig wie möglich auf Capreses Schauspiel.
Dieser tobte wie ein wildgewordener Stier durch das Verhörzimmer, brüllte sie an, schmiss seinen Stuhl durch den kleinen Raum, drohte ihr schlimmste Strafen an.
Für relativ junge Ermittler machten die beiden Agenten Verhöre recht gut, nur Falkner schienen sie nicht zu knacken. Aber das war von Anfang an zu erwarten gewesen.
Caprese war schon vor dem Krieg Ermittler gewesen, Polizist auf dem Mars und noch während seiner Grundausbildung hatte der NCID den jungen Mann aufgrund seiner Talente rekrutiert. Für Tom Zaspel war dies die einzige Möglichkeit seinem Vaterland zu dienen, da er für so ziemlich jeden Militärdienst ungeeignet war. Hochintelligent, aber körperlich die interessantesten Gebrechen. Der NCID, dem es von jeher an Personal mangelte und dessen Aufgaben mit dem Krieg gewachsen waren, hatte den Jungen deshalb fast mit Kusshand genommen, obwohl er nicht mal hierfür die körperlichen Mindestanforderungen erfüllte.
Aber für den erfahrenen Ermittler war es in der Tat interessant zu sehen, wie weit man Caprese reizen konnte, ehe dieser … zu weit ging. Auch war es für ihn eine ernste Frage, ob er zulassen sollte, dass dieser Falkner schlug.
Da diese mit Handschellen an den Tisch festgebunden war, konnte sie schlecht aufstehen und die jungen Italo-Marsianer in der Mitte durchbrechen. Aber welche Konsequenzen mochte das nach sich ziehen...
„Glauben Sie, dass das noch zu etwas führt?“, grummelte Northman, der neben Gibbons saß und Tee schlürfte.
„Die beiden erreichen dort nichts.“, entgegnete Gibbons, „Aber auch Falkner wird irgendwann müde und dann können wir sie knacken.“
„Und wie haben Sie das vor, Gibbons?“
„Denken Sie sich was aus, Herr Anwalt.“
Northman schnaufte abfällig.

„Entschuldigen Sie bitte“, ein Commander des NIC war zu ihnen hinzugetreten, „unser HQ hat uns angewiesen zusammenzupacken und unser…Projekt an die gleich eintreffenden Leute des TIS zu übergeben.“
„WAS?!“
„Nun, Mr. Gibbons, wir waren uns doch alle sicher, dass dies früher oder später passieren wird. TIS und NIC einigen sich und alle Arbeit war vergebens. Aber ich denke, wenn die Herren vom TIS hier eintreffen, dann wird es noch etwa zwanzig bis dreißig Minuten dauern, bis wir alles zusammengepackt haben. Und alles ordnungsgemäß zu übergeben wird auch noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.“
Der NCID-Ermittler nickte, während der Anwalt die Nachricht noch verdaute.
„Vielen Dank, Commander, ich sehe was ich tun kann, und nur keine Eile.“
„Natürlich nicht, Mr. Gibbons, es ist ja keine Gefahr im Verzuge.“
Gibbons aktivierte sein Funkkontakt zu Zaspel und Caprese: „Macht den Abgang und seht zu, dass, wenn gleich die Schlapphüte auftauchen, ihr ihnen so lange wie möglich auf den Füßen rumsteht.“
„In Ordnung, Boss, wenn Du jetzt mit der Gefangenen sprechen willst, gehört sie ganz Dir.“

Im Verhörraum hob Marko Caprese den Stuhl, den er vor fast einer Stunde umgeworfen hatte, wieder auf und knallte ihn auf seinen Platz, Falkner am Tisch gegenüber.
Er lächelte die blonde Agentin an, als ob er gewonnen hatte. Innerlich wäre er fast geplatzt: „Tja, Bella, da scheint doch unser Boss was gefunden zu haben, womit er Dich festnageln kann. Wo doch reden so befreiend sein kann. Es ist wie beichten, es befreit von Schuld, naja nicht direkt von Schuld, sondern eher von Verantwortung, aber manche Leute sehen die Zeichen der Zeit nun mal nicht kommen.“
Falkner antwortete mit einem unechten aber freundlichen Lächeln.
„Komm, Marko, hier haben wir beide unsere Zeit verschwendet.“
Caprese folgte seinem jüngeren Kollegen, warf im Türrahmen jedoch noch einen wütenden Blick zurück zu Falkner.
Diese warf ihm mit der nicht festgeketteten Hand eine Kusshand zu.
Wütend schmiss er die Tür hinter sich zu.
Am liebsten wäre sie auf dem Stuhl erschöpft zusammengesunken, doch wusste sie, dass sie immer noch Kameraüberwacht wurde.

Die Tür wurde wieder aufgezogen: „Hallo Jean.“
Ihre Augen verengten sich und sie musterte den Neuankömmling fast misstrauisch: „Gibbons? Sie sind alt geworden.“
Der NCID-Ermittler zuckte mit den Schultern und setzte sich ihr gegenüber. Eine Daten-CD landete auf dem Tisch. Beide schwiegen einen Augenblick.
Dann brauch Jean ungewollt das Schweigen: „Du glaubst doch nicht, dass der alte Trick bei mir funktioniert und ich anfange zu reden.“
Gibbons blickte überrascht auf: „Was? Nein, nein, ich warte auf Eric Northman, den ermittelnden Anwalt. Wegen der Anklage,“, er lächelte, „aber es hat doch geklappt, Du hast angefangen zu reden.“
Sie schnaufte: „Anklage, ja klar.“
„Nein, nein, ganz unspektakulär, wie mit Al Capone, diesem Mafiapaten aus Chicago.“
„Ich weiß, wer Capone war.“
Gibbons zuckte wieder die Schultern: „Einbruch ins Funknetz des NIC, Veruntreuung von Regierungsgeldern, Veruntreuung von Konterbande, Beihilfe zur Flucht, unrechtmäßige Verwendung von Militärmaterial. Nur wegen der Offiziere ist man sich nicht ganz sicher, was man da macht. Ist das einfacher Betrug oder Kidnapping?
Northman,“, Gibbons deutete auf die Tür, „hat gescherzt, wenn sie euch wegen Kidnapping drankriegen, dann sind da sieben Jahre pro Opfer drin, bei dreißig Opfern, da kommen zweihundertzehn Jahre Knast auf euch zu. Gut, für Tremane weniger, aber was macht das schon.“
„Wieso sollte Tremane…“, sofort verstummte Falkner wieder. ,Was zur Hölle spielst du für ein Spiel mit mir Gibbons, du solltest doch wissen, dass du mich nicht so einfach Bluffen kannst. Gerade du solltest doch ganz genau wissen, wen du hier vor dir hast.
Du weißt doch, dass ich mehr Verhörmethoden kenne als du und dass ich viel tiefer im Biz drinstecke als du. Spielst du etwa mit offenen Karten, vielleicht zum ersten Mal in deinem ach so beschissenen Leben?' Auf einmal erinnerte sie sich an den Autounfall, den sie als Teenager gehabt hatte. Sie hatte Sekunden bevor es krachte gemerkt, dass sie Mist gebaut hatte und dass sich nichts mehr daran ändern ließ.
Jetzt saß ihr Jerome Gibbons gegenüber, ein Geist aus ihrer eigenen Vergangenheit und allein dadurch, was sie wusste, dass er über sie wusste, war ihr klar, dass er gefährlich war. Von all den NCID-Ermittlern, von den Anwälten und NIC-Offizieren, die sie verhört hatten, konnte er als einziger wirklich gefährlich werden. Ihre berufsmäßige Paranoia würde dafür sorgen, dass sie sich im Kreis drehte, sich in den Lügen verhedderte, und dann würden die Widersprüche kommen.
„Wissen Sie, Jean, Northman bat mich, auf sie einzuwirken, sie zu überreden. Aber ich glaube ich habe viel mehr Spaß daran Tremane zu verhören und ihn zu brechen, bis er auspackt, bis er darum bettelt seine eigene Seele an uns verkaufen zu dürfen, nur um nicht in den Knast zu müssen. Northman hält Tremane für einen Fanatiker, der für die Sache in den Knast gehen würde.
Ich habe versucht ihm zu erklären, dass dich die zivilisierten Gefängnisse nicht ängstigen, aber er vertraut da auf seine Erfahrung.“
Ja, das konnte Gibbons sicherlich. Obwohl dieser sich wundern würde, wie lange Andrew Tremane dicht halten würde, doch letztlich würde Gibbons ihn auswringen wie ein nasses Handtuch. Wobei sie nicht glaubte, dass Andrew sie ans Messer liefern würde, um selber Straferlass zu bekommen. Das würde aber keinen Unterschied machen, wenn Andrew zusammenbrach würde sie in den Knast gehen und nichts auf der Welt konnte sie davor beschützen.
Und auch wenn die Militärgefängnisse der FRT verglichen mit so manchem Loch da draußen die reinsten Luxusherbergen waren, reizte es sie nicht, die nächsten zehn oder mehr Jahre in solch einer Institution verbringen zu müssen.
Langsam befeuchtete sie sich die Lippen…

Die Tür wurde aufgerissen und Gibbons fuhr herum. Herein trat ein gebrechlich wirkender Mann im grauen Anzug: „Ach, Special-Agent Gibbons, das hätte ich mir denken können. Das Verhör ist beendet. Sie werden Mrs. Falkner sofort meiner Obhut unterstellen.“
Die Stimme von Francis Larriand war ganz im Gegensatz zu seiner Körperhaltung fest und selbstbewusst, fast gebieterisch.
Im Rang eines Assistant-Director leitete er die Niederlassung des TIS auf Sterntor. Und im Gegensatz zu vielen seiner Amtskollegen kam er eigentlich hervorragend mit den höheren Offizieren des NIC aus.
„Mr. Larriand, Entschuldigung Assistant-Director Larriand,“, verbesserte sich Gibbons, „aber Lieutenant Commander Falkner ist Angehörige der Navy und fällt somit in meine Zuständigkeit.“
„Welchen Befehl diese Aktion abzubrechen möchten Sie zuerst sehen,“, fragte Larriand süffisant, „den von Vice Admiral Delevoye oder von Rear Admiral Dimitirs?“
Ganz im Gegensatz zu seinem sonnigen Auftreten war Larriand sauer. Sehr sauer, es hatte ihn Tage gebraucht seinen beiden Bekannten diese beiden Befehle abzuschwatzen und die Gefälligkeiten, mit denen er sie abbezahlen musste, verursachten ihm Magenkrämpfe.
„Nicht nötig.“, Gibbons wandte sich um und löste Falkners Handschellen und flüsterte ihr zu: „Ich hatte Sie.“
„Nur einen kurzen Augenblick.“, hauchte sie erleichtert zurück. Gerettet vom Gong.
„Das reicht, ich hatte Sie.“
Sie stand auf und verließ das Verhörzimmer: „Mr. Director.“
Dort erschien auch schon Tremane, an den sich Larriand auch wandte: „Rufen Sie bitte alle ihre Leute zusammen, es gibt auf diesem Deck einen Besprechungsraum.“

Als dort alle versammelt waren, übernahm Larriand den Vorsitz über die Versammlung. Alle Angehörigen der kleinen Truppe wirkten mehr als gestresst. Die Marines und die Besatzung der Emerald Jade wirklich sauer.
Die anderen TSN-Offiziere schwebten irgendwo zwischen wütend und enttäuscht.
„Guten Abend, meine Damen und Herren, ich bin Mr. Tremanes momentaner Vorgesetzter und ich muss mich entschuldigen, dass es so lange gedauert hat, Sie alle aus der Quarantäne herauszuholen. Fangen wir mit Ihnen an, Captain Victor. Für all die Unannehmlichkeiten sind Sie sicherlich nicht ausreichend entschädigt worden. Wenn Sie die Papiere unterzeichnen, die mein Assistent gleich austeilt, wird Ihnen und ihrer Crew eine Aufwandsentschädigung von 20.000 Real pro Person ausgezahlt.“
„In bar?“, fragte das Gespenst.
„Wenn es nötig ist auch in kleinen unmarkierten Scheinen.“, antwortete Larriand jovial, „Sie würden sich damit allerdings zum Stillschweigen verpflichten. Außerdem verlangt die zivile Regierung von Sterntor, dass Sie innerhalb der nächsten sechsundneunzig Stunden auf dem Weg sind das System zu verlassen. Sie sollten die nächsten Jahre erstmal nicht wieder hier auftauchen.“
Victor beratschlagte kurz mit ihrer Crew und dann unterzeichneten sie alle die zwischenzeitlich ausgeteilten Dokumente und wurden schließlich entlassen.
„Was Sie anderen angeht, Lieutenant McKenna, so habe ich für ihren Kommandeur einen Empfehlungsbrief, der voll des Lobes über sie und ihre Leute ist angefertigt. Ihre Karrieren sollten dementsprechend keinen Schaden aus dieser kleinen Exkursion nehmen. Als Marines weiß ich, dass ich auf Ihre Diskretion verlassen kann, vielen Dank.“
„Sir!“ McKenna salutierte vor Larriand, und die Marines zogen dann ebenfalls ab.
Larraind seufzte zufrieden: „Zu Ihnen, meine Damen und Herren: Dr. Ericsen, Dr. Georges, auch Ihnen beiden und ihren Assistenten habe ich Empfehlungsschreiben ausstellen lassen. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie sich und ihre Expertise für uns zur Verfügung halten könnten.“
Diesmal erhob er sich, gab den beiden Lieutenant Commanders die Hand und verabschiedete auch die Unteroffiziere persönlich, so dass nur Lieutenant Commander Fuchida, die beiden Piloten der Angry Angels und seine beiden Agenten im Raum zurückblieben.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wandte er sich zu aller Überraschung an Tremane und Falkner: „Wenn Sie beide vielleicht schon zum Shuttle gehen würden, bevor es sich ein Cowboy wie Mr. Gibbons anders überlegt und sie wieder festnimmt.“
Etwas konsterniert verließen die beiden den Raum und Larriand trat zu Fuchida: „Commander, für Sie war kein Empfehlungsschreiben nötig, ich habe Admiral Mithel persönlich in einem kurzen Gespräch für Ihren unermüdlichen Einsatz für das Vaterland gedankt und meine Bewunderung ausgedrückt, welche soldatischen Tugenden er an seine leitenden Offiziere vermittelt. Sie werden auch schon sehnsüchtig erwartet, er scheint keinen adäquaten Ersatz für sie gefunden zu haben.“
„Sir,“, der Sensoroffizier der Relentless federte hoch, „vielen Dank, Sir.“
„Madame,“, wandte sich Larriand an Lilja, „als ich letztens mit jemand aus dem Senatsausschuss für Ordensangelegenheiten sprach, erwähnte er Ihren Namen und ich äußerte mich sehr überrascht, dass jemand mit ihren Verdiensten sich noch während des Urlaubs aufmacht, um seinem Vaterland so aufopfernd zu dienen. Da Sie aber nun schon die PVM erwarten, wusste ich nicht, wie ich mich bei Ihnen erkenntlich zeigen kann. Es tut mir leid.“
Die Russin lief leicht rot an und versuchte mehrmals was zu sagen, bis Larriand sie aus ihrem Elend erlöste: „Aber wenn Sie Lieutenant Davis und mich bitte entschuldigen würden, ich kenne seinen Vater aus alten Tagen.“
„Natürlich. Sir!“, stammelte die Russin immer noch peinlich berührt.
Dass Ace überrascht hochblickte, übersah sie dabei.
„Jetzt ist die Zeit, in der alle aufrechten Männer ihren Brüdern zu Hilfe kommen,“, sagte Larriand als die Russin den Raum verlassen hatte, „nein, ich kenne nicht Ihren biologischen Vater, Lieutenant, sondern nur Ihren Vater in dieser Organisation. Charles Bayonne schien einigermaßen beeindruckt von Ihnen.“
„Was soll ich jetzt für Sie tun?“ der Tonfall des Piloten war fast tonlos, wäre da nicht dieser Funken Trotz gewesen.
„Ich werde irgendwann Tremanes Bericht auf den Schreibtisch haben. Ich möchte, dass Sie diesen nochmal gegenlesen und eventuell ergänzen, soweit sie können. Ich möchte von Ihnen einen vollen Bericht über diese Mission. Einen vollständigen, unbeschönigten Bericht mit den reinen Fakten. Keine Spekulationen oder ähnliches.“
„Das ist alles? Dafür hat Bayonne mich rekrutiert?“
„Natürlich nicht, junger Mann, aber diese Möglichkeit hat sich mir nunmal ergeben. Und nun verschwinden Sie, ein Commander Cunningham wartet schon draußen, Ihre Staffel braucht immer noch einen Lieutenant Commander, das sollten besser Sie sein, oder?“
„Ja, Sir, danke.“


Shuttle
November-Yanky-4-2-5-8

Im luxuriös eingerichteten Passagirabteil saß Francis Larriand zurückgelehnt in einem weichen Sessel und blickte nach draußen.
Ihm gegenüber saßen Andrew Tremane und Jean Falkner. Er konnte beiden ansehen, dass sie am liebsten unter vier Augen gesprochen hätten. Ihr eigentliches Gespräch war verstummt, als er sich zu ihnen gesetzt hatte.
Hin und wieder flüsterten die beiden miteinander.
Plötzlich fuhr er in seinem Sessel hoch: „Ach verdammt, jetzt haben Sie verpasst, wie es die Emerald Jade in ihre Einzelteile zerrissen hat. Naja vielleicht können sie noch einige Trümmerstücke erkennen.“
Die beiden Agenten stürzten zum Fenster und suchten den Weltraum ab. Das Panorama zeigte Victoria Station vor der herrlichen Kugel von Seafort.
„Entschuldigen Sie, nur ein kleiner Scherz. Ihre so genannte Mission war nicht wichtig genug um auf so plumpe Weise Zeugen zu beseitigen. Aber jetzt wo ich Ihre volle Aufmerksamkeit habe: Hat einer von Ihnen beiden eigentlich eine Ahnung, was es mich persönlich gekostet hat um sie so schnell da raus zu holen?“
„Nun Sir, so wie sie dort aufgetreten sind, war es etwas mehr Aufwand und anscheinend dringender als der normale Dienstweg erfordert.“, bemerkte Jean Falkner.
„Sagen wir mal so, ein alter Freund von mir bat, dass ich mich persönlich für Sie verwende. Was mir schon einiges über die Natur Ihrer…ähm Unternehmung verrät. Was mir natürlich nicht gefällt ist, dass ohne mein Wissen in MEINEM Hinterhof gearbeitet wird. Was mir noch viel weniger gefällt ist, dass ich zwei – wenn auch mir freundlich gesonnene – Admiräle um persönliche Gefälligkeiten bitten muss. Gefälligkeiten, die mich in naher Zukunft noch einiges kosten werden.
Daher werden Sie beide auf dem nächsten Passagierliner gen Terra sitzen, bevor irgendwer mit einem überempfindlichen Ego auf die Idee kommt, die Sache an die zivilen Behörden von Sterntor durchsickern zu lassen. Dort ist mein Einfluss nämlich deutlich geringer. Die Regierung von Sterntor ist wie Sie beide wissen sollten keine Kolonialregierung mehr, sie ist deutlich selbstbewusster und auf die Wahrung ihrer eigenen Autorität sehr bedacht.
Gott bewahre Sie beide davor, wenn die Seuchenschutzbehörde Wind davon bekommt, dass sie außerirdische Artefakte unbekannter Herkunft nach Sterntor schmuggeln wollten. Noch dazu, wo Sterntors Vertreter den Vorsitz des Kontrollausschuss der Geheimdienste innehat.“
„Die würden…“ doch Falkner kam nicht weiter, Tremane unterbrach sie barsch.
„Was ist mit den Artefakten? Und meinen Unterlagen?“
„Mr. Tremane,“, antwortete Larriand ruhig, „wir haben die Originale Ihrer Unterlagen erhalten. Es geht jedoch aus den Protokollen hervor, dass sich drei verschiedene Dienste Kopien gezogen haben. Die Artefakte, mein lieber Junge, Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das Militär außerirdisches Material von ungewissen strategischen Wert einfach so wieder rausrückt.
Wenn wir Glück haben, erhalten wir innerhalb der nächsten drei Jahre die Hälfte der Artefakte zurück. Oder sollte ich sagen, die Hälfte vom Rest.“
„Aber ohne die Artefakte…“
Larraind seufzte: „Das Militär wird auf das NSC angewiesen sein, also werden wir letztlich Zugriff auf alle Ergebnisse haben. Und seien Sie versichert es mag zwar ungewiss sein, wer nächstes Jahr nach der Wahl unser Präsident sein wird, aber Charles Vance wird Direktor des TIS sein, und solange wird auch die Kontrolle über das NSC weiter bestehen, egal wie sehr die Admiralität schreit.
Also sollten Sie für Ihr Ego dafür sorgen, dass sie diese Unternehmung als Erfolg ansehen, so wie sie geendet ist, und ehe ich es vergesse, vielleicht brauche ich eines Tages eine Gefälligkeit von Ihnen. In Ihrem Interesse sollten sie sich dann ihrer Schuld mir gegenüber bewusst sein.“


Victoria Station
In der Nähe der Geschwaderbereitstellungsräume der Angry Angels

Trisha McGill schüttelte amüsiert den Kopf. Lone Wolf Cunningham musste mit dem Shuttle einmal um die halbe Station fliegen, um dort an einem Sicherheitsbereich anzudocken, den er zu Fuß nicht betreten durfte. Natürlich durfte er auch das Shuttle dort nicht verlassen und jetzt musste er den Weg zurück fliegen, um die verlorenen Schäfchen wiederzubringen.
Während die MagLev der Station wohl nur zehn Minuten hin und zurück gebraucht hätte, war so ein Trip von gut einer Stunde daraus geworden.
Nun würde der Commander gleich an der Schleuse S-64-A andocken.
Prompt erreichte Fußgetrappel ihre feinen Ohren. Sie blickte in den Seitengang, in dem sie die Ankömmlinge vermutete und siehe da, Chip und Imp kamen, beide keuchten und hatten ein Comppad in den Händen, um ihre Staffelführer vor dem Zusammentreffen mit dem CAG auf Vordermann zu bringen.
Ein boshaftes Lächeln schlich sich auf die Züge der älteren Pilotin, als sie in den Gang trat: „ACHTUNG STILLGESTANDEN!“
Chips Pad klapperte zu Boden und die beiden Falconpiloten nahmen unwillkürlich Haltung an.
„LINKS UM! IM GLEICHSCHRITT MARSCH!“
Imps Augen weiteten sich, aber beide Piloten führten eine neunzig Grad Wende aus und marschierten los, soweit sie kamen. Für Imp zwei Schritte, für Chip fast vier. Dann standen sie beide direkt vor der Korridorwand in Habt-Acht-Stellung.
Irons nickte zufrieden, wandte sich ab und ging fröhlich pfeifend zur Luftschleuse, die sich just in diesem Moment öffnete.
Ihr entgegen kamen Ace und Lilja. Beide haftete der typische Geruch an, den Menschen annahmen, wenn sie tagelang die Uniform nicht wechseln konnten und die Körperhygiene ausfiel.
Die Gefangenschaft beim Nachrichtendienst schien wohl nicht ganz den Artikel der zweiten Menschenrechtscharta von 2134 zu entsprechen: „Commander, Lieutenant, Ihre Uniformen sind derangiert, aber egal, die CAG will sie sehen UNVERZÜGLICH, Abmarsch!“
Sie deutete über ihre Schulter den Gang hinunter.
„Ach Lone Wolf, die beiden ganz Schlauen im ersten Korridor rechts, die dürfen sich rühren, wenn Sie ihnen das bitte ausrichten wollen.“
Damit wandte sie sich ab und folgte den beiden heimgekehrten Staffelführern.
Lucas ging in den ersten Korridor rechts und fand dort die noch immer vor der Wand stehenden Imp und Chip vor.
Wunderbar, an irgendwem musste er heute seine schlechte Laune auslassen.
Langsam ging er auf die beiden zu und hob das am Boden liegende CompPad auf: „Rühren.“
Chip nahm das CompPad entgegen.
„Ihr Staffelführer ist zurück, Lieutenant, vielleicht sollten sie versuchen ihm seine Staffel ordnungsgemäß zu übergeben.“ Das unausgesprochene ,wenn Sie es schaffen' hing in der Luft.
„Ja! Sir!“ Chip trabte ab.
Imp blickte dem anderen Lieutenant hinterher und bemerkte dann: „Raven hat sich zu einem echten Miststick entwickelt.“
Ihre Stimme war keineswegs bösartig, sondern eher etwas bewundernd.
Lucas‘ hingegen schon: „Ja, das hat sie.“
Er nickte ihr zu und ging dann in Richtung des Bereitschaftsraumes der roten Staffel davon.
Die zurückgebliebene Imp blickte sich im leeren Gang um: „Und ich würde gerne im CAG-Büro Mäuschen spielen.


Victoria Station
Büro des CAG 127. Fighter Wing

Lilja und Ace nahmen vor ihrem Schreibtisch Haltung an, legten die Hand zum Gruß.
„Lieutenant Commander Pawlitschenko und Lieutenant Davis melden sich wie befohlen.“, meldete Lilja ordnungsgemäß.
Raven erhob sich und erwiderte den Salut: „Rühren.“
Als sie sich wieder hinsetzte, wollten die beiden ihrem Bespiel folgen: „Habe ich Ihnen einen Stuhl angeboten? Ich sagte rühren!“
Bei Ace verengten sich die Augen wütend, während Lilja sofort in eine aggressive Rührt-Euch-Stellung zurückfederte. Der Blick der narbengesichtigen Russin verriet leichte Irritation.
„Mr. Davis, die Einsatzbereitschaft Ihrer Staffel ist unter aller Sau! Sie ist nach der Leistungsbewertung nicht nur letzte in diesem Geschwader, was tolerierbar wäre, weil eine Staffel muss das Schlusslicht bilden, sie liegt auch weit hinter den anderen Staffeln zurück und das ist nicht akzeptabel! Das war es nie und wird es auch niemals sein!
Sie übernehmen schnellstmöglich ihre Staffel und bringen sie auf Fordermann. Dafür haben Sie zwei Wochen, dann suche ich mir einen anderen Staffelführer.
Commander Pawlitschenko: Sobald Sie sich von der Funktionsfähigkeit ihrer Staffel überzeugt haben und diese für gut befunden haben, werden Sie und Lieutenant Richter Mr. Davis unter die Arme greifen.
Sie können sich setzen, beide.
Wie Sie beide sehen, bin ich heute schon auf hundertachtzig, daher wäre es nicht ratsam mir gleich vorzuhalten, ich hätte ihren Einsatz genehmigt. Über diese meine eigene Idiotie, einen NIC-Commander oder was immer dieser Smith jetzt auch gewesen sein mag in meinem Geschwader nach Freiwilligen suchen zu lassen, bin ich durchaus im Bilde.
Ebenso entschuldigt mich auch nicht der Gedanke, dass niemand von den Angry Angels so saublöde sein könnte um seinen ersten Erholungsurlaub seit einem Jahr abzubrechen, um irgendwelchen dubiosen Geheimdienstoffizieren in die Unendlichkeit des Alls zu folgen.
Ich habe es genehmigt und ich trage somit auch die Verantwortung, von daher kann ich Sie moralisch gesehen nicht einmal anschreien, so sehr ich das auch möchte, und bestrafen schon allemal nicht.
Aber ich möchte Ihnen beiden einen Rat mit auf den Weg geben: Ordnen Sie ihre Prioritäten. Denn meine sind mir klar. Sie liegen bei diesem Geschwader und wenn ich für seine Gefechtsbereitschaft zwei gefechtserfahrene Offiziere ersetzen muss, weil dieses Agenten in geheimer Mission spielen, dann ist das so.
Das nächste Mal könnte hier kein Job mehr auf Sie warten.“
Sie blickte beiden in die Augen um sich zu vergewissern, dass beide verstanden hatten. Dann schlug sie einen versönlicheren Ton an: „Hatten Sie wenigstens ihren Spaß?“
Ace schnaubte verächtlich: „Ich für meinen Teil bin kuriert.“
Lilja sah kurz so aus, als ob sie was sagen wollte, schüttelte dann jedoch nur den Kopf.
„In Ordnung, Sie können wegtreten, duschen sie, essen sie etwas Anständiges und ruhen sie sich etwas aus. Und Ace, seien Sie nicht zu hart zu Chip, er ist ein feiner Pilot, es wäre eine Schande ihn zu verlieren, weil er sich noch nicht zum Staffelführer eignet.“
Der blauhaarige Pilot nickte und wollte die Tür öffnen.
„Ah, und noch eines,“, meinte Raven, „eine von Nakakuras neuen Pilotinnen kam mit dem Callsign Huntress zu uns. Das ist so Ace, das ist Krieg in seinen kleinen schmerzhaften Details. Mein Rat: Schütteln Sie ihr höflich die Hand und dann einfach ignorieren.“
Cattaneo
Cattaneo

Neue Ziele

TRS Columbia, Sterntor

Als Ace das Büro von Raven verließ, brummte ihm der Schädel. Zum einen hatten die Haft und die Verhöre etwas an seiner Substanz gezehrt, obwohl die Wachhunde nur wenig geknurrt und gar nicht gebissen hatten. Im Vergleich zu einem Akariiknast war das noch gar nichts gewesen, was freilich den Umstand, von den eigenen Leuten verhört zu werden, nicht gerade angenehmer machte. Außerdem kannte er die Schlapphüte bereits aus einigen persönlichen und nicht so netten Erfahrungen; diese Burschen waren dagegen geradezu zahm gewesen.
Und auf der Columbia hatte es auch nicht die Begrüßung gegeben, mit der er gerechnet hatte. Es war ja nicht die erste kalte Dusche von Vorgesetzten, die er hatte einstecken dürfen, aber die erste als Staffelchef von Seiten der neuen Geschwaderchefin. Und die schien eine würdige Nachfolgerin – oder besser, inzwischen Vorgesetzte – von Lone Wolf zu sein. Er war es auch nicht gewöhnt, die Leistungen seiner Staffel in dieser Weise vorgehalten zu bekommen. Schon gar nicht in der Gegenwart einer anderen Staffelchefin, die dazu mit ihm konkurrieren würde und die ihm selber immer wieder klargemacht hatte, dass sie ihn für einen guten Piloten, aber einen bestenfalls mittelmäßigen Anführer hielt. Und dann kam noch die Sache mit der „neuen“ Huntress hinzu, die sehr unangenehme Erinnerung weckte. Erinnerungen, die er eigentlich überwunden geglaubt hatte. Doch offenbar war es immer noch zu frisch, die Wunden schmerzten noch. Leider war das kein Problem, das man so einfach lösen konnte.
Er hatte jedenfalls vor, schleunigst den Befehlen der Geschwaderchefin zu folgen. Ein Bad und eine Tasse oder besser eine Kanne Kaffee würden alles wohl etwas erträglicher machen. Und dann würde er mit Chip sprechen.
Allerdings schien es ihm nicht vergönnt, sich sofort um seine Pläne kümmern zu können. Kaum dass sie beide das Büro verlassen hatte, schnappte sich Lilja in ihrer gewohnt rigorosen und direkten Art seinen Arm und nötigte ihn damit, stehen zu bleiben: „Einen Moment noch, Ace.“ Sie dirigierte ihn in einen weniger frequentierten Nebengang, ohne eine Erklärung abzugeben.
Der blauhaarige Pilot blickte seine Kameradin überrascht an. Das Gesicht der Russin war wieder einmal unlesbar, aber irgendetwas musste mit ihr nicht stimmen. Denn statt sofort zur Sache zu kommen, blickte sie sich erst sichernd um, als wolle sie sich überzeugen, dass niemand sie im Moment belauschen konnte. Das passte nun ganz und gar nicht zu ihr. Ein Teil seiner Überraschung musste sich in seinem Gesicht abzeichnen, denn Lilja warf ihm einen pikierten Blick zu: „Glotz nicht so verständnislos.“, knurrte sie. Sie sah sich noch einmal vorsichtig um, bevor sie zur Sache kam: „Dir ist doch klar, dass wir von unser letzten Mission nichts herumerzählen dürfen. NICHTS, verstehst du! Also sollten wir unsere Geschichte besser absprechen, damit keiner misstrauisch wird. Du kannst darauf wetten, dass sich die Klatschmäuler im Geschwader darauf stürzen werden. Sie werden uns löchern, als gäbe es einen Preis zu gewinnen.“
Ace grinste vorsichtig: „Leuchtet ein. Wir könnten ja erzählen, wir hätten gemeinsam Urlaub gemacht und…“ Liljas Gesichtsausdruck ließ ihn verstummen. Die Pilotin war offenbar nicht zu Scherzen aufgelegt, jedenfalls nicht zu welchen, die nicht sehr viele Zähne hatten: „Sehr witzig, aber besser nicht. Oder wie willst du erklären, dass du nicht anschließend im Gipskorsett steckst? Außerdem habe ich ohnehin schon vor unserem Abflug angedeutet, dass ich auf einer Sondermission gehe. Ich lasse doch nicht meine beste Freundin und XO ganz ohne Erklärung zurück.“ Sie schüttelte den Kopf: „Nein. Wir bleiben dabei, dass wir eine Sondermission hatten. Sagen wir – Aufklärung und technische Erprobung in den Randzonen, wenn du unbedingt jemand etwas erzählen musst. Wir wurden unter Quarantäne gestellt, weil es einen möglichen Geheimnisverrat gab, das war aber nur ein Anfall von Spionitis beim NIC. Wir werden nicht das System erwähnen, keine Stunts mit einem feindlichen Schiff, keinen Namen des Frachters mit dem wir unterwegs waren, keine Namen von Personen und nichts zu den einzelnen Einsätzen, klar? Geschweige denn irgendwelche mondsüchtigen Alien-Spinnereien. Wir schweigen, weil man uns dazu vergattert hatten, lassen aber durchblicken, dass nicht viel los war.“ Sie schien es ernst zu meinen.
„Abgesehen davon, dass der TIS mich bereits zum Stillschweigen verpflichtet hat – warum darfst du dir die ganze Geschichte ausdenken und ich muss deiner Version folgen?“, wollte Ace wissen. Die Russin lächelte spöttisch – offenbar hatte sie noch nicht allen Humor verloren: „Weil ich einen höheren Rang habe, zumindest im Moment. Selbst wenn sich das ändert, bin ich übrigens immer noch dienstälter. Und weil du meine Hilfe brauchen wirst, wenn du deinen Haufen auf Vordermann bringen willst. Vor allem aber, weil du sicher nicht willst, dass ich mich öffentlich darüber auslasse, was Raven zu deinem XO und deiner neuen Staffel gesagt hat.“
Ace warf der Pilotin einen anklagenden Blick: „Das ist Erpressung!“, stellte er fest.
Lilja blickte unschuldig: „Nur eine Rückversicherung. Nichts sagen ist zu verdächtig, bleiben wir mit der Geschichte nahe genug bei der Wahrheit, dann verhaspeln wir uns nicht.“ Sie zögerte: „Und noch etwas. Sag nichts über einen möglichen Orden für mich. Das bringt nur Unglück. Im Gegensatz dazu halte ich die Klappe über das Interesse der TIS an dir – ich will gar nicht wissen, was der Oberhäuptling eigentlich gemeint hat, als er dich zu einem Familienplausch dabehielt. Also, ist mein kleines Geheimnis so sicher wie deines?“ Das war natürlich auch wieder ein Stück weit eine Erpressung, wenn auch diesmal ungewöhnlich höflich formuliert. Es würde wohl wenig Sinn machen, Lilja zu versichern, dass sie mit ihren Verdächtigungen falsch lag. Dann würde sie nur fragen, was der TIS’ler wirklich gemeint hatte. Und das führte zu Dingen, über die Ace wirklich nicht sprechen wollte.
Also nickte er nur: „Na schön. Aber immerhin kann ich dir als erster gratul…“
Liljas erhobene Hand stoppte ihn: „Sag es nicht. Ich hab dir doch erklärt, das bringt nur Unglück. Es lohnt nicht, sich den Kopf wegen ungelegten Eiern zu zerbrechen, ebenso wenig wie wegen zerbrochenen.“

Nun, nachdem das geklärt war, schien die Russin mit einem Mal vergleichsweise locker, vor allem wenn man bedachte, dass sie ja auch einen Anpfiff bekommen hatte: „Na gut, nachdem das geklärt wäre, schlage vor, du verschwindest unter der Dusche -" sie schnüffelte demonstrativ, ohne sich darum zu kümmern, dass sie auch nicht gerade taufrisch war: „- und kümmerst dich dann um deine Truppe. Wenn ich Zeit finde – aber das kann dauern – kann ich mir mal anschauen, wie es um deine Staffel steht. Ich habe ja meine eigenen Leuten zu managen.“ Sie sprach es nicht aus, aber offenbar hatte sie weitaus mehr Vertrauen zu Imp als zu Chip. Offenbar hielt sie damit den Gesprächsstoff fürs erste erschöpft. Lilja wartete selten, ob ihr Gegenüber noch etwas auf dem Herzen hatte, nachdem sie ihre eigenen Anliegen durchgeprügelt hatte. Für einen Augenblick zögerte Ace noch, doch dann hielt er sie zurück, gerade als sie sich entfernen wollte: „Wegen der Mission und dem Flug…meinst du, wir können mal in Ruhe darüber reden?“ Er war sich nicht ganz sicher, was er eigentlich meinte und worüber er mit ihr reden wollte, konnte oder musste. Ihre Erlebnisse und die mysteriösen Ereignisse, seine verpatzte Liebeserklärung und die etwas wirren Gefühle der Russin gegenüber oder ihr zumindest zwischenzeitlich etwas verbessertes Verständnis – die Möglichkeiten waren vielfältig.
Doch es sah nicht so aus, als ob er die Gelegenheit bekommen würde, sich darüber klar zu werden. Er kannte den Gesichtsausdruck, der anzeigte, dass Lilja dicht machte – aus welchem Grund auch immer. Tatsächlich war er schon oft genug in den Genuss dieses Anblicks gekommen. Und tatsächlich, ihre Stimme klang mit einmal ziemlich unterkühlt: „Ich glaube nicht, dass ich die Zeit dazu habe. Und außerdem, es ist besser, wir reden nicht darüber. Über nichts. Worüber keiner spricht, das kann auch keiner belauschen.“ Sie schien es direkt eilig zu haben, wegzukommen: „Wenn du mich jetzt entschuldigst, Lieutenant, ich möchte auch unter Dusche…“ Schon das „Lieutenant“ war eine deutliche Zurückweisung, erst Recht in diesem Tonfall. Gleichgültig ob sie sich in den vergangenen Wochen auch einmal ein wenig anders gezeigt hatte, der Hinweis, dass sie den Kontakt zu ihm auf das rein Dienstliche beschränken wollte, war überdeutlich.
„FIRST Lieutenant.“, erwiderte Ace ärgerlich, und lauter als er eigentlich gewollt hatte.
Lilja warf ihm einen Blick zu, der im wahrsten Sinne vernichtend war – als ob sie überlegte, ihn im nächsten Moment niederzuschlagen. Dann wirbelte sie wortlos herum und verschwand. Selbst ihr Rücken und die Schritte kündeten von mühsam kontrollierter Wut.


Ziviler Raumflughafen Neu Capstadt, Seafort, Sterntor-System

An Bord der Emerald Jade herrschte ungeachtet der mit einmal sehr viel erfreulicheren finanziellen Aussichten nicht gerade eitel Sonnenschein. Natürlich waren sie alle froh, aus den Fängen des NIC und NCID entkommen zu sein. Der Umstand, dass dies nur mit Hilfe des terranischen Geheimdienstes möglich gewesen war, man gewissermaßen den Teufel mit Belzebub ausgetrieben hatte, trug freilich nicht gerade zur Beruhigung der Besatzung bei. Es war zwar noch einmal gut ausgegangen – wenn auch wesentlich knapper als der Crew lieb war – und vor allem waren einige nicht ganz so legale Dinge an Bord des Schiffes offenbar nicht gefunden worden. Doch nicht nur die Kapitänin machte sich Sorgen darüber, ob nicht irgendein Terry auf die Idee kommen könnte, die Demütigung seitens des TIS durch eine wie auch immer geartete Vergeltung an den Personen zu kompensieren, welche die leichtesten Ziele abgaben. Wie Jayhawker erklärt hatte, die nächsten Jahre würden sie sich bestimmt nicht mehr hier blicken lassen. Nichts war ausdauernder als gekränkter Terry-Stolz. Nun, das war kein so großer Verlust. Sterntor war ausreichend fest in den Händen der großen Flugunternehmen, dass für Schiffe wie die Emerald hier nur Brotkrumen und illegale Jobs übrig blieben, die man an der Peripherie der FRT ebenso gut fand. Und dort waren die Terries weniger zahlreich.
Jedenfalls, der Preis für ihr künftiges Hausverbot konnte sich sehen lassen, obwohl es natürlich auch Blut- und Schweigegeld war. 20.000 Real pro Person, das war mehr Geld, als die meisten Besatzungsmitglieder je auf einmal in der Hand gehalten hatten. Meistens schlug sich das Schiff gerade so durch, nach Abzug der Betriebs- und Lebenshaltungskosten blieb oft wenig übrig. Für die meisten waren Quartier und Versorgung an Bord der Emerald die einzige Sicherheit, die sie besaßen. Wenn man das Sicherheit nennen konnte. Im Vergleich dazu waren sie jetzt geradezu reich. Aber es gab auch einige weitere Punkte, die wesentlich weniger erfreulich aussahen. Kapitänin Jayhawker hatte das Geld ausgezahlt – abzüglich eines gewissen Schiffsanteils, immerhin musste die Emerald operationsbereit gehalten. Verjuxen konnte natürlich niemand den neu erworbenen Reichtum. Nicht, wenn man sich fragte, ob man gerade auf dem Radar der Terries war. Kein Crewmitglied hat abgeheuert – natürlich, es sah nicht so aus, als ob sie hier sonderlich willkommen waren. Und die überstandenen Strapazen hatten die Crew eher fester aneinander geschmiedet, auch wenn nicht jeder mit den Entscheidungen der Kapitänin einverstanden gewesen war.
Jedenfalls hatte es sich nicht vermeiden lassen, dass sie erst einmal auf Seafort landeten, sobald sie aus der „Quarantäne“ freikamen. Schon das hatte der Kapitänin Zahnschmerzen verursacht. Am liebsten wäre sie gleich mit der höchsten vertretbaren Marschgeschwindigkeit aus dem System verschwunden. Aber nach dem Gefecht mit den Akarii und dem langen Flug nach Medusa und zurück plus den Operationen vor Ort waren einige Überprüfungen unumgänglich, man musste auftanken, Vorräte ergänzen und dergleichen mehr. Und das in seiner Situation, wo jede Minute eine zu viel war. Folglich hatten sich alle nach einem ausgeklügelten Operationsplan sofort an die Arbeit gemacht, sobald sie endlich freigekommen und gelandet waren.

Im Moment kletterte die Kapitänin gerade aus einer Transportkarre, auf dem sie vom Rand des Flugfeldes zu ihrem Schiff per Anhalter mitgefahren war. Sie warf dem Fahrer noch ein hinreißendes Lächeln und ein Winken zu – auf diese Weise bekam sie eigentlich immer eine Mitfahrgelegenheit – und stürmte an Bord. Kaum innerhalb des Schiffes griff sie zur nächsten Interkom-Station und brüllt los: „Ghost! Yin? Yang? Schwingt eure Knochen zur Rampe, aber pronto!“
Die drei Gerufenen tauchten kurz darauf auf. Sie alle waren in technische Overalls gehüllt und ziemlich mit Staub, Öl und verschiedenen anderen Sorten von Schmutz bedeckt. Die Kapitänin hielt sich nicht mit einer langen Vorrede aus: „Ghost – wie sieht es aus?“
Der Mechaniker ließ sich durch die offensichtliche Ungeduld seiner Chefin nicht aus der Ruhe bringen: „Die Maschine läuft problemlos, wir haben erst mal wieder genug Treibstoff für ein paar Sprünge und Systemstransfers. Von daher kann es losgehen. Auch die übrigen Systeme laufen, ungeachtet des Gefechtes im Laderaum. Was unser gesprengtes Schott angeht – ich hab es erstmal zusätzlich versiegelt. Um das richtig zu reparieren brauchen wir mindestens vier, fünf Tage Liegezeit und einiges an Material, das wir nicht an Bord haben. Aber…“ Sarah Victor nickte gequält: „Schon klar, soviel Zeit haben wir nicht. In spätestens 24 Stunden will ich hier weg sein und auf dem Weg aus dem System raus – es wäre schwachsinnig, das Ultimatum bis zur letzten Sekunde verstreichen zu lassen. Ich gehe mal davon aus, das Schott wird uns erst einmal keine Probleme machen?“
Ghost nickte: „So lange man nicht mit einer Laserkanone draufballert oder unbedingt wieder ein Shuttle dort parken will – aber dann sind wir ohnehin in Schwierigkeiten.“
Die Kapitänin lächelte gequält: „Bei unserem Glück…aber nichts berufen.“ Sie atmete tief durch: „Ausgezeichnet. Danke.“ Dann seufzte sie: „Check aber sicherheitshalber noch mal die Heizung und Lüftung durch. Ich will den Laderaum kalt legen, ohne dass wir oben einfrieren. Gefriertemperaturen, und halbwegs konstant. Also müssen wir die Zirkulation wieder umleiten. Und schau dir noch einmal die Krankenstation an.“ Ihr Untergebener schaute sie fragend an, so dass sich Sarah zu einer Erklärung bequemte: „Ich habe eine Ladung – eine, die uns in die richtige Richtung rausbringt, zum nächsten Sprungpunkt. Nicht viel Zaster, aber die Betriebskosten sind drin.“ Der alte Raumfahrer grinste: „Ist ja prima. Ich hätte nie gedacht, dass du so schnell was an Land ziehst…“ aus irgendeinem Grund kicherte die Kapitänin bei seinen Worten etwas albern „aber ich schätze, wenn du mal deine Seele an den Teufel verkaufst, wird der am Ende feststellen, dass du ihn übers Ohr gehauen hast.“ Jayhawker lachte: „Nachdem ich Geschäfte mit dem TIS gemacht und überlebt habe – sicher.“

Sie wartete, bis Ghost verschwunden war, um wieder an die Arbeit zu gehen. Dann fixierte sie Yin und Yang: „Habt Ihr das Schiff noch einmal durchgecheckt? Keine Andenken mehr vorhanden?“ Yang nickte bedächtig, wie es seine Art war: „Wir haben alles doppelt und dreifach überprüft. Jede Wanze ist entfernt, es ist auch kein Peilsender an Bord. Übrigens auch keine Bombe. Sieht nicht so aus, als ob sie geplant hätten, uns was zu vererben. Was noch da war, hatten sie wohl einfach nicht abgebaut.“ Das war ein Stück weit logisch. Tremane und Falkner waren wohl nicht immer ganz ehrlich zu den Leuten des NIC und NCID gewesen. Und warum sollten sie noch weiter an der Emerald interessiert sein? TIS, NCID und NIC konnten sich relativ sicher sein, dass die Raumfahrer nichts Wichtiges wussten. Doch Yang schien ungeachtet seiner Worte nicht ganz beruhigt: „Natürlich, absolut sicher kann man nie sein. Aber die sensiblen Systeme sollten sauber sein. Und die Brücke, die Messe und unsere Quartiere sind es auch. Ich habe sogar einen Tunnelkriecher* durch die Lüftungs- und Kabelschächte geschickt.“ Jayhawker schien erst einmal zufrieden. Wenn jemand den Laderaum abhören wollte – sollte er doch: „Ist das Shuttle einsatzbereit?“ Yin nickte knapp: „Die Beschädigungen waren nicht der Rede wert. Wir haben auch die Andockeinrichtungen für die Jäger abgebaut und die Betankungsschläuche entfernt. Und den Laderaum mit einem Sandstrahler geräumt, den ganzen Terry-Kram erst mal abgebaut und verstaut.“ An Bord der Emerald wurde nichts weggeworfen, selbst wenn es ein zerlegbarer Metalltisch und ein halbes Dutzend dreistöckiger Pritschen war.
Die Chinesin musterte ihre Chefin mit unverhohlener Neugier: „Was für Fracht kriegen wir denn?“
Die Kapitänin grinste: „Was dachtest du wohl? Du hast doch Ghost gehört. Ich habe wirklich etwas an Land gezogen. Wir sollen 250 Kubikmeter tiefgekühlten Fisch wegschaffen. Offenbar sind einige von den Viechern, die hier gefangen werden, anderswo so beliebt, dass man sie exportiert – Menschen mit zuviel Geld haben eben einfach einen Knall. Das bringt uns ein Dutzend Lichtjahre Richtung Randregionen, wo man pinkeln kann, ohne dass einem eine Terry-Kamera auf den Arsch schaut.“ Ihre Untergebenen zeigten angesichts der Fracht keine sonderliche Überraschung. Sie hatten schon wesentlich verrücktere Dinge befördert. Nur Yang hatte noch Fragen: „Und du bist sicher, dass das keine Falle ist oder nicht ganz koscher? Du weißt schon, irgendwelche illegalen Dinger, vielleicht mit Druckgranaten gefischt oder aus einem Reservat oder voller Drogen und so, und dann steht auf einmal der Zoll oder Tierschutz auf der Matte…“ Jayhawker zuckte mit den Schultern: „Die Papiere waren in Ordnung und ich hab mich umgehört, unser Geschäftspartner ist eigentlich unverdächtig – es liegt wohl eher daran, dass ich einfach so weit im Preis ’runtergegangen bin. Womit wir schlimmstenfalls rechnen müssen sind ein paar Kollegen, die uns wegen Preistreiberei Bescheid stoßen wollen.“ Als sie den Ausdruck leichter Vorfreude in Yins Gesicht bemerkte, der sich angesichts dieser Möglichkeit breit machte, verdrehte sie die Augen: „Du wirst wohl nie vernünftig, Mädchen?“ Die Chinesin lächelte nur boshaft.
„Nun…“ nahm Jayhawker den Faden wieder auf: „ein Problem gibt es, aber das sollte uns eher entgegenkommen. Es muss alles schnell gehen. Das Zeug wird in zwei Stunden angeliefert. Und wir sollen es auch bald abliefern – offenbar droht irgendwelchen Luxusrestaurants sonst eine ernsthafte Nahrungskrise…Kriegen wir das nicht hin, setzt es einen saftigen Abzug. Bereitet das Beladen vor – wir brauchen noch die Freigabe vom Tower. Kümmert euch drum.“
Yin nickte knapp: „Ich übernehme das mit dem Tower. Bis die Sardinen kommen, müsste ich zurück sein. Das sollte keine Probleme bereiten. Solange wir das Zeug nicht per Hand filetieren und einladen müssen…“ Sie wollte sich schon abwenden, als Jayhawker sie stoppte: „Halt. Nimm Yang mit, wenn du zum Tower gehst. Ich will nicht, dass irgendeiner aus unserer Crew allein irgendwohin unterwegs ist, auch nicht auf dem Raumhafen. Wir müssen es den Terries ja nicht zu einfach machen, einem was anzuhängen. Was meinst du, warum ich Toro und Quicksilver gemeinsam losgeschickt habe?“ Was sie nicht sagte – gerade in dieser heiklen Lage wollte sie nicht, dass ihre explosivste Untergebene allein loszog. Yin hatte ihrem Gefühl nach schon auf mehr Planeten und Raumstationen Schlägereien, Messerstechereien oder auch Schießereien angezettelt oder ausgetragen, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekamen. Yang machte ein nachdenkliches Gesicht: „Und unsere Sonderladung? Was…“ Seine Vorgesetzte gestikulierte wild: „Kein Wort mehr! Ich dachte immer, du wärst der Vorsichtigere von euch beiden! Nicht mal denken solltest du an das Zeug, solange wir hier sind. Ich werde bestimmt nichts davon rausholen, geschweige denn verticken, solange wir in Funkreichweite von Sterntor sind. Dafür ist noch später Zeit. Wenn du Zeit hast – sorg dafür, dass es schön kalt bleibt. Und zu keinem ein Wort!“ Nach dieser Mahnung nickte sie ihren Untergebenen noch knapp zu. Dann machte sie sich auf den Weg zum Cockpit. Wenn sie so bald wie möglich abheben wollte, galt es noch einiges vorzubereiten…

Drei Stunden später

Toro und Quicksilver kehrten zurück, während die neue Fracht noch eingeladen wurde. Wie immer herrschte ein gewisses Maß an schöpferischem Chaos – die Crew bediente sich eines Transportkarrens und sicherte die schweren Behälter mit Spezialgurten, damit sie während Start und Landung oder bei heftigen Flugmanövern nicht Unheil anrichten konnten. Alles lief unter einigem Gebrüll, dem Quietschen von Hydraulik, Motorenlärm und ähnlichen akustischen Elementen hektischer Betriebsamkeit ab. Alle Crewmitglieder trugen Spezialhandschuhe, um sich an dem eiskalten Metall der Frachtcontainer nicht die Haut aufzureißen. Das konnte freilich nicht verhindern, dass bereits der eine oder die andere kleinere Verletzung zeigte. Quetschungen, Frost- und Hitzeverbrennungen und Schnitte gehörten bei der Arbeit auf einem Frachtschiff einfach dazu. Man sprühte etwas Kunsthaut drüber und später wurde es notdürftig verarztet. So lange es nur nichts Ernstes war oder den Arbeitsfluss beeinflusste…
Die zwei Neuankömmlinge mogelten sich um den Arbeitseinsatz herum, indem sie angaben, die Chefin sofort sprechen zu müssen. Die Kapitänin zankte sich im Moment über Funk vom Cockpit aus mit der Boden-Luft-Kontrolle. Es ging wieder mal um die Frage, welcher Korridor wann frei seien würde. Sie signalisierte den Neuankömmlingen zu warten und beendete das Gespräch nach weiteren fünf Minuten des Feilschens. Mit einem melodramatischen Seufzen unterbrach sie die Verbindung: „Wenn sie uns schon loswerden wollen, könnte man meinen, sie würden uns die Sache etwas leichter machen…“ stöhnte sie, doch dann fixierte sie ihre Untergebenen, namentlich Quicksilver: „Bitte sagt mir, dass es keine Probleme gab…?!“
Die junge Raumfahrerin grinste nur: „Ein Glück, dass ich vor unserer letzten Reise alle Futterstellen in Reichweite abklappern durfte, um die billigste Verpflegungsquelle für unsere Gäste aufzutreiben. Musste also nur die alte Liste rekapitulieren, außerdem kannte man mich schon. Ich habe die Bestellung für einen zwei-Monats-Vorrat aufgegeben, müsste eigentlich bald eintreffen. Liegt noch alles in dem Preisfeld, das du uns freigestellt hast, ist sogar noch ein bisschen was übrig. Verhungern werden wir also nicht. Falls wir bei dem Chaos da unten Platz finden es einzuladen, soll das heißen.“ Jayhawker lachte: „Hoffentlich ist es nicht GANZ dasselbe Zeug, das wir den Terries vorgesetzt haben?“
Quicksilver grinste koboldhaft: „So schlimm muss es ja nicht kommen. Etwas reichhaltiger ist das Sortiment schon. Immerhin haben wir gut verdient.“
Sie sah sich suchend um: „Wir müssen nur zusehen, dass wir alles unterbringen können. Ich verstehe nicht, wie du in so kurzer Zeit was finden konntest.“ In der Stimme der jungen Raungeborenen lag Hochachtung. Ihre Kapitänin zuckte nur wegwerfend mit den Schultern: „Das ist eben beim Angeln so. Alles eine Frage des Köders. Geh weit genug runter, dann kriegst du einen Job. Na gut – sagt unten Bescheid, dass sie euch ausreichend Platz lassen. Wir müssten den Tiefkühlfisch bald genug weggestaut haben.“ Sie trommelte nervös mit den Fingern auf den Armaturen: „Und wie sieht es mit eurer anderen Mission aus?“

Quicksilver warf Toro einen fragenden Blick zu. Der hünenhafte Farbige verzog seine Lippen zu einem schiefen Lächeln und kramte einen Datenträger hervor. Er schien sich aber etwas unbehaglich zu fühlen: „Wir haben jemanden. Bisher Matrose auf einem Masters-Transporter, also ein Weizenschipper. Ende Zwanzig, zehn Jahre vor dem Mast. Technische Grundausbildung, Hilfsingenieurslehrgang, Erste-Hilfe-Kurs. Muss wohl irgendwelche Probleme gehabt haben, jedenfalls war er sofort bereit, bei uns anzuheuern, obwohl er nur doppelten Lay** eines Crewmanns bekommt. Macht einen ganz ordentlichen Eindruck, obwohl er kein Weltraumgeborener ist.“ Er schnaubte: „Ist zwar schwer zu sagen, was er als Mensch taugt, aber er hat weder den Schwanz zu sehr aufgestellt noch eingekniffen, als er uns zwei gesehen hat.“ Jayhawker seufzte und verdrehte die Augen bei der Wortwahl. Natürlich hatte ihr Stellvertreter ein Stück weit Recht. Sie konnten niemanden brauchen, der angesichts Toros gleich einknickte – aber auch keinen, der sich in Zurschaustellung angeblicher Männlichkeit angesichts einer solchen Herausforderung gefiel. Natürlich würde sie sich selbst noch ein Bild machen, aber das würde wohl auf dem Flug geschehen müssen. Sie machte das nicht gerne. Die Beisetzung von Nomad lag zwar schon gut zwei Wochen zurück, aber dennoch fühlte es sich nicht richtig an, jetzt schon einen Ersatzmann anzuheuern. Aber das Schiff brauchte eine vollständige Crew. Sie flogen ohnehin oft am Rande des Praktikablen, Ausfälle konnten sie sich nicht leisten: „Und, denkst du, er hat das Zeug dazu?“
Toro zuckte mit den Schultern, auch Quicksilber blieb zurückhaltend. Die Pilot klang nachdenklich: „Seine Papiere sind in Ordnung so weit. Nichts Spektakuläres, aber auch nichts was verdächtig wäre. Die Terries werden uns wohl kaum einen Spion in den Pelz setzen. Hab’ zwar gehört, Black Bucaneer ist wieder aktiv – oder sein Geist, sein Klon oder seine verfickte Großmutter – ebenso mindestens ein halbes Dutzend anderer Kapitäne, aber seinesgleichen interessiert sich bestimmt nicht für einen alten Kahn wie unseren mit Tiefkühlbonitos an Bord. Die Papiere könnten natürlich gefälscht sein, aber wie soll man das wissen? Wenn er erst mal an Bord ist, sehen wir weiter. Ich, Ghost und Quicksilber testen ihn durch, Yin und Yang behalten ihn auch im Auge – wenn er Probleme macht, bricht er sich eben den Hals auf der Treppe.“ Quicksilber prustete nur verächtlich und maß den zwei Spannen größeren und doppelt so schweren Piloten mit einem herablassenden Blick: „Wenn du mal immer so Wort halten würdest, wie du angibst…“ ätzte sie. Tatsächlich waren Toros Worte Aufschneiderei gewesen. Der letzte „Problemfall“ hatte einfach den Rest der Reise bei Wasser und Brot und gefesselt zurückgelegt…


Jayhawker unterband den sich entwickelten Streit: „Na, warten wir’s ab. Ich schau ihn mir im Schnellverfahren an – viel Zeit haben wir ja nicht. Ich nehme an, er kommt hinter euch her gedackelt?“
Toro nickte: „Wollte in einer Stunde da sein.“ Er wedelte wieder mit dem Datenträger: „Wie gesagt, die Einzelheiten sind hier drauf. Sogar Bilder von ihm – falls du wissen willst, ob er sich als Matratze für dich eignet.“ Jayhawker warf ihrem Piloten einen Blick zu: „Was zum Teufel ist denn mit dir los? Hast du deine speziellen Tage?“
Der Hüne ruderte ein wenig zurück, etwas, was er eigentlich nur ihr gegenüber oder angesichts einer scharfen Waffe tat. Er entschuldigte sich sogar: „’Tschuldigung, Cap. Diese ganze beschissene Situation macht einen ganz bekloppt. Ich habe das Gefühl, dass mit ständig jemand zuschaut – und ich warte nur darauf, dass irgendein blöder Terry mit einem Eingreifkommando aufschlägt und uns wieder einkascht, diesmal auf Dauer. Außerdem – es gefällt mir nicht, so schnell wieder jemand anzuheuern. Und so überhastet.“
Die Kapitänin seufzte: „Mir auch nicht. Und ich fühle mich so beschissen wie du. Aber woher sollen wir wissen, ob wir im nächsten Hafen Zeit haben, jemanden zu suchen? Außerdem ist Sterntor nun einmal ein zu gutes Jagdrevier. Glaubst du wir haben überall eine so gute Auswahl? Und was willst du machen, wenn uns unterwegs ein Wachgänger und ein Paar Hände fehlen? Ich muss an das Schiff denken – und an euch.“ Sie sah, dass ihr Untergebener das einsah. Die Aufnahme in die Crew lief auf der Emerald wie auf anderen Schiffen ihres Typs auf etwas spezielle Art, wobei freilich jedes Schiff seine eigenen Bräuche hatte. Neulinge an Bord der Emerald erhielten wie auf vielen anderen Schiffen zunächst die halbe Heuer und fuhren auf Probe. Der Kapitän konnte ihnen in dieser Zeit jederzeit ohne Angabe von Gründen kündigen. Hatte sie sich in den Augen ihres Chefs bewiesen, üblicherweise nach ein oder zwei Fahrten, erhielten sie den vollen Sold, konnten aber immer noch abgemustert werden. Es konnten weitere Monate vergehen, bevor sie wirklich zur „Familie“ gehörten, wirklich in das Bordkollektiv integriert wurden. Dann bekamen sie auch Einblick in die eher verborgenen Seiten des Geschäftes. Oft erfuhren sie erst dann richtig, mit wem sie fuhren. Wer einmal dazugehörte, verließ die Crew nur noch selten. Diese letzte Entscheidung lag nicht allein beim Kapitän, jedenfalls nicht auf der Emerald Jade. Die Trampfahrer waren eine zwar nicht hermetisch geschlossene aber doch ziemlich xenophobe und nicht selten „inzestuöse“ Gemeinschaft. Kinder von Trampfahrern hatten es viel leichter, Aufnahme zu finden, als Auswärtige. Was natürlich nicht hieß, dass man eine große glückliche Familie war. Mehr als ein Trampfahrer gönnte besonders auf umstrittenen Routen Konkurrenten nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln, und solcher Neid konnte gelegentlich auch gewaltsam ausbrechen.
Jayhawkers Entscheidung war jedenfalls gefallen: „Quicksilver – mach sicherheitshalber schon mal ein Quartier klar. Nur für den Fall, dass ihr nicht mal wieder Mist gebaut habt und ich den Kerl postwendend an den Absender zurückschicken muss…“ fügte sie ergänzend hinzu, worauf Quicksilver ihrer Vorgesetzten die Zunge herausstreckte. „Und sieh zu, ob wir ihn im Notfall ausstaffieren können, wenn er nur mit dem anrückt, was er am Leibe hat. Du bringst ihn zu mir, wenn er aufkreuzt. Toro, bereite das Schiff schon mal auf das Abheben vor. Sowie alles hier verstaut ist, ziehen wir eine Furche in den Boden beim Start.“

Der hochgewachsene Pilot nickte und stampfte davon. Quicksilver zögerte noch, so dass sich Jayhawker zu einer Nachfrage veranlasst sah: „Du hast doch noch was auf dem Herzen, Mädchen. Also sag schon, was los ist.“ Die junge Raumfahrerin fuhr sich mit der Hand durch die Haare und vergrößerte so das bereits auf ihrem Kopf vorherrschende Durcheinander. Sie wirkte für ihre übliche Art ungewöhnlich nachdenklich: „Es ist nur…na ja, ich habe nur an die Leute gedacht, die wir auf der Mission kennen gelernt haben. Ace zum Beispiel. Ich frage mich, sollte man sich nicht mal bei ihnen melden? So, zum ,Auf Wiedersehen’ sagen. Immerhin haben wir ja eine Menge gemeinsam durchgemacht. Außerdem hätte uns Ace vielleicht auch helfen können.“ Jayhawker lächelte maliziös: „Wenn man dich hört, könnte man meinen, du wärst in den Typen verknallt.“ Sie hob beruhigend die Hände: „Ich weiß, ich weiß, das ist es wohl nicht.“
Unvermittelt wurde die Kapitänin ernst: „Nana…“ bewusst wählte sie den echten Vornamen der jungen Frau „am besten ist es, du vergisst sie alle schnell wieder. Oder zumindest, du erinnerst dich vielleicht an sie und die Mission, aber du hängst keine besonderen Gefühle oder Erwartungen mehr dran. Glaub mir, das ist das Beste. Sie sind nicht unsere Freunde und können es auch nicht sein. Nicht richtig jedenfalls. Niemals…warte, lass mich ausreden. Das gilt für sie alle, egal ob es solche Kotzbrocken wie Tremane sind, solche stupiden Stiernacken wie McKenna, harmlose und blauäugige Spezialisten wie Eriksen oder Georges und auch so jemand wie Ace. Sie sind Terries. Sie wissen nicht wirklich wie wir leben, und sie können das auch nicht verstehen. Sie wollen es nicht mal. Zum Teufel, das gilt GERADE für so jemanden wie Ace. Oh, auf den ersten Blick ist er ganz nett. Großzügig, in Maßen überheblich wegen seiner Fähigkeiten, was ja keine Schande ist, angenehme Manieren, durchaus witzig, sieht auch nicht schlecht aus – wenn ich ihn mit einigen Crewmitgliedern vergleiche – und so weiter. Aber in seinem Innersten ist er keiner von uns. Er bildet es sich vielleicht ein, weil er selber auf einem Schiff geboren wurde. Aber schau dir nur mal seine Familie an! Sein Großvater war Commodore, ein anderer aus der Familie Lieutenant Commander, er selber wird das sicher auch werden. Du weißt, heutzutage ziehen sie keinen mehr ein, nicht mal wenn die Scheiße so tief ist wie jetzt. Sie alle haben also freiwillig für die Terries gearbeitet. Ich kann es ja verstehen wenn jemand zu den Uniformierten geht, weil er keine Chance hat, ohne das über die Runden zu kommen. Finanziell, um zu lernen wie man arbeitet und so. Zur Not auch, weil er glaubt, die Schuppenflechten würden uns sonst alle zum Trocknen in die Sonne hängen, obwohl ich glaube, für jemanden wie uns wird es immer Bedarf geben. Aber Karriere machen ist was anderes. Cliff Davis ist Freiwilliger – nicht etwa aus Patriotismus zu Anfang des Krieges. Der war schon ein paar Jahre vorher bei der Flotte, muss sich lange vor dem Krieg gemeldet haben. Und das ist ja nicht mal die Hälfte, die ihn und seinesgleichen von uns trennt. Da könntest du dich noch eher mit so einer eiskalten Killerin wie seiner Kollegin anfreunden! Schau dir das Firmenimperium seiner Familie nur an! Die haben beste Beziehungen zu den Terries, seit Kriegsbeginn sind sie dick und fett geworden, haben eine eigene und ständig wachsende Flotte, Jäger, was weiß ich noch! Das ist die Sorte von Leuten, die kleinen Unternehmen wie uns die Luft abdrückt! Irgendwann wird für uns gar kein Platz mehr sein, außer vielleicht am äußersten Rand. Sie sind nicht die ganz großen, aber noch schlimm genug! Solche wie seine Familie nehmen uns die Jobs weg, und Terries wie er und seine Kameraden schauen uns auf die Finger, was wir aus Not so treiben. Und wenn wir Pech haben, bringen sie uns ins Loch, machen es immer schwieriger, unter dem Radar zu fliegen und durch die Netze zu schlüpfen.“

Die Kapitänin meinte das offenbar ernst, obwohl mit Sicherheit eine Menge Sozialneid aus ihren Worten sprach: „Denk nur mal daran, was deine neuen Freunde über dich, über uns alle denken würden, wenn sie wüssten, womit wir uns unseren Unterhalt verdienen. Welche Tricks wir anwenden müssen, mit wem wir Geschäfte machen, nur um uns über Wasser zu halten. Was denkst du würden sie sagen, wenn sie das wüssten? Dass wir schon mal Drogen verschieben, Konterbande, illegal Reisende befördern, an den planetaren Aufsicht vorbei, dass wir Güter verticken, die auch an Piraten gehen oder von denen kommen können – oder dass wir eben ein paar Leichen aufschneiden, weil es gutes Geld gibt. Dass wir Schmiergelder zahlen, um an Aufträge zu kommen oder damit jemand nicht hinsieht, dass wir Wracks durchwühlen und fleddern, zur Not auch die Kadaver geschützter Tiere befördern, weil irgend so ein reicher Depp dafür ein Vermögen bezahlt. Soll ich noch weitermachen? Denkst du, die Davis-Familie hat sich schon mal die Knochen nummerieren müssen, weil sie sich mit der Crew eines Frachters geprügelt hat wegen eines Auftrages, der dir gerade einmal die Betriebskosten bringt – mit Leuten, die praktisch deine Brüder seien könnten, die dir aber wegen ein paar Real an die Kehle gehen? Glaub mir, solche wie Ace kokettieren vielleicht mit dem herben Charme eines Frachters wie der Emerald und dem Leben hier. Aber das ist was anderes als darauf zu leben, Tag für Tag, Woche um Woche, für Jahre – immer im Zweifel, ob du genug Geld haben wirst, wenn du mal nicht mehr arbeiten kannst. Immer mit der Frage, ob du genug Credits zusammenkriegst, um dein Schiff am laufen zu halten. Immer in der Angst, was die nächste Woche oder Monat bringt. Zu starten, wenn du dir nicht sicher bist, ob die Notreparaturen reichen werden, du aber nicht genug Geld hast um es richtig machen zu lassen. Du weißt, wie das ist, du bist so aufgewachsen. Denkst du, das gilt für ihn auch? Was ist ein Aussteiger wert, der den Rückfahrschein schon in der Tasche hat? Weißt du, dass die Davis-Spacefreight-Corporation es sich leisten kann ein Familientreffen auf einem ihrer Frachter abzuhalten und es dabei richtig krachen zu lassen? Meinst du, dort isst der Kapitän und Eigner noch aus derselben Schüssel wie die Crew, arbeitet mit beiden Händen voll Dreck wie der letzte Mann vor dem Mast? Nein, dort trägt man Anzug und Abendkleider, die soviel kostet wie wir mit einem GUTEN Auftrag machen und die du oder ich uns niemals werden leisten können. Das ist eine ganz andere Welt als unsere. Ich schätze, so jemand wie Ace hat ein paar zehntausend Real einfach so auf dem Konto, auf die paar Kröten der Terries kann er spucken. Er wird mal Millionen erben.“
Quicksilver dachte über ihre Worte nach. Dann legte sie den Kopf schief: „Du bist aber gut informiert.“ meinte sie. Ihre Vorgesetzte zuckte mit den Schultern. Ihr Lächeln war mit einer Portion Bitterkeit gemischt: „Denkst du, ich wäre darüber erhaben, irgendwann mal die DSC’s anzubetteln mit Verweis auf eine Tour mit dem Söhnchen der Chefetage? Zu betteln, zu schleimen, Pseudo-Verbundenheit zu heucheln und zu hätscheln – das ist noch eine der einfacheren Übungen, die man in unserem Job lernt, lernen muss. Stolz kann man nicht essen, Prinzipien auch nicht. Natürlich werde ich jedes Almosen annehmen, jeden Vorteil, den ich kriegen kann. Wenn sich die Gelegenheit bietet. Aber ich werde nie darauf rechnen. Und ich mache mir keine Illusionen.“
Quicksilver rümpfte etwas die Nase: „Das klingt aber ziemlich düster, wie du es darstellst. Glaubst du nicht, du siehst es alles etwas sehr schwarz?“ Jayhawker zuckte mit den Schultern: „Wenn du keine Erwartungen hast, kann dich auch niemand enttäuschen. Weißt du, ich habe euch und die Emerald. Ich denke, wenn mir das genügen muss, kann ich mich schon ein glückliches Mädchen nennen.“ Quicksilver strahlte bei diesen Worten: „Danke…Mama.“ Dann lachten die beiden. Die junge Raunfahrerin schien aber dennoch nicht überzeugt: „Ich glaube aber dennoch, du könntest dich auch täuschen. Nicht gerade bei Tremane und so, aber bei den anderen…“ Ihre Kapitänin zuckte mit den Schultern: „Vielleicht. Aber ich würde mir keine Illusionen machen. Letzten Endes…bleibt dir eben nur die Familie.“

********

* Ein Tunnelkriecher ist eine Art ferngesteuertes Gefährt, das benutzt wird, um in engen Schächten Kabelschäden aufzuspüren und zu beheben. Die Drohne läuft meistens auf Beinen und verfügt über zwei kleinere Werkzeugarme. Je nach Modell kann es sich um uralte Behelfstypen oder um hochmoderne Hightechgeräte mit Spezialwerkzeug handeln.
** Bei den Lays, den Gewinnanteilen für Crewmitglieder, sind die höchsten die geringsten. So ist ein 50er Lay (also der 50. Anteil) doppelt soviel wert wie ein 100er.
Cattaneo
Tyr

Ewige Stadt von Pan’chra, Akar

Der „Saal der tausend Leuchter“ erstrahlte im Licht der namensgebenden Prachtkandelaber. Das Licht spiegelte sich in den an der Decke und in den Wänden installierten Spiegeln, die sie überhaupt erst auf die erforderliche Zahl brachten und den ohnehin weitläufigen Raum scheinbar in die Unendlichkeit vergrößerten. Sie wurden reflektiert von den Orden und Rangzeichen der Uniformen, von den Steinen kostbarer Schmuckstücke und von den Edelmetallfäden, die in die opulenten Roben und Galakleider eingewebt worden waren.

Der junge Akarii fiel in dieser Umgebung zumindest optisch etwas aus dem Rahmen, und er war sich dieser Tatsache durchaus bewusst, ohne sich dadurch verunsichern zu lassen. Die eigentlich recht beeindruckende Ausgehuniform der kaiserlichen Raumakademie wirkte hier ziemlich schlicht, fast schmucklos. Seine Brust war nicht ‚blank’, er konnte eine ganze Reihe von Auszeichnungen vorweisen, auch wenn die Sport- und Studienabzeichen angesichts von Kampagnenspangen, Tapferkeitsmedaillen und Gefechtsorden ziemlich bedeutungslos wirkten. Aber andererseits, er wusste, dass sich die Anwesenden auch vor ihm verbeugen würden, wenn er in Lumpen gekleidet den Raum betreten hätte.
Die kaiserliche Abstammung hatte diese Wirkung. Manchmal war er diesem Geschenk seiner Vorfahren ziemlich überdrüssig, aber zweifellos hatte es auch seine Vorteile.
So konnte er es sich zum Beispiel leisten, sich nicht durch den üblichen Schwarm von Höflingen und Speichelleckern aufhalten zu lassen, sondern seine Gesprächspartner selber zu wählen.
Da war der Mann, den er gesucht hatte: „Dan Qau.“
Der Angesprochene, der wahrscheinlich am liebsten in einem der Spiegel verschwunden wäre, wirkte alles andere als glücklich, absolvierte aber pflichtschuldig die angemessene Ehrenbezeichnung: „Hoheit Thelam.“
„Ich bin neugierig. Könnt Ihr mir sagen, warum mein geliebter älterer Cousin mich zu diesem Empfang geladen hat, aber davon abgesehen hat, Lisson oder Karrek einzuladen.“
„Ähm, ich weiß nicht so Recht, ob es angemessen wäre, seine Worte über die Hoheiten zu…“
„Ich muss darauf bestehen. Nehmen Sie das als Befehl.“ Navarr Thelam ließ dem Adjutanten von Rallis Thelam einen Blick zukommen, in dem genug von dem stählernen Funkeln der Thelam-Augen lag, um den anderen leicht zusammenzucken zu lassen. Er war nicht so verrückt, das bei einem aktiven General, Admiral oder Minister zu erproben, aber bei einem politischen Adjutanten…
„Sehr wohl, Hoheit. Wenn Ihr mir versprecht, dass ihr das nicht weitererzählt.“
Navarr Thelam warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Er war sich im Klaren darüber, dass er und Dan Qau im Aufmerksamkeitsfokus von mindestens zwei Dutzend Augenpaaren standen. Und natürlich der doppelten Anzahl Ohren: „Von mir erfährt keiner etwas.“
„Also gut. Die Hoheit war der Meinung, dass nur ein Dummkopf nicht auf die Lehren der Vergangenheit höre, aber dass ein Gelehrter nur unwesentlich unterhaltsamer wäre als die Mumien der Altvorderen, deren Taten er erforsche.
Und er brächte es nicht übers Herz Karrek einzuladen, da er dann glauben könnte, dass der Kronprinz in seiner höchsten Vollendung von den Toten auferstanden wäre. Und dass sei zuviel, als er seinem immer noch trauernden Herz jetzt zumuten könne.“
Navarr musste ein Auflachen unterdrücken, vor allem da er sich sehr lebhaft vorstellen konnte, welchen ganz speziellen Tonfall sein Cousin bei diesen Worten angeschlagen haben musste. ‚Du warst schon immer mit einer Zunge gesegnet, die schärfer sein konnte als ein Drehh, Rallis. Ich hoffe, dass wir uns niemals als Feinde gegenüberstehen werden.’
„Und womit habe ich es dann verdient? Ich bin immerhin nur Kadett. Und wenn er mich nicht nur den heiratswilligen Töchtern seiner Bekanntschaft vorführen möchte…“
Es zuckte kurz in Dan Qaus Gesicht. Das war also einer der Gründe gewesen. Er hätte es sich denken können. Der Tod des Imperators und seines designierten Nachfolgers – und die Kinderlosigkeit von Eliaks einziger Tochter – hatten die Fortführung der Thelam-Linie in ein Politikum verwandelt. Und Navarr, Karrek, Lisson und Rallis von Mitgliedern der kaiserlichen Familie in potentielle Imperatoren. Was ihren Wert auf dem Heiratsmarkt natürlich in die Höhe schnellen ließ.
Das klang besser, als es war. Nicht einmal Karrek war so dumm, seinen gesteigerten Marktwert für ein paar flüchtige Eroberungen zu nutzen, obwohl er als fast genauso umtriebig galt, wie sein ungleich klügerer und in den Intrigen des Hofes beschlagener Cousin Rallis. Navarr zumindest fand es belastend, dass jetzt jeder seiner Schritte auch noch in DIESER Hinsicht durchleuchtet wurde. Sich mit der falschen Frau einzulassen, konnte unter diesen Umständen eine Allianz zerbrechen oder einen Feind fürs Leben schaffen. ‚Oder eine Herausforderung zum Duell.’ Eine Affäre konnte den Thron kosten.

‚Den Thron…’ wollte er ihn wirklich? Und wie realistisch waren seine Chancen? Das war eine Frage, die ihm in den letzten Nächten mehr als einmal den Schlaf gekostet hatte. Er kannte keine falsche Bescheidenheit. Er hatte weitaus bessere Chancen als Lisson und würde auch einen besseren Imperator abgeben. Falls Lisson den Thron überhaupt WOLLTE.
Diese Frage stellte sich bei Karrek natürlich nicht, auch wenn Navarr bezweifelte, dass dieser besser regieren konnte. Aber auch wenn Rallis Recht haben mochte und Karrek ein wiedergeborener Jor sein würde…’Freilich ohne dessen Charme.’ Karrek hatte Teile der Flotte und die Riege der Traditionalisten hinter sich – das waren mächtige Verbündete.
Blieb noch Rallis. Der humorvolle, joviale, charmante Rallis, der aufsteigende Stern im Wirtschaftsministerium. Der sicherlich einen brillanten Kanzler abgeben könnte. Aber Imperator? ‚Aber wäre ich besser als er?’

Der junge Mann konzentrierte sich wieder auf den Adjutanten seines Cousins, Gastgebers und potentiellen Konkurrenten und überraschte ihn durch ein freundschaftliches Schulterklopfen: „Das war aber doch nicht alles, oder?“
„Ich habe ihm gesagt, dass ich diejenigen zu umgarnen pflege, die ich nicht besiegen oder ignorieren kann.“
Mit einer nicht unbeträchtlichen Willensanstrengung unterdrückte der junge Thronanwärter ein Zusammenzucken und drehte sich langsam um: „Verzeihung, Cousin, ich hatte dich nicht bemerkt.“
„Das passiert mir in letzter Zeit nur noch selten, aber diesmal habe ich es auch darauf angelegt. Dan, du kannst dich wieder dem Fest widmen. Ich und mein geschätzter Cousin benötigen dich im Augenblick nicht.“
Während sich Dan Qau erleichtert entfernte, musterte Navarr Thelam seinen älteren Verwandten. Rallis Thelam sah…ziemlich zufrieden aus. Offenbar bekamen ihm die Intrigen. Natürlich konnte es auch an den beiden Schönheiten liegen, die ihn einrahmten und zusammen wohl nur ein paar Jahre älter waren als Navarrs Cousin. Irgendwoher kamen ihm ihre Gesichter bekannt vor.
Das Rätsel wurde gelöst, als Rallis Thelam seine Begleitung vorstellte: „Zweifellos hast du bereits von den Baroninnen gehört. Ich habe das unvergleichliche Vergnügen, dir Arat und Lirai Cesta vorzustellen.“

Navarr hatte allerdings schon von den beiden gehört. Beide entstammten dem niedrigen Adel und einem Geschlecht, das ebenso berüchtigt wie alt war. Ihre Mutter war eine sowohl bekannte als auch fragwürdige Hofdame der verstorbenen Kaisergattin gewesen. Die bösen Gerüchte wollten nicht verstummen, dass ihre Töchter nicht denselben Vater hatten – wobei es sich in beiden Fällen nicht um den Ehemann der Hofdame gehandelt haben sollte. Der Beruf (oder Zeitvertreib) der beiden Schwestern rundete das pikante Bild noch weiter ab, denn beide hatten trotz ihrer Jugend schon eine ganze Reihe historischer Romane über die Frühzeit des Imperiums veröffentlicht, die ebenso gut recherchiert wie freizügig waren. Bei der Darstellung der…farbigen…Aspekte der Vergangenheit waren die Autorinnen schon öfters darüber hinausgegangen, was in traditionellen Kreisen als akzeptabel galt. Immerhin bildete die glorreiche Vergangenheit und die gottgleichen Imperatoren der Frühzeit das Fundament, auf dem das Reich ruhte. Natürlich hatten die bissigen Rezensionen konservativer Kreise die Bücher noch populärer gemacht und die Cesta-Schwestern wurden häufiger zu Festen und Empfängen eingeladen, als es ihr sozialer Status eigentlich rechtfertigte.
Navarr war nicht überrascht, dass Rallis mit den beiden Damen Umgang hatte. Das passte zu ihm. Aber dass er sich in dieser Situation mit ihnen so öffentlich zeigte, das überraschte Navarr. Dieser mokante Nasenstüber für die konservativen Kreise der Hofgesellschaft konnte allzu leicht auf Rallis Kosten gehen. Und Navarrs Cousin war viel zu klug, um das nicht zu wissen. Der junge Kadett fragte sich einigermaßen irritiert, was Rallis damit bezwecken mochte. Der Gedanke beschäftigte ihn so sehr, dass seine Aufmerksamkeit kurz nachließ: „Pardon?“
„Ich sagte, dass Sie überrascht scheinen, uns hier zu sehen, Hoheit.“ Das war die jüngere der beiden Schwestern – Lirai, die bei ihren Worten so nahe an ihn herangetreten war, dass es fast schon unschicklich war. Genauso wie ihre Hand, die seinen Unterarm berührte. Durch den dichten Uniformstoff spürte er zwar wenig, aber sein Pulsschlag beschleunigte sich dennoch deutlich.
Aber er wollte verdammt sein, wenn er sich jetzt aus der Fassung bringen ließ. Was vermutlich Rallis trefflich ins Konzept gepasst hätte: „Ich hätte es nicht sein dürfen, da ich das sichere Auge und den guten Geschmack meines geschätzten Cousins kenne.“
Die nur einige wenige Jahre ältere Baronin lächelte einnehmend: „Ihre Stimme klingt ehrlich, also nehme ich Ihre Worte als Kompliment für uns und unseren Gastgeber. Aus einem anderen Mund hingegen hätte ich vermuten müssen…“ In ihrer Stimme schwang leiser Spott mit.
Rallis lachte schallend: „An anderer Stelle würde man jetzt nach ein paar Priestern rufen, um ein Austreibungsritual abzuhalten…“, er grinste und berührte Arat leicht an der Wange, „für zwei gefährliche, aber absolut bezaubernde Dämonen.“
Navarr hütete sich, in das Gelächter einzustimmen. Immerhin war er sich sicher, dass sie beobachtet wurden: „Und, wie finden Sie den Empfang meines Cousins? Im Vergleich zu den höfischen Festen der glorreichen Vergangenheit muss es fast ein bisschen…gewöhnlich wirken.“
Rallis protestierte gutgelaunt, aber es war wieder Lirai Cesta, die antwortete: „Vor noch einem halben Jahr hätte ich Ihnen zustimmen müssen, Hoheit. Aber jetzt…
Inzwischen ist soviel Leben und…Farbe in das Hofleben gekommen, dass das Jahr der drei Imperatoren dagegen fast langweilig wirkt.“
Der Pfeil hatte gesessen. Während des ‚Jahrs der drei Imperatoren’ hatte Pan’chra binnen zehn Monaten zwei Thronwechsel gesehen – und keiner war unblutig abgelaufen. Die ewige Stadt war belagert, erobert und geplündert worden, während in den Hallen des Palastes Dolche und Giftmischer Angst und Schrecken verbreiteten.
Rallis grinste sardonisch: „Ich sehe mich inzwischen schon nach einem Vorkoster um.“
„Hältst du das wirklich für so komisch, Rallis?“ Navarr überraschte sich selber durch diese Frage. Anscheinend hatte er auch Rallis überrascht. Der ältere Thronprätendent zögerte kurz, blickte sich um und wandte sich dann an seine beiden Begleiterinnen: „Wenn Ihr uns beide kurz entschuldigen würdet? Ich und mein teurer Cousin haben da etwas zu besprechen…“ Während Arat huldvoll nickte, ließ Lirai Navarr nicht aus den Augen. In dem fast unangenehm direkten Blick lag etwas, das er nicht deuten konnte.

Doch dann hatte ihn Rallis bereits in eine Ecke das Saals dirigiert, während die beiden Schwestern und ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Domestik mit Rallis Farben sie ein wenig abschirmten: „Sieh dich genau um, Cousin. Was siehst du hier für Leute? Sag es mir.“ In der Stimme des älteren Mannes vibrierte auf einmal eine beunruhigende Saite, lag eine Härte, von der Navarr nicht gewusst hatte, dass Rallis sie beherrschte.
Also kam er der Aufforderung nach und konzentrierte zum ersten Mal, seitdem er den Saal betreten hatte, wirklich auf das gesamte Panorama des Hofstaates, das sich hier präsentierte. Es hätte ihm schon viel früher auffallen sollen, dass die Gäste keineswegs für alle Strömungen und Lager repräsentativ waren, die den kaiserlichen Palast prägten.
Sicherlich, Flotte und Armee waren reichlich vertreten. Aber es fehlten die uniformierten Expansionisten und Ultra-Traditionalisten. Dafür sah er zahlreiche Vertreter der Koo-Fraktion, den alten Marschall Parin samt Gefolge, Vertreter der militärischen Nachrichtendienste…eine ganze Anzahl Offiziere, die erst nach Jors Tod wieder aus der Verbannung oder von irgendeinem undankbaren Provinzposten zurückgekehrt waren. Die auf Akar verbliebene Riege der Offiziers-Frondeure war reichlich vertreten. Vor allem junge Männer und Frauen, die sich um einige alt gediente Veteranen vergangener Tage scharrten, die während der Jor-Ära der Integrität den Vorzug vor Karriere und Gehorsam gegeben hatten.
Ungewöhnlich war auch die hohe Anzahl nichtadliger Gäste aus den zivilen Ministerien und der Wirtschaft – zumindest, wenn man es mit Empfängen verglich, die in den letzten Jahren Eliaks üblich gewesen waren, als die von Jor propagierte Bevorzugung des ‚Alten Blutes’ auch im Hofleben ihre Spuren hinterlassen hatte. Und was die Vertreter der verschiedenen Adelshäuser anging…
„Du hast den halben progressiven Flügel des Konvents eingeladen.“
„Nicht so viele, wie ich wollte. Aber wir müssen ja bescheiden bleiben.“
„Den Befehlshaber der kaiserlichen Garde und seine Familie?! Was willst du damit signalisieren – dass du einen Staatsstreich einleiten könntest?!“
Rallis grinste kurz, ohne dass das Lächeln seine leicht zusammengekniffenen Augen erreichen konnte, die jetzt die berüchtigte Kälte des Thelam-Blicks ausstrahlten: „Ein wahrhaft faszinierender Gedanke, aber nein. Wie dir meine bezaubernden Begleiterinnen zweifellos mitteilen würden, leben wir nicht mehr in der guten alten Zeit. Aber wir leben in einer Zeit, in der es notwendig wird, Linien zu ziehen und sich auf eine Seite zu stellen. Und ich mache das lieber auf meine Art und Weise, als mir das Datum und den Ort diktieren zu lassen.
Wir sollten uns um wichtigere Dinge Gedanken machen als um die Frage, mit wem ich schlafe. Diesen Männern und Frauen hier…“, eine rasche, unauffällige aber umfassende Geste, „…ist das egal. Zumindest jenen, auf die es ankommt. Der Rest ist unwichtig. Sie sollen sehen – und sie sollen ZEIGEN – was für eine Macht sie sein können, wenn sie sich zusammenschließen. All jene, die es leid sind, dass einige alte Fossilien und junge Dummköpfe ihren Ehrgeiz und ihre Verstiegenheit in abgeschmackte Plattitüden von der ‚Mission unserer überlegenen Rasse’ und der ‚heiligen Borealis-Doktrin’ kleiden. Es wird Zeit, dass wir die Fakten und die Fähigen regieren lassen. Und ich bin nicht gewillt hinzunehmen, dass mich ein paar Dilettanten und Emporkömmlinge dabei überholen.“
Das war eine Seite, die Rallis bisher vor seinem jüngeren Cousin verborgen hatte, und sie überraschte den jungen Kadetten. Er hätte es wissen müssen – immerhin brannte auch in Rallis das Feuer der Thelams. Das konnte man allzu leicht vergessen, wenn man nur die täuschend harmlose Oberfläche sah, sich von Rallis Affären und seinem umgänglichen Auftreten ablenken ließ. Er schien immer zu einem Scherz, einer mokanten Anzüglichkeit oder einer geistreichen Reflexion aufgelegt. Aber unter dem Glas und dem Tand schien sich ein stählerner Kern zu verbergen. Oder?
„Dennoch, halten Sie es weise, hier mit diesen beiden…“
Rallis lachte kurz auf, und mit einmal waren die eisige Härte aus seinem Blick und seinen Augen verschwunden, als hätten sie niemals existiert: „Mein lieber junger Freund, lass dir von einem Älteren einen guten Rat geben. Wenn du eine Begleitung für ein Fest suchst, dann solltest du bei ihr auf drei Dinge achten. Ein gefälliges Aussehen, gute Manieren – und Verstand. Fehlt etwas davon, dann machst du dich todsicher lächerlich.
Wenn es dir hingegen darum geht, eine vorteilhafte Ehe einzugehen, dann musst du nur auf eines achten. Nämlich auf den Stand und das Prestige deiner Zukünftigen. Alles andere ist nur Beiwerk. Schön, aber nicht entscheidend. Man heiratet nicht, um glücklich zu werden. Sondern weil man sich in eine Notwendigkeit fügt.“
„Das klingt furchtbar. Und etwas sexistisch.“
„Ich habe doch nicht gesagt, dass das nur für Männer gilt! Ich glaube, eine gute Bekannte von uns beiden hat diese Richtlinien ebenfalls beherzigt. Ha! Aber so ist das Leben am Hofe. Deshalb habe ich darauf geachtet, mich nicht einfangen zu lassen. Aber um noch mal auf meine charmanten Begleiterinnen zu kommen…
Ich bin inzwischen ein Mann in einem gewissen Alter und einem…gewissen Ruf. Weißt du, was die Leute sagen werden? Ja ja, so ist er, der alte Schwerenöter. Aber keiner wird annehmen, dass ich mir von einem Paar hübscher Augen – oder von zwei Paaren, was das angeht – den Kopf verdrehen lasse. Also kann ich mich zeigen, mit wem ich will. Solange ich mich nicht damit lächerlich mache.
So, genug damit. Ich glaube, wir haben uns lange genug in der Ecke herumgedrückt. Sonst denkt dieses alte Allecar-Fossil noch, ich hätte dich für einen meiner finsteren Pläne eingespannt. Dieser vergreiste Intrigant sollte sich erst einmal um seine eigene Brut kümmern, bevor er anfängt, bei der Thronfolge mitmischen zu wollen. Ein Narr, ein Dummkopf und ein Schwächling…Bah, was schwebt denen bloß vor – wollen sie ein Kind auf den Thron heben, das noch nicht mal gezeugt wurde?“
Während dieser mit einem zynischen Grinsen vorgetragenen Schmähung schob Rallis seinen jüngeren Cousin vor sich her in die Richtung eines Pulks uniformierter Gäste. Normalerweise hätte sich Navarr ganz bestimmt nicht derartig herumbugsieren lassen, aber wenn er ehrlich zu sich selber war, so hatte ihn Rallis Eröffnungen einigermaßen verunsichert. Im Augenblick war er zu sehr damit beschäftigt, die Position seines Cousins im Mächtegleichgewicht des Hofes neu einzuordnen, als dass er sich über dessen dirigistische Art aufgeregt hätte.

Unvermittelt hielt ihn Rallis noch einmal zurück und da war es auch wieder, dieses kalte Blitzen: „Eins noch, Cousin. Auch du solltest dich bald entscheiden. Was du willst – und mit wem du es erreichen kannst. Diese Zeit verzeiht kein Zögern. Wenn du keine Wahl triffst, dann kann es sein, dass sie für dich getroffen wird.“
Jetzt reichte es Navarr aber doch: „Und wer soll das tun – du, COUSIN?! Ich habe keine Angst vor dir!“
„Nicht ich. Karrek. Und vielleicht auch…Allecar und seine Clique. Ich weiß noch nicht genau, was er und sein missratener Sohn genau vorhaben, aber sie werden sich jedenfalls nicht damit zufrieden geben, Linai Thelam zu ein paar Jahre Regentschaft verholfen zu haben. Und was auch immer sie planen, während sie sich hinter dem Rücken meiner geliebten Cousine verstecken…was meinst du, halten sie von einem jungen Thronprätendenten der dem Thron so nahe steht? Denk darüber nach.“ In dem Griff, mit dem Rallis Thelam den Arm seines jungen Verwandten festhielt, lag eine Kraft, die einem flüchtigen Beobachter verborgen bleiben musste, die aber Navarr zusammenzucken ließ. Er machte Anstalten, sich gewaltsam los zu machen, aber da hatte ihn sein Cousin bereits wieder losgelassen und zu seinem üblichen jovialen Selbst zurück gefunden: „Nun aber genug von solchen düsteren Gedanken. Außerdem habe ich schon zu lange meine anderen Gäste vernachlässigt. Das ist ein Fehler, den ich schleunigst korrigieren sollte, selbst wenn es keiner von ihnen wagen würde, sich zwischen zwei Thelams zu drängeln.“
Und damit wandte er sich zu seinen beiden Begleiterinnen zu, die das Intermezzo zwischen Navarr und Rallis aufmerksam aus diskreter Entfernung verfolgt hatten: „Meine Lieben…so sehr es mir auch leid tut, aber ich muss euch wohl für eine Weile im Stich lassen. Hände Schütteln, Komplimente drechseln, den Boden kratzen…Ihr findet schon etwas, womit ihr euch amüsieren könnt, da bin ich sicher.“
Arat Cesta lachte leise auf, während Lirai nur leicht lächelte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf Navarr richtete. Der sah es mit einer gewissen Beunruhigung. Vielleicht konnte sich Rallis ja eine öffentliche Affäre leisten, aber ein junger Kadett der als ein möglicher Thronprätendent gehandelt wurde…
Ehe ihn eine Frage dazu gezwungen hätte, eine unhöfliche Antwort zu geben, entdeckte er eine Alternative: „Erzherzogin Zuuni, ich wusste nicht, dass auch Ihr zu den geladenen Gästen gehört. Hätte ich das gewusst…“
„Hätten die Konventionen dennoch verlangt, dass Ihr zuerst dem Gastgeber die Aufwartung macht. Besonders wenn es ein Verwandter ist.“ Die Herzogin lächelte kurz und lud den jungen Thronprätendenten mit einer Handbewegung ein, sich zu ihr zu gesellen.
Cattaneo
Tyr

Einige Zeit später

Nach dem etwas beunruhigenden Einstieg hatte Navarr schnell in die vertraute Routine gefunden, die man sich als Mitglied der kaiserlichen Familie aneignete. Man betrieb leichte, gepflegte Konversation, vermied irgendwelche allzu politischen Statements und hielt die Ohren offen.
Allerdings begann er sich inzwischen schon wieder etwas zu langweilen. Die meisten der Anwesenden gehörten nicht gerade zu seiner Altersgruppe, und um keiner der um sozialen Aufstieg bemühten Familien falsche Hoffnungen zu machen, musste er seine Gespräche mit ihren Töchtern kurz und unverbindlich halten. Manchmal kam es ihm so vor, als würde der Hof nach Regeln funktionieren, die schon altmodisch gewesen waren, als das Imperium nur einen einzigen Planeten umfasste.

Die anwesenden Militärs waren zum größten Teil bereits pensioniert oder gehörten nicht der kämpfenden Truppe an. Die Angehörigen der militärischen Nachrichtendienste, des General- und des Flottenstabs wären noch die interessantesten Gesprächspartner gewesen, aber die meisten von ihnen verhielten sich etwas reserviert. Bei den Nachrichtendienstlern gehörte das zweifellos zu den Begleiterscheinungen ihres Gewerbes, aber bei den anderen…
Vielleicht lag es daran, dass er eben nur ein Flottenkadett hatte – und damit theoretisch sogar einem Lieutenant gegenüber weisungsgebunden. ‚Und vielleicht haben sie ihre Loyalität schon vergeben und wollten sich nicht dadurch diskreditieren, dass sie zu vertraulichen Umgang mit einem Thronprätendenten haben, der nicht Rallis heißt.’
Oder vielleicht war ja der eine oder andere tatsächlich in der Gegenwart eines Thelams ein klein wenig eingeschüchtert. ‚Aber sicher doch. Und morgen wird Rallis mir seine Unterstützung antragen, während Karrek ihm auf die Hacken tritt, weil er das gleiche tun will.’
Letztendlich lief es darauf hinaus, dass dieses Fest hier Rallis Veranstaltung war und der jetzt wieder jovial und weltmännisch auftretende Thronprätendent deshalb immer im Mittelpunkt stand, selbst wenn er gerade dem einen oder anderen Gast seine volle und ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen schien. Und da Navarr darauf achtete, nicht noch einmal in das Kielwasser seines älteren Cousins zu gelangen, isolierte ihn das auch ein wenig. Aber den Preis zahlte er gerne. Rallis hatte ihm viel zu denken gegeben.
Wenn Navarr je einen Zweifel an den Ambitionen seines Cousins gehabt hätte, dann waren sie jetzt gründlich ausgeräumt. Und was auch immer Rallis behauptet hatte – Navarr war sich nicht sicher, ob sein Verwandter nicht doch mit der Idee einer etwas…direkteren Aktion spielte. Oder zumindest mit der Möglichkeit kokettierte um zu sehen, welche Kreise der Stein zog, den er damit in den tiefen, dunklen Teich der Hofgesellschaft geworfen hatte. Es waren eben doch ziemlich viele Offiziere hier vertreten…
‚Parins Name alleine ist ein paar Armeekorps wert. Dann der Befehlshaber der Kaiserlichen Garde. Natürlich hat Rallis nicht die Garde in der Tasche. Auf keinen Fall. Aber schon die MÖGLICHKEIT reicht, um Karrek oder Allecar schlaflose Nächte zu bereiten. Und dann noch die jüngeren Offiziere des Koo-Gefolges. Und ist das da drüben der alte Taran-Lord?
War da nicht etwas…
Die Erzherzogin…Sie ist eine Reformerin. Glaubst du, dass sie auf dich setzen könnte?
Wem willst du Angst machen, Rallis? Was ist das hier? Eine Herausforderung? Ein Versuchsballon? Oder eine Finte?’ Aber er wusste, dass er keine Antwort auf seine Frage finden würde. ‚Genauso gut könnte ich ihn auch direkt fragen.’ Bei diesem alles anderen als ernst gemeinten Gedanken hielt Navarr nach seinem umtriebigen Cousin Ausschau – und hielt überrascht inne. Inzwischen konzentrierte sich das allgemeine Interesse etwas stärker auf die alte Zuuni-Erzherzogin und ihr Gefolge, während Rallis ein wenig in die Schatten getreten war. So gut das natürlich in einem festlich erleuchteten Spiegelsaal möglich war. Und er war nicht alleine.

Navarr Thelam kannte Rallis Vorliebe für junge und hübsche Frauen, aber nachdem er hier mit zwei Begleiterinnen aufgetaucht war, hatte Navarr nicht damit gerechnet, dass sich sein Cousin schon wieder nach neuer Beute umsehen würde.
Vor allem entsprach sie nicht gerade Rallis üblichen Beuteschema. Oh gewiss, sie war schön, mehr als das sogar. Auch wenn der jungen Frau die grazile Figur und die tänzelnd-eleganten Bewegungen fehlten, die bei Hofe angesagt waren. Sie wirkte eher sehnig und durchtrainiert, und in ihrer Haltung lag eine unterdrückte, federnde Spannung die darauf schließen ließ, dass sie zu ihren Hobbys wohl eher Laufen und Schwimmen gehörten. ‚Hmm…bei ihrer Haltung, ihren Bewegungen…vermutlich auch das Fechten. Keine Sirash. Dreeh oder vielleicht Norik.’
Aber vielleicht war es die exotische Färbung ihrer Schuppen, die Rallis Interesse geweckt hatte. Die meisten Akarii waren hell, fast weiß gefärbt, auch wenn einige eher ins Beige oder Cremefarbene tendierten. Die ins Graue gehende Färbung des Taran-Klans hingegen war eine große Ausnahme und galt eigentlich als ein wenig bäuerisch – auch wenn man das lieber keinem Taran ins Gesicht sagte. ‚Kein Wunder, dass es die Familie so ins Militär zieht. Grau passt gut zu den Uniformen. Man sieht es ihnen kaum an, dass sie auch kaiserliches Blut in den Adern haben.’
Aber dieses Mädchen…ihre Schuppen schimmerten in einem fast goldbraunen Ton, der sie aus jeder Menge hervorstechen lassen musste. Die ziemlich schmucklose, graue Uniform brachte die warme Farbe der Schuppen noch stärker zur Geltung.
Navarr war sich sicher, schon mal irgendwo einen Akarii mit einer ähnlichen Schuppenfärbung gesehen zu haben. UND er war sich auch sicher, dass ihm auch die Uniform und das kleine Wappen, das in der Form eines Aufnähers auf der linken Schulter prangte, etwas hätte sagen müssen. ‚Also denk mal mit dem Kopf! Und starr nicht zu auffällig hin.’
Dann fiel es ihm wieder ein. Der junge Thronprätendent lächelte grimmig und gleichzeitig anerkennend. ‚Rallis, du bist wirklich ein alter Rewar. Und ehrgeizig. Ist es das, was du vorhast…?’

Die junge Akarii schien nur mühsam den Drang unterdrücken zu können, mit ihren Fingern genervt auf ihren Ellbogen zu trommeln oder die Augen zu verdrehen. Offenbar gehörte sie nicht zu denjenigen, die sich durch die galante Aufmerksamkeit eines doppelt so alten Adligen einwickeln ließen. Vielleicht verfing der berühmte Rallis-Charme ja bei ihr nicht. Oder er setzte zu sehr auf eine Taktik, die eher für eine der müßiggängerischen Hofdamen geeignet gewesen wäre. Aber ausnahmsweise schien Rallis Thelam diese Anzeichen nicht wahrzunehmen – oder er ignorierte sie.
„Ich wusste ja nicht, dass du auch den Feind eingeladen hast.“
Rallis Thelam drehte sich überrascht um, während um die Lippen seiner Gegenüber kurz ein gleichzeitig sardonisches wie erleichtertes Lächeln zu spielen schien.
„Hmm? Das musst du schon genauer erklären, Cousin. Die Otrano-Familie gehört nicht nur zu einer der alten Fürsten-Familien, sie hat außerdem schon seit über tausend Jahren…“
„Ich glaube, Ihr junger Cousin bezieht sich nicht auf meine Herkunft. Sondern auf meine Uniform. Wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Maran Otrano.“
„Es ist mir ein Vergnügen. Wir kennen…und wir achten unseren Feind.“ Navarr Thelam salutierte knapp nach der Art des alten Akarii-Kriegeradels – ein Gruß, der in den alten Tagen auch eine Herausforderung einleiten konnte: „Und eine Otrano in der Uniform der Randwelten-Flottenakademie kann während des laufenden Ausbildungsjahrs nur aus EINEM Grund nach Akar geschickt werden.“
Die junge Kadettin grinste raubtierhaft: „Sie haben Recht, Hoheit. Stahl und Feuer.“

Diesmal war Rallis, der die Augen verdrehte: „Ich muss zugeben, auch wenn ich einen Preis für unsere kaiserliche Akademie gestiftet habe, finde ich diesen alljährlichen Wettkampf ein wenig…“
„Altmodisch? Immerhin gibt es keine Toten mehr.“ Ursprünglich hatte es nur eine einzige zentrale Akademie auf Akar gegeben. Die Rivalität zwischen ihr und den kleineren, weniger berühmten Ablegern basierte auf einer ehrwürdigen Tradition. Schon im ersten Imperium hatten angeblich die Schüler der verschiedenen Kampf- und Kriegerschulen miteinander konkurriert und ihre Fähigkeiten aneinander gemessen. Wie so viele ursprünglich ziemlich regellose und nicht selten blutige Bräuche hatte man diese Rivalität im Lauf der Zeit in feste Formen gegossen, sie gewissermaßen ritualisiert. Ihr Zweck war derselbe geblieben – die Schüler zu Höchstleistungen anzuspornen.
In regelmäßigen Abständen traten die Besten der älteren Jahrgänge der verschiedenen Flotten- und Armeeakademien gegeneinander an, um sich in sportlichen, technischen, strategischen und militärtaktischen Disziplinen zu messen. Traditionell fanden die Wettkämpfe auf Akar statt – und es war auch Tradition, dass die ‚Heimspieler’ die meisten Preise einfuhren.
Navarr Thelam erlaubte es sich, seine Gegenüber unverhohlen zu mustern – wenigstens diesmal konnte ihm das niemand als schlechtes Benehmen auslegen, zumal die Kadettin es ihm mit gleicher Münze zurückzahlte. Rallis Thelam fand sich auf einmal an den Rand gedrängt, was er mit einem vielleicht ein klein wenig angestrengt wirkenden Lächeln quittierte. Aber das erhöhte Navarrs Interesse nur noch: „Drehh-Fechterin? Sie haben die Figur und die Bewegungen dazu.“
„Wie schmeichelhaft. Aber nein, in der Disziplin gehöre ich nur zur Reserve. Ich trete bei den strategischen Simulationen an. Fechten ist das eine. Herz, Klinge und Körper befinden sich im Einklang…“
„…und balancieren auf der schmalen Schneide des Todes.“ vollendete Navarr das Sprichwort, dass aus einer Zeit stammte, als noch der Kampf mit der blanken Waffe die Schlachten entschied.
„…aber warum sollte ich meine Erfüllung in der Rolle eines einfachen Kämpfers finden, wenn ich auch den ganzen Krieg führen kann.“
„Nichts anderes würde ich von einer Otrano erwarten.“ Die Otranos gehörten zu einer zwar nicht allzu reichen, dafür aber sehr alten Fürstenfamilie, die ursprünglich in einer sehr deutlichen Opposition zum Kaiserhaus gestanden hatte – vielleicht auch, weil die beiden einzigen Imperatoren, die sie in grauer Vorzeit gestellt hatten, ein schnelles, blutiges, wenn auch großartiges Ende in der Schlacht gefunden hatten. Als die Otranos sich dann an der ersten Welle der interstellaren Expansion beteiligten, war dies gewissermaßen auch eine Flucht vor dem immer totaleren Zugriff des Kaiserhauses auf Akar gewesen. Vor über tausend Jahren hatten die Otranos den Hauptsitz ihres Hauses auf den Mond von Malan II verlegt und dem Trabanten etwas unbescheiden den Namen ihres Hauses gegeben.
Im Laufe der Zeit hatte sich dann ihre Rivalität zum Kaiserhaus etwas abgeschliffen. Aber sie waren sehr stolz auf ihre ruhmreiche Vergangenheit und die Tatsache, dass sie praktisch einen ganzen Mond kontrollierten. Einige Otranos hatten in Nebenlinien der Thelams eingeheiratet, und aus ihren Reihen war eine ganze Anzahl hoher Beamter und Offiziere hervorgegangen.
Dennoch galten sie weiterhin als etwas exotisch – vor allem, da nur wenige Mitglieder der Familie dauerhaft auf Akar lebten, und wegen der eigenartigen Färbung der Schuppen, die für die auf Otrano lebenden T’rr charakteristisch geworden war.
„Und in welcher Disziplin werden Sie antreten, Hoheit?“
„Nennen Sie mich Navarr. Strategische Simulation.“
„Nichts anderes würde ich von einem Thelam erwarten.“ Dann wandte sie sich kurz wieder an Rallis: „Der Preis, den Ihr ausgesetzt habt…Wird er eigentlich auch an Nichtmitglieder der kaiserlichen Akademie ausgezahlt?“
Der Thronprätendent hüstelte amüsiert: „Das war eigentlich nicht vorgesehen, doch sollte tatsächlich das erste Mal seit zwölf Jahren ein Kadett aus einer anderen Akademie…“
„Gut. Hebt das Geld für mich auf.“
Navarr brachte sich wieder ins Spiel: „Du scheinst dir da aber ziemlich sicher zu sein.“
Die junge Frau zog bei der persönlichen Anrede kurz die Augenbraue hoch und grinste dann kämpferisch: „So sicher, dass ich schon überlege, wie ich das Geld ausgebe.“
„Eigentlich solltet ihr wohl nicht miteinander reden…“, in Rallis Stimme schwang ein zumindest halbernster Unterton mit, aber er schien sich keine großen Chancen auszurechnen.
Navarr grinste seinen älteren Cousins an: „Erstens wäre es ziemlich unhöflich von mir, das Mitglied einer herzoglichen Familie zu schneiden. Vor allem, wenn es auf einem Empfang geschieht, zu dem du uns beide eingeladen hast. In unserer glorreichen Vergangenheit hätte so ein Affront als tödliche Beleidigung aufgefasst werden können. Du hättest mich fordern müssen…Ich bin sicher, eine deiner beiden Begleiterinnen hätte dir aus dem Stehgreif ein halbes Dutzend solcher Vorfälle nennen können.“
Rallis Thelam warf einen kurzen Blick in die Richtung, in die sein jüngerer Cousin vage gestikulierte und lächelte etwas säuerlich: „Wie fürsorglich von dir, mich daran zu erinnern.“
„Es war mir ein Vergnügen.“
„DAS glaube ich gerne. Ich glaube außerdem, dass du ein bisschen zu viel Zeit in meiner Nähe verbracht hast.“
„Ich lerne schnell, Cousin. Ach ja, und zweitens…“, Navarrs Lächeln verstärkte sich, „…kenne deinen Feind. Noch eine Regel, die ich von euch gelernt habe, Cousin.“
„Ich wünschte nur, ein anderer…dauerhaft abwesender Verwandter wäre bereit gewesen, diese Regel zu beherzigen.
Aber wenn du schon so wissbegierig die Weisheiten aufnimmst, die von meinen Lippen träufeln, hier ist eine weitere – kenne deine Freunde.
Nun, es wird Zeit für eine weitere Runde mit der Erzherzogin Zuuni. Zeit meine Pflicht zu erfüllen. Ich kann wohl davon ausgehen, dass du das ebenfalls tust? Dass ich meinen fasthoheitlichen Gast in guten Händen zurücklasse?“
Die junge Adlige lächelte etwas boshaft: „Aber vielleicht wäre es Ihnen auch lieber, wenn er seine Hände…sagen wir, ganz aus dem Spiel ließe?“
Rallis Thelam verdrehte kurz die Augen: „Diese Jugend. Zu meiner Zeit waren solche Bemerkungen immer ein Vorrecht der Älteren.“
Navarr nahm mühelos den Ball auf. Es machte Spaß, Rallis mal in seinem eigenen Spiel unter Druck zu setzen. Vor allem, um die Bemerkung über die Freunde…und die Feinde zu vergessen: „Ich dachte, das sei immer noch deine Zeit, Cousin. Denn warum würdest du sonst…“
„Hmm…es freut mich, dass du dieses Spiel so gut beherrschst. Denk aber daran, dass es nicht nur mit Worten gespielt wird. Ich freue mich schon auf unsere nächste Partie. Mal sehen, wer dann auf der anderen Seite steht…und was der Einsatz ist.“
Und damit machte Rallis seinen Abgang, sichtlich zufrieden darüber, dass er das letzte Wort gehabt hatte. Navarr sah ihm mit zusammengepressten Lippen hinterher und dachte sich im Geist ein paar Schimpfnamen aus. Maran Otrano, die den Schlagabtausch interessiert verfolgt hatte zuckte kurz mit den Achseln: „Weihen…Weihst du mich vielleicht ein, worum es eben ging?“
„Eigentlich lieber nicht.“
„Dann lass mich raten…“ Die junge Akarii fuhr sich mit ihren Fingen kurz über die Stirn und streckte die Hand dann senkrecht nach vorne, die Finger auseinandergespreizt. Navarr kannte die Geste. Sie symbolisierte die kaiserliche Krone.
„Denkt hier eigentlich jeder…“
„Ihr seid beide Thelams. Was hast du denn erwartet?“
Navarr lag es auf der Zunge, ihr zu sagen, wie leid er dieses Theater und das Spiel aus versteckten Andeutungen, wechselnden Allianzen und ungewissen Halbversprechungen war. Aber er beherrschte sich. Vielleicht deutete er den Ausdruck in ihren Augen falsch, aber sie schien es jedenfalls zu ahnen.
Und wenn nicht…ein Prinz beklagte sich nicht. Punkt.
Als würde sie tatsächlich etwas von seinem Dilemma ahnen, überging die Kadettin den Augenblick mit einem Achselzucken: „Ich glaube, ich mache mir im Augenblick ein paar Feinde.“
„Sicherlich nicht Rallis. So kleinlich ist er nicht.“
Die Adlige verdrehte die Augen: „Dein Cousin sollte seinen Charme vielleicht mal ein wenig entstauben. Wenn er mir noch einmal gesagt hätte, wie bezaubernd ich aussehe, dann hätte ich angefangen zu schreien. Das verfängt vielleicht bei einer dieser halbgebildeten Modepuppen…“
„Und was, wenn ich sagen würde, dass er recht hat?“
Maran Otrano warf ihm einen spöttischen Blick zu: „Hmm…dann würde ich vielleicht sagen, dass es darauf ankommt, wer das zu mir sagt.“
„Wenn du dir so wenig aus diesem Theater machst…warum bist du dann eigentlich hier?“
„Weil man das von einer Otrano erwartet. Selbst wenn sie nicht in einem Abendkleid sondern in einer Uniform steckt. Und außerdem…“, sie schnaubte verächtlich, „…bin ich vermutlich aus dem selben Grund hier, wie du. Damit meine Mutter sich sagen kann, dass sie alles unternommen hat, um mich anständig zu verheiraten. Als ob wir noch in den Zeiten des ersten Imperiums leben.“
Navarr kam ein unangenehmer Verdacht: „Und wer könnte…“
Die junge Adlige grinste kurz und wies unauffällig in die Richtung, wo sich Rallis Thelam durch die Menge schob. Wie bei einem Schiff, das sich seinen Weg durch einen mit Schilfrohr und Wasserpflanzen überwucherten Tümpel bahnte, kam er nur langsam voran. Und er schlug Wellen: „Es ist nur so eine Vermutung…“
Navarr runzelte kurz die Stirn. Aber das würde zu Rallis passen: „Er hat sie wirklich alle in der Hand.“
„Ja, auch wenn er nicht so dumm war, nur unbedeutende Speichellecker und Hofschranzen einzuladen. Aber selbst Erzherzogin Zuuni und Marschall Parin sind hier nur…Gäste.“
„Genauso wie ich. Rallis hat es immer schon verstanden, sich in einem solchen Ambiente ins rechte Licht zu rücken. Er hat uns alle versammelt. Und wir alle…wollen wissen, was er als nächstes tun wird.“
„Und das stört dich? Man gewöhnt sich daran.“ Maran grinste boshaft: „So fühlen sich gewöhnliche Sterbliche.“
Navarr Thelam schnaubte amüsiert: „Und dass sagt ausgerechnet eine Otrano-Tochter, die eine unserer Randweltenakademien bei dem Wettkampf mit der kaiserlichen Flottenakademie vertritt. Du bist nicht gewöhnlich.“
„Dankeschön. Aber im Gegensatz zu dir und Rallis werde ich niemals den Atem anhalten müssen, wenn das Adelskonvent seine Entscheidung verkündet.“
„Also wenn du mit deiner Vermutung zu den Hoffnungen deiner Eltern und Rallis…Plänen Recht hast…“
„Lieber melde ich mich freiwillig an die Front. Er ist ja sehr charmant…“
„Oh ja, das kann er wirklich sein.“
„Aber ein bisschen zu freigiebig mit seinem Charme. Und viel zu ALT.“
Navarr verbiss sich ein Auflachen. DAS hätte sein Cousin ganz gewiss nicht gerne gehört, auch wenn er doppelt so alt wie Navarr war: „Und wie würdest du dann Erzherzogin Zuuni nennen?“
„Immerhin soll ich SIE ganz bestimmt nicht heiraten. Außerdem sind wir verwandt. Meine Mutter war eine Zuuni.“ Navarr nickte abwesend. Das machte Sinn. Er hätte sich denken können, dass es mehr bedurfte als eine nachgeborene Tochter einer etwas an der Peripherie des Hofes verharrenden herzoglichen Familie, um Rallis ernsthaftes Interesse zu wecken. Egal wie exotisch oder schön sie war. Doch wenn sie auch noch Zuuni-Blut hatte…
„Wie sie sich alle um ihn scharen...“
„Ja, er ist das Gravitationszentrum dieses Abends.“
„Und was für ein prächtig blinkendes und gewichtiges Zentrum. Ich würde ihn eher ein Gravitätszentrum nennen.“
Diesmal konnte Navarr nicht anders. Er musste lachen.

***

Etwas später

„Nun, ich würde sagen, obwohl Ihr der Erste wart, seid Ihr heute Abend für meine Nichte nur die zweite Wahl.“
In der Stimme von Erzherzogin Zuuni schwang mehr als nur ein bisschen Spott mit, der aber von Rallis Thelam mit einer großartigen Geste weggewischt wurde: „Ich wusste ja nicht, dass Eure Verwandtschaft mit der jungen Maran Otrano so eng ist. In dem Fall hätte ich mir noch mehr Mühe gegeben.“
„Ob das gereicht hätte? Sie scheint nur Augen für Euren jüngeren Cousin zu haben.“
„Wenn Ihr ein Mann wärt, dann würde ich sagen, dass ich bei der jungen Otrano eine Erfahrung sammeln konnte, die wir alle irgendwann machen müssen…“, Lev Zuuni registrierte die versteckte Spitze mit einem anerkennenden Nicken, „…aber ich glaube, Sie interpretieren da etwas zu viel hinein. Ich glaube nicht, dass die beiden mehr gemein haben, als eine gewisse vornehme Verachtung der geltenden Konventionen und einen hinreichend ähnlichen und doch gleichzeitig interessant verschiedenen militärischen Hintergrund.“
„Es ist schon sehr viel auf einer weitaus kleineren Schnittmenge aufgebaut worden. Aber wenn das alles ist, was Sie sehen…“
„Mich würde interessieren, was Sie sehen.“
„Wenn ich die beiden sehe?“
„Wenn Sie mich sehen. Natürlich in einer ganz und gar unromantischen Art und Weise.“
Lev Zuuni hatte schon den ganzen Abend auf so etwas gewartet und ehrlich gesagt bewunderte sie den Kampfgeist von Rallis. Erst hatte er sich anscheinend mit seinem Cousin und potentiellen Konkurrenten gezankt, sich anschließend von eben jenem Cousin ausstechen lassen – und ging dennoch DIESES Thema mit einem Elan und auch einer gewissen Eleganz an, die Achtung einflößte.
„Hm. Ich sehe…ich sehe einen sehr schlauen Akarii, der die meisten anderen für ziemlich dumm hält.“
„Ich bin schon schlechter bewertet worden. Dennoch…hatte ich auf ein etwas anderes Urteil gehofft. Vor allem in Bezug auf meine…unmittelbare Zukunft.“
„Die vorauszusagen liegt nicht in meiner Macht.“
„Aber vielleicht sie mitzugestalten?“ Rallis musterte sie ein paar Augenblicke, schüttelte dann langsam den Kopf und beantwortete seine Frage selber: „Ich verstehe. Bedauerlich.“
Tatsächlich verspürte auch Lev Zuuni so etwas wie Bedauern. Rallis Thelam hatte das geschickt eingefädelt. Sie mit der Möglichkeit zu ködern, eine Verwandte der Zuuni-Linie zu heiraten…
Politisch waren sie auf derselben Wellenlänge. Mit diesem Empfang und mit den politischen Gesten und Winkelzügen der letzten Wochen hatte er sich als ein Kandidat präsentiert, den zu unterstützen die Zuuni unter anderen Umständen zumindest ernsthaft in Betracht gezogen hätten. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben…
Aber Rallis hatte den einen, den alles entscheidenden Fehler begangen. Er war zu spät gekommen. Jetzt zählte nur noch, ob ihn seine Macht, seine Fähigkeiten und sein Ehrgeiz zu einem Verbündeten machen würden – oder zu einem Feind. Doch die Zuuni konnten sich jedenfalls nicht mehr hinter seine Kandidatur stellen. Nicht, solange dies dem von Lev geleisteten Eid widersprach. ‚Und ich glaube irgendwie nicht, dass Linai sich hinter Rallis stellt. Obwohl…’
Mit so etwas wie gelinder Überraschung kam sie zu dem Urteil, dass Rallis unter seiner jovialen, geistreichen und charmanten Oberfläche möglicherweise einer der gefährlichsten der Thelams war. Auf jeden Fall gefährlicher als Navarr und Lisson.
Karrek allerdings…Wahrscheinlich hatte er mehr Admiräle und Generäle auf seiner Seite, aber dafür war seine politische Rückendeckung etwas dünn, zumindest seitdem Allecar so offensichtlich auf ein anderes Spiel setzte. Dass außerdem auch noch Admiral Kern Ramal ins Linai/Allecar-Lager übergeschwenkt war, hatte Karrek noch weiter geschwächt. Und er machte sich leicht Feinde – eine Kunst, die auch Rallis beherrschte, die er jedoch sehr sparsam dosiert einsetzte. Obwohl auch er unter der typischen Thelam-Krankheit litt – alles selber kontrollieren zu wollen – war er doch flexibler. Rallis konnte auch eine Niederlage hinnehmen und zurückstecken. Um dann üblicherweise aus einer unerwarteten Richtung einen erneuten Vorstoß zu unternehmen. Unwillkürlich fragte sie sich, was sein nächster Schritt sein würde. ‚Vielleicht sollte ich anfangen, auf meinen Rücken und meine Flanken zu achten. Hmm…den Oberbefehlshaber der Garde einzuladen. Wie…unsubtil.’ Sie musterte den Thronprätendenten, der seinerseits seine Aufmerksamkeit unauffällig auf seinen jüngeren Cousin konzentrierte. Und die junge Frau, die in eine lebhafte und ziemlich…kameradschaftlich wirkende Unterhaltung mit ihm verwickelt war.
‚Sehr klug von dir, Maran, dass du dich von Rallis fern hältst. Aber wie wird er das wohl aufnehmen…’

***

Etliche Stunden später

Dann Qau hatte eigentlich damit gerechnet, dass Rallis Thelam irgendwann mit einer (oder beiden) seiner attraktiven Begleiterinnen verschwinden würde – oder mit irgendeinem anderen gut aussehenden, deutlich jüngeren weiblichen Exemplar der Hofgesellschaft. Aber er hatte sich geirrt. Als auch der letzte Gast verschwunden war, war Rallis immer noch da.
Er hatte es sich nicht nehmen lassen, die meisten der Eingeladenen persönlich zu verabschieden und hatte dabei förmlich von Esprit und Charme gesprüht.
Jetzt allerdings…lehnte er in einer ziemlich lässig wirkenden Haltung an einem der Stehtische. Das prunkvoll verzierte Oberteil seiner Festgarderobe stand halb offen und der Kronprätendent schenkte sich mit eigener Hand aus einer halbvollen Weinkaraffe ein, während seine Augen seltsam abwesend durch den nun leeren Raum schweiften, der jetzt ins Halbdunkel getaucht lag. Er wirkte seltsam einsam. Dann Qau fragte sich unwillkürlich, ob das nicht auch etwas war, dass all jene, die kaiserliches Blut in den Adern und einen halbwegs aussichtsreichen Anspruch auf den Thron hatten, miteinander teilten. Die Einsamkeit an der Spitze. Oder war auch das nur eine Pose, die Rallis spielte – vielleicht sogar vor sich selbst?
„Hoheit, was ich Ihrem Cousin gesagt habe…“
Rallis Thelam lächelte flüchtig und winkte ab, während er einen langen Schluck nahm: „Entspann dich, Dan. Du hast genau das gesagt, was er hören wollte. Und was du sagen SOLLTEST. Gut gemacht.“
„Navarr und dieses Otrano-Mädchen…“
„Ja, das hat doch gut funktioniert, oder etwa nicht? Ich habe dir doch gesagt, dass es keinen Sinn machen würde, meinem jungen Cousin eine Modepuppe an den Arm zu hängen, die ihn anhimmelt. Davon gibt es genug am Hof.“
„Hm. Willenstarke junge Frauen dürfte er aber auch genug kennen lernen können.“
Rallis grinste kurz: „Die sich nicht offensichtlich von seinem Anspruch auf den Thron beeindrucken lassen? Nicht allzu viele, die nicht mit ihm verwandt sind. Es hat mich immerhin einiges an Mühe gekostet, diese Otrano zu finden.“
„Und wie haben Sie…“
„Das war noch das einfachste. Die Otranos stehen finanziell nicht gerade gut da. Dadurch, dass sie sich immer etwas von der Hofkamarilla ferngehalten haben, sind sie bei der Vergabe einträglicher Pfründe etwas zu kurz gekommen. Sie sind auf staatliche Darlehen angewiesen, wie eine ganze Reihe der alten Familien, bei denen Stolz und militärische Leistungen immer mehr galten als einträgliche Hofposten. Aber es kann eben immer nur einen Großadmiral geben, einträgliche Kriege sind selten geworden…
Nicht, dass das unbedingt nötig gewesen wäre. Es ist ja nicht so, dass ich von ihr ein wirkliches Opfer verlangt hätte. Ich glaube, dieses Mädchen weiß sehr genau, was sie will. Ich habe sie nur in die Richtung geschoben und…eine Möglichkeit angeboten. Lassen wir die beiden das weitere unter sich ausmachen. Ich habe den Rewar auf die Fährte gesetzt. Die Beute erlegen muss er schon selber.“
„Und wer ist dabei der Jäger und wer der Gejagte?“
Rallis gluckste amüsiert: „Du entwickelst langsam einen beunruhigenden Scharfsinn, Dan. Eine interessante Frage – aber im Gegensatz zur freien Wildbahn ist das im Dschungel der kaiserlichen Hofgesellschaft nicht so einfach vorauszusagen. Das macht die Jagd ja so aufregend.“
„Eins verstehe ich allerdings nicht. Es hat euch einen Monat gekostet, eine geeignete Kandidatin zu finden. Und sehr viel Geld. Maran Otrano ist attraktiv, intelligent und sie hat nicht nur Otrano- sondern auch noch Zuuni-Blut in den Adern…“
„Du willst wissen, warum ich sie nicht selber heirate? Viel zu nahe liegend. Es hat seine Vorteile, für berechenbar gehalten zu werden. Es aber auch zu SEIN, ist tödlich. Außerdem…zumindest die Zuuni scheinen bereits in ein anderes Lager gewechselt zu sein. Also würde sie schon einmal nur den halben Gewinn einbringen, auf den ich gehofft habe. Ich frage mich bloß, warum? Wem hat sich Lev angeschlossen? Sie können nicht ernstlich erwägen, Karrek zu unterstützen. Navarr und Lisson…sind viel zu jung. Die haben doch bestenfalls Außenseiterchancen. Und Linai? Dass sie sich ausgerechnet zum Steigbügelhalter für dieses verkalkte Fossil Allecar machen lassen…
Aber was Maran angeht…Sie ist mir zu klug und zu ehrgeizig, um sie zu heiraten. Ich suche mir meine Rivalen mit Bedacht aus. Und wenn ich sie mit ins Bett nehme, dann höchstens im übertragenen Sinne.“
„Und wenn Navarr nun glaubt, dass er mit den Otranos stark genug ist, um seinen Anspruch alleine zu vertreten? Ihr gebt ihm da eine Möglichkeit in die Hand…“
„Dann würde er mich schwer enttäuschen. Ich halte ihn nämlich für klüger. Er ist zu intelligent, um voreilig eine so vordergründige Chance zu ergreifen. Er kennt seine Stärken – und ich denke, auch seine Schwächen. Ein faszinierender Charakterzug, der einigen meiner geliebten Verwandten völlig abging. Oder abgeht. Nur Karrek ist so dumm, einen Alleingang zu wagen.“
Das war noch ein Rätsel, das Dan Qau gerne gelöst hätte. Die mehr als unterschwellige Feindseligkeit die Rallis gegenüber Karrek und Jor empfand. Selbst seine ständigen öffentlichen und privaten Spitzen gegen die Allecars waren im Vergleich dazu eher Pflichtübungen oder Zeitvertreib. Aber seine beiden Cousins…In der Öffentlichkeit kaschierte er es ziemlich gut, aber letztendlich konnte es natürlich nicht verborgen bleiben, dass er regelmäßig ‚rauf’ sagte, wenn einer der beiden für ‚runter’ votierte.
Bei Jor war das ja noch verständlich gewesen – immerhin war er Kronprinz und Kriegsminister gewesen und hatte außerdem seinen ‚persönlichen Kanzler’ gehabt, auch wenn Rallis gelegentlich spottete hatte, dass er bis heute nicht wusste, wer eigentlich bei diesem Paar der Rewar und wer der Schwanz gewesen war.
Aber Karrek… ‚Vielleicht liegt es daran, dass Karrek sich wie der wiedergeborene Jor geriert.’
„Nun, wir werden sehen. Letzten Endes habe ich es nicht gänzlich in der Hand. Aber wenn dieser Abend zu etwas gut war, dann dazu, um ein paar unschöne Schatten auf die Wand zu werfen. Sie sollen nervös werden, sie alle.
Sie müssen begreifen, dass es nicht ohne mich gehen wird. Und ganz bestimmt nicht gegen mich. Vielleicht überlegt es sich ja Linai auch einmal, ob die Allecars genug Unterstützung für ihre Regentschaft sind. Und ob sie wirklich als Brutmutter für eine Allecar-Thelam-Linie dienen will.“
Dan Qau zuckte unbehaglich zusammen. Immerhin gab es so etwas wie Wanzen und Abhörgeräte: „Hoheit…“
„Entspann dich. Dieser Raum ist sicher. Der alte Herzog…also ihn konservativ zu nennen, ist eine Beleidigung für die meisten Konservativen. Sein Sohn...vielleicht hält Linai ihn ja für ein nettes Spielzeug im Bett, aber wenn er auf den Thron spekuliert…
Sie ist doch zu klug, um diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen. Hmm…“
Dann Qau zögerte kurz und raffte sich dann auf, die Frage zu stellen, die ihm schon seit einer ganzen Weile stellen wollte: „Hoheit, das was Ihr Navarr sagtet, was Ihr ihm anbietet, wolltet…“
„Wie viel davon wahr ist? Das werden wir sehen.“
„Und Ihr meint nicht, dass Ihr zu vielen Leuten zu viel versprecht?“
„Das ist Politik. Das musst du begreifen. Du musst den Leuten das geben, was sie wollen. Oder das, was sie fürchten. Oder beides auf einmal, das ist die wirksamste Mischung. Sie alle werden sich jetzt fragen, ob sie mir trauen können. Ob sie sich fürchten müssen. Sie müssen sich fragen, was ich bin. Und wenn alles nach Plan läuft, dann werden sie genau das glauben, was ich will.
Für Maran Otrano bin ich der, der ihr die Chance ihres Lebens anbietet.
Für meinen jungen, idealistischen Cousin bin ich derjenige, der den alten Fossilien in Verwaltung und Flotte den Fehdehandschuh zuwirft und auf ihre lächerlichen Konventionen pfeift. Der stärker ist als er – aber seine Hilfe braucht und WILL. Der ihn ERNST NIMMT.
Für den progressiven Flügel des Adelsforums bin ich der Thronprätendent, der am ehesten das vertritt, was sie sich von der administrativen Zukunft unseres Reiches erhoffen. Jedenfalls mehr als Karrek. Oder der alte Allecar, der tatsächlich zu glauben scheint, dass er Linai als Trittstein für den Aufstieg seiner eigenen Dynastie benutzen kann.
Für die ehemaligen Frondeure in Admiralität und Generalsstab bin ich vielleicht nicht gerade ein Wunschkandidat, aber immer noch besser als ein zweiter Jor. Ich bin der alte Rewar, der immer wieder Projekte des Militärs unterstützt hat. Ein guter Übergangskandidat – nicht zu schwach, aber auch nicht zu stark oder zu jung.
Für Lev Zuuni…hm. Ich HOFFE, dass ich für sie jemand bin, den sie nicht als ihren Feind sehen will, wo auch immer ihre Loyalität liegen mag.
Für Allecar und seinen missratenen Sohn…bin ich hoffentlich ihr schlimmster Albtraum. Und der Keil, der ihr widernatürliches Bündnis mit Linai spalten wird.
Karrek. Er soll sich Sorgen machen. Das macht ihn unbedacht und lässt ihn vorschnell handeln…“, ein seltsamer Glanz leuchtete in den schmalen Augen von Rallis Thelam auf: „Und für das Reich…bin ich derjenige, der von allen Anwärtern den besten Imperator abgeben würde. Nicht so jung und unerfahren wie Navarr. Nicht so weltfremd und völlig ungeeignet wie Lisson. Nicht so machtgierig und militaristisch verknöchert wie Karrek. Und jedenfalls SEHR VIEL BESSER als ein Imperator, der noch nicht einmal geboren ist oder nur über das Bett einer Prinzessin auf den Thron gelangen könnte.
Und ob ich je auf dem Thron sitzen werde oder nicht - ICH werde darüber entscheiden. Es wird meine Entscheidung sein.“
‚Oder ein früher Tod. Oder die Verbannung. Und was mache ich dann?’
Cattaneo
Ace

Ein Tag konnte schlecht beginnen - und er konnte richtig schlecht beginnen. Für mich hatte der Tag vor sechsundzwanzig Stunden mit einem Verhör begonnen. Und er war noch lange nicht zu Ende. Erst die halbherzigen Amateure, die mir mit der Böser Cop, Guter Cop-Masche eher Mitleid als Ehrfurcht oder gar richtige Furcht eingetrieben hatten - ehrlich, ich hatte mir Profis wie Rowland, Bayonne oder wenigstens Ling herbei gewünscht... Dann diese unheilvolle Abschlussbesprechung, bei der mich der TIS daran erinnern musste, dass ich im Prinzip ihm gehörte, und das nur weil ich die volle Wahrheit über Troffen kannte. Anschließend war auch noch die CAG über mich hergefallen und hatte mich verbal erledigt, bevor ich mit der Wimper zucken konnte; irgendwie schien Raven auch telepathische Fähigkeiten entwickelt zu haben, denn alle Gegenargumente, die ich mir zurecht gelegt hatte, hatte sie vorweg genommen, entschärft und damit zu stumpfen Waffen gemacht. Wenigstens war sie nicht länger als nötig darauf herumgeritten und hatte mich meinen Pflichten überlassen. Und ganz zum Schluss, als Gipfel des Nötigen hatte Lilja wieder einmal ihre Dominanz beweisen müssen. Natürlich hatte sie Recht gehabt, wenn wir beide das Gleiche erzählten und einigermaßen stimmig blieben, vermieden wir genau jene Neugier, die wir laut Befehl erwecken sollten. Aber sie hätte es durchaus netter sagen können. Und ich fragte mich bei ihrem frostigen Abschied wirklich, ob die aufkeimende Vertrautheit, die zwischen uns geherrscht hatte, bereits wieder bei den Akten lag. Ich hatte erwartet, dass sie mein Angebot, die Mission Revue passieren zu lassen, annehmen würde. Vielleicht mit einem flotten Spruch wie: "Gut, bei etwas Wodka. Aber diesmal bitte auch mit ein paar Häppchen."
Nein, alles weggewischt. Zudem hatte sie auch noch versucht, mich zu erpressen, und das nahm ich ihr am meisten übel. Na, auf diese Weise fiel es mir nicht sehr schwer, die Option "Beziehung mit Tanja" wieder in den Müllshredder zu donnern. Ob ihr auch nur ansatzweise der Gedanke gekommen war, dass sie mit einem freundlichen Gespräch und ein, zwei netten Worten mehr bei mir erreichen würde als mit einer Drohung? Na, wahrscheinlich konnte ich schon froh darüber sein, dass sie mir bei der Führung meiner Staffel zur Hand gehen wollte. Ich war nicht dumm genug, um das auszuschlagen. Ein paar Wochen Staffelchef waren nicht zu vergleichen mit der Erfahrung, die man sammelte, wenn man den Job als XO und dann Staffelchef jahrelang tat. Außerdem waren Nighthawks und Falcons durchaus unterschiedlich, und alleine die Taktikschulung war eine vollkommen andere. Ja, ich würde nicht zu stolz sein, um ihre Hilfe anzunehmen. Im Gegenteil, ich würde von ihr nehmen, was immer sie mir anbot.
Bei diesem Gedanken entrann sich meiner Kehle ein Seufzer. War ich denn immer noch nicht darüber hinweg, dass ich mich ausgerechnet in die größte Gefühlslegasthenikerin der ganzen Flotte verliebt hatte? Zu meinem Ärger musste ich feststellen, dass ich ihr keine fünf Minuten lang böse sein konnte. War ich, verdammt noch mal, immer noch in sie verknallt? Gemocht hatte ich sie schon immer. Ihre spröde Art war es, was mich überhaupt erst an ihr gereizt hatte. Wahrscheinlich war damals mein Helferkomplex mit mir durchgegangen. Und dass sie mich derart abgelehnt hatte, war noch eher Ansporn für mich gewesen. Und auch jetzt dachte ich an die unterkühlte Russin, anstatt mich meiner Arbeit zu widmen.

Ich nahm eine schnelle Dusche in meinem Quartier auf Victoria Station, gleich nachdem ich mir mit Hilfe von Chips Datapad einen groben Überblick über die Situation meiner Staffel verschafft hatte. Anschließend legte ich meine Sonntagsuniform raus. Ich hatte sie schon sehr lange nicht mehr getragen, und ich wusste nicht, ob sie mir passen würde. Quicksilvers Kochkünste waren nicht sehr lecker gewesen, aber zum Henker, verdammt nahrhaft. Der mangelnde Sport hatte seinen Teil dazu getan, sodass ich acht Kilo zugenommen hatte. Aber ich hatte vor, dieses Fett in Muskeln umzuwandeln; ich würde auf jeden Fall einen Stressausgleich für die Staffelarbeit brauchen, also warum nicht die drei Stunden Sport die Woche auf vier oder fünf ausdehnen?
Quicksilver. Das erinnerte mich noch an eine Sache, die ich erledigen musste. Während ich mich anzog, diktierte ich dem Zimmercomputer eine Botschaft an meine Eltern, die mittlerweile nicht mehr im System waren. Kurz ging ich auf die Geheimmission ein, ohne etwas beim Namen zu nennen. Mutter würde sich damit sicher nicht zufrieden geben, aber beruhigt sein, solange ich unverletzt geblieben war. Vater hingegen würde es verstehen. Er war ehemaliger Flottenoffizier. Er war "vom Fach". Dabei erwähnte ich gezwungenermaßen die EMERALD JADE, ohne weiter näher auf die Art der Mission einzugehen. Oder zu erwähnen, dass ich mir einen der "Splitter" als Andenken widerrechtlich angeeignet hatte, versteckt in einer Zahnpastatube. Natürlich erst nachdem ich sicher gewusst hatte, dass das Ding entstrahlt, entkontaminiert und im Säurebad desinfiziert worden war. Außerdem war der Splitter keines der Metallfragmente, sondern nur ein Stück Sandstein. Außerdem war er nicht größer als ein Fingernagel und gar nicht erst in den Aufstellungen von Commander Georges aufgetaucht. Das alte Leiden der Soldaten, das Andenken sammeln. Aus Hellmountain hatte ich ebenfalls einen Steinsplitter mitgenommen.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Brief, entschuldigte mich ellenlang dafür, dass ich das Familienfest verpasst hatte, fragte nach wie Donovan bei ihnen aufgenommen worden war, fragte verwundert nach, ob sie mehr über Justus' merkwürdige Versetzung wussten, und machte dann die vorsichtige Empfehlung, die EMERALD JADE als Unterkontraktnehmer in die Firma aufzunehmen. Dabei drückte ich erheblich auf die Tränendrüse, erzählte von der "tollen Stimmung" an Bord, von dem "hervorragenden Zusammenhalt der Crew", von der "herzlichen Art, mit der ich aufgenommen worden war", und baute einen kleinen Hinweis auf Quicksilver ein, der meine stets auf Enkel bedachte Mutter denken lassen konnte, dass ich an der jungen Frau mehr Interesse hatte, als ich offen zugab. Mir war klar, dass Carol eine solche Gelegenheit, ihren Ältesten unter die Haube zu kriegen und den Genpool der Davis mit guten Frachtergenen aufzufrischen, nicht vorbei ziehen lassen würde. Im Gegenteil, fortan konnte ich mir sicher sein, dass sie die JADE im Auge behielt, solange diese im terranischen Raum unterwegs war. Allerdings war ich mir sehr, sehr sicher, dass sich Jayhawker schon bald daran versuchen würde, ein wenig Konterbande in die ColCon und wieder hinaus zu schmuggeln, falls sie nichts Lukrativeres in Aussicht hatte. Und ehrlich gesagt waren mir die meisten Crewmitglieder viel zu sehr ans Herz gewachsen, als dass ich sie ins All geblasen oder lebenslang eingeknastet sehen mochte. Und verwundert stellte ich fest, dass ich die kleine Nana in sehr guter Erinnerung behalten würde.

Anschließend rief ich meine Schwester an. "Sergeant Davis."
"Lieutenant Davis."
"Cliff, du bist zurück!", rief sie erfreut, und ihr strenges, dienstliches Gesicht wurde von einem Lächeln verziert. "Wie war's?"
"Oh, wenn ich dir das erzähle, dann muss ich dich töten, mich töten, und zwischendurch den NIC-Mann, der meine Leitung überwacht."
"Ach, komm.", sagte Jean und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Der Tag, an dem der Geheimdienst paranoid genug ist, um dich zu überwachen ist der Tag, an dem Ian Verteidigungsminister wird."
Ich hüstelte verlegen. Wenn Jean nur wüsste. Tatsächlich hatte ich mein Quartier nicht untersucht, aber seit der Sache mit Kali und der explodierenden Rakete unter ihrer Phantom war ich mir nur im Camp Hellmountain sicher gewesen, nicht überwacht zu werden. Wenn ich an die Debriefing-Verhöre auf Texas dachte, an meine Rekonvaleszenz, dann konnte ich mir nicht sicher sein. Teufel, selbst ich würde mich im Verdacht haben, eventuell von den Akarii umgedreht worden zu sein.
"Eventuell etwas früher. Egal. Gibt es etwas Neues? Positives Neues? Ich will nicht hören, dass du Donovan das Herz gebrochen hast, oder so."
Sie sah mich erschrocken an. "W-was denkst du denn von mir? Ich laufe doch nicht herum und breche Männerherzen! Außerdem ist Donovan ein viel zu netter Kerl, als dass ich ihm weh tun könnte, und..."
"Jean. Es ist noch nicht sehr lange her, da war es dein Lieblingssport. Du hast mit Karyn um Kerle gewettet, und wer ihn schneller rum kriegt. Man nannte euch beide in Männerkreisen die zwei apokalyptischen Plagen für die Männlichkeit. Karyn hat sogar versucht, mich rumzukriegen!"
"Und sie hat es geschafft."
"Und genau deshalb frage ich dich, ob du meinen neuen kleinen Bruder schonend behandelt hast."
"Ruhig, ruhig, mein böser, böser Kampfpilot. Es gab da zwar ne kleine Szene während der Feier mit einem meiner Ex, da hat er sich schön die Hörner mit ihm verkeilt. Aber wir haben ein wirklich tolles Verhältnis. Wir gehen Abends schon mal weg, und er hilft mir bei meinem Offizierspatent. Ach, das habe ich ja noch gar nicht erzählen können. Major Schlüter lässt mich den Leutnant machen. Sie meint, ich habe das Zeug dazu, und sie braucht nur die besten Leute." Sie seufzte gespielt. "Du weißt, wie sehr ich auf solche Schmeicheleien stehe, Cliff."
"War nicht anders zu erwarten. Ich gratuliere zu deiner anstehenden Beförderung. Die paar Prüfungen sind doch reine Formsache. Also, wenn du mir versprichst, Donovan weiter wie ein rohes Ei zu behandeln, dann helfe ich dir auch, versprochen."
"Wie ein rohes Ei? Du meinst, ich soll ihn so richtig in die Pfanne hauen?" Jean lachte mich aus, als sie mein entsetztes Gesicht sah. "Schon verstanden. Ganz sanft, zart und mit dem Respekt, den das zerbrechliche Wesen Donovan Cartmell auch verdient. Mama Jean wird das Kind schon schaukeln."
Ich seufzte. Gerade das befürchtete ich ja. Ich nahm mir vor, ernsthaft mit ihm zu reden, sobald ich mehr als vier Stunden Schlaf am Stück gehabt hatte.
"Was ist mit Mahou? Kann sie dir nicht helfen? Sie ist ja selbst gerade erst befördert worden."
"Deine ganz spezielle Busenfreundin von der COLUMBIA First Lieutenant Mahou Ichigo gibt sich mit einem dummen, faulen Marines-Sergeant nicht ab. Ich darf erst mit ihr sprechen, wenn ich selbst Lieutenant bin."
Nun war ich wirklich entsetzt. So etwas hätte ich von Mahou nie erwartet, nicht einmal ansatzweise.
"Du glaubst mir aber auch alles.", lachte Jean. "Meine liebe Freundin Mahou hat mir alle Unterlagen überlassen, sowie ihre sämtlichen Notizen, die sie bei ihrer Leutnantsprüfung angefertigt hat. Die Marines haben ein etwas anderes Prüfschema, aber es ist mir eine große Hilfe. Sie hat aber gesagt, dass sie das nächste Mal mit Lieutenant Davis, nicht mehr mit Sergeant Davis sprechen will." Erklärend fügte sie hinzu: "Mahou ist bei den Reparaturen ganz schön eingespannt. Es scheint so, als würde ihr Arbeitsplatz an den Ortern komplett umgebaut werden. Sie hat verdammt wenig Zeit."
"Oh. Dann kann es ja nicht mehr lange dauern, bis der Pott wieder raus geht. Sehen wir uns morgen Abend zum Essen?"
"Da bin ich schon mit Donovan verabredet. Du kannst dich aber gerne mit dranhängen."
"Und das fünfte Rad am Wagen spielen? Nein, danke. Wenn, dann will ich meine Jean für mich alleine haben. Ich teile nicht gerne."
"Übermorgen? Aber du musst mir anschließend beim Flottenrecht helfen."
"Deal. Zwanzig Uhr, im Four Seasons im argentinischen Restaurant."
"Abgemacht. Dann bis übermorgen, großer Bruder."
Ich nickte ihr zu und deaktivierte die Verbindung wieder.

Langsam legte ich die Ausgehuniform an. Anschließend inspizierte ich meine Ordensleiste. Die Kampagnenbänder für Husar und Jollahran, Graxxon und fünf weitere Kampagnen waren auf Hochglanz poliert. Das neueste Kampagnenband, das in Anlehnung an den Tod von Jor in der Truppe "Prinzenkiller-Kampagne" genannt wurde, vervollständigte die Aufstellung.
An der Ausgehuniform wurden die Orden und Kampagnenbänder nicht als Bänder, sondern in voller Ausfertigung über der linken Brusttasche getragen. Ganz oben thronten natürlich meine Schwingen, jene Auszeichnung, die jeder Pilot mit dem Eintritt in den aktiven Dienst erhielt, und die dennoch jedem beinahe mehr wert als das eigene Leben waren. Sie zu tragen bedeutete fliegen zu dürfen. Eine Sucht, die fast alle Piloten gemeinsam hatten.
Meine Finger strichen über den Silbernen Löwen darunter, der bereits mit vier Spangen für die erneute Verleihung verziert war. Daneben prangte das silberne Raumfahrtabzeichen, das man für fünf Jahre Dienst auf dem Raumschiffen der TSN erhielt. Es waren Unterbrechungen erlaubt, glücklicherweise, und nur die Gesamtzeit wurde addiert. Wäre meine Zeit auf der CARNEGIE angerechnet worden, dürfte ich mittlerweile Gold tragen, ging es mir durch den Kopf.
Das bronzene Flying Cross für fünf Abschüsse war dem silbernen für fünfzig noch nicht gewichen; es gab Piloten, die eigenmächtig für je fünf weitere Abschüsse eine Litze um das Band des Ordens legten, ich gehörte nicht dazu. Wenn der Krieg noch länger dauerte, würde ich entweder die fünfzig zwangsläufig erreichen, oder vorher abgeschossen werden.
An einem prominenten Platz prangte die P.O.W.-Medaille, die an alle Armee-Angehörigen verliehen wurde, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Seit Graxxon trugen viele Leute diese Medaille, und die meisten hatten an den Erfahrungen, für die diese Auszeichnung stand, noch immer zu knapsen. Ich nahm mich selbst da in keiner Weise aus. Ohne psychologische Betreuung würde ich heute noch hochschrecken, nach meinem rechten Arm greifen und mich fragen, ob ich in meiner Koje, oder auf der harten Pritsche im Hellmountain lag.
Zum Schluss legte ich die DMSM an, die ich damals nach Jollahran "posthum" erhalten hatte, als alle Welt geglaubt hatte, ich hätte eine Antischiffsrakete der Akarii, die auf die gute alte RED gezielt hatte, gerammt, und nicht abgeschossen. Ich selbst hätte auf mein Wiederauftauchen im größten Kriegsgefangenenlager der Akarii keinen müden Real gesetzt. Zu unwahrscheinlich wäre es mir erschienen, die Brataktion der Explosion und des Neutronenschauers zu überstehen. Aber Doktor Pfeiffer, der Arzt, der mich aus Raumnot gerettet und im Camp betreut hatte, war ein Genie. Er hatte an mir ein Wunder vollbracht. Und ich war dankbar dafür. Sehr dankbar.
Auf der weißen Gala-Uniform hob sich das rotschwarze Band der DMSM wunderbar ab und war ein Blickfang. Es gab flottenweit hunderte DMSM, aber nur eine Handvoll, die ein Lebender zur Schau trug. Sie bedeutete fast immer, das man der Hölle ins Antlitz geschaut hatte, dass der Teufel zurückgeschaut hatte. Und nur wenige hatten dem Blick standgehalten. Viele hatten ihre Leben gegeben, um Kameraden zu schützen, Schiffe zu verteidigen. Ich trug diese Medaille vor allem deshalb, weil so viele es nicht mehr konnten. Weil sie mehr verloren hatten als ich. Ihre unersetzlichen Leben in einem Konflikt, der schon viel zu lange andauerte.
Ich seufzte kurz und griff nach der Schirmmütze. Ein prüfender Blick in den Spiegel im Arbeitszimmer offenbarte keine Nachlässigkeiten. Selbst die Tressen mit den Rangabzeichen sahen aus als wären sie mit Goldlack eingesprüht worden. Alles in allem war First Lieutenant Clifford "Ace" Davis eine sehr stattliche Erscheinung. Ich fragte mich, ob ich damit auf die neue Huntress den richtigen Eindruck machen würde. Immerhin hatte ich noch eine sehr lange Arbeitssitzung mit Chip vor mir, und unangenehme Dinge erledigte man besser zuerst.

Ich rief Ohka an. "Lieutenant Nakakura."
"Lieutenant Blauhaar. Hallo, Ohka."
Der Mann auf dem Bildschirm des Visiphons sah irritiert auf. "Ace! Du bist wieder da? Das wird auch höchste Zeit, denn Raven ist drauf und dran, Chip und Imp in der Luft zu zerreißen, weil ihre Staffelchefs irgendetwas machen, aber nicht an der Bereitschaft ihrer Staffeln feilen." Er runzelte die Stirn. "Commander Pawlitschenko ist ebenfalls zurück?"
"In diesem Moment spricht sie sicherlich gerade vor ihrer Staffel und hält eine mitreißende Ansprache." Ich lächelte für einen Moment, dann wurde ich ernst. "Du hast eine Neue mit interessantem Callsign für die Butcher Bears bekommen, nicht?"
Ohka seufzte. Für ihn war das ein mittelschwerer Gefühlsausbruch. "Was weißt du schon, Ace?"
"Nur, dass du eine neue Pilotin hast, die Huntress gerufen werden will."
"Okay, dann erzähle ich dir mal den Rest." Bedächtig und detailliert erzählte er mir die ganze Geschichte, einschließlich Chips Eingabe und Ravens Reaktion. Auch, das seither ein relativer Friede herrschte.
Ich konnte mich nicht ganz beherrschen, als ich das hörte. "Das war ihre Reaktion? Ich erwarte von ihr ja nicht gerade Muttergefühle gegenüber ihren Piloten, aber ein klein wenig Einfühlungsvermögen ist doch nicht zuviel verlangt."
"Cliff, hör mal, du wirst doch jetzt nicht die Sache wieder anheizen? Ich meine, du hast eine Staffel zu leiten, und du hast doch gar keine Zeit für irgendeinen Kleinkrieg."
"Mitnichten. Aber ich würde die Sache gerne auf meine Art klären. Habe ich die Erlaubnis, mit Lieutenant Agyris zu sprechen, Kano?"
Misstrauisch sah er mich an. "Du wirst nicht brüllen, nicht versuchen sie auf die sentimentale Art zu packen, sie nicht zu einem Simulatorduell herausfordern, und sie auch nicht erpressen?"
"Himmel, Kano, was denkst du von mir?"
"Schon vergessen? Ich kenne dich, Cliff. Vergiss das nicht."
"Versprochen. Ich werde sie in keiner Weise unter Druck setzen. Aber ich werde mit ihr reden. Habe ich deine Erlaubnis?"
Nakakura zögerte. "Hör mal, du hattest doch nichts mit meiner Schwester, oder? Wenn die Antwort nein lautet, und ich dir glaube, dann hast du meine Erlaubnis."
"Ach, die kleine Sakura? Weißt du, um ehrlich zu sein hatten ich und dieser heißblütige kleine Dämon so richtig guten..."
Ein unterdrücktes Lachen unterbrach mich. "Schon gut, ich glaube dir. Ich habe die Bande gerade durch die Sims gehetzt. Die dürften jetzt mit duschen fertig sein. Das heißt, du triffst sie zum Abendbrot in der Messe."
"Ich danke dir."
"Und ich werde mir genau berichten lassen, was du zu ihr gesagt hast, Blauhaar.", mahnte er mit drohendem Zeigefinger.
Ich lachte leise. "Einverstanden."
Wir nickten einander zu und unterbrachen die Verbindung.

Fünf Minuten später stand ich in der Messe, die mit Piloten gut gefüllt war. Ich war der einzige Pilot in Ausgehuniform, und das hatte ich auch beabsichtigt. Mit der Schirmmütze auf dem Kopf und nicht in der linken Armbeuge wirkte ich gleich noch einen halben Kopf größer. Ich war kein Idiot, ich wusste wie Äußerlichkeiten auf andere wirkten.
Schnell hatte ich den Tisch gefunden, an dem sich die Butcher Bears niedergelassen hatten. Und mitten unter ihnen saß lachend und scherzend eine sehr hübsche junge Frau, die sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Huntress aufwies. Sie sah auf, als ich näher trat, und ein anfängliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, bis sie das Emailleschild mit meinem Namen erblickte.
"Guten Abend, zusammen.", sagte ich höflich und nahm die Schirmmütze in die linke Armbeuge. Ich sah in die Runde, bemerkte einige neue Gesichter neben Agyris, aber eben auch einige Bekannte. "Sugar. Schön zu sehen, dass die Schnippler dich wieder von der Leine gelassen haben."
Lieutenant Petra Martens nickte. "Das bin ich auch, Ace."
Ich lächelte ihr kurz zu, dann sah ich Agyris wieder an. "Guten Abend, First Lieutenant Agyris. Oder soll ich Huntress sagen?"
Die braunhaarige Frau versteifte sich ein wenig, und Sugar schoss in die Höhe. "Ace, ich denke, wir..."
"Schon gut, ich habe mit Ohka gesprochen. Er hat mir alles erklärt. Ich bin nur hier, um zu reden und um einen Gefallen zu erbitten." Ich lächelte Sugar beschwichtigend an. Anscheinend beschwichtigend genug, denn sie setzte sich wieder.
"Was kann ich für Sie tun, Ace?", fragte Agyris trocken.
"Es.. sind ein paar Fehler passiert, als Sie an Bord gekommen sind, Lieutenant. Ich meine nicht Ihre Versetzung. Ohka hat Ihre Versetzung als angemessen bezeichnet, was für seine Begriffe ein großes Lob ist. Aber er hat etwas versäumt, mein XO hat falsch reagiert, und unser CAG hat sich die Arbeit etwas leicht gemacht, wenn Sie verstehen. Ich weiß, Sie haben Ihr Callsign Huntress sauer verdient, und ich will es Ihnen auch nicht madig machen."
"Sondern?", fragte sie mit amüsierter Stimme.
"Sehen Sie, Huntress, meine Huntress, war die Kommandeurin der Staffel, die ich jetzt leite. Als sie noch lebte, verband uns eine innige Freundschaft. Früher hatten wir auch mal eine Affäre, obwohl das schon zu viel der Erklärung sein mag. Ihr Tod hat eine Lücke in mein Leben gerissen, die nicht gefüllt werden kann. Und die Tatsache, dass eine Pilotin mit dem gleichen Callsign ins Geschwader kommt, ist dabei nicht wirklich hilfreich."
"Was wollen Sie also von mir, Ace? Der Alte hat gesagt, ich kann mein Callsign behalten."
Der Alte, damit musste sie Ohka meinen. Ich schmunzelte. "Wie ich schon sagte, es wurden Fehler gemacht, aus meiner Sicht der Dinge, und ich will diese Fehler wieder gutmachen. Deshalb kommt jetzt der Part mit dem Gefallen."
"Ich trenne mich sicher nicht von meinem Callsign."
"Nein, Ma'am, das verlange ich auch nicht. Aber ich bitte Sie...Nein, ich fordere Sie dazu auf, zu einem meiner Staffelmeetings zu kommen, und sich dort meinen Piloten vorzustellen. Sagen Sie, wer Sie sind, woher Sie kommen, was Sie bisher geleistet haben, und wie lange Sie schon Huntress gerufen werden. Sie kannten Commander Volkmer nicht, deshalb ist es wohl sinnlos, mit Phrasen um sich zu werfen wie jene, dass Sie ihr nacheifern und ihr Andenken bewahren werden. Aber ich wünsche mir, dass Sie meiner Staffel die Gelegenheit geben Sie kennen zu lernen."
"Oh, das habe ich versucht, aber die Blauen haben mich kollektiv geschnitten.", erwiderte sie etwas zu bissig.
"Wie ich schon sagte, es wurden Fehler gemacht. Ich versuche, es besser zu machen."
"Und wenn ich mich weigere? Wenn mir Ihre Blauen egal sind? Wenn ich nicht gut auf sie zu sprechen bin?"
"Sehen Sie, ich habe nichts mit dem ganzen Ärger zu tun. Ich bin nur hier, um die Scherben aufzuklauben und zu etwas Nützlichem zusammen zu kleben. Bitte strafen Sie mich nicht für die Fehler anderer. Allerdings, wenn Sie mir diesen kleinen Freundschaftsdienst unter Piloten verweigern, wäre ich wirklich betrübt. Auf den ersten Blick machen Sie einen sehr freundlichen, ehrlichen und aufrichtigen Eindruck. Ich kann mir nicht vorstellen, Sie jetzt schon auf ewig verärgert zu haben, Huntress. Bitte. Ich lege auch ein Abendessen in einem Restaurant Ihrer Wahl drauf."
"Das Ritz wäre sicherlich angemessen."
"Kein Problem. Morgen Abend? Zentraler Tisch oder Séparée?"
Für eine Sekunde schien sie lachen zu wollen. "Ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen und darüber nachdenken, Ace. Ich werde Ihnen nachher mitteilen, wie ich mich entschieden habe. Und ob Sie wirklich das Wunder vollbringen müssen, für morgen Abend ein Séparée im teuersten Restaurant der Station zu bekommen."
"Ich bedanke mich für das nette Gespräch und erwarte Ihre Antwort, Huntress." Ich setzte meine Schirmmütze wieder auf und sah in die Runde. "Kameraden."
Als ich die Messe wieder verließ, um zu meiner Staffelbesprechung zu kommen, wusste ich nicht genau, wie Huntress reagieren würde. Aber ich war mir sicher, ich konnte mit ihr zusammen arbeiten. Sie war keine Schlechte, wirklich nicht. Das war ein beruhigender Gedanke. Ich war sicher, sie hätte auch Juliane gefallen.

***

Die junge Frau, ansonsten ein Ausbund an Souveränität, und wenn ich das so behaupten darf, an ausgewachsener frecher Spitzbübigkeit, wirkte ein wenig verlegen, als ich den Platz am Sprechpult für sie räumte. Akkurat legte sie ihre Schirmmütze auf das Pult. Ihre Abzeichen und Orden waren auf Hochglanz poliert worden und ließen die schlanke Frau recht eindrucksvoll wirken. Die Sonntagsuniform der TSN stand ihr ganz hervorragend, wie ich zugeben musste.
Ihr Publikum bestand aus den Piloten der Blauen Staffel - allen zehn aktiven Mitgliedern. Noch vor wenigen Minuten hatte ich eine Übung ausgewertet und mich von unserer Gastdozentin Lilja verabschiedet, die bei der Analyse geholfen hatte. Und schon hatte Maria Agyris in der Tür gestanden und um ein paar Minuten unserer Zeit gebeten. Die höfliche Art, wie sie das fragte, überraschte mich. Ihr musste klar sein, dass meine Staffel von meiner Vorstellung und meiner Bitte wusste. Dennoch bewies sie guten Willen und Höflichkeit. Hatte ich schon erwähnt, das sie nicht einmal mit Liljas Narben hässlich gewesen wäre? Nun, Lilja war das in meinen Augen auch nicht, aber bei der neuen Huntress hätte es sicher nicht einmal ansatzweise eine Diskussion darüber gegeben. Aber ich schweife ab. Gespannt wartete ich auf das, was sich Huntress, die neue Huntress zurecht gelegt hatte. Und ich war mindestens ebenso gespannt, wie meine Blauen die Rede aufnehmen würden.

"Guten Tag, Blaue Staffel. Ich weiß, wir hatten nicht den besten Start miteinander. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich daran nicht Schuld war." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Und zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich die Erste bin, die sagt, dass ich ein störrischer Dickkopf bin."
Leises Gelächter erklang und markierte den ersten Punkt für Agyris.
"Mein Name ist Maria Agyris. First Lieutenant Maria Agyris. Mein Callsign ist Huntress. Als ich auf die COLUMBIA versetzt wurde, habe ich selbstverständlich die Callsignliste kontrolliert, um sicherzugehen, dass ich mein Callsign nicht abgeben muss, wenn ich an Bord komme. Diese Tradition der Navy funktioniert, auch wenn es einigen nicht gefällt. Und da es mehr als neun Huntress' in der gesamten Flotte gibt, hatte ich gute Chancen auf einen Geschwaderkameraden zu treffen, der ältere Rechte hat.
Ich hatte in der Beziehung Glück, die Huntress dieses Geschwaders war gefallen, auch wenn dieser Gedanke der Toten gegenüber, einer Frau, die ich nicht einmal kannte, unfair gegenüber war. Alles, was ich damals erfuhr, war, dass Lieutenant Commander Volkmer in der Schlacht am Karrashin-Kirula-Wurmloch gefallen war, und das sie eine Staffel Falcons kommandiert hatte. Das beruhigte mich ein wenig, denn als Nighthawk-Pilotin würde ich ihrer alten Staffel nicht zugeteilt werden und niemanden direkt vor den Kopf stoßen. Dachte ich. Aber jetzt im Nachhinein denke ich, dass ich es der Frau, die vor mir dieses Callsign auf diesem Träger getragen hat, schuldig gewesen bin, mich ihren Kameraden und Untergebenen vorzustellen. Ich habe es nicht getan. Ich hatte mit einer neuen Situation, mit einer neuen Staffel, mit neuen Flightkameraden und einem neuen Katschmarek zu tun. Ich hatte keine Zeit dafür, um freundlich zu sein, freundlicher als ich musste. Die Zeit würde zeigen, mit wem ich über meine Staffel hinaus in Kontakt kommen würde. So dachte ich. Aber ich musste feststellen, dass Ihr Blauen die Sache etwas anders saht... Und dabei mindestens ebenso stur wart, wie ich selbst."
"Hörst du, Chip, du wirst gelobt!", rief Shocker, seine Flügelfrau. Dem folgte wieder Gelächter.
"Was ich sagen will, ist, dass wir noch ewig lange so weiter gemacht hätten. Ich, mir keiner Schuld bewusst, hätte weiterhin pikiert reagiert, und Ihr, die Blauen, hättet die beleidigten Leberwürste gegeben, bis es irgendwann einmal einen Knall gegeben hätte. Einen Knall, den wir nicht gebrauchen können. Den eigentlich keiner haben will. Und der verhindert werden konnte, wenn nur jemand bereit wäre, über seinen Schatten zu springen."
Bei diesen Worten sah sie mich an. Ich erwiderte den Blick mit einem angedeuteten Nicken.
"Ich kannte Commander Volkmer nicht persönlich, und ich werde diese Gelegenheit nie erhalten. Aber ich kenne ihre Akte, ihren Werdegang und ihre Abschüsse. Diese Huntress, gefallen in der Schlacht ist, so glaube ich aus tiefstem Herzen, eine würdige Trägerin ihres Callsigns gewesen. Eine Offizierin, ihrer Uniform würdig. Wenn ich hier jetzt vor euch stehe und sage, dass auch ich Huntress heiße, dann weil ich es mir mit meinen Abschüssen..." Sie pausierte für einen Moment und ließ etwas über ihr Gesicht huschen, was man durchaus als doppeldeutiges Lächeln interpretierte. Und mich daran erinnerte, dass die Gerüchteküche die Art ihrer Abschüsse durchaus nicht nur auf Akarii beschränkte.
"...und meinem aufopferungsvollen Dienst verdient habe, und das mir von niemandem nehmen lasse. Aber..." Sie dehnte ihre Worte ein wenig. "Aber ab heute fliege ich auch im Namen von Commander Volkmer, das verspreche ich. Und ich hoffe, ich mache ihr und den Jokers for Redemption mit meinen Taten Ehre."
Auf ihre Rede folgte Schweigen. Nach und nach standen die Blauen auf und begannen sich vor dem Sprechpult aufzureihen. Nacheinander gaben sie Agyris die Hand und stellten sich mit Namen, Dienstrang, Callsign und Abschüssen vor. Es gab keinen Applaus für sie, dafür aber etwas viel wichtigeres: Anerkennung von Menschen, die sie zuvor geschnitten hatten.
Ich hoffte, sie war sich der Besonderheit dieses Augenblicks bewusst.

***

"Ein Séparée im Restaurant des Ritz, genau wie Sie versprochen haben, Clifford", sagte Agyris beeindruckt. Für unser Essen hatte sie sich in einen Hauch von Nichts in erwarteter knallroter Farbe geworfen, das auf einem Planeten schon bei zwanzig Grad Plus den eisigen Frosttod verheißen hätte. Zu sagen, ich wäre nicht beeindruckt gewesen, wäre ein Verbrechen vor dem gütigen Schöpfer gewesen, der sich so einen Körper hatte ausdenken können.
Selbstverständlich trug ich einen formellen Smoking mit Kummerbund, was mich beinahe mehr als sie davor tarnte, als Pilot erkannt zu werden. "Ich pflege meine Versprechen zu halten - oder mich angemessen zu entschuldigen, wenn ich es nicht kann.", sagte ich, scheuchte den Garcon weg, der ihr Cape nehmen und den Stuhl rücken wollte, und übernahm diese Aufgabe.
"Danke.", sagte sie sichtlich zufrieden, nachdem sie sich gesetzt hatte. Ich setzte mich ihr gegenüber und lächelte gewinnend. Es war ja niemandem dabei geholfen, wenn ich mich durch das Abendessen, das voraussichtlich tausend Real kosten würde, hindurch quälte.
"Die Weinkarte.", sagte der Ober, ein klein wenig beleidigt, weil ich meiner Lady den Stuhl persönlich zurechtgesetzt hatte.
"Danke, nein. Servieren Sie als Apperitiv den 86er Chardonnay Tricolore von der Ostküste. Zum Hauptgang entscheiden wir uns á la carte für einen Wein."
"Sehr wohl.", sagte der Ober, nun sichtlich ärgerlich, nahm die Weinkarte und verließ das Séparée.
"Seien Sie nicht zu streng mit ihm, Clifford. Er macht nur seinen Job.", tadelte Agyris amüsiert.
"Sein Job ist es nicht, meine Begleiterin anzutatschen. Egal ob sie aussieht wie eine Milliarde Real.", erwiderte ich ernst.
"Eine Milliarde gleich? Na, was wundert es mich? Wir sitzen hier im Ritz, und das ist bereits ein Superlativ." Ein herausforderndes Lächeln erschien auf ihren Lippen. "Schaffen Sie das auch auf Mars oder Terra, Superpilot?"
"Mit Ihrer Begleitung jederzeit, Maria.", versprach ich.
"Meinen Sie mich dabei als Türöffner, oder als Ansporn?" Ihre Miene schwenkte kurz in Richtung Unwillen.
"Als Türöffner?", fragte ich interessiert. "Waren Sie im Zivilleben Gastrokritikerin von Edelrestaurants?"
Sie zog eine Augenbraue hoch. "Ach, kommen Sie, Clifford. Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, dass Sie nicht wissen wer ich bin."
"Sie sind First Lieutenant Maria Huntress Agyris, und Sie sind heute Abend in meiner Begleitung unterwegs. Muss ich dazu noch mehr wissen?"
Sie kniff lächelnd die Augen zusammen. "Cliff, bitte. Versuchen Sie doch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Ich bin eine Agyris. Eine von den Mars-Agyris. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie das nicht wussten."
"Was interessiert es mich?" Ich schnaubte leise. "So, wie Sie vor mir sitzen, sind Sie wichtig für mich, Maria. Nicht weil Sie vom Mars kommen, oder weil Ihre Familie Raumwerften besitzt. Oder sitzen Sie hier mit mir zusammen, weil ich der Erbe der Aktienmehrheit der Davis Aktiengesellschaft sein werde?"
"Sie werden was?"
"Jetzt beleidigen Sie bitte mich nicht, Maria.", erwiderte ich lächelnd. "Wenn Sie den Spielfilm gesehen haben, wissen Sie dieses kleine unwichtige Detail."
"Ach, der Spielfilm. Der Typ der Sie spielt, hat furchtbare Haare.", sagte sie lächelnd.
"Dem stimme ich vorbehaltlos zu." Ein gemeinsames, verschwörerisches Lächeln wurde ausgetauscht.

"Der Wein, Sir." Der Sommelier erschien mit einem dekantierten Weißwein und wollte mir eine Probe einschenken.
"Nein, gießen Sie ruhig ein. Ich habe den Wein neulich schon getrunken und für gut befunden."
Auch der Sommelier schien nun enttäuscht zu sein, goss aber gehorsam die Gläser angemessen voll.
"Na dann, auf einen angenehmen Abend, Maria." Ich hielt ihr mein Glas hin.
"Vorsicht, Cliff, beim prosten in die Augen schauen. Sonst gibt das sieben Jahre schlechten Sex."
"Sieben Jahre schlechter Sex wären ja eine echte Verbesserung.", scherzte ich, was dazu führte, das sie ihren Schluck Weißwein lachend wieder ins Glas prustete.
"Die Karte.", sagte der Ober kurz angebunden und reichte uns die mit echtem Leder verkleideten Mappen. "Darf es eine Vorspeise sein?"
"Danke, die Rindsbouillon war letztes Mal hervorragend. Maria?"
"Oh, ich vertraue Ihrem Urteil, Cliff."
"Also, zweimal die Rindsbouillon."
"Sehr wohl, Sir. Ma'am."
"Diesmal habe ich ihn nicht geärgert, oder?"
"Nein, das haben Sie nicht, Cliff, aber der Abend ist ja auch noch lang.", erwiderte sie amüsiert.
Ich schlug die Karte auf. "Seafort ist bekannt für seine exzellenten Meeresfrüchte. Ich hatte letztes Mal Steak vom Angus-Seafort-Wal." Ich sah sie schelmisch über den Rand meiner Karte hinweg an. "Eine Spezialität der hiesigen Fleischzuchtbänke. Der Wildfang ist seit Jahrhunderten strikt verboten, und der Handel illegal."
"Danke, aber Fleisch aus Zuchtbänken kann niemals so befriedigend sein wie das frisch erjagte.", erwiderte Huntress. "Ah, frisch gefangener Zwölfzähner. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir ein Hauptgericht bestelle, das locker dreihundert Real kostet, Cliff?"
"Ich mache mir eher Sorgen um Ihren Essenswunsch. Zwölfzähner ist eine einheimische Oktopus-Art. Sind Sie sicher, so etwas essen zu wollen?"
Sie zuckte die Achseln. "Was spricht dagegen? Ich sitze nicht den ersten Abend hier, und ich habe schon mehr als eine Seaforter Spezialität gegessen. Ich probiere ständig, beinahe täglich neue Dinge aus. Das bereichert das Leben ungemein. Sollten Sie auch mal probieren, mein lieber Cliff."
"Liebe Maria, flirten Sie etwa gerade mit mir?"
"Das haben Sie jetzt erst erkannt? Ich bin erschüttert, First Lieutenant Davis. Ich flirte schon mit Ihnen, seit Sie mich so ritterlich vor dem Ober beschützt haben." Sie lächelte fein. "Ich hoffe, das stört Sie nicht."
"Oh, nein, durchaus nicht. Was sollte ich gegen das Interesse von einer Milliarde Real haben? Ich..."
Das helle Summen meines Kommunikators unterbrach mich barsch. Auch irgendwo aus Agyris' Kleid kam dieser Ton, und irritiert fragte ich mich, wo man in diesem Outfit irgendetwas verbergen konnte, bevor ich die Nachricht annahm. "Systemalarm."
"Systemalarm.", echote sie. Sie erhob sich, legte die Serviette auf den Tisch. "Na, wenigstens haben wir den Wein probieren können."
"Wir holen das nach, versprochen." Ich erhob mich ebenfalls, holte ihr Cape und legte es um ihre Schultern. "Einen Augenblick. Da ich bezweifle, dass die Akarii bis nach Seafort springen können, spricht wohl nichts dagegen, gemeinsam zurück zu fahren."
Ich verließ kurz das Séparée, bezahlte, legte ein anständiges Trinkgeld drauf - immerhin wollte ich wiederkommen - und kehrte dann zu Huntress zurück. Gemeinsam verließen wir das Lokal und riefen uns ein Elektrotaxi. Also ehrlich, bis zur Nachspeise hätten sich die Akarii auch Zeit lassen können.
Cattaneo
Cunningham

TRS James Knox,
Flaggschiff 5. Flotte, in der Nähe des Belts

Der Summer der Kommunikationseinheit wurde immer lauter, bis Floronce de Kerr schließlich aus dem Tiefschlaf aufwachte.
Sie streckte sich und schaltete die Bettbeleuchtung an. Das Display in der Decke ihrer Koje zeigte an, dass die Kommunikationsabteilung der James Knox sie zu erreichen versuchte.
„De Kerr.“, meldete sie sich.
„Lieutenant Petersen, Signaloffizier vom Dienst.“, meldete sich eine jugendliche Stimme, „Prioritätssignal von Victoria Station, Admiral Delevoye möchte Sie sprechen, Ma’am.“
„Stellen Sie ihn in fünf Minuten zu meinem Schreibtisch in meiner Kabine durch, Mr. Petersen. Nur Audio.“
„Aye-aye, Ma’am.“
Es war mitten in der Nacht. Eine schlechte Nachricht. Schlechte Nachrichten kommen immer nachts. Gute Nachrichten haben Zeit und werden mit dem Frühstück serviert.
Schnell zog sie ihre Uniform an und setzte sich an ihren Schreibtisch. Zum schminken war keine Zeit.
Kaum, dass sie sich setzte meldete sich die Signalabteilung.
„Stellen Sie Admiral Delevoye durch.“
„Zu Befehl, Ma’am.“
Ein elektronisches Zirpen kündigte die neue Verbindung an und der Monitor in der Schreibtischplatte meldete ihr, dass die Verbindung stand.
„De Kerr, was gibt es?“
„Admiral, die Langstreckenaufklärung hat was Wichtiges aufgefangen. Im Sektor 31 wurden zwölf Truppentransporter mit schwerer Kreuzereskorte gesichtet. Abgefangene und entschlüsselte Funkmeldungen ergeben, dass sie sich mit einer Flotte aus dem Draned-Sektor vereinigen wollen.“
„Das klingt, als ob die Akarii bei ihren abtrünnigen Gouverneuren durchgreifen wollen, das ist interessant, aber nicht annähernd wichtig genug, um mich aus dem Bett zu holen, oder Sie.“
„Richtig, Ma’am,“, stimmte ihr Delevoye zu, „aber die Träger aus Draned sind von unserem Radar verschwunden. Mittels abgefangener Translicht-Meldungen konnten wir ermitteln, dass große Verbände näher an unsere Grenze verlegt wurden.
Da die Draned-Verbände alles andere als up-to-date sind, konnten wir einiges an Funk entschlüsseln. Es werden ältere Codes verwendet, die bei den Akarii seit gut drei Monaten nicht mehr verwendet werden. Wir gehen davon aus, dass Sterntor das Ziel der Akarii-Flotte ist.“
Die Admiralin lehnte sich in ihrem Sessel zurück und überlegte kurz: „Sind die Informationen sicher?“
„So sicher, wie sie sein können. In Draned hat ein starker Mann mit imperialen Wurzeln das Kommando, sieben Truppentransporter, darunter zwei große, das sind in etwa hundertachtzigtausend Mann mit schweren Gerät. Welches Ziel wäre von Draned aus das verlockendste?“
„Sterntor.“, stellte de Kerr fest.
„Richtig, und in ihren Funksprüchen ist immer wieder von einem Ziel Namens Parrak die Rede. Einer meiner Offiziere hat auf alten erbeuteten Karten tatsächlich Sterntor gefunden, welches dort diesen Codenamen hat.“
„Verstehe, bereiten Sie sich darauf vor in fünfzehn Minuten an einer Stabsbesprechung via Translichtfunk beizuwohnen.“
„Aye, Ma’am.“
De Kerr unterbrach die Verbindung und wählte die Brücke an.
„Lieutenant Commander Burke, OVD, was kann ich für Sie tun, Ma’am?“
„Wecken Sie den Admiralsstab, die Admirale Delevoye, Zini, Auson und McIntosch sowie General Chang werden via Translicht zugeschaltet. Besprechung in einer viertel Stunde.“
„Ähm…zu Befehl, Ma’am.“

Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe alle angeforderten Offiziere, die nicht auf der James Knox Dienst taten, über Translicht-Funk zugeschaltet waren.
Die Stabsoffiziere an Bord der James Knox nutzten die Zeit, um zum einen die von Victoria Station übermittelten Dossiers zu studieren, und zum anderen sich durch Kaffee wach zu bekommen.
Als General Chang als letzter Offizier hinzustieß, erhob sich de Kerr: „Nun, da wir alle versammelt sind, können wir ja beginnen. Admiral Delevoye, bitte.“
Der Nachrichtendienstchef der 5. Flotte saß nun in seinem Büro und nickte seinen Kollegen über den Bildschirm hin zu: „Wie Sie alle sehen können, wurden über die letzten Monate im Draned-Sektor starke Truppenverbände verlegt. Zuerst schienen diese Bewegungen unkoordiniert und unabhängig voneinander.
Zusätzlich haben die Akarii Truppen aus ihrem Kernland in den Draned-Sektor verlegt.
Aufgrund der mit alten Codes übermittelten Funksprüche konnten wir als einziges mögliches Ziel Sterntor extrapolieren.“
„Welche möglichen Anmarschwege hat der Feind?“ fragte Viceadmiral Domenico Zini, de Kerrs Stellvertreter und Kommandeur der Carrier Strike Groupe 14 um den TRS Anzac.
„Es gibt drei wahrscheinlich Anmarschrouten, über Vista Kalandra, die New Florenz Kolonie oder über Thalasna Irridia am Rande des Peshten-Reiches.“
„Wenn die Akarii über Thalasna Irridia fahren, dann wäre das Peshten-Reich auch ein mögliches Ziel, unsere Militärpräsenz ist dort zur Zeit gerademal dürftig zu nennen. Und über die Kampfkraft unserer Verbündeten“, bei dem Wort Verbündeten machte Rearadmiral McIntosch mit den Fingern Gänsefüßchen, „brauchen wir uns keine Hoffnungen zu machen.“
„Das ist richtig, Mac,“, bestätigte Zini, „aber dorthin könnten wir von der ersten Flotte schnell Verstärkungen heranbringen.“
„Genug, meine Herren,“, unterbrach de Kerr, „die allgemeine taktische Lage ist folgende: Admiral Renault will sich bis Gardell zurückziehen und sich dort mit Einheiten der Ersten und Dritten Flotte vereinigen, um sich der verstärkten Hauptflotte der Akarii direkt zu stellen. Über den neuen Großadmiral der Akarii ist uns wenig bekannt, außer dass die Dame wohl auf einige Offiziere der Zweiten Flotte während Operation Husar mächtig Eindruck gemacht hat. Eindruck, der sogar ihre Ablösung nach Corsfield überstanden hat.“
„Napoleon war nach seinen Niederlagen in Russland und Waterloo immer noch ein sehr geachteter und gefürchteter Feldherr,“, warf McIntosch ein, „und wenn ich zu bedenken geben darf, obwohl Rommel auf der Verliererseite stand, sind seine Taktikdoktrinen für den Panzerkampf bis heute maßgeblich.“
„Ich glaube nicht, dass Renault sich zurückziehen würde, wenn er das neue Oberkommando der Akarii unterschätzen würde.“, George Auson nahm einen tiefen Schluck Kaffee.
„Nochmals: Genug! Wie ich sagte, Erste und Dritte Flotte versuchen Renault zu verstärken, was für uns bedeutet, dass unsere Linie zu Draned reichlich dünn ist. Nach dem Fall von Hannover sollten wir uns alle vor Augen halten, zu welchen Dingen die Akarii nach sechs Jahren Krieg immer noch in der Lage sind.
Und auch wenn man nicht vernachlässigen darf, welche politische Wirkung ein Sieg der Akarii bei den Peshten hätte. Eine Einnahme von Sterntor durch den Feind wäre für uns eine nicht wieder auszuwetzende Katastrophe.“
„Wir ständen ziemlich blöde da, wenn wir uns hier einigeln und es dann bei den Peshten kracht.“
„Richtig Mac, aber wir ständen noch da“, antwortete Auson für seine Kommandeurin.
„Folgendes: Ab sofort gilt für die Fünfte Flotte Alarmstufe Eins*, zumindest für die nächsten drei Tage, dass sollte unsere Leute auf Vordermann bringen, anschließend können sie sich bei Alarmstufe Zwei wieder etwas erholen.
Wir bilden zwei Kampfgruppen. Admiral Zini, Sie beziehen mit Anzac und Midway am Sprungpunkt Alpha Position, zusammen mit Fort Masters bilden Sie die Verteidigungslinie zur Erde. Die Derflinger wird sofort zurückgerufen und bildet mit der Triumphe die Erste Kampfgruppe. Auson, ich will die Columbia und alle anderen Schiffe so schnell wie möglich wieder im All und bei der Ersten Kampfgruppe haben.“
„Natürlich, Admiral.“
„Ich will jeden Mann und jedes Schiff im Einsatz haben. Alle Urlaubsscheine sind ab sofort gestrichen und alle Einheiten werden der Fünften Flotte unterstellt. Jedes Bordgeschütz und jeder Raketenwerfer muss überprüft werden und mindestens einen Probeschuss abgefeuert haben.“
De Kerr blickte ihre Offiziere an: „Navy, Marines und Army werden Hand in Hand arbeiten, ich erwarte dass jeder, vom Schiffskoch bis zum Anwalt, seine Pflicht erfüllt.“
„Aye, Ma’am.“
„Commodore Winston, fertigen Sie die Einsatzorder an und geben Sie Alarm, anschließend besorgen sie mir die Admirale Gerad und Mithel. Machen Sie beiden klar, dass sie jetzt zur 5. Flotte gehören, wie alles andere auch.
Anschließend informieren Sie die zivilen Behörden. Der Flugverkehr wird eingeschränkt, möglicherweise auch eingestellt.“

+++ Emergency Alert Message +++

An: Alle Einheiten Sterntor
Von: Operationszentrale 5. Flotte

Authentifizierung: Alpha-Alpha-Tango-Sierra-Papa-Mike


Betreff: Gefechtswarnung!

Angriff der Akarii auf Sterntor wahrscheinlich!
Alle Einheiten werden mit sofortiger Wirkung in Alarmstufe 1 versetzt!
Operationsplan Rose tritt in Kraft!
Funkcode Red-7 erhält Gültigkeit!

Dies ist keine Übung!

Gezeichnet
Winston, Operationsoffizier


Victoria Station
Kommandozentrale

George Auson verließ sein Büro und war sofort in dem riesigen Tower, der mehr an eine Kathedrale erinnerte, denn eine Zentrale einer Raumstation.
Über drei Ebenen erstreckten sich Computerterminals und Arbeitsstationen um den reibungslosen Ablauf des Raumverkehrs zu überwachen und zu lenken.
Der wohlgenährte Admiral trat an seine Station, ein Konsolentisch in der Mitte der ersten Ebene. Die diensthabenden Offiziere begrüßten ihren Kommandeur kurz, widmeten sich dann aber sofort wieder ihrem Tagesgeschäft, welches Auson in wenigen Sekunden erneut unterbrechen würde.
Auson nahm die Telefonhörerartige Sprechanlage zur Hand und gab den Befehl AN ALLE.
Auf der ganzen Station trällerten Lautsprecher los.
Mehrere tausend Ingenieure und Werftarbeiter, in erster Linie Zivilisten, die dienstfrei hatten und schliefen, wurden geweckt.
Auch auf den in der Werft liegenden Raumschiffen war das Lautsprechersystem an die Station gekoppelt worden, so das Auson nun die Aufmerksamkeit von über zwanzigtausend Männern und Frauen hatte.
„1-MC, hier spricht der Kommandant“, begann Auson, „auf Anweisung des Kommandierenden Admirals Fünfte Flotte, Floronce de Kerr, gilt ab diesen Moment Alarmstufe eins für die gesamte Flotte! Dies geschieht weil ein Angriff der Akarii auf Sterntor erwartet wird.
Alle Mann auf Ihre Stationen. Dies ist keine Übung!“
Der Offizier vom Dienst drückte den Alarmknopf: „Gefechtsstaion! Gefechtsstation! Alle Mann auf Gefechtsstation!“

Victoria Station war eine militärische Einrichtung. Und trotz ihrer Feuerkraft, die einer kleinen Flotte gleich kam, war Victoria Station eine Werft mit über zehntausend zivilen Angestellten.
Es dauerte über zwei Stunden, bis die Station auf voller Gefechtsbereitschaft war.
Abwehrgeschütze wurden bemannt, Raketenwerfer geladen und feuerbereit gemacht, Jäger aufgetankt, bewaffnet und startklar gemacht.
Die Piloten zweier Geschwader, der Angry Angels und der Yellow Jackets, machten sich bereit und versammelten sich in ihren Bereitschaftsräumen, soweit sie vollständig waren.
Die drei Werftschichten quetschten sich durch enge Korridore zu den Liegeplätzen der in Arbeit befindlichen Schiffe und arbeiteten mit aller Kraft daran, diese wieder einsatzbereit zu bekommen.
Die in den Docks liegenden Kriegsschiffe holten ihre Besatzungen zurück an Bord und dreiundzwanzig Minuten nach dem Alarm legte das in Bereitschaft liegendes Fregattengeschwader einen Eins-A Alarmstart hin.
Nach und nach verließen die anderen Schiffe, Fregatten, Zerstörer und Kreuzer die Docks. In einer Linie wie Hausfrauen am Freitag an der Kasse im Supermarkt reihten sich die Schiffe ein und dockten back- und steuerbord an Versorgungständern an und wurden auf munitioniert.
Bis in die frühen Abendstunden musste Personal vom Planeten in den Orbit gebracht und auf die Schiffe verteilt werden.


Albert Ville
Im Speckgürtel von Neu Kapstadt

„Und hier haben wir die Küche. In einem dezenten Weiß mit dunkler Arbeitsfläche aus einheimischer Eiche. Induktionskochplatten, einem niegelnagelneuen Maiker Elektroherd und die Vorreichtigung zum Einbau einer Microwelle ist auch vorhanden. Die in den Kühlschrank eingebaute Serviceeinheit überprüft sämtliche Haltbarkeitsdaten, erstellt eine Einkaufsliste und kann sogar darauf programmiert werden beim Händler alles Wichtige nachzubestellen, was zur Neige geht.“
Lucas Cunningham hatte dem Markler schon lange nicht mehr zugehört und war Melissa und dem Einheimischen einfach hinterhergedackelt.
Das Haus, welches sie besichtigten, war recht großzügig, selbst wenn sie hier zu dritt wohnen würden. Tatsächlich wäre auch für ein zweites Kind noch ausreichend Platz.
Melissa war außerordentlich verzückt von dem Haus, obwohl es, wenn Lucas wieder auf Fahrt gehen würde und das Kind noch nicht geboren war, viel zu groß war.
Auf die Frage, warum sie nicht zu ihrem Vater ziehen wollte, wäre er fast in den ersten Ehekrach geschlittert. Sie als erwachsene Frau würde ganz sicher nicht zu ihrem Vater ziehen, und NEIN, ein Offiziersquartier auf dem Stützpunkt käme nicht in Frage für IHRE Tochter.
Auf die Frage, ob das denn für SEINEN Sohn in Ordnung wäre, hatte Melissa versucht ihn mit einem Blick zu töten.
Letztlich war es aber der übliche Meinungsaustausch eines Ehepaares gewesen. Er hatte seine Meinung kundgetan und danach ihre übernommen.
Oder wie sein Vater es einmal gesagt hatte: ,Lucas, Deine Mutter trifft all die unwichtigen Entscheidungen: Wo wir wohnen, welches Auto gekauft wird, wie Du erzogen wirst. Ich kümmere mich um die wichtigen Dinge, wie die Meinung der Familie zu Innen- und Außenpolitik, welchen Präsidentschaftskandidaten wir wählen und all solche Dinge.'
Wie war es nur so weit gekommen? Als junger Kadett an der Marineakademie Livorno, bevor er an Markham Field seine Pilotenausbildung erhalten hatte, in Italien, hatte er reihenweise Frauen verführt. Die schicke Uniform war ihm dabei natürlich behilflich gewesen.
Und selbstverständlich hatte er auch seinen Anteil an Ohrfeigen abbekommen, sowie einige Gläser Wein, die ihm ins Gesicht geschüttet worden waren. Einmal hatte er mit seiner neuen Flamme fluchtartig den Wochenmarkt von Livorno verlassen müssen, weil seine alte Flamme sie beide mit Tomaten bewarf und so laut fluchte, dass ihre beiden großen Brüder hinzukamen.
Alles in allem eine wilde aber auch schöne Zeit, und nun, da reichte ein wütender Blick dieser einen Frau aus, um ihn zum einknicken zu bringen.
„Und ist die Küche nicht wunderschön?“ riss Melissa ihn aus den Gedanken.
Kritisch blickte er sich um: „Schatz, wir beide können nicht kochen.“
„Ich habe Sprung- und stellare Astrogation mit sehr gut abgeschlossen,“, antwortete sie mit finsterem Blick, „ich zumindest sehe mich durchaus in der Lage, das Kochen zu lernen. Du könntest ruhig etwas mehr Begeisterung an den Tag legen.“
„Ich habe Ihnen noch gar nicht den Keller gezeigt, der Vorbesitzer hat eine Sauna und einen Wirlpool eingebaut.“, gab sich der Malker alle Mühe die Situation zu retten.
Lucas achtete nicht auf ihn und blickte sich nochmal um und guckte zum Wohnzimmer zurück: „Möchtest Du das Haus haben, Schatz?“
Melissa sah in misstrauisch an, nickte schließlich und seufzte ein flehentliches ‚ja‘.
„Gut, wir nehmen es.“
Der Makler verbarg seine Überraschung sehr gut, einzig seine Augen weiteten sich etwas.
„Ist das Dein Ernst?“ Melissa hingegen war sichtlich überrascht, „Willst Du es auch wirklich? Bist Du Dir sicher?“
„Überall wo Du dich wohl fühlst…“ – ist mein Zuhause wollte er eigentlich sagen, doch er wurde von seinem und Melissas Armbandkommunikator unterbrochen.
Dieser piepte zweimal: „Dies ist eine allgemeine Durchsage: Alles militärische Personal hat sich sofort auf seinen Stationen zu melden. Alarm Stufe Eins, alles militärisches Personal hat sich sofort auf seinen Stationen zu melden. Dies ist keine Übung!“
Es machte Klick in Lucas Inneren, auf einmal war er nicht mehr Opfer ehelicher Unterdrückung, sondern Offizier der Raumstreitkräfte: „Komm!“
Auch Mel Auson war nicht mehr Ehefrau, sondern – wenn auch ranghöhere – Offizierskollegin.
Ohne ein weiteres Wort ließen die beiden den Makler stehen und stürmten zur Tür hinaus. Dort auf der Auffahrt, hinter dem Jeep des Maklers ,wartete leicht schräg geparkt ein roter Sportwagen.
Während Melissa zur Beifahrertür eilte, machte Lucas beinahe einen Hechtsprung über die Motorhaube des Leihwagens.
Na toll, du kannst einen Raumjäger auf einer Streichholzschachtel landen, aber ein Auto nichtmal gerade einparken, echt super.
„Soll ich vielleicht fahren?“, fragten Melissa, als er schon mit Schmackes zurücksetzte.
„Zu spät mein Schatz.“
„Das fürchte ich auch.“, ihre Hände verkrallten sich in den weich gepolsterten Sitz.
Als Lucas das Gas voll durchtrat, quietschten tatsächlich die Reifen und schon kurz darauf informierte ihn der Bordcomputer über das HUD, dass er die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschritt.
„Wie fährst Du denn?“
„Schnell und rücksichtslos!“
„Das meine ich nicht,“, knurrte Melissa, „Du hättest die letzte, jetzt die vorletzte links abbiegen müssen.“
Nach drei kleineren Kurskorrekturen jagte er auf den Highway in Richtung Victoria Bodenstation.
Während sie also in fünf Metern Höhe quer durch die Stadt jagten sahen sie, wie ein ganzer Konvoi von Bussen in den Farben der Armee, begleitet von Streifenwagen und Mannschaftstransportern der Militärpolizei, auf der Gegenseite zum Vergnügungsviertel abfuhren.

Vor dem Tor der Bodenstation begann dann das Warten. Zivil- und Militärfahrzeuge wollten auf den Stützpunkt. Das Tor war jetzt besser gesichert, und obwohl die Mobilmachung von Sterntor so schnell wie möglich zu erfolgen hatte, waren die Sicherheitsvorschriften verstärkt worden.
Gegenüber dem Wachhäußchen stand ein gepanzerter Truppentransporter mit lafettiertem Impulsgewehr auf dem Dach.
Marines in Vollkörperpanzerung standen zusätzlich Wache und beobachteten das Treiben misstrauisch. Die Sturmgewehre waren in Vorhalte.
Die Militärpolizei ging mit Hunden und Scannern die wartenden Fahrzeuge ab.
Von beiden Seiten wurden Waffen auf die Fahrzeuge gerichtet.
Man bereitete sich auf eine Invasion vor.
Es war menschlicher Irrsinn. Während die eine Hälfte so schnell wie möglich die Geschütze, Schiffe und Stationen bemannen wollte, wurde sie aus purem Sicherheitsdenken von der anderen Hälfte daran gehindert und verzögert.
Es dauerte fast zwei Stunden bis Lucas seine Frau bei ihrem Posten abgesetzt hatte und in einem Shuttle mit Ziel Victoria Station saß.
Ein steter Strom von Shuttles bewegte sich von und zur Raumstation.
Auf dem Flugfeld hatte er gesehen, dass ganze Busladungen von Soldaten angekarrt und von der Militärpolizei mehr oder minder sanft in die Transporter verfrachtet wurden.
Die armen Schweine, die von der MP aus den Bordellen gezerrt worden sind, um die Schiffe zu bemannen, die jetzt in aller Hektik gefechtsklar gemacht wurden.
Cattaneo
Ace

Ein wenig verloren fühlte sich Commander Haruka Ichihiro schon an diesem Tisch, dem Schreibtisch des Captains, der nun ihm gehörte. Er war ein großer, stabiler Mann mit breiten Schultern, er hatte Justus Schneider um einen halben Kopf überragt, und dennoch kam ihm dieser Schreibtisch noch immer eine Nummer zu groß vor. Er war jetzt Kapitän der KAMI, zumindest bis Chris Mithel der Meinung war, ihn durch eine sitzende Ente zu ersetzen, wie schiffslose Kapitäne auch genannt wurden. Es gab immer mal verdiente Kapitäne, die ihren Job konnten, aber kein Schiff mehr hatten. Besonders zu bemitleiden waren dabei jene Kapitäne, die ihr Schiff zum Ausschlachten an eine Werft verloren. Und leider war das Sterntor-System ein Werft-System.
Und da gab es immer noch die Möglichkeit, dass der alte Knabe einen seiner viel versprechenden Youngster der Mithel-Connection ein wenig die Rangleiter hinauf schieben wollte. Immerhin WAR die KAMI ein schwerer Kreuzer, und zudem ein Experimentalschiff, in der Akarii-Waffen und ein Akarii-Antrieb verbaut worden waren. Auch wenn Mithel Justus Schneider nicht gemocht hatte, augenscheinlich nicht gemocht hatte, die Augen der Admiralität ruhten zuerst auf ihm, und dann auf der KAMI.
Ehrlich gesagt wusste Haruka nicht, ob ihn der Gedanke, abgelöst zu werden, erschreckte oder beruhigte. Oh, er wusste, er hatte das Zeug dazu, er wusste, er hatte den Perisher in der Tasche und konnte ein Schiff kommandieren. Das war die traditionelle Aufgabe des IO. Die Frage war einfach, ob Mithel - Rear Admiral Chris Mithel - das ebenso sehen würde. Bisher war alles gut gegangen. Bisher hatte er zwei Wochen als Kapitän der KAMI überlebt. Aber er war darauf vorbereitet, diesen Stuhl wieder räumen zu müssen. Er konnte nur hoffen, dass dies keinen Karriereknick für ihn bedeutete. Ein Interims-Kapitän, dem man sein vorläufiges Kommando wieder fort genommen hatte, wurde genauso scheel angesehen wie die klassischen Seefahrer mit Skorbut.
Auf jeden Fall gab er sich Mühe, das Schiff auf einem guten Stand zu halten, sich zu beweisen. Und, das machte er sich schuldhaft bewusst, deutlich zu zeigen, dass er NICHT Justus Schneider war und einen etwas anderen Führungsstil pflegte. Ihm war immer alles sehr leicht gefallen, die Herzen der Mannschaft hatte er fix gewonnen, wie damals auf der KAZE. Haruka hingegen bevorzugte eine Beziehung, die auf Respekt basierte. Die Männer und Frauen hatten ihn als IO respektiert und akzeptiert. Nun mussten sie ihn auch als Skipper respektieren, ohne die Nonchalanche von Justus zu erwarten. So konnte er einfach nicht sein, und so würde er auch nie sein.

Als es an der Tür klopfte, sah Justus auf. "Herein."
Michaels, sein Schreiber, sah herein. "Sir, das Flaggschiff hat uns eine Fähre avisiert. Sie bringt einen Passagier in gut zehn Minuten."
Ichihiro durchfuhr es heiß und kalt. Flaggschiff, Fähre, ein Passagier. "Besondere Anweisungen?" Wenn der neue Kapitän an Bord war, war es seine Pflicht, ihn mit allen Ehren zu empfangen. Wenn es ein subalterner Offizier war, dann gehörte es für ihn zum guten Ton, ihn persönlich zu empfangen, wenn er Zeit hatte. "Wir haben Anweisung, ein Offiziersquartier zu präparieren, möglichst in der Nähe der Brücke. Ein Lieutenant Yasuo Maeda, Skipper. Ich habe den Funker auf der RELENTLESS mal ein wenig ausgefragt. Scheint so, als würde er aus dem Ortungs-Stall kommen. Aber er hat auch schon Decksdienst, Waffen und Funk gemacht."
"Also ein richtiger kleiner Tausendsassa.", murmelte Ichishiro. So langsam dämmerte ihm, was hier passierte. Seinen Brückenoffizieren, einige davon selbst Commander, würde das nicht sehr schmecken. "Randy, schnappen Sie sich alle Messestewards und räumen Sie mein Quartier leer. Bringen Sie alles in die Kapitänskabine und teilen Sie Commander Maeda meine alten Räume zu."
Auch Michaels schien jetzt begriffen zu haben, was passierte. Seine Augen leuchteten auf. Die Gefahr, dass der Alte ihnen einen fremden Offizier als Skipper vor die Nase setzte, schien vorerst gebannt zu sein. Deutliches Anzeichen dafür war, dass der Kapitän endlich in die Kapitänskabine umzog, wofür er die letzten Wochen ‚keine Zeit‘ gehabt hatte. Das würde auch die Mannschaft positiv aufnehmen.
Ichihiro erhob sich und langte nach der Schirmmütze, die stets griffbereit auf seinem Schreibtisch lag. "Und dirigieren Sie die Fähre in Hangar zwei. Übliche Ehrenwache."
"Jawohl, Skipper!" Der Petty Officer salutierte hastig und verschwand aus der Tür.
Erleichtert atmete Ichihiro aus. Nur ein Aufpasser. Vorerst ließ Mithel ihn seinen Rang behalten und stellte ihm nur einen Wachhund an die Seite. Er stellte fest, dass es ihn doch sehr erleichterte, die KAMI behalten zu können.

Der Mann, der dem gelandeten Shuttle entstieg und gehorsam am Fuß der Rampe wartete, bis die Signalgasten ‚Offizier kommt an Bord‘ gepfiffen hatten, war ungefähr Mitte dreißig, nur unwesentlich kleiner als Ichishiro und an den Schläfen bereits etwas grau. Er salutierte vor dem Skipper der KAMI. "Sir, Lieutenant Commander Maeda. Ich bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen."
Ichihiro erwiderte den Salut. "Erlaubnis erteilt, Commander."
Maeda tat den letzten Schritt und betrat die ‚Planken‘ seines neuen Schiffes. Er ging direkt auf Ichihiro zu und überreichte ihm seine Papiere. "Mein Marschbefehl, Sir."
Der Japaner nahm die Unterlagen an sich und überflog den Marschbefehl. Dann winkte er einen der Signalgasten. "Koslowsky, pfeifen Sie Alle Mann."
"Aye, Skipper." Der Signalgast trat an die Kom-Anlage, schaltete auf Schiffsweite Durchsage und pfiff das Signal. Haruka wusste, dass das normale Leben an Bord, das der Dienst nun schlagartig erstarb. Er trat an die Sprechanlage. Die ersten Worte waren dabei für ihn eine Erleichterung ohne Gleichen. "Hier spricht der Kapitän."
Er sammelte sich einen Moment und sprach weiter. "Hiermit informiere ich Sie, die Besatzung der KAMI, über die Ankunft von Lieutenant Commander Yasuo Maeda. Er wird auf Befehl von Rear Admiral Mithel ab sofort an Bord als Erster Offizier dienen."
Wieder machte er eine kurze Pause, ließ die Information sacken. "Ich erwarte von jedem Mann, von jeder Frau an Bord, dass Commander Maeda mit dem gebührenden Respekt und dem nötigen Gehorsam behandelt wird, und dass wir den hohen Standard halten werden, der unter Captain Schneider und meiner Person erreicht wurde. Kapitän Ende."
Er schaltete ab und trat wieder vor Maeda, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. "Willkommen an Bord, Eins O."
Maeda ergriff die dargebotene Hand mit trockenem, festem Griff. "Danke, Skipper. Auf gute Zusammenarbeit, Skipper."
Sie schüttelten einander etwas länger die Hand, als nötig oder höflich ausreichend gewesen wäre. "Nun denn, Commander, folgen Sie mir in Ihr neues Büro."
"Aye, Sir." Im Hintergrund räumte man sein Gepäck aus, das bei zwei klassischen Seesäcken mehr als spärlich ausfiel.
"Sie haben nicht viel mit.", merkte Ichishiro an.
"Das meiste habe ich auf der MERCILESS verloren, als sie versenkt wurde, Skipper.", gab Maeda zurück. "Und mittlerweile finde ich es bequem, mit wenig Gepäck unterwegs zu sein."
"So, so"., erwiderte Haruka. Nebeneinander gingen sie durch die Gänge. Letztendlich war dieses Schiff ein Ticonderoga, und wer einen kannte, der kannte sie alle. "Ihr Name lässt vermuten, dass Sie Japaner sind."
Nun huschte so etwas wie der Anflug eines Lächelns über das Gesicht seines neuen Ersten Offiziers. "Jawohl, Sir. Hokkaido, Sir. Hauptstadtkind aus Sapporo."
"Ainu-stämmig?"
"Es kann sein, dass ich den einen oder anderen Ainu in meinen Vorfahren habe. Aber meine Familie kam erst im Zuge der Meiji-Restauration nach Hokkaido."
"Interessant. Ich stamme ebenfalls von Hokkaido. Ich bin auch ein typischer Sapporo-Junge.", erzählte Ichihiro schmunzelnd. "Die Linie meiner Urgroßmutter mütterlicherseits stammt aus der Ainu-Ahnenreihe, auch wenn ich fürchte, dass das eine oder andere russische Gen mit rein gespielt hat."
"Seltsam. Da denkt man und sieht es jeden Tag, wie unendlich groß das Weltall doch ist, und dann treffen sich zwei Japaner vierzig Lichtjahre von Zuhause auf dem gleichen Schiff, und stellen auch noch fest, dass sie aus der gleichen Stadt stammen."
"Ich habe mir irgendwann abgewöhnt, an irgendwelche Zufälle zu glauben, Commander. Das Leben ist leichter zu leben, wenn man ihm einen tieferen Sinn andichtet." Er öffnete das Schott zum Büro des Eins O. Henrik erwartete ihn schon. "Skipper! Sir!"
"Rühren, Henrik. Commander, das ist Petty Officer Jürgen Henrik, mein alter Schreiber. Er ist ein sehr fähiger Bürokrat. Er wird Sie so gut unterstützen, wie er mich unterstützt hat."
Henrik nahm noch ein wenig steifer Haltung an. "Commander Maeda, ich stehe zur vollen Verfügung."
Durch den Japaner ging ein Ruck. Wieder war da dieses kaum wahrnehmbare Lächeln. "Danke, Petty Officer. Kochen Sie bitte für den Skipper und mich Kaffee, auch wenn Sie diese Aufgabe unterfordern wird."
Henrik grinste breit. "Keine Sorge, Sir. Dank dem alten Schneider sind hier alle Büros mit vollautomatischen Kaffeemaschinen ausgerüstet, die frische Bohnen mahlen."
"Sie sprechen von Captain Schneider?", fragte Maeda ernst.
Henrik räusperte sich verlegen. "Verzeihung, Sir, ich hatte nicht vor, gegenüber unserem alten Kapitän respektlos zu erscheinen."
"Da bin ich sicher. Merken Sie sich einfach für die Zukunft, dass ich großen Wert auf korrekte Umgangsformen und tadellose Wortwahl lege. Ich bin ein Pedant, zugegeben." Er sah zu Ichihiro herüber. "Nach Ihnen, Skipper."
Haruka betrat sein altes Büro als Erster und gab Maeda durch ein Nicken in Richtung des Stuhls zu verstehen, dass er hier der Gast, und Maeda der Hausherr war. Erst als dieser saß, nahm Ichihiro auf einem der Gästestühle Platz. Kurz darauf servierte Henrik auch schon den Kaffee. Die des Skippers wurde schwarz, aber gezuckert serviert. Die von Maeda war ebenfalls schwarz, aber ein kleines Glasschälchen mit Sahne wurde daneben platziert. Verwundert musterte Maeda die Sahne, bevor er sie in seinen Kaffee kratzte. "Die Sahne ist gezuckert, Petty Officer?"
"So wie Sie die Sahne für Ihren Kaffee mögen, Sir.", bestätigte Henrik.
"Das haben Sie gut recherchiert. Vor allem in der Kürze der Vorbereitungszeit ist das beachtlich. Meine Dienstzeit?"
"Sie haben keine feste Dienstzeit, Sir. Ihr Motto ist: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen."
"Mein Lieblingsgetränk?"
"Frisch gekochter, leicht gesüßter und abgekühlter grüner Tee. Wir haben Ihre Sorte nicht an Bord, aber ich habe bereits nachbestellt."
"Mein Lieblingsessen?"
Henrik erlaubte sich ein Grinsen. "Steak, Sir. Schön groß und schön blutig."
"Sie sind wirklich sehr gut informiert. Sie können wegtreten, Petty Officer."
Der Unteroffizier salutierte und verließ den Raum.

Mittlerweile hatte der Skipper an seinem Kaffee bereits genippt. "Wollen wir gleich mit offenen Karten spielen, Commander.", sagte Haruka ernst.
"Sir?"
"Ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie nicht nur hier sind, weil mir ein erfahrener Offizier für die Brücke fehlt. Mir ist klar, dass Sie auch ein Ohr und ein Auge für Rear Admiral Mithel sind."
Die Miene des anderen Offiziers versteinerte. "Ja, Sir."
"Um es kurz zu machen: Es ist mir egal. Es ist mir wirklich egal. Ich brauche einen guten Offizier, einen fähigen Offizier, der damit zurecht kommt, dieses Schiff zu leiten. Ich brauche jemanden, der genügend Eier hat, um, sollte ich ausfallen, das Schiff sofort und ohne Fragen übernehmen kann. Ich denke, Sie sind so ein Mann, Yasuo Maeda. Versehen Sie Ihren Dienst für mich, versehen sie ihn für die KAMI, und wir werden sehr gut miteinander auskommen."
"Seien Sie unbesorgt, Sir, Der Rear Admiral hat mir nicht befohlen, jeden Abend einen Bericht über die KAMI und ihre Offiziere zu schreiben und einzureichen. Auch eine Leistungsbeurteilung hat niemand von mir verlangt. Es ist lediglich so, dass der Rear Admiral etwas befürchtet, Captain Schneiders Stil könnte etwas zu lax gewesen sein. Für diesen Fall hat er Ihnen, Skipper, mit mir ein Werkzeug in die Hand gegeben, um die Mannschaft auf den neuen Standard einzuordnen. Das geht natürlich besser, wenn der entsprechende Offizier neu auf das Schiff kommt."
"Oh, ich verstehe. Dann schreiben Sie Ihren Bericht also wöchentlich?"
"Bitte, Skipper. Ich schreibe gar keine Berichte für den Rear Admiral. Und ja, ich werde hier an Bord mein Bestes geben. Für mich ist der Eins O auf einem Ticonderoga eine wichtige Chance, die ich nutzen werde. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich einmal für fähig genug halten, um mich als Kapitän zu empfehlen, Skipper."
"Ich denke, damit haben wir alles gesagt. Noch mal, willkommen an Bord, Commander."
"Ich freue mich, hier sein zu können."
Ichihiro trank seinen Kaffee aus und erhob sich. "Richten Sie sich ein und kommen Sie spätestens in einer halben Stunde auf die Brücke. Ich werde Sie Ihren Offizierskollegen vorstellen. Außerdem weise ich die Küche an, für heute Abend ein Begrüßungsessen vorzubereiten. Heute Abend in der Flaggkabine um acht Uhr Bordzeit."
Maeda nickte. "Selbstverständlich, Skipper."
Ichihiro nickte seinem neuen Eins O noch einmal zu, und verließ dann sein Büro.
Auf dem Weg zur Brücke versuchte er, sein Lächeln nicht zu einem Grinsen ausufern zu lassen. E durfte die KAMI behalten. Das war eine sehr gute Nachricht.
Cattaneo
Cunningham

TRS Columbia
Äußere Werftanlagen, Victoria Station
Sterntor, FRT

26. Juni 2637, 05:29 Flottenzeit

„Guten Morgen, Admiral, Chris.“, Vanessa Girad blickte auf den Monitor, der hinter ihrem Schreibtisch in die Wand eingelassen war.
Das Bild war zweigeteilt: Rechts wurde Admiral Floronce de Kerr gezeigt, links Chris Mithel.
Die beiden Admirale waren in ihren jeweiligen CIC’s, und im Hintergrund waren Offiziere zu sehen, die wie Ameisen hin und her wuselten. Sie musste fast schmunzeln, Nate Frost hatte Stabsoffiziere früher immer als Ameisen bezeichnet.
„Admirals,“, begann de Kerr knapp und streng, „mit sofortiger Wirkung sind Ihre Schiffe zur 5. Flotte abkommandiert.“
Die Admiralin wartete kurz, bis Mithel ansetzte zu sprechen. Ob er jetzt Widerworte hatte oder nicht, vermochte Girad nicht zu sagen, de Kerr unterbrach ihn sofort: „Kraft meiner Autorität als Standortkommandeur und Chef der 5. Flotte. Ich hoffe ich habe mich klar ausgedrückt.“
„Natürlich, Ma’am.“, antwortete Girad als Mithels direkte Vorgesetzte Offizierin.
„Gut, wie Sie sicherlich schon mitbekommen haben, Girad, wird Auson alles daran setzen die Columbia so schnell wie möglich wieder raum- und gefechtstauglich zu bekommen. Letztlich werden Sie beide zwei Einsatzgruppen bilden.
Rearadmiral Mithel, Sie werden das Kommando über alles schweres Gerät übernehmen und als meine unabhängig agierenden Schocktruppe agieren.
Im Verteidigungsfall werden Sie dazu dienen einen direkten Gegenangriff zu fahren. Wenn wir genug Vorlaufzeit haben, schafft es Auson vielleicht fünfundzwanzig schwere und leichte Kreuzer zu mobilisieren. Ihre eigene Schwadron eingerechnet. Darüber hinaus werden Sie das Freiwilligenkontingent in ihre Truppe integrieren. Verfahren Sie damit nach eigenem Gutdünken.
Darüber hinaus werden Sie meine rechte Flanke sein, etwas abseits der eigentlichen Defensivformation.“
Der Bildschirm wurde dreigeteilt und eine taktische Einspielung wurde sichtbar.
„Ihre Aufgabe, Admiral Mithel, ist es zusätzlich die Hauptwerften des Dyne Konsortioums zu schützen. Diese zivile Werft ist für die Flotte von eminenter Bedeutung, werden dort nicht nur Antriebe für schwere und leichte Kreuzer gebaut, sondern es befinden sich dort auch zwei Flottenträger im Bau. Ein Verlust dieser Werftanlage wäre für uns katastrophal.“
De Kerr schwieg einen Moment um ihre Worte wirken zu lassen, und Girad überlegte, dass sie das Wort katastrophal in letzter Zeit ziemlich oft zu hören bekam.
„Die Columbia“, fuhr de Kerr fort, „wird mit einigen Zerstörern und Fregatten sowie ein oder zwei Flakkreuzern zu einer Carrier Strike Group zusammengefasst und zusammen mit den Derflinger- und Triumphe Strike Groups meine Hauptstreitmacht bilden.
Anzac und Midway werden den Sprungpunkt sichern, solange bis das HQ uns nicht ein Entsatzkommando schickt, welches als Verteidigungsstreitmacht am Sprungpunkt dienen kann. Sollten wir die Verstärkung erhalten, werden sich Anzac und Midway mit Kampfgruppe Eins vereinigen. Fragen?“
„Sehe ich das richtig, dass wir Masters ungeschützt lassen?“, Mithels Frage war eher eine Feststellung bar jeder Kritik.
„Das ist richtig, unsere Kräfte sind zu klein um beide Planeten angemessen zu verteidigen. Unsere Linie ist so schon dünn genug, und die Aufsplittung in zwei Einsatzgruppen gefällt niemanden, aber des Wurmloch zur Erde hat absoluten Vorrang. Vor Masters, vor Seafort, auch vor den Werftanlagen und den orbitalen Industriezentren, die wir im Moment noch in unsere Verteidigungspläne einbeziehen. Wenn es jedoch hart auf hart kommt, wird die Flotte auch Victoria Station ungedeckt zurücklassen.“
Die beiden rangjüngeren aber gefechtserfahreneren Admiral nickten unglücklich. Dennoch war ihnen die Überlegung, die hinter den Aussagen steckte, geläufig.
„Sonst noch eine Frage?“
Girad nickt: „Ja, was die Bildung einer Strike Group für die Columbia angeht, so muss ich einwerfen, sie ist ein Flottenträger und als solche eher ein Breitschwert und nicht genau so einsetzbar wie ein leichter Träger.“
Die Antwort von de Kerr begann mit einem gepressten Lächeln: „Admiral, die erste Prämisse der modernen Kriegsführung ist Flexibilität. Da müssen sich auch die Flottenträger anpassen. Wir werden möglicherweise stark manövrieren müssen, und mit Hinblick auf die Zusammensetzung der 5. Flotte, würde eine komplette Carrier Battle Group uns in unserer Bewegung eher behindern als durch ihre Schlagkraft verstärken.“
„Ich verstehe.“
„Gut, dann machen Sie sich an die Arbeit.“, de Kerr nickte zum Abschied und ihr Abbild wie auch die taktische Karte verschwanden. Zurück blieb Mithel, der sie düster anguckte.
„Sagen Sie nichts, Chris, mir gefällt die Aufteilung auch nicht, aber de Kerr ist hier der Chef. Stellen Sie ihre Einheiten zusammen und melden Sie sich schnellstens zum Dienst, wir sind jetzt Teil der Fünften Flotte. Viel Glück.“
„Ihnen ebenso, Admiral.“
Mithels Bild verschwand. In der Stille ihres Büros atmete Vanessa Girad noch mal kräftig durch. An die Arbeit, Mädchen.

„Admiral an Deck!“
In der CIC der Columbia nahmen die verschiedenen Stabs- und Ressortoffiziere auf den Ausruf von Captain Ahn Ho-Yun Haltung an.
„Rühren, Herrschaften.“ Girad nahm den Platz am Kopfende des Kartentisches ein und blickte kurz in die Runde: „Wie ist unser Status?“
„Sämtliche Hüllenbrücke sind versiegelt und die Struktur der Schiffes ist vollständig rekonstruiert,“, meldete Georg Long, „die Besatzung ist zu einem Viertel an Bord, darüber hinaus sind über zweitausend Techniker dabei das Schiff raumtauglich zu machen. Ein großes Problem für den regulären Schiffsbetrieb ist, dass uns ein Drittel der Mannschaftsquartiere fehlt. Sie werden zurzeit noch eingerichtet.“
„Dafür sind Leute übrig? Die sollten sich lieber um KAT Nr. 4 kümmern.“, mischte sich Kenneth Ross ein.
„Wir können schlecht Innenausstatter am Reaktor rumschrauben lassen.“, war die Antwort des leitenden Ingenieurs der Columbia. Commander Paavo Lipponen klang mehr als nur ein wenig gestresst. Von allen Offizieren der Columbia hatte er am wenigsten Freizeit bekommen, seit sie im Dock lag.
„Um KAT Nummer 4 kümmern sich meine Leute, zusammen mit Attis Katapultbesatzungen.“
Girad blickte den Sprecher an. Am gegenüberliegenden Ende des Kartentisches stand ein unrasierter, schlaksiger Mann mit den Rangabzeichen eines Master Chief Petty Officers. Die Hände tief in die Taschen gesteckt, die Ärmel hochgekrempelt.
Die Uniform wirkte schon lange getragen und der oberste Knopf fehlte. Unter dem rechten Auge schimmerte ein Feilchen, die Haare waren ungekämmt.
Captain Ahn schoss das Blut in den Kopf, als sie den musternden Blick der Admiralin bemerkte.
„Ich hoffe für Sie, Chief,“, meinte Girad knochentrocken, „Sie sind wirklich so gut, dass Sie sich einen solchen Auftritt in einer Stabsbesprechung erlauben können.“
Mathew Dodson grinste frech: „Ich bin der zweitbeste Unteroffizier hier an Bord, Ma’am.“
„Soso, nur der zweitbeste?“
„Und selbst wenn ich besser wäre“, Dodson nickte zu Mario Atti, „als unser Bosun, würde ich es niemals für mich in Anspruch nehmen, Ma’am.“
Der Bosun der Columbia schüttelte den Kopf: „Wie Mr. Dodson schon sagte, Ma’am, das Katapult bekommen wir in Gang, er hat uns einige seiner Schrauber rübergeschickt, so stellen wir wieder Werftheinis für andere Arbeiten frei.“
„Wenn Mr. Dodson auch noch etwas Personal für mich übrig hat, könnten wir auch das ATLS rechtzeitig installieren.“, warf Redford Cooper, der frisch gebackene Air Boss der Columbia ein.
Girad blickte zu ihrer Geschwaderchefin, welche die taktische Darstellung auf dem Kartentisch kritisch beäugte: „Wenn Raven auf die Leute verzichten kann?“
Ein kurzes Lächeln zuckte über die Lippen der CAG, Girad hatte mit ihr ein längeres Gespräch geführt, bei dem sie erfahren hatte, dass ihr der Rufname lieber war, als beim Vornamen genannt zu werden.
Doch statt Raven antwortete wieder dieser Dodson: „Sämtliche Maschinen sind Tipp-Topp in Ordnung, da können wir es verkraften ein oder zwei Tage nur mit halber Crew zu fahren, Ma’am.“
Girad beobachtete, wie Raven nur zustimmend nickte. Nicht viele Offiziere hätten sich so von einem Unteroffizier über den Mund fahren lassen.
Da sie ein gutes Gespür dafür hatte, wie Raven zu arbeiten schien, dass sie sich nicht über den Mund fahren ließ, sagte ihr einiges über Dodsons Reputation.
„Andere Brennpunkte?“
Der Chefarzt der Columbia meldete sich: „Ja, Ma’am, mir fehlt die Hälfte meines medizinischen Personals, und die Medikamentenvorräte sind auch noch nicht aufgestockt.“
„Wir sind alle unterbesetzt, Keller,“, knurrte Richard Nissler, Girads neuer Stabschef, „die Schiffstechnische Abteilung ist mit fast siebzig Prozent am besten gestellt, vom Geschwader mal abgesehen. Ihre Männer zähle ich zum Geschwader, Dodson. Tatsache ist auch, solange die Werftheinis hier herumkrauchen, haben wir gar nicht den Platz alle Leute an Bord zu holen. Die Raketenmagazine von Schiff und Geschwader sind ebenfalls leer, aber sobald wir das Dock verlassen geht’s rüber zum Munitionstender.“
„Hat der Tender auch Medikamente? Betäubungsmittel, Antibiotika, Spritzen?“ schoss Keller zurück.
„Gut,“, unterbrach Girad die beiden Offiziere, „Ho-Yun, sehen Sie zu, dass die Krankenstation voll bestückt wird und maximale Personalstärke bekommt.“
„Richard,“, wandte sie sich an Nissler, „Sie rekrutieren anderweitiges Personal. Der Columbia fehlt noch ein zweiter Offizier. Uns noch ein Stabssignäler und ein Stabsastrogator. Versorgungsoffizier kann mein Flaggleutnant machen.“
„Natürlich, Ma’am.“
„Mr. Dodson...“
„Matt, Ma’am.“
Tatsächlich musste sie grinsen: „Matt, sobald Ihre Leute mit ATLS und Katapult fertig sind, checken sie den Rest vom Flugdeck und anschließend gehen sie Commander Lipponen zur Hand.“
„Aye, Ma’am.“
Der Chef der Schiffstechnik stöhnte theatralisch.
„Sie brauchen gar nicht so zu stöhnen, Paavo, in drei Tagen spätestens laufen wir aus und wenn Sie schieben müssen, also sein Sie lieber über jede Hilfe dankbar.“
„Aye-aye, Ma’am.“
„Ansonsten gilt für Sie alle der Auftrag so viele Besatzungsmitglieder wie möglich zusammenzuklauben, damit wir auslaufen können. Wir werden zwar notfalls auch mit Rumpfcrew und einem Kontingent Werftheinis an Bord auslaufen, aber eine Besatzung, so komplett wie möglich, wäre mir lieber. Das wär’s, weggetreten.“
„Aye-aye, Ma’am“, kam es unisono.

Girad blickte den Schiffs- und Stabsoffizieren hinterher, die sich daran machten ihr Flaggschiff einsatzbereit zu bekommen.
Sie machten ausnahmslos einen kompetenten oder zumindest tüchtigen Eindruck. Ahn Ho-Yun wäre zwar nicht ihre erste Wahl als Flaggkommandant, doch war ihre Qualifikation unzweifelhaft. Nissler war ein ausgezeichneter Offizier, sowohl auf Stabsebene, als auch als Bordoffizier, wie er kürzlich unter Beweis gestellt hatte.
Darüber hinaus war er eine hervorragende Peitsche zu ihrem Zuckerbrot, ohne dabei unsympathisch zu wirken. Long, Lipponen und die restlichen Ressortoffiziere wirkten wie ein eingespieltes Team. Ebenso Atti und Dodsen auf einer anderen Ebene, die sich gut ergänzten. Der eine, Atti, mit Leib und Seele Soldat; der andere mit Leib und Seele Raumfahrer.
Natürlich besaßen dieser Stab und diese Crew noch nicht die eingespielte Erfahrung wie an Bord der Pegasus oder ihres Admiralstabs bei der 4. Flotte, doch das Rohmaterial für derartige Qualität sah sie als gegeben.
Sie konnte nur hoffen, dass die Akarii ihnen genug Zeit ließen, dass sie sich einspielen und vorbereiten konnte.


*********************

TRS James Knox
Lagrange 5,
Sterntor, FRT

26. Juni 2637, 09:13 Flottenzeit

Auf dem Flaggschiff der 5. Flotte jaulten die Alarmsirenen und die Besatzung begab sich zu ihren Gefechtsstationen. Die Stabsastrogation gab Befehle an die gesammelte Flotte heraus.
Hinter de Kerr räusperte sich ein Ensign der Signalabteilung.
Die Admiralin las noch zwei Sätze aus einem der vielen Statusberichte zu Ende, die ihr vorlagen, bevor sie den jungen Mann zur Kenntnis nahm: „Ja?“
„Ministerpräsident Diaof auf Prioritätskanal eins für Sie, Ma’am.“
Sie nickte langsam, als ob es eine einfache Routinemeldung wäre. Henri Diaof war Oberhaupt des eigenständigen Bundesstaates Seafort und besaß somit wohl mehr persönliche Macht, als die hohen Herren, ebenfalls Ministerpräsidenten in der Republik, auf Terra wahrhaben mochten.
Aber wie sollte man jemand mit dem Selbstverständnis eines Ministerpräsidenten von Südamerika oder gar Arabien klar machen, dass ein Auswanderer einen ganzen Planeten und über eine Milliarde Menschen regierte und damit praktisch mehr als jeder seiner terranischen Kollegen.
Wie konnte ein Henri Diaof eine ähnliche Stellung innehaben, wie sie selbst. Zumal die Miliztruppen von Seafort und Masters keine Raumschiffe hatten, die über Fregatten hinausgingen.
De Kerr fragte sich, ob sich Hanifa Jergian, die Ministerpräsidentin von Masters, auch noch bei ihr melden würde, oder ob diese einfach Diaof vorschickte, um die Belange der Regierungen von Sterntor vorzubringen.
„Gut, stellen Sie ihn in mein Büro durch.“
„Aye-aye, Ma’am.“

An ihrem Schreibtisch angekommen, untersuchte de Kerr nochmal den Sitz von Frisur und Uniform, ehe sie den Anruf entgegen nahm.
Die Übertragung aus dem Regierungssitz von Seafort kam ohne Zeitverzögerung. Die bodengestützte Translicht-Funkanlage der Regierung von Seafort war nur wenig älter als ihr ultramodernes Gegenstück auf der James Knox.
„Guten Morgen, Admiral.“, begrüßte Henri Diaof sie. Er war ein großer Mann mit ebenholzschwarzer Hat und kahl rasierten Kopf und einem gepflegten Bart, der seinen Mund einrahmte.
Zu de Kerrs Überraschung saß dem Regierungschef von Seafort Hanifa Jergian gegenüber, und blickte ebenfalls in die Kamera.
Sie hatte nicht gewusst, dass die iranisch stämmige Ministerpräsidentin des muslimischen Zentrums der Republik nach Seafort gekommen war.
„Madame und Mr. Ministerpräsident, was kann ich für Sie beide tun?“
„Admiral de Kerr.“, begrüßte Hanifa Jergian nickte ihr grüßend aber kühl zu.
„Wir möchten die Verteidigungsanstrengungen von Sterntor mit Ihnen besprechen. Außerdem möchten wir um die Herausgabe der geheimdienstlichen Informationen bitten, die zur Mobilisierung führten. Damit unsere eigenen nachrichtendienstlichen Berater eine aktuelle Bedrohungseinschätzung abgeben können. Admiral Delevoye war etwas…hm…widerspenstig.“, auch Diaofs Blick war alles andere als freundlich.
„Selbstverständlich Mr. Ministerpräsident,“, bestätigte de Kerr sofort, „ich werde mit Delevoye sprechen. Was eine Besprechung der Verteidigungsanstrengungen angeht, so sollte mein Stabschef eigentlich schon Ihre beiden Büros informiert haben.“
„In der Tat,“, Jergian richtete sich ein wenig gerader auf, ihrem altlosen Gesicht nach konnte sie Anfang dreißig sein aber auch schon jenseits von fünfzig, sie war auf eine gewissen weise schön ohne wirklich hübsch zu sein, „dies der Grund unsers Anrufes, Admiral. Als Chef der Regierung von Masters ist es meine Pflicht Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir Ihre Bitte auf Überstellung unserer Spaceguard nicht nachkommen können. Im Gegensatz zu Ihnen ist es uns nicht möglich unsere Heimat von jeglicher Verteidigung zu entblößen.“
„Madame“,, begann de Kerr vorsichtig, oh wie sie das hasste, „ich verstehe durchaus Ihre Gedankengängen und wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich sicherlich nicht anders handeln, ich muss aber nochmals darum bitten, überstellen Sie mir Ihre Spaceguard-Einheiten.“
„Tut mir leid, Admiral, das geht nicht.“
„Aber, zwei Geschwader alte Fregatten sind nicht in der Lage, Masters vor einer Invasion zu beschützen, sollten die Akarii tatsächlich auf Masters einschwenken, dann verurteilen Sie diese Leute damit zum Tode, Sie werfen deren Leben weg.“
Jergian nickte: „Ich weiß, Admiral, aber ich möchte auch Sie an ihre Pflicht erinnern, Masters und seine Einwohner zu beschützen, stattdessen haben Sie uns komplett entblößt. Sie postieren eine Flotte am Sprungpunkt nach Terra, eine weiter Flotte um Seafort herum und wir werden von Ihnen allein gelassen.“
De Kerr atmete tief durch. Sie konnte erahnen, was in der anderen Frau vorging. Sie fühlte sich im Stich gelassen, verraten, von den Leuten, die sie beschützen sollten: „Madame Ministerpräsident, sobald Verstärkungen von Terra eintreffen und das Wurmloch sichern, werde ich die Einsatzgruppe dort weiter ins System verlegen lassen. Und…und sollten die Akarii Masters als Angriffsziel auswählen, da gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, wird die Navy zur Stelle sein, um ihre Welt zu beschützen. Nur gehen wir davon aus, dass der Kampf im Orbit von Seafort ausgetragen wird. Die strategische Logig macht das deutlich.“
„Gut,“, Jergian wirkte jetzt weniger Feindseelig, „ich werde noch in dieser Stunde nach Masters zurückkehren. Wenn Sie bitte persönlich dafür sorgen würden, dass ihre Flotte mein Schiff passieren lässt.“
„Selbstverständlich.“, diese letzte Bemerkung war ein offener Schlag ins Gesicht der Kommandeurin der 5. Flotte. Die Navy durfte Jergains Schiff gar nicht aufhalten. Sie besaß Immunität und das galt auch für ihre Staatsjacht. Es zeigte wie wenig Vertrauen die Ministerpräsidentin einer Kernwelt der Republik in IHRE Marine zeigte.
,Wir sind doch hier um Euch zu schützen. Tagtäglich sterben wir da draußen von Chereon V. bis Keitos Karelios. Sind wir Euch so fremd geworden?'


Bereitstellungsraum Rote Staffel 127. Fighter Wing,
Victoria Station, Seafort, Sterntor, 13 Uhr Flottenzeit

Wegtreten von den Gefechtsstationen. Lucas wuchtete sich aus seiner Nighthawk. Eine niegelnagelneue Maschine modernster Bauart. Er hatte sie schon beim ersten Flug lieb gewonnen. Sie hatte so einige Probleme. Sie schien montags ihre Endmontage bekommen zu haben. Wie eine rassige Geliebte bockte sie und war manchmal nur schwer zu kontrollieren. Vor allem im planetaren Steigflug und in einem 14 G Slide.
Nach unzähligen Übungen hatte er eine einigermaßen akzeptable Zusammenstellung gefunden. Vor allem hatte er Sonnyboy als Flügelmann zu Mantis abgeschoben.
Der unerfahrene Jungfuchs war, ja was war er? Zu engagiert, zu aufgeschlossen, zu höflich, zu Pinpoint? Die Summe seiner Eigenschaften machte ihn seinem ersten Flügelmann des Krieges zu ähnlich. Auch die Art, wie Sonnyboy seine Meinung vertrat, höflich aber bestimmt und auf keinen Fall unterwürfig. Am liebsten hätte er ihn zu Okha abgeschoben.
Ebenso gab es äußerliche Ähnlichkeiten. Sonnyboy war in etwa so groß wie Pinpoint und obwohl er eine andere Haarfarbe hatte wie dieser, trug er einen ähnlichen Haarschnitt. Von seiner ursprünglichen Staffel war keiner mehr da gewesen, der etwas dazu sagen konnte, also hatte er Ina Richter dazu befragt. Diese hatte ihn etwas verdutzt angeguckt und gemeint, er würde sich irren, was den Haarschnitt anging. Tage später war sie auf ihn zugekommen und hatte gemeint, dass Sonnyboys Essgewohnheiten mit denen von Pinpoint übereinstimmten.
Später am selben Tag hatte Lone Wolf beobachtete, wie Lilja zusammengezuckt war, als Sonnyboy sie in der Kantine ansprach und nach dem Salz fragte.
Auf späteres Nachfragen hatte die Russin kategorisch abgestritten, dass der junge Pilot sie an IRGENDJEMANDEN erinnerte. Zu kategorisch.
Zuerst hatte er die vielen Neuzugänge als Problem angesehen, doch die meisten hatten ihn recht kameradschaftlich empfangen und so waren als personelle Problemfälle nur Donovan und Mantis geblieben.
Letztere ackerte sich aber dienstlich einen ab um ihren Teil der Abmachung einzuhalten und um sich in ihre zukünftig erhoffte Tätigkeit als Ausbilderin reinzufuchsen.
Jedoch schienen die beiden sich abseits des Dienstes und obwohl sie sich nicht leiden konnten, gegen ihn zu verschwören. Natürlich immer schön auf die kameradschaftliche Art und die anderen Staffelmitgleider mitziehend.
Artist und Too-Tall schienen gute Flightleader abzugeben, und die Ausbildung ihrer Flügelleute machte gute Fortschritte. Dog Schäfer machte recht gute Fortschritte, wobei Lucas anfangs misstrauisch beobachtet hatte, wie dieser sich mit Donovan anfreundete.
Petal gedieh als Flügelmann auch wieder zu sowas wie alter Form, und Titan forderte sie, wie auch den Rest ihrer Sektion. Die Amazone, und damit meinte er nicht die weiblichen Springreiter, hatte ein loses und vorlautes Mundwerk, war aber eine gute Anführerin und auch als Pilotin zeigte sie stellenweise geniale Ansätze, die häufig aber von ihrem Temperament wieder zunichte gemacht wurden.
Es war ein Zerrbild, was Titan darstellte. Aber irgendwie war sie ihm durch ihre Abneigung Donovan gegenüber sympathisch. Obwohl er mit seinem alten Kameraden so etwas wie einen Separatfrieden geschlossen hatte.
Der zweite Flightleader in Titans Sektion bildete mit Sonnyboy und The Kid eine eigene Clique, die er ganz klar dominierte, und auch er schien tatsächlich großes Potential als Pilot zu besitzen, wohl einer der Gründe, warum sich die anderen Neulinge ihm unterordneten. Ebenso Kai Schäfer, der sich eigentlich nicht verstecken brauchte und obwohl er tatsächlich mehr aktive Flugerfahrung als die anderen drei aufwies.
Alles in allem nicht die Creme, die er sich wünschen würde, und dennoch kein Totalversager in der Truppe. Dennoch waren seine Jungs den Butcher Bears noch unterlegen und wie lange ER das zusammen mit Mantis und Stuntman ausgleichen konnte, war nur eine Frage der Zeit.
Vielleicht sollte er Sonnyboy doch gegen einen der erfahreneren Piloten der Bears austauschen.

Erschöpft ließ Lucas sich auf einen Sessel in der ersten Reihe des Briefingrooms der roten Schwadron fallen. Er machte sich schon nicht mehr die Mühe seinen Flightsuit auszuziehen. In vier Stunden würden sie wieder in die Maschinen müssen.
„Ich wünschte langsam, die Echsen würden endlich kommen.“, murmelte Mantis leise, die sich rechts neben ihn setzte.
„Wir machen das noch keine zwei Tage,“, entgegnete Lucas, „wenn wir so weiter machen, werden die Akarii keine Mühe mit uns haben.“
Mantis grunzte müde. Zustimmung? Ablehnung? Egal!
Lucas kuschelte sich in seinen Sessel und war kurz darauf eingeschlafen.
Obwohl der Rest der Staffel mehr oder minder lärmte, war auch bald Mantis eingeschlafen.
Kurz darauf beugte sich The Artist aus der zweiten Reihe vor und pustete der XO vorsichtig ins Haar. Solange, bis diese ihren Kopf nach links verlagerte zu Lucas hin, dessen Kopf nach rechts gewandt war.
Donovan stellte sich ans Rednerpult des kleinen Besprechungsraums und blickte CO und XO an, die jetzt beinahe Stirn an Stirn schliefen.
Er kramte seinen mobilen Kommunikator hervor und macht mit dessen Kamera ein Foto der beiden.
Titan funkelte ihn wütend an, sagte jedoch nichts. Das Trio aus Gant, Sonnyboy und The Kid lachte gackernd auf, so dass Lucas sich murmelnd in die andere Richtung drehte, jedoch weiterschlief.
Cattaneo
Ironheart

Sektion B-356, Provisorische Unterkünfte der Angry Angels
Victoria Station, Im Orbit um Seafort
Sterntor-System

„Nun komm schon, Kid! Gehste mit oder biste raus?“ Dog Schäfer trommelte ungeduldig auf den Tisch und zwinkerte hinüber zu Donovan, der sein bestes Pokerface aufgesetzt hatte.
Insgesamt sass etwas mehr als die Hälfte der Roten Staffel um den Tisch beisammen und spielte eine Runde Texas Hold´em Poker. Um den Tisch versammelt waren neben Donovan, Kid und Dog ausserdem noch Too-Tall, Artist, Sonnyboy und Titan.
Zwischen den Einsätzen war ein wenig Zerstreuung immer gut, vor allem wenn man bedachte, dass die Einheit aufgrund der Alarmstufe 1 mittlerweile unter ständiger Bereitschaft stand. Ihr nächster Dienst war in Kürze, so dass es nicht mehr lohnte sich aufs Ohr zu hauen. Also war eine schnelle Runde Poker eine willkommene Abwechslung.
„Jaja, na gut, ich geh mit.“
Diese permanente Anspannung hatte die Rote Staffel schon in wenigen Tagen sehr viel schneller zusammengeschweisst als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Vor allem die Neuen hatten davon profitiert und schnell Anschluss gefunden. So hatte sich Donovan vor allem mit Dog angefreundet und Sonnyboy war aufgrund seines Naturells in Windeseile zu Everbodys Darling avanciert – selbst Donovan konnte sich davon nicht losmachen. Doch der Einzige, der sich äußerst kühl gegenüber dem jungen Piloten gezeigt hatte, war Lone Wolf gewesen. Dieser hatte ihn sogar nach kürzester Zeit mit Kid ‚getauscht‘ und ihn in Mantis Sektion – also damit auch in Donovans – abgeschoben. Doch je mehr Donovan Sonnyboy kennenlernte umso mehr fragte er sich, was wieder mal mit Lone Wolf los war. Der junge Pilot war der nächste an der Reihe und warf seine Karten mit einem „Ich bin raus.“ in die Mitte des Tisches. Die Runde ging weiter und Donovan spielte schon fast mechanisch mit, während seine Gedanken abdrifteten.

Natürlich war auch sonst nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen in der Roten Staffel, denn die Anspannung führte auf der anderen Seite auch zu ersten Reibereien und Animositäten. Das sich Donovan und Mantis regelmäßig und mit voller Inbrunst in die Haare kriegten, war ja schon fast sowas wie gute alte Tradition. Doch hatten sich neuerdings auch weitere Konfliktherde aufgetan.
Da war zunächst einmal Petal, die ihr kurzzeitiges Intermezzo als Wingleaderin von Donovan auf Geheiß von Lone Wolf beendet hatte. Sie war Titan zugewiesen worden und somit wieder zurück ins Glied marschiert und obwohl sie es selbst einsehen müsste, dass die Winglead-Position für sie viel zu früh gekommen war, spielte sie trotzdem die beleidigte Leberwurst und kapselte sich zusammen mit Tulip vom Rest der Staffel ab. Dass Donovan nun seit neuestem wieder als Wingleader geführt wurde und wiederum Tulip zugewiesen bekommen hatte, half in dieser Situation auch nicht.
Too-Tall war noch einer, der unter der momentanen Staffelaufstellung ebenfalls litt, auch wenn er seinen Unmut nicht öffentlich äußerte und seine Unzufriedenheit so gut es ging kaschieren konnte. Doch die Veteranen wie Donovan oder Artist kannten ihn nur allzu gut um zu wissen, dass es den großen Piloten sehr wohl wurmte, dass er die Leitung der dritten Sektion an Titan hatte abgeben müssen. Lone Wolf hatte es mit der größeren Erfahrung von Titan gegenüber Too-Tall, der erst seit Tukama Lieutenant Senior Grade war, begründet.
Somit war diese Begründung zumindest im Einklang mit dem offiziellen Grund für Mantis statt Donovan als XO gewesen. Doch das schmeckte Too-Tall natürlich trotzdem nicht, so dass er ähnlich wie Donovan agierte: Too-Tall versuchte Titan bloßzustellen wo es nur ging, wenn auch deutlich subtiler. Donovan konnte die neue Sektionsleiterin auch nicht besonders leiden, und das hatte gar nichts damit zu tun, dass sie im Grunde seine Position innehatte. Aber diese Ambitionen und Gedanken hatte Donovan sich selber versaut und nun seit ein paar Wochen ad acta gelegt, so dass der einzige Grund seiner Abneigung gegenüber Titan in ihrer arroganten, besserwisserischen Art lag.
In diesem Punkte hätte sie sich eigentlich wunderbar mit Arrow Gant verstehen müssen, aber mit dem kam bis auf seine Clique der Jungen Wilden keiner gut zurecht. Auch in diesem Moment sass der West-Point-Absolvent ziemlich in der Mitte des relativ großen Bereitschaftsraumes und schien in ein paar Unterlagen vertieft zu sein.
Insgesamt war der Bereitschaftsraum der Angry Angels ziemlich leer im Moment. Abgesehen von den Roten selbst hatte noch eine Gruppe Bomber-Piloten sich in die gegenüberliegende Ecke des Raumes gesetzt, ein paar andere Tische waren mit einzelnen verstreuten Piloten der verschiedenen Staffeln besetzt.
Donovan fragte sich, was Arrow so alleine trieb und wurde von Titan aus seinen Gedanken gerissen. „Hey, du Ass, schläfst du oder was?“
Donovan blinzelte sie einen Augenblick an und blickte dann auf Flop, der in der Mitte des Tisches lag. Er schaute auf seine beiden Karten in der Hand und erkannte, dass er damit nicht einen Blumentopf gewinnen würde. „Was ist denn angesagt?“
Titan verdrehte die Augen. „Ich hab um 20 erhöht, du Träumer! Ich hoffe im All bist Du nicht auch so eine Schnarchnase…“
„Naja, da sitzt du zum Glück nicht neben mir und langweilst mich zu Tode! Ich bin jedenfalls raus.“ Bevor Titan irgendetwas erwidern konnte, fragte Donovan Sonnyboy, was Arrow denn da drüben mache. Der junge Pilot zuckte mit den Schultern. „Er lernt irgendwas.“
„Was zum Henker lernt der denn?“
„Keine Ahnung. Da wirst du ihn wohl selbst fragen müssen.“
Donovan nickte kurz und stand tatsächlich direkt auf. „Na gut, das werde ich dann auch mal machen.“
„Hey, und was ist mit dem Pokern?“ fragte The Kid.
„Lass gut sein für heute, vielleicht kann ich ja Arrow dazu bringen zu euch zu stoßen.“
Gleich vier der Piloten antworteten ihm gleichzeitig.
„Viel Glück.“ kam es von Dog.
„Glaub ich nicht.“ von The Kid.
„Wär Klasse.“ von Sonnyboy.
Und „Bloß nicht!“ von Titan.

Donovan ging hinüber an den anderen Tisch und setzte sich gegenüber von Arrow hin ohne ihn um Erlaubnis zu fragen.
Dieser schaute irritiert aus seiner Lektüre hoch. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Du brauchst mich nicht mit Sir ansprechen. Wir fliegen in derselben Staffel und ich lege keinen Wert auf unnötige Förmlichkeiten. Nenn mich Donovan oder Stuntman, aber nicht Sir, o.k.?“
Arrow blinzelte „Ich würde lieber beim Sir bleiben, Sir!“
Donovan zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sowas hatte er bisher auch nocht nicht erlebt. Er beliess es aber schliesslich dabei. „Was liest du da eigentlich?“ Donovan hob den Buchdeckel „Einsatzrichtlinien Kampfgeschwader TRS Columbia. Was, diesen Schinken liest du vor einer wichtigen Schlacht?“
„Es ist zwingend vorgeschrieben, dass sich jeder Pilot mit den Einsatzrichtlinien…“
„Ja, das weiss ich, ich hab den Schinken schon vor einer Weile durchgearbeitet. Aber du und die anderen hätten das schon vor ein paar Tagen durchgearbeitet haben sollen!“
„Das habe ich, Sir! Das ist das dritte Mal, das ich es lese.“
„Das dritte Mal?“ Niemand tat sich das mehr als einmal an. Und das auch noch freiwillig. Donovan rollte mit den Augen. „Gott, was bist du nur so verkrampft, Arrow? Du machst dir mit deiner Art nicht gerade Freunde, sehen wir mal von deinen drei Kollegen ab, die gemeinsam mit dir neu hier angefangen haben. Wenn du dich weiter so absonderst, wirst du sie schnell als Freunde verlieren.“
„Ich bin nicht hier um Freundschaften zu pflegen, sondern um gegen die Akarii zu kämpfen.“
„Aber ohne deine Freunde und Kameraden könnte das dann ein kurzer Kampf werden.“
„Wie meinen Sie das, Sir?“
„Nun, es gibt in einem Gefecht immer die Möglichkeit, dass man die Hilfe seiner Kameraden brauchen kann.“
„Ich denke doch, dass in solchen Situationen jeder jedem helfen muß, oder Sir?“
„Nun ja, auch dann kann es passieren, dass man eher denen hilft, zu denen man eine engere Bindung hat.“
„Das wäre aber äußerst unprofessionell, Sir!“
Donovan zuckte mit den Schultern. „Mag sein.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass die es unter den Piloten der TSN, dazu noch einer Eliteeinheit wie den Angry Angels solche eklatanten Verstöße gegen den Code of Conduct geben würde.“
Donovan schüttelte bei soviel Naivität und Idealismus den Kopf. „Weisst du was? Du erinnerst mich an Lilja…“
Arrow runzelte die Stirn. „Lieutenant Commander Pawlitschenko?“
„Ja genau die. Auch genannt die Eisprinzessin. Sie ist auch getrieben von ihrer roboterhaften Präzision, ihrem Übereifer und ihrem Bestreben alles immer ganz streng nach Vorschrift zu machen.“ Donovan musste auch an Ohka denken, der genauso agierte. Aber diesen liess er aus dieser Beschreibung aus, da er ihn als Freund ansah – im Gegensatz zu Lilja. „Ausserdem ist sie genauso wie du von Ehrgeiz zerfressen. Der einzige Unterschied ist, dass sie im Gegensatz zu dir im Laufe der Jahre gelernt hat, dass es trotz Pflichterfüllung und Ehrgeiz wichtig ist ein paar Freunde zu haben, auch wenn das in ihrem Falle nicht allzu viele sind. Nimm es als einen Rat eines Veteranen an, Arrow.“
„Nun, wenn Lieutenant Commander Pawlitschenko ebenso denkt, sehe ich das eher als eine Bestätigung meiner Auffassung, Sir. Nicht jeder braucht Freunde, Sir. Unser Staffelführer und die XO sind ja schliesslich auch nicht hier.“
„Naja, Mantis…“ Donovan wollte schon fast wieder ansetzen die ihm so verhasste Pilotin schlecht zu machen, aber er besann sich eines Besseren „ Mantis ist halt Mantis. Und Lone Wolf hat ja wohl nicht umsonst dieses Callsign erhalten.“
„Nun, seine Einsamkeit kann ihm helfen, sich auf seine Pflicht zu konzentrieren und sie besser zu erfüllen, oder? Aber wenn Sie darauf so viel Wert legen, warum sind sie dann nicht bei ihm und versuchen ihn zu überreden mit uns eine Runde Poker zu spielen.“
Donovan blinzelte irritiert. „Wie bitte?“
„Nun, ich habe gehört, dass Sie unseren CO schon seit sehr langer Zeit kennen. Warum sind Sie nicht mit ihm befreundet, wenn sie so viel Wert auf Freundschaft legen, Sir…?“ Das Arrow noch ganz andere Dinge über den ihm gegenüber sitzenden Piloten gehört hatte, behielt er für sich.
Donovans Blick wanderte einen Augenblick in die Ferne. „Ja, es gab mal eine Zeit, da hätten wir uns vielleicht als Freunde bezeichnet…aber…das ist eine laaange Geschichte, die ich dir nicht erzählen werde.“ Donovan verstummte und dann huschte ein leichter Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. „Gut, Arrow, ich sag dir was. Ich werde mal schauen, wie es unserem CO in seinem selbstgewählten Exil so geht, und du schliesst dich der Pokerrunde an und versuchst dich mal ein wenig zu entspannen. Glaub mir, im Grunde deines Herzens willst du auch zu dieser Gruppe da gehören, sonst würdest du nicht hier sitzen um zu lernen, denn es gibt deutlich ruhigere Plätze auf dieser Station, wo man konzentriert lernen könnte wenn man das wirklich wollte. Ich kenn mich damit besser aus, als du denkst. Also was sagst du?“
Arrow betrachtete die Einsatzrichtlinien die vor ihm ausgebreitet lagen und zuckte dann mit den Schultern. „Na gut, ich kenne das Zeug soundso auswendig. Vielleicht bringt es ja tatsächlich was. Viel Erfolg, Sir!“
„Erfolg bei was?“
„Bei Ihrem Versuch, den einsamen Wolf aus seiner Höhle zu locken.“
Donovan grinste als er sich vom Tisch erhob. Er wusste nicht wirklich, ob das eine gute Idee war, dass er sich einfach mal so mit Lucas unterhielt. Doch auf der anderen Seite war es vielleicht sinnvoll seinen eigenen Rat zu befolgen. Es konnte nicht schaden, wenn man zumindest versuchte kameradschaftlich miteinander umzugehen, oder?

***

Als Donovan kurz darauf an der Kabine des CO der Roten klopfte und schliesslich eintrat, fragte er sich schon, was er hier eigentlich machte.
Lucas Cunningham schaute von seinem Schreibtisch hoch und blinzelte überrascht, als er Donovan erkannte. „Donovan, was kann ich für dich tun?“
Stuntman setzte sich. „Nichts, ich wollte dich nur mal besuchen und dich mal ein bisschen ablenken.“
Lucas Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was willst du?“
„Sag ich doch: Dich ein wenig ablenken. Keine Hintergedanken.“
„Und wozu soll das gut sein?“
„Nun, Lucas, auch du bist nur ein Mensch – glaub ich zumindest – und jeder von uns braucht mal eine Pause. Und da dachte ich, ich komm mal vorbei und schau wie es dir so geht?“
„Donovan, ernsthaft jetzt…geht es dir gut?“
Stuntman lachte laut auf. „Ja. Verflucht Lone Wolf, MIR geht es gut. Aber wie steht es mit DIR?“ Lone Wolf schien ein wenig sprachlos zu sein, also fuhr Donovan einfach fort. „Hör mal, wir stehen kurz vor einer wichtigen Schlacht, du arbeitest wie immer wie ein Verrückter und hast wahrscheinlich niemanden, mit dem du mal über etwas anderes als deine Arbeit reden kannst.“
„Wie kommst du darauf?“
„Nun, du bist nicht gerade berühmt für deine gewinnende Art, oder?“
„Worauf willst du hinaus? Dass ich keine Freunde habe?“
Donovan zuckte kurz mit den Schultern. „Nenn mir einen!“
Lone Wolf blickte Stuntman einen Augenblick mit leerem Blick an, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Donovan, kann es sein, dass Du förmlich um eine Strafaufgabe bettelst?“
„Meine Güte, Lucas. Ich wollte dir nicht an den Karren fahren. Vor nicht allzu langer Zeit ging es mir ähnlich wie dir. Wie du weisst, habe ich noch nie den Beliebtheitspreis bekommen, lief hier lange Zeit ziemlich isoliert herum.“
„Das könnte man auch Untertreibung nennen.“
„Ja, ich weiss. Doch im Laufe der Zeit konnte ich ein paar Freunde gewinnen. Und heute bin ich froh darüber und kann zumindest eine Handvoll an Bord dieses Schiffes aufweisen.“ Donovan atmete einmal tief ein und wieder aus.
„Lucas, ich weiss, es ist eine Ewigkeit her. Und ich weiss auch, dass zwischen uns Dinge vorgefallen sind, die es uns beiden schwer machen je wieder wirklich befreundet zu sein. Aber auf der anderen Seite…Mein Gott, wenn ich an all diese Jungspunde denke, die mit uns fliegen, gibt es nur noch eine Handvoll Leute in diesem Geschwader, die so schon so lange dabei sind und so viel erlebt haben wie du und ich. Wir beide haben Freunde verloren…“
Lone Wolfs Miene war eine unbewegte Maske. Also fuhr Stuntman mit seinem Monolog fort. „Mir ist klar geworden, dass ich zu häufig zu nachtragend gewesen bin. Ich für meinen Teil bin nun endlich dabei die Vergangenheit ruhen zu lassen.“
Ohne ein weiteres Wort streckte Stuntman seinem Staffelführer die Hand aus.

Lone Wolf zögerte, griff dann aber doch zu.
„Gut, Donovan, vielleicht hast du Recht.“
Einen kurzen Augenblick herrschte Stille im Raum, dann ergriff Donovan wieder das Wort. „Und, wie geht´s dir also? Ich meine ausser der Tatsache, dass Du viel zu tun hast?“
Es dauerte einen Moment bis Lone Wolf auftaute, aber schliesslich gelang es den beiden Veteranen tatsächlich ein fast entspanntes Gespräch zu führen.
Trotzdem begann ihre Unterhaltung zunächst mal mit der anstehenden Schlacht, denn schliesslich gab es kaum jemanden auf diesem Schiff, der nicht daran denken musste, was ihnen in den nächsten Tagen bevorstehen würde. Sie unterhielten sich dann über die Staffel, wobei Stuntman darauf achtete, nicht zu viel über seine Kameraden preis zu geben, schliesslich war Lone Wolf weiterhin der Staffelführer. Doch Lone Wolf schien sich vor allem auch für Sonnyboy zu interessieren, obwohl er diesen ja sogar zu Mantis abgeschoben hatte. Das kam Stuntman merkwürdig vor, also sprach er Cunningham darauf an.
„Er erinnert mich an einen früheren Flügelmann, das ist alles…“ war seine Antwort und Donovan liess es dabei bewenden.
„Wie läuft´s mit Mantis?“
Donovan verzog das Gesicht. „Du weisst doch wie nahe wir uns stehen…“ Der sarkastische Unterton war nicht zu verkennen.
Doch Lone Wolf schüttelte den Kopf. „Donovan, du verstehst es einfach nicht, oder?“
„Was?“
„Die ganze Sache mit Mantis! Echt, dein Gezanke mit ihr nervt und erinnert an ein altes Ehepaar!“ Wumm, das schien gesessen zu haben, denn Stuntman verzog bei dem reinen Gedanken hieran voller Abscheu das Gesicht. „Du und Mantis, ihr seid beide ein Vorbild für eure Staffelkameraden, oder ihr solltet das zumindest sein, vor allem für die Frischlinge. Und was tut ihr? Streitet euch über jede Kleinigkeit. Wir haben die Akarii im Anflug in unser System, die Columbia ist generalüberholt und es fehlen an allen Ecken und Enden Leute für die alte Lady. Unser Geschwader befindet sich ebenfalls noch im Wiederaufbau, erst Recht unsere Staffel. Und ihr zankt euch!“
„Mantis fängt doch immer…“
„Wir sind doch nicht im Kindergarten! Dann lass sie zicken, schlucks runter und mach gute Miene zum bösen Spiel. Meinst du mir geht es anders mit Raven und Irons? Manchmal muss man eben seinen Stolz runterschlucken. Wir haben es so schon schwer genug, immerhin müssen wir einschliesslich mir die Hälfte unserer Staffel erst aufeinander abstimmen. Und dass uns das im Vergleich zu den Butcher Bears ziemlich hinterherhinken lässt, brauch ich dir nicht sagen, du kennst die Staffelergebnisse.“ Lone Wolf schnaubte. „Du kennst mich nun schon eine Weile! Ich hasse es Zweiter zu sein, egal ob es dafür gute Gründe gibt, oder nicht.“
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.“
„Ich will diese Staffel zumindest soweit wieder auf Vordermann bringen, dass wir den Schwarzen und Grünen ebenbürtig sind und wie in der Vergangenheit deutlich vor den Blauen und Gelben landen. Und euer permanenter Kleinkrieg hilft mir hierbei nicht gerade.“
Stuntman schwieg, offensichtlich hatte Lone Wolf einen gewissen Nerv getroffen.
„Titan ist eine gute Sektionsleaderin, Too-Tall und Artist sind gute Wingleader. Doch du und Mantis seid diejenigen, zu denen die anderen insgeheim aufschauen, auch diese drei. Selbst wenn Titan sich das nicht eingesteht, sie hat bei weitem nicht die Erfahrung, die ihr beide habt.“
„Und warum ist sie dann Sektionsführerin und nicht ich?“
„Strafe muss sein Donovan, das hast du dir selbst eingebrockt und auch ich kann und will das nicht richten. Doch es gibt in Staffeln immer eine offizielle und eine inoffizielle Befehlskette. Beide sind wichtig, die erste damit Befehle ausgeführt werden. Die zweite ist eher eine Frage von natürlicher Autorität und Respekt. Ihr beide habt das Zeug, aber steht euch damit gewissermassen selbst im Weg. Und nicht nur gegenseitig, sondern auch jeder dem anderen.
Schaut dir Arrow an. Ein arroganter Kotzbrocken und als Pilot nicht besser als Dog und The Kid. Doch trotzdem schauen die beiden und Sonnyboy zu ihm hoch und haben ihn zu ihrem Rädelsführer gemacht. Nicht weil er im Rang über ihnen steht, sondern weil sie ihn klammheimlich zu ihrem Anführer gemacht haben, weil er eine gewisse Autorität ausstrahlt. Ich kann den Jungen jetzt schon nicht leiden, aber er könnte mal ein sehr guter Anführer werden. Man muß keinen Rang oder eine Position innehaben um Autorität zu besitzen, Donovan. Aber die richtige Einstellung, die muss man schon mitbringen.“
Stuntman schwieg in Gedanken versunken und Lone Wolf liess seine Worte bewußt wirken. Er war gespannt darauf, wie Donovan jetzt reagieren würde. Würde er wieder die beleidigte Leberwurst sein und die Kritik wieder ablehnen? Oder hatte er sich tatsächlich wieder so weit im Griff, dass er die Kritik so auffassen würde, wie es Cunningham gemeint hatte, nämlich als konstruktiv?
Langsam aber bestimmt fing Donovan an zu nicken. „Ich glaube, ich verstehe worauf du hinauswillst, Lucas. Danke für den Ratschlag.“
Lone Wolf war positiv überrascht und gleichzeitig froh. Vielleicht hatte er tatsächlich mit einem simplen Gespräch einen ständigen Unruheherd in seiner Staffel wenn nicht gelöscht, dann doch eingegrenzt.

Für einen Moment waren die beiden Männer wieder still und Donovan lächelte kurz vor sich hin, da er unvermittelt an Jean denken musste.
Lone Wolf runzelte kurz die Stirn.
„Was lachst du?“
Stuntman zögerte kurz, als ob er etwas erzählen wollte, überlegte es sich dann aber doch anders. „Ach nichts.“
Lucas stirnrunzeln blieb „Was ist bloss los mit dir, Donovan?“
„Wie meinst du das, Lucas?“
„Nun ja, du bist irgendwie viel zu gut gelaunt und grinst hier vor dich her, obwohl ich dir eben gerade gehörig den Kopf gewaschen habe. Das ist nicht der mürrische, griesgrämige Pilot wie wir in alle kennen und lieben gelernt haben...“
„Und? Kann man nicht mal guter Laune sein?“
„Kurz vor einer großen Schlacht…?“ Lone Wolf legte den Kopf schräg. „Du bist so eklig gut gelaunt, dafür gibt es eigentlich nur zwei Gründe. Entweder bist du auf Drogen – was ich ja mal nicht hoffe und nicht Glaube oder…“
„Oder was?“
„Oder du bist verliebt.“
Donovan konnte nicht anders als grinsen, sagte aber nichts, so dass sein Staffelführer fortfuhr. „Ausserdem habe ich da so Gerüchte gehört…!“
„Schon gut, ja, ich geb´s ja zu, mich hat´s erwischt.“
Lucas nickte nur kurz. „Schön. Und wer ist die Glückliche? Mantis?“ Lucas musste laut auflachen und obwohl Donovan mit einem „Haha, sehr witzig!“ antwortete, prustete er ebenfalls los. Der Witz war wirklich gut gewesen. „Soooo masochistisch veranlagt kann man gar nicht sein. Nein, du kennst sie nicht…nicht wirklich…“
„Vielleicht ja doch. Komm schon, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Ausserdem werde ich es früher oder später ohnehin erfahren.“
„Schon gut. Es ist Jean Davis.“
„Hmm, Jean Davis, Ace kleine Schwester?“ Lucas wurde mit einem Mal Ernst und ruhig.
„Ja, genau. Was ist damit?“
„Weiß Ace davon?“
„Ja ähh, Nein, ich mein…Nein…Ich glaube, er ahnt da was, aber wir haben nicht davon gesprochen. Ich glaube also nicht dass er es weiß, er war ja auch die letzte Zeit weg und jetzt wo er wieder da ist hat er beide Hände voll zu tun um die Blauen wieder auf Vordermann zu bringen….Aber warum fragst du?“
Lone Wolf zuckte nur kurz mit den Schultern. „Nichts, ich mein ja nur. Ich war damals nicht dabei, aber ich habe gehört, dass er das letzte Mal ziemlich ausgetickt ist, als er erfahren hat, dass seine Schwester einen Verehrer hatte, oder?“
Donovans Kinnlade fiel herab, die Erinnerung schien wieder zurück zu kommen, doch Lucas fuhr ungerührt fort. „Sag mal, warst du nicht damals dabei? Ich hab gehört, dass es drei Mann bedurft hatte diesen Verrückten davon abzuhalten, diesem Marine den Kopf abzureissen. Obwohl ich ja eher glaube, dass sie wahrscheinlich eher Ace den Arsch aufgerissen hätten, wenn er es alleine versucht hätte.“
„Ich weiß, ich war damals einer der drei.“
„Ach echt? Wusste ich ja gar nicht.“ Dass das eine Lüge war fiel Donavan nicht auf, da er am Grübeln war. Wie es aussah, hatte er sich tatsächlich bislang keine Gedanken darüber gemacht, wie er es Ace sagen sollte, dass er sich in dessen kleine Schwester verliebt hatte.
„Na, nu mach dir mal keine Sorgen. Mit deiner Erfahrung als gelegentlicher Kneipen- und Knastschläger solltest du es mit ihm aufnehmen können. Sei froh, dass er keinen höheren Rang hat, sonst könntest du nicht mal zurückschlagen.“
Donovan war sichtlich irritiert und seine Selbstsicherheit sichtbar angeknachst. Daher verabschiedete er sich auch relativ bald und ließ Cunningham wieder zurück mit seinen Unterlagen.
Lucas glaubte nicht ernsthaft, das Ace Donovan den Kopf abreissen würde, dafür war Ace nicht stark genug und Donovan hatte zuviele Schlägereien mitgemacht und überlebt. Aber trotzdem war der Anflug von Panik in Stuntmans Miene Gold wert gewesen und hatte jetzt schon seinen Tag versüsst.
Stuntman hatte in der Tat recht gehabt, dieses Gespräch hatte Lucas in mehrerer Hinsicht wirklich gut getan
Mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen beugte sich der Staffelführer der Roten wieder über das spröde Material und arbeitete fröhlich pfeifend weiter.

***

Stuntman versuchte zunächst die Bedenken von Lone Wolf beiseite zu wischen. Was sollte Ace schon dagegen haben, wenn er sich mit Jean einlassen würde? Aber andererseits hatte Cunningham Recht, Ace hatte sich wie ein Berserker aufgeführt, als er damals von Jean und Ken gehört hatte. Und er hatte ihm damals schon gesagt, dass ihn am meisten gewurmt hatte, dass sich Howard nicht getraut hatte, es dem größeren Bruder seiner Freundin zu sagen.
Donovan hatte nicht vor denselben Fehler zu machen, also entschied er sich direkt zu Ace zu gehen, bevor dieser irgendwelche Gerüchte zu Ohren bekam.
Vielleicht sogar die falschen.

Er fand Ace schliesslich im Hangar, wo er die Wartung von ein paar seiner Staffelmaschinen mit einem Techniker durchging. Er händigte dem Tech gerade ein elektronisches Klemmbrett zurück.
„Gehen Sie nochmal das Triebwerk Zwei von Chips Maschine durch. Die Werte erscheinen mir auffällig, ich will nicht, dass meinem XO die Maschine beim Übersetzen zur Colimbia um die Ohren fliegt, o.k.?“ Ace Tonfall war freundlich, aber hart. Es schien, dass er schnell lernte, aber trotzdem bei seinem Stil blieb. Es freute Donovan das zu sehen.
Als er er sich umdrehte und Donovan sah, umarmte er diesen sofort. Stuntman fühlte sich zwar nicht 100 Prozent wohl bei dieser Begrüßung, aber das schien die Art und Weise zu sein, wie sich der Davis-Clan nun mal begrüßte, also erwiderte er die freundschaftliche Umarmung.
„Donovan, schön dich zu sehen.“
„Ich hoffe ich störe dich nicht?“
„Nein, nein. Im Gegenteil, danke dass du vorbei schaust. Ich hatte soviel um die Ohren, ich hab mich nach meiner Rückkehr gar nicht bei dir gemeldet. Entschuldige.“
„Ist schon o.k. Ich verstehe, dass du viel zu tun hast. Hast du vielleicht doch einen Moment für mich?“
„Ja klar, was gibt’s?“
„Können wir einen der Bereitschaftsräume benutzen?“
„Warum, was ist los?“
„Erzähle ich dir dann, o.k.?“

Als sie in den Bereitschaftsraum traten, schloss Donovan die Tür, drehte sich zu Ace um, der ihn gespannt aber mit einem freudigen Ausdruck im Gesicht ansah, holte tief Luft und sagte ihm schliesslich geradewegs ins Gesicht, das er sich während Ace Abwesenheit in dessen kleine Schwester verliebt hatte.
„Du hast was?“ Ace Miene änderte sich von einem Augenblick auf den anderen. Der freundliche Blick war einem eisigen gewichen und die Art und Weise, wie sich Ace langsam aufrichtete, erinnerte Donovan an einen Panther kurz vor dem Sprung.
Shit, das war genau das, was Donovan eigentlich verhindern wollte. Er breitete langsam die Arme aus. „Hör mir zu, Ace. Es ist einfach passiert, o.k. Es war nicht so, dass ich es darauf abgesehen hatte, aber sowas kann man ohnehin nicht steuern, oder?“
Ace antwortete ihm nicht, sondern blickte ihn immer noch finster an.
„Ich habe dich als Freund gewonnen und bin von deiner Familie herzlichst aufgenommen worden, dass will ich nicht verlieren. Aber ich will Jean dafür auch nicht aufgeben müssen.“
Ace Blick blieb düster, doch dann huschte ein Flackern um die Lippen von Cliff Davis, so dass Donovan die Stirn runzelte. War das etwa…etwa ein Anflug eines Lächelns?

Jetzt konnte Ace offensichtlich nicht mehr länger an sich halten und prustete los. Auch Donovan lachte nun erleichtert.
„Donovan, das habe ich schon vor Wochen geahnt, schon als ihr damals auf Justus Party auf Seafort geturtelt habt.“
„Echt?“
„Ja, natürlich. Mir, Ian und Justus ist das sofort aufgefallen, übrigens auch, dass Jean Interesse an dir hatte.“
„Was? Und das hast du mir nicht gesagt?“
„Jean hat es uns nicht direkt gesagt und uns gegenüber hätte sie es ohnehin abgestritten. Aber wir kennen sie nur zu gut, glaub´ mir. Darauf musstet ihr beiden aber alleine kommen, sonst hätten wir es auch versauen können.“
Donovan nickte erleichtert. „Danke.“
„Da nicht für. Du hattest aber eben Schiss gehabt oder?“
Donovan zog eine Augenbraue hoch. „Ja, sicher. Schiss davor dir weh zu tun.“
„Quatsch, ich hätte dich platt gemacht.“
„Träum weiter, Ace, träum weiter.“
Beide lachten wieder, bis Ace unvermittelt wieder ernst wurde: „Und wie lange seid iher jetzt also schon zusammen?“
Donovan erzählte ihm von ihrem Gespräch auf dem Aussichtsdeck und davon, dass sie schon seit einiger Zeit ausgingen, aber auch davon, dass sie ihn um Zeit gebeten hatte und er sie nicht drängen wollte.
„Ach so, das heisst ihr beide seid noch gar nicht richtig…?“
Donovan schüttelte den Kopf „Nein, sie hat gesagt, sie braucht noch etwas Zeit und das respektiere ich.“
„Hmmm.“ Ace nickte zwar, doch so richtig überzeugt schien er nicht zu sein.
„Was ist?“
„Naja, Donovan, es ist zwar ehrenhaft von dir, dass du ihr noch Zeit lassen willst. Aber wir sind im Krieg, die Akarii stehen vor der Tür. Und mir dreht sich zwar der Magen um, bei dem Gedanken einem von euch könnte was zustossen. Aber so ist nun mal leider der Krieg.“
Ace und Stuntman schwiegen beide, wohlwissend das Cliff Davis natürlich Recht hatte. Er selbst hatte es sich bis jetzt nicht getraut mit Lilja klaren Tisch zu machen, und nach dem was er auf Seafort gesehen hatte, hatte er vielleicht auch zu lange damit gewartet. So lange damit gewartet, dass sich Lilja offensichtlich jemandem anderen zugewandt hatte. Er wollte nicht, dass das seiner Schwester oder Donovan passierte.
„Vielleicht solltest du vorher reinen Tisch machen? Du oder auch Jean könntet es sonst später mal bereuen. Und ausserdem tendieren Menschen, die eine Perspektive haben eher dazu auf sich achtzugeben als solche, die nichts zu verlieren haben.“
Donovan grübelte, aber antwortete ihm nicht.
Ace war sich nicht sicher, ob er seinen Freund überzeugt hatte.
`Vielleicht würde ich doch ein wenig nachhelfen müssen` dachte er sich, als Donovan wieder gegangen war. Er freute sich für die beiden, aber er wollte nicht, dass sie denselben Fehler wie er machen würden.
Also machte sich Cliff direkt auf den Weg zu den Marinesquartieren.

***

Er fand Jean Davis in ihrem Quartier beim Packen ihres Seesacks.
„Hi Cliff, schön dass Du gekommen bist. Ich bin gerade mit dem Packen fertig und muss gleich los. Wir haben gerade unseren Marschbefehl erhalten, es geht für uns auf die Columbia. Ihr kommt bald mit euren Maschinen nach habe ich gehört, oder?“
Ace nickte nur und hatte ein ernstes und finsteres Gesicht aufgesetzt.
„Was ist los?“
„Ich muss mit dir reden!“
Jean setzte die Stirn in Falten. „Worüber? Was ist los? Ist was mit Ian? Oder Justus?“
„Nein! Ich muss mit dir über Donovan reden. Was läuft da zwischen euch beiden?“
Jean war perplex. „Was? Das weisst du doch, er hilft mir bei meinem Offizierspatent, wir gehen ab und an aus und sind gern zusammen. Das haben wir doch besprochen!?“
„Wir haben besprochen, dass du dich gut mit Donovan stellen solltest. Dass du auf ihn achtgeben und ihm nicht das Herz brechen solltest, aber doch nicht, dass Du mit ihm ins Bett steigen sollst und ihr euch ineinander verlieben sollt!“
„WAS?“ Jean wurde richtig böse, das konnte Ace direkt sehen. „Ich war gar nicht mit ihm Bett. Und ausserdem: Was geht dich das an? Ich kann mit wem ich will ins Bett steigen. Von dir lass ich mir gar nichts sagen!“
„Ich bin dein großer Bruder…“
„Na und?“ fauchte sie ihn an. „Misch dich nicht in meine Angelegenheiten, Cliff! Ich kann ins Bett steigen mit wem ich will und ich kann mich verlieben in wen ich will. Und ich warne dich, solltest du mir oder Donovan in die Quere kommen oder noch mal so eine Show abziehen wie bei Ken damals, dann werde ich dir eigenhändig zeigen, was ich bei den Marines gelernt habe. IST DAS KLAR?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich wutschnaubend herum und stampfte immer noch ärgerlich vor sich hinmurmelnd davon.
Hätte sie sich noch einmal umgedreht hätte, wäre ihr vielleicht das verschmitzte Grinsen von Ace aufgefallen. Dieser kannte seine kleine Schwester in- und auswendig und wusste, dass sie eher das Gegenteil von dem tun würde, was ihr Bruder ihr sagte. Und diesen Reflex hatte Ace schon häufiger ausgenutzt. Sie würde sauer auf ihn sein, sicher. Aber wenn das helfen sollte die beiden schneller zusammen zu bringen, dann war es das Wert.
Grinsend verliess Ace die Marinesunterkünfte und machte sich wieder auf den Weg zu seiner eigenen Staffel.
Cattaneo
Cattaneo

Vorbereitungen auf das Unmögliche

TRS Relentless, Sterntor-System

Die Kampfbereitschaft, die Admiral de Kerr ausgerufen hatte, hatte einen ebenso Ehrfurchtgebietenden wie schwerfälligen Apparat in Bewegung gesetzt, der nicht so schnell wieder zu stoppen war, wenn er einmal Fahrt aufgenommen hatte. Auf Dutzenden Schiffen, auf Stationen und am Boden wurden zehntausende Flottenangehörige mobilisiert - und eine noch größere Zahl an Heeres- und Nationalgardesoldaten. Nicht zu vergessen die Zivilisten, denn egal wie die offizielle Tarngeschichte zunächst auch lauten mochte – spätestens als man begann, die Urlauber flächendeckend einzukassieren, war der Wildwuchs der Gerüchte nicht mehr zu stoppen. Für eine so umfassende Mobilisierung gab es eigentlich nur eine Erklärung – der Feind hatte irgendwo in der Nähe eine Großoffensive gestartet. Binnen kurzem musste der zivile Nachrichtenverkehr teilweise stillgelegt werden, sonst wären die Kommunikationslinien wohl zusammengebrochen. Und das war nicht das größte Problem. Gerüchte neigten ohnehin nicht dazu, das Beste in den Menschen hervorzubringen – in so einer Situation bestand immer die Gefahr von Panik, wenn nicht gar Unruhen. Admiral de Kerr sah sich bald von Seiten der zivilen Administration mit Anfragen überschüttet. Zu den militärischen Problemen kam so noch eine zusätzliche Dimension von Aufgaben.

Nicht, dass selbst die höchsten Flottenränge mit ruhiger Zuversicht mit der unvermuteten Wendung umgingen. Rear-Admiral Chris Mithel zum Beispiel konnte dies kaum von sich behaupten, obwohl er diese Unruhe mit langjähriger Übung kaschierte. Er neigte nicht dazu, sich leicht beeindrucken zu lassen. Er hatte in diesem Krieg schon genug erlebt, angefangen von dem heimtückischen Angriff auf Manticore und den folgenden harten Rückzugsgefechten bis zu den blutigen Schlachten der letzten Monate. Nichts davon hatte ihn einschüchtern oder demoralisieren können, obwohl es ihm gewiss nicht immer leicht gefallen war, Gesicht und Fassung zu wahren. Allerdings – das hier war wirklich ein Sonderfall. Mithel hielt sich zwar nicht gerade für einen Mann mit einer überschäumenden Phantasie, aber er hatte sich eigentlich eingebildet, er könne halbwegs kalkulieren was wahrscheinlich oder machbar war. In dieser Hinsicht waren die letzten Wochen und Monate eine recht ernüchternde Lektion gewesen. Erst dieser wahnwitzige – aber ungeachtet horrender Verluste erfolgreiche – Vorstoß der Akarii auf Hannover, ein, wie der Rear-Admiral es gegenüber seiner Flaggkapitänin ausgedrückte hatte, Sieg des Wahnsinns und der Angst über die militärische Vernunft. Dazu kamen die Kamikaze-Flieger über Tukama und jetzt gar ein möglicher Angriff auf Sterntor. Waren die Echsen vollkommen übergeschnappt und spielten nur noch auf Risiko, in der Erkenntnis, dass rationelles Vorgehen ihnen nicht mehr weiterhalf? Wen ja, wie sollte man gegen einen Feind kämpfen, für den Logik nicht mehr zu gelten schien? Natürlich, in der Geschichte waren solche Va banque-Spieler letztlich immer gestoppt worden, doch oft erst spät und zu einem katastrophalen Preis. Oder lag er falsch und man hatte den Gegner einfach unterschätzt? Aber wie konnte das sein, da doch das Imperium bereits die Elite seiner Flotte, einen Kronprinzen und zahlreiche Welten verloren hatte?
Er wusste keine Antwort auf diese Fragen, und im Moment hatte er auch nicht vor, sich erschöpfend mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Es gab Wichtigeres zu tun.

Der Admiral starrte wie gebannt auf die taktischen Anzeigen, die auf die Bildschirme seines Konferenzraumes projiziert wurden. Er bedauerte, dass er nicht einen dieser großen Holotanks zur Verfügung hatte, wie sie auf ausgewählten Flaggschiffen und in Sektorhauptquartieren zu finden waren, Kunstwerke der Technik, mit denen man ganze Systeme oder Sektoren als interaktive dreidimensionale Simulationen abbilden konnte. Dennoch – was er an taktischem Material hatte, musste ausreichen.
Er hatte sich aus guten Gründen für den Konferenzraum als Ort des aktuellen Treffens entschieden – nicht alles, was hier verhandelt wurde, war für die Allgemeinheit bestimmt. Seitdem die Flotte in Bereitschaft versetzt worden war, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Es erfüllte ihn freilich mit nicht geringem Stolz, dass sein Geschwader binnen kurzem einsatzbereit gewesen war. Nun, das lag zweifellos auch daran, dass er seine Untergebenen in den letzten Tagen und Wochen erbarmungslos in Übungseinsätzen geschliffen hatte. Jetzt kam ihnen das zugute.
Auf den ersten Blick waren die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte beeindruckend. Immerhin hatte man ihm zahlreiche weitere Schiffe unterstellt. Acht schwere, dreizehn leichte und zwei Flak-Kreuzer unterstanden inzwischen seinem Kommando, ein Teil davon sogar modernisiert. Dazu kamen die Freiwilligenverbände der ehemaligen Konföderierten – immerhin je ein weiterer leichter und schwerer Kreuzer, ein Zerstörer und drei Fregatten.

Schaute man jedoch genauer hin, dann relativierte sich diese Zuschaustellung von Flottenmacht. Die Verteidigung eines Systems – vor allem eines Systems wie Sterntor – hatte ohnehin ihre ganz eigenen Tücken. Idealtypisch erwartete man den Feind am Sprungpunkt, am besten hinter einem soliden Minenfeld, und begrüßte ihn mit vernichtenden Breitseiten. Nicht so hier – Sterntor hatte einfach so viele Sprungpunkte, dass man unmöglich sagen konnte, aus welcher Richtung der Angriff kommen würde, vor allem, da man den Gegner nicht beschatten konnte. Wenn der Angriff denn überhaupt kam. Zwar konnte man einige Variablen aus der Gleichung nehmen – Sprungverbindungen zu Systemen, die zu weit von der letzten Sichtung des Gegners entfernt waren oder die zu gut gesichert waren für einen überraschenden „Besuch“. Aber auch ohne diese Möglichkeiten blieben noch genug mögliche Angriffsvektoren übrig. Vor allem – das Sterntor-System war wie jedes Sonnesystem GROß. So groß, dass eine flächendeckende Absicherung mit den vorhandenen Kräften illusorisch war.
Und das waren nicht die einzigen Probleme, die ihm Sorge bereiteten. Was ihm unterstand, das war auf dem Papier eine Ehrfurchtgebietende Streitmacht. Aber eben vor allem auf dem Papier. Seine eigene Schwadron kam noch relativ gut weg – inzwischen waren die Schiffe alle einsatzbereit, obwohl die Schwadron noch immer unvollständig war und zwei Kreuzer zur vollen Einsatzstärke fehlten. Bei den übrigen Schiffen seines ad-hoc-Kommandos sah es nicht so gut aus. Etliche der Kreuzer waren notdürftig ausgebesserte Havaristen, andere waren noch ziemlich ‚grün‘ und wieder andere hatten seit Anfang des Krieges noch keinen scharfen Gefechtseinsatz erlebt, sondern die letzten Jahre als Garnisonsschiffe verbracht. Von einer eingespielten und koordinierten Zusammenarbeit zwischen Schiffen und Kommandeuren konnte keine Rede sein. Nicht, dass Mithel den Garnisonskommandeuren Inkompetenz unterstellt hätte, und auch die Kapitäne der bisher in Ausbildung befindlichen oder reparierten Kreuzer waren Mann für Frau Veteranen. Aber sie bildeten keine Teams, wie eine Schwadron – oder zwei aufeinander eingespielte Verbände – sie im Idealfall darstellten. Dabei waren die ehemaligen Konföderierten noch nicht einmal in die Rechnung einbezogen.

Es war davon auszugehen, dass nicht nur dem Rear-Admiral diese Probleme bekannt waren. Auch seine unmittelbaren Untergebenen waren sich darüber wohl nur zu klar. Chris Mithel hatte sich entschieden, dass in dieser Lage eine direkte Kommandeursbesprechung außer Frage stand, so nützlich sie auch gewesen wäre. Es konnte sein, dass die Akarii erst in einer Woche oder gar nicht kamen. Andererseits war es auch denkbar, dass sie schon sehr viel früher eintrafen. Es wäre unverantwortlich gewesen, die Kreuzer in Shuttledistanz zueinander zu halten und die Kommandeure in ihrem Raumtaxis hin und her zu hetzen – nicht bei den ihnen zugeteilten Aufgaben.
So kommunizierte er via Richtfunk mit seinen wichtigsten Untergebenen. Zum augenblicklichen Kommandostab gehörte die Kapitänin der Relentless, als einzige persönlich vor Ort, dazu kamen Mithels Schwadrons-XO, sowie Commodore Mutiu Ikeda vom CAV-Verband und Commodore Akis Theodoru, der die schweren Einheiten der Sterntor-Garnison übernommen hatte und zugleich als so etwas wie Verbindungsoffizier zu Admiral de Kerr fungiert.
Im Moment hörten die Offiziere – Mithel eingeschlossen – mit kaum verhohlenem Unbehagen dem Vortrag von Captain Liu Shan-Lee zu, die einige Überlegungen der taktischen Abteilung der Relentless zum Besten gab.
„…ist ein direkter Passierangriff der Akarii mit Ziel eines Durchbruchs zur Erde unseren Analysen zufolge mehr als unwahrscheinlich. Selbst wenn wir die höchsten Schätzungen für den feindlichen Verband zugrunde legen, ist davon auszugehen, dass den Akarii klar ist, dass sie niemals mit ausreichend Schiffen Sterntor passieren könnten, um es nach dem Kampf mit uns auch noch mit den Restverbänden der Home Fleet und den planetaren und stationsgestützten Verteidigungsstreitkräften der Erde aufzunehmen. Die prognostizierten Landungsverbände sind selbst für eine Invasion Sterntors zu knapp bemessen, von einer Landung auf dem Mars oder gar Terra ganz zu schweigen.“ Die Stimme der zierlichen Asiatin blieb ernst, obwohl – oder vielleicht weil – sie gerade eine wesentliche Befürchtung Admiral de Kerrs als unwahrscheinlich abtat.
„Was jedoch als existierende wenn auch nicht sehr plausible Gefahr eingeschätzt werden muss, ist die Möglichkeit, dass die Akarii entweder im Zuge eines Durchbruchs oder mittels eines sensorgetarnten Schiffs versuchen, die Sprungverbindung nach Terra – oder vielleicht auch andere wichtige Routen – aus der Phase zu bringen, wie sie es bei Texas getan haben. In einem System wie Sterntor mit so zahlreichen Sprungpunkten könnte die dazu nötige Explosion und die durch sie ausgelöste Explosionswelle zu unkontrollierten Kettenreaktionen führen, die weit über die bei Texas und während des Magellan-Zwischenfalls beobachteten Phänomene hinausgehen würden. Angesichts unserer Vergeltung gegen Wron ist es zwar plausibel anzunehmen, dass die Akarii ein solches Risiko scheuen, auch weil ihre eigene Flotte durch besagte Kettenreaktionen betroffen seien könnte – doch gewisse irrationale Elemente sind ihrer Taktik der letzten Wochen kaum abzusprechen.“

Die Kapitänin war sich wohl darüber im Klaren, wie niederschmetternd diese Einschätzung wirken musste. Es war eine Sache, den Tod in der Schlacht zu riskieren – etwas anderes war die Aussicht, von einer Schockwelle ohne Aussicht auf Gegenwehr zerfetzt zu werden. Deshalb beeilte sie sich, Optionen aufzuzeigen: „Wie gesagt, die Wahrscheinlichkeit für so ein Manöver ist nicht sehr groß, dennoch halte ich es für notwendig, die Möglichkeit ins Auge zu fassen. In Anbetracht dessen hat die taktische Abteilung eine Gefahreneinschätzung für die bestehenden Sprungverbindungen angefertigt. Die als grün markierten scheiden als Ziele aus, da sie für die Akarii auf Grund ihres Angriffsvektors kaum zu erreichen sind oder eines solchen Angriffs nicht wert erscheinen, da sie zu weit entfernt von den neuralgischen Punkten des Systems liegen. Die gelb markierten sind zwar potentiell gefährdet, aber gleichfalls für die Akarii nur schwierig zu erreichen, auch für getarnte Einheiten. Die rot markierten Verbindungen haben das höchste Gefahrenpotential.“ Zwar war jedes Rot auf den Karten eines zuviel, und auch die gelben Markierungen wirkten nicht unbedingt beruhigend. Doch die verbleibenden Gefahrenpunkte erschienen doch halbwegs kontrollierbar.

Mithel ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen und nickte dann knapp: „Vielen Dank. Leiten Sie diese Einschätzungen bitte an Admiral de Kerr weiter. Ich schlage vor die Option zu prüfen, die akuten Gefahrenpunkte mit dem bisschen an Minen abzusichern, was wir aufbringen können. Gegen getarnte Schiffe wären Sensorshuttles sicher eine gute Vorbeugung.“ Mithel hätte es vorgezogen, den Akarii ein paar schwere Minengürtel entgegenzustellen, noch bevor sie ins System sprangen, doch so weit hinter der Front gab es nicht viele Atomminen, vor allem wenn man die Zahl an Sprungpunkten betrachtete, über die die Akarii möglicherweise eintreffen konnten. Sie würden niemals ausreichend Sprengmittel auftreiben können.
„Doch kommen wir zu unserer eigentlichen Aufgabe, der taktischen und strategischen Verteidigung gegen die feindliche Flotte. Sie alle wissen, dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, von wo der Feind kommen wird – wenn er kommt, wovon wir ausgehen müssen. Niemand schickt so einen so starken Verband auf Gutglück und ohne ein angemessenes Ziel so tief in feindliches Gebiet und entblößt dabei das eigene Hinterland. Ebenso wenig wissen wir etwas Genaues über sein konkretes Ziel.“ Mithel persönlich hielt die Gefahr einer richtigen Invasion für gering. Selbst wenn die höchsten Schätzungen über die Zahl der vom Gegner mitgeführten Bodentruppen stimmten – für Planeten wie Masters und Seafort schien das kaum ausreichend. Die bodengestützten Heeresbrigaden der Terraner waren vielleicht zahlenmäßig schwächer, aber beide Planeten verfügten über Nationalgarden und zahlreiche Polizeiverbände, die in einer Situation wie dieser per Sonderverordnung für paramilitärische Zwecke verpflichtet werden konnten. Natürlich, die Akarii konnten ihren Landungsverbänden in ähnlich verbrecherischer Weise den Weg ebnen wie auf Hannover, aber was hätten sie davon? Hier würde niemand so schnell einknicken wie auf Hannover, und inzwischen war man ohnehin dabei, die detaillierten Informationen über das Vorgehen der Echsen in der CC auszuwerten. Dann könnten sie die Welten auch gleich atomisieren, ohne das Risiko verlustreicher Bodenkämpfe und riskanter Landungen zu einzugehen. Nein, er hielt es für wahrscheinlicher, dass die Akarii vernichten würden, was sie konnten, um sich zurückzuziehen, bevor die Home Fleet von Terra aus in die Kämpfe eingriff. Mochten auf der Erde auch einige fürchten, der Angriff bezwecke es, eben diese Home Fleet hervorzulocken und die Erde zu entblößen – doch DAS erschien Mithel denn doch zu weit hergeholt. Natürlich konnte er nichts mit Sicherheit sagen, nicht mehr, angesichts dieser durchgeknallten Echsen…
„Diese Unwissenheit und die Rahmenbedingungen der taktischen Situation nötigen uns, uns so weit es geht auf verschiedene Alternativen vorzubereiten.“
Er sah, dass Commodore Theodoru etwas sagen wollte, und nickte ihm knapp zu: „Ich habe Ihrem Vorschlag folgend dringend empfohlen, Spähschiffe – und wenn es notverpflichtete Frachter oder Raumyachten sind – möglichst tief in ALLE fraglichen Systeme zu schicken, damit sie uns rechtzeitig die Ankunft des Feindes melden. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich das schnell genug organisieren lässt.“ Mithel hielt es für unnötig auszuführen, dass es angesichts der unklaren Informationslage töricht gewesen wäre, die Kreuzer in der Nähe des Sprungpunkts zusammenzuziehen, über das die Akarii WAHRSCHEINLICH kommen würden. Lag man damit falsch und sie kamen an anderer Stelle, würde man weitab vom Schuss sein, kaum in der Lage, schnell genug umzugruppieren.

Es gestikulierte knapp und aktivierte die taktischen Anzeigen, die in Echtzeit an die anderen Kommandeure übertragen wurden: „Deshalb werden wir wie folgt vorgehen. Ausgehend von den Informationen über den Gegner hat die taktische Abteilung zwei wahrscheinliche Angriffsvektoren ermittelt.“ Er ließ auf den Anzeigen die entsprechenden Sektoren aufleuchten: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Angriffssprung des Gegners über einen der Sprungpunkte in den markierten Gebieten erfolgen. Wir teilen unseren Verband in drei taktische Treffen auf. Kampfgruppe Eins besteht aus der Schwadron 2.3, Kampfgruppe Zwei aus den Garnisonsverbänden abzüglich der leichten Kreuzer Enkidu und Hu Mulan und dem Ticonderoga Ruthlessness. Beiden Kampfgruppen ist ein Dauntless zugeteilt.“ Die drei namentlich genannten Kreuzer waren notdürftig besetzte und ausgebesserte Havaristen.
„Die verbleibenden drei Kreuzer bilden zusammen mit den ehemaligen CN-Einheiten die Reservegruppe. Diese steht am nächsten bei Seafort und de Kerrs Hauptverband. Die zwei Kampfgruppen hingegen postieren sich an der linken Flanke de Kerrs in den feindlichen Angriffsvektoren, wo sie mit hoher Geschwindigkeit kreuzen. Der Treibstoffverbrauch muss uns dabei nicht kümmern. Wird der Gegner geortet, vereinen sie sich schnellst möglich zu einem Gefechtsverband.“ Mithel führte nicht aus, dass viel von den Akarii abhing. Wo sie auftauchten, wie schnell sie vorstießen, welches Ziel sie genau anpeilten, ob sie ihre Kampfflieger vorausschickten – es gab einfach zu viele Variablen, auch wenn man einrechnete, dass es die Verteidigung von Anfang darauf kalkulierte, Masters nicht einmal in die Defensivpositionen einzubeziehen. Es blieb dennoch erschreckend viel Raum zu verteidigen. Selbst wenn man mit Höchstgeschwindigkeit kreuzte und damit Beschleunigungszeit sparte, die Entfernungen waren riesig.

Der Rear-Admiral war jedoch noch nicht fertig: „Bei dieser Schlacht ist Kommunikation ein wesentlicher Faktor. Denken Sie daran, es geht nicht so sehr darum, den Feind zu vernichten – seine Schiffe kampfunfähig zu machen und ihn zum Rückzug zu zwingen reicht vollkommen. Havaristen wird der Feind wahrscheinlich ohnehin vernichten müssen. Wir wissen natürlich nicht, ob der Gegner Agenten vor Ort hat, die versuchen werden, das bestehende Kommunikationsnetz anzugreifen. Auch deshalb und um gefechtsbedingten Störungen vorzubeugen, werden die Sensorshuttles unserer Kreuzer in Verbindung mit den Flakkreuzern, dem Zerstörer Potomac in der Reservegruppe und de Kerrs Flaggschiff ein mobiles Kommunikationsnetz aufbauen – auch, damit wir unsere Zielangaben besser koordinieren können. Das Netz muss so konstruiert werden, dass einzelne Knoten ausfallen können, ohne dass es reißt. Zugleich müssen wir Gebrauch von unseren ECM-Möglichkeiten machen, um den Gegner zu stören, wenn er seine Formation auffächert. Die Sensorshuttles und die Flakkreuzer haben dabei Sorge zu tragen, dass wir den Gegner zielgenau erfassen können, bevor ihm dies bei uns gelingt.“
Bei sich dachte er: ,Vorausgesetzt natürlich, diese verdammten Golf-Kreuzer machen uns keinen Strich durch die Rechnung. Das wäre mal wieder ein Auftrag für die Kampfflieger.’ Mithels Plan basierte auf seinen früheren Erfahrungen, vor allem den Gefechten bei Karrashin. Zudem war der Rear-Admiral dafür bekannt, dass er Zweikämpfe ohnehin nicht sehr schätzte. Nach seiner Ansicht siegten koordiniert kämpfende Profis noch immer über jeden noch so heldenhaften Individualisten.
Mithel blendete auf den Bildschirmen Symbole für die Sensorshuttles ein: „Wir zwingen den Gegner damit auch dazu, gegebenenfalls Kampfflieger zur Jagd auf die Shuttles zu detachieren, was uns ermöglicht, sie mit unseren Jägern außerhalb des Flakschutzes der feindlichen Großkampfschiffe zu stellen – zudem verzetteln die Echsen damit ihre Eskort- und Verteidigungskräfte. Natürlich wissen wir nicht, wann der Feind kommt – wir müssen die Shuttles also bis dahin bereits in Bereitschaft und vor Ort halten und regelmäßig austauschen. Entsprechende Flugpläne werden bereits ausgearbeitet. Überdies werden unsere Tank- und Sanitätsshuttles und die der Träger nach einem vergleichbaren Rotationsprinzip vor Ort in Stellung gebracht. Wenn der Gegner kommt, müssen Rettungs- und Tankmöglichkeiten für unsere Jäger bereitstehen.“ Der Admiral ging von einer einfachen Überlegung aus. Wenn man auch nur einen Teil der boden- und stationsgestützten TSN-Jäger im Fall eines Gefechts im Tiefraum betanken konnte, steigerte dies ihre Kampfkraft erheblich – immerhin konnten sie so auf Zusatztanks verzichten. Der Zeitaufwand war bei den fraglichen Entfernungen kalkulierbar. Er musterte seine Untergebenen: „Ich habe zudem de Kerr dringend nahe gelegt, sämtliche als Tank-, Sanitäts- oder Bergungsshuttle tauglichen Zivilfahrzeuge ebenso wie alle bewaffneten Frachter zu beschlagnahmen und in die Verteidigung einzureihen – auch in Anlehnung an die Erfahrungen über Hannover.“ Chris Mithel war kein Freund halber Maßnahmen, sondern ging eigentlich immer aufs Ganze.
„Unsere Marines sollen sich vor allem zur Enter- und Schadensabwehr bereithalten. Ich werde die bewaffneten Landungsfähren wie bei Karrashin in die Nahbereichsverteidigung der Kreuzer integrieren. Sie haben sich an Bord der Kreuzer in dauernder Kampfbereitschaft zu halten.“ Das war zwar eine Notlösung, hatte sich aber mitunter als recht effektiv erwiesen. Zudem rechnete sich Mithel bei einem so starken Feindverband mit intakten Bordkommandos keine Chancen für etwaige Enterabenteuer seitens seiner Truppen aus, da mochten solche Puristen oder Phantasten wie Hammersmith noch so viel schwätzen. Der Admiral lächelte schmal: „Ich würde es sehr begrüßen, wenn uns de Kerr die Fähren des 217. Sturmregiments als Behelfskanonenboote unterstellen würde, aber dann darf ich wohl Colonel Hammersmith nicht mehr unter die Augen treten.“

Der Admiral versagte es sich, auf weitere recht verzweifelt klingende Vorschläge hinzuweisen, die diskutiert worden waren. Man hatte erwogen, Frachter und Shuttles in unbemannte Rammbomben zu verwandeln oder sie treiben zu lassen und bei Feindannäherung zu sprengen. Das Problem war nur, Fernsteuerung war in einer Raumschlacht keine optimale Lösung. Feindliches ECM und Atomexplosionen vertrugen sich nicht mit der Präzisionsarbeit, die ein Rammangriff erforderte. Verwandelte man Schiffe in treibende Bomben – bei einem Frachter reichte ja bereits der Reaktor für eine ordentliche Explosion aus, wenn man ihn genug manipulierte – dann stand man vor dem Problem, dass man natürlich nicht genau wissen konnte, wo der Feind operieren würde – ein paar hundert Kilometer waren im Weltraum ein Nichts, aber eine Mine würde in diesem Fall keine Wirkung mehr haben. Und bewegungslose Schiffe waren gute Ziele für Schießübungen des Gegners, der natürlich misstrauisch werden würde, wenn soviel Schrott vor seinem Bug dahindümpelte. Außerdem war es ein teurer Spaß, komplette Frachter in Behelfsminen umzubauen.
Ebenso hatte man – hatte er – die Option aufs Tapet gebracht, mindestens einen Flottenträger von Terra SOFORT in Marsch zu setzen. Aber so lange noch nicht sicher war, ob die Akarii überhaupt nach Sterntor unterwegs waren, würde daraus kaum etwas werden. Die Erde war angesichts ihrer ohnehin ausgedünnten Verteidigung etwas empfindlich geworden. Einfach auf Verdacht hin würde man keinen Träger loshetzen. In Erkenntnis der alten Weisheit, dass die zweite Wahl oft besser war als die erste, die man nie bekam, hatte Mithel gleich anschließend zumindest um die Entsendung einer Kreuzerschwadron oder von wenigstens ein, zwei leichten Geschwadern gedrängt. Und wenn es nur Zerstörer und Fregatten waren, im Ernstfall mochten die den Ausschlag geben. Aber selbst die Erfüllung dieser Anfrage war unsicher. Denn seitdem man die Akarii gesichtet hatte, schrieen zwei Dutzend Planetenkommandos verzweifelt nach Verstärkung, jedes mit dem Verweis, der Feind würde sicher zu ihnen auf dem Weg sein. Sterntor, das viel besser verteidigt war als viele andere potentielle Ziele, hatte folglich schlechte Karten bei dem Poker. Doch was hieß hier Poker, es war schon eher eine multiple Partie Wrestling, die vermutlich demnächst auch die politische Arena erreichen würde, sobald die ersten Planetenvertreter von dem Affenzirkus in den militärischen Rängen Wind bekamen.

„Das sind die groben taktischen Anweisungen. Ich weiß, dass Ihre Crews auf Grund der unablässigen Bereitschaft stark beansprucht sind. Ich fordere Sie auf, aufs engste mit den medizinischen Diensten zusammenzuarbeiten, um die Einsatzbereitschaft aufrecht zu erhalten.“ Damit legitimierte er den breit angelegten Einsatz von Muntermachern – etwas, das nicht wenige Flottenärzte eigentlich ablehnten.
„Zudem sollten wir Gebrauch von unserer günstigen Lage machen. Wenn wir von Seafort – etwa aus Ausbildungsverbänden oder nicht kampffähigen Schiffen – Ersatzleute erhalten können, sollten wir darauf zurückgreifen. Die Bequemlichkeit in Sachen Unterbringung ist zu vernachlässigen – wir reden nur von einem begrenzten Zeitraum.“
Mithel sah, dass sich Commodore Akis Theodoru zu Worte meldete. Er nickte ihm knapp zu. Wieder einmal bedauerte er es, dass er mit Untergebenen arbeiten musste, über deren Stärke und Schwäche er so wenig wusste. Der Garnisonsoffizier – eine drahtige mediterrane Erscheinung mit wohl mehr als einem Tropfen farbigem Blut – betrachtete aufmerksam die Anzeigen: „Es ist also definitiv, dass wir Masters im Invasionsfall nicht verteidigen werden?“ Mithel verzog das Gesicht zu einer Grimasse: „Korrekt. Auf Weisung de Kerrs – die ich mittrage – konzentrieren wir uns vor allem auf Seafort und die orbitalen Werften, die freilich in der Priorität noch unter der Sprungverbindung nach Terra liegen.“ Nicht, dass er den letzten Punkt so hoch angesetzt hätte, aber er würde den Teufel tun und de Kerr vor seinen Untergebenen kritisieren. Er konnte sehen, wie wenig seine Worte seinem Untergebenen schmeckten. Er selber hatte ja ebenfalls einen üblen Geschmack im Mund. Einen bewohnten Planeten, erst recht ein Juwel wie Masters, der Gnade des Feindes zu überlassen, der eben erst über Hannover bewiesen hatte, zu welchen Verbrechen er fähig war, das war etwas, das noch schlimmer war als die Opferung eines Schiffes oder einer Station. Eine Evakuierung einer so dicht besiedelten Welt kam natürlich nicht in Frage. Bestenfalls konnte man einige Bevölkerungszentren räumen und die Menschen im Umland verteilen.
Obwohl sie sich nicht direkt gegenübersaßen und das Gespräch mit einem Bildschirm immer etwas anderes als ein persönlichen Treffen, suchte Mithel den Blick des einheimischen Commodore: „Ich will mich nicht erdreisten zu behaupten, ich wüsste, wie diese Entscheidung für Sie wirken muss. Doch wenn wir uns zu sehr verzetteln, riskieren wir alles zu verlieren – Masters, Seafort UND die Werften. Die Akarii werden nicht einfach nur blindwütige Vernichtung anrichten – es ist in ihrem eigenen Interesse, dass wir keine Vergeltung üben. Wir haben immer noch zahlreiche Planeten des Imperiums in unserer Hand…“
Er führte das nicht näher aus. Einige würde meinen, es wäre bereits an der Grenze des Kriegsverbrechens, den Gegner mit der Drohung von Vergeltungsmaßnahmen gewissermaßen zu erpressen, sollte er Anstalten machen, Bevölkerungszentren auf Seafort und Masters gezielt und massiert zu beschießen. Das war etwas, das man nicht mal aussprechen durfte, eine Option für die Stunde höchster Not. Doch der Rear-Admiral wusste, nötigenfalls würde er diese Entscheidung treffen, egal was ihn das kostete. Besser als hinzunehmen, dass die Akarii Städten auf Masters das antaten, was sie auf Hannover angerichtet hatten.
Mithel wusste nicht, ob der Commodore das akzeptierte, was sein Vorgesetzter ihm gesagt hatte und das verstand, was wohlweißlich nicht ausgesprochen wurde. Doch da der Befehl zur Aussparung Masters im Verteidigungskordon ohnehin von de Kerr kam, hatte Commodore Theodoru ohnehin keine Alternative. Er nickte knapp mit unbewegtem Gesicht.

„Meine Damen und Herren – die kommenden Stunden und Tage könnten von entscheidender Bedeutung sein. Nicht nur für unsere Karriere oder für diese Schlacht, nicht einmal für Sterntor. Wir reden von einer möglicherweise entscheidenden Schlacht dieses Krieges. Verlieren wir hier, verliert unsere Kriegsmaschinerie viel von dem Angriffsschwung, der uns so weit über die Grenzen des Imperiums hinausgetragen hat. Das können und dürfen wir nicht zulassen. Diese Zeit wird das Äußerste von uns abverlangen, psychisch wie physisch. Wir alle haben uns in diesem Krieg bereits bewiesen, und ich weiß, wir werden auch diese Hürde meistern. Ich zähle auf Sie.“
Obwohl diese Worte vorläufig als Schlussstrich geplant waren – taktische Finessen gab es nicht zu diskutieren und die operativen Einzelheiten innerhalb der Kampfgruppen würden die Kommandeure selber regeln – sah Mithel deutlich, dass zumindest Commodore Ikeda noch etwas auf dem Herzen hatte.
So wartete er, bis die anderen Kommandeure die Verbindung unterbrochen hatten und bedeutete seiner Flaggkapitänin, sich auf die Brücke zu begeben. Er war froh, dass sie nicht zu den Menschen gehörte, die dergleichen als Zurückweisung verstanden.
Erst dann, als sie unter vier Augen waren – nun, soweit dies angesichts von einer relativ abhörsicheren Bildfunkverbindung möglich war – konzentrierte er sich wieder auf den hochgewachsenen Farbigen.
„Sie haben noch eine Frage, Commodore.“ In der Stimme des Admirals lag keine Frage, aber auch keine Ermutigung. Ikeda und Mithel kannten sich nicht wirklich persönlich, aber es war anzunehmen, dass der andere den Ruf des frischgebackenen Admirals kannte, nicht unbedingt entgegenkommend zu sein. Folglich arbeitete es etwas im Gesicht des Commodore. Doch dann kam er zur Sache – ohne diesen Affenzirkus mit „Erlaubnis, frei sprechen zu dürfen.“.
„Sir, ich möchte…ich muss wissen, warum Sie meinen Verband mit einer nachrangigen Rolle betrauen. Bitte glauben Sie mir, es geht mir dabei nicht um persönliche Wünsche. Aber meine Männer und Frauen, Menschen wie Nichtmenschen – sie brennen darauf, sich zu bewähren. Sie sind kampferfahren, sie warten nur darauf, das unter Beweis stellen zu können. Und nach dem, was die Imperialen Hannover angetan haben…“ Offenbar befleißigte er sich einer CN-politisch korrekten Wortwahl, während viele TSN’ler mit DEN AKARII oft einfach den Feind meinten: „…haben sie sich das verdient. Sie brauchen es auch um ihrer Selbstachtung willen, und damit sie erkennen können, dass wir es wirklich ernst mit Ihnen meinen. Ohne das…wenn wir sie in die zweite Reihe stellen…werden sie denken, wir würden ihnen nicht trauen. Und das wäre Verschwendung, nicht nur ihrer Kampfbereitschaft, auch ihres Könnens.“

Es war anzunehmen, dass der Commodore in seinem bisherigen Leben nur selten so viele Worte gemacht hatte, jedenfalls nicht, um die Entscheidung eines Vorgesetzten in Frage zu stellen. Chris Mithel wartete – auch das war eine Kunst, die er in langen Jahren perfektioniert hatte. Er ließ das Schweigen andauern, bis es bleischwer im Raum zu hängen schien. Erst dann sprach er, ruhig, aber mit einer gewissen Härte: „Ich bin es nicht gewöhnt, taktische Entscheidungen zu rechtfertigen, vor allem wenn sich die Kritik eher auf psychologische als auf militärische Gesichtspunkte bezieht.“ Doch dann milderte er die Schärfe des Tadels etwas ab: „Ich habe jedoch ein gewisses Verständnis – für Ihre Motiven wie auch für die Haltung ihrer…Untergebener.“ Wieder schwieg er kurz, bevor er bedächtig fortfuhr: „Deshalb werde ich meine Entscheidung…erläutern.“ Er sprach es nicht aus, aber die Worte ,ausnahmsweise’ oder ,nur diesmal’ hingen unüberhörbar in der Luft: „Ich zweifle weder an der Fachkompetenz noch der Einsatzmoral oder gar Verlässlichkeit der Freiwilligen. Und in der Tat, sie haben gute Gründe, eine Konfrontation mit dem Gegner zu wünschen – um Vergeltung zu üben wie auch um sich selbst und uns etwas zu beweisen. Doch eines sollte Ihnen klar sein – zu den Aufgaben eines Soldaten gehört es vor allem, auch die Befehle auszuführen, die ihm unbequem erscheinen. Ich rede nicht von verbrecherischen Befehlen – der Verweigerung eines solchen Befehls verdanken es Ihre Leute, dass sie hier sind. Nein, ich rede von unangenehmen Befehlen. Zurückhaltung zu üben, wenn man kämpfen möchte, und zu kämpfen, wenn man es lieber vermeiden will. Die Freiwilligen werden die Chance haben, sie zu bewähren – doch erst zu gegebener Zeit. Es wird vermutlich bald, sehr bald so weit sein. Doch erst, wenn die Lage es erfordert. Ihre Leute sind von Dutzenden Schiffen zusammengesammelt worden. Sie sind immer noch dabei, zu einer Einheit zusammenzuwachsen, die nötige Koordination aufzubauen, die ein Schiff im Gefecht benötigt. Sie an zu exponierter Stelle einzusetzen, hieße, ein zu großes Risiko einzugehen gehen. Gerade WEIL ich Ihre Leute als Untergebene ernst nehme, werde ich nicht unnötig Blut und Material vergeuden. So wenig wie das von terranischen Soldaten. Sie und ich, wir sind nicht Kal Ilis oder Jor. Wir verheizen unsere Männer nicht. Und wir nehmen ihren Tod auch nicht auf die leichte Schulter. Ein wenig Zeit kann viel Blut sparen – und dafür sind Kommandeure da, nicht um irgendwelcher Ehre- oder Rachegedanken zu befriedigen. Deshalb werden Ihre Leute im Verbund mit den übrigen Schiffen eingesetzt, als Reserveeinheit, NICHT an exponierter Stelle, wo sie möglicherweise auf sich allein gestellt sein könnten. Und indem sie diese Befehle befolgen – sie mögen ihnen gefallen oder nicht – beweisen sie, dass sie Soldaten sind. Keine blindwütigen ‚Krieger’. Verstehen Sie das?“
Der Commodore schien einen Augenblick über Mithels Worte nachzudenken, sie gleichsam zu prüfen, ob sie nicht etwa doch ein Misstrauen des Admirals bemäntelten. Ein anderer Kommandeur hätte vielleicht darauf gereizt reagiert, doch Mithel blieb ruhig, wartete ab. Er wusste, dass es manchmal – sehr, sehr selten – nötig war, die eigene Autorität für eine kleine Weile zurückzunehmen. Dann war man ihrer in der übrigen Zeit umso sicherer. Allerdings gehörte lange Übung dazu, den richtigen Moment zu erkennen. Er hatte lange gebraucht, das zu lernen – und nicht immer gelang es ihm.
Diesmal jedoch hatte Mithel offenbar die richtige Entscheidung getroffen. Unwillkürlich nahm sein Gegenüber Haltung: „Jawohl Admiral. Ich…danke Ihnen.“
Der Admiral nickte knapp, nicht herzlich, aber auch nicht feindselig: „Gut. In den kommenden Tagen haben Sie mit Sicherheit nicht die leichteste Aufgabe, ob es zur Schlacht kommt oder nicht. Denn es liegt nicht nur an Ihnen, ihre Leute zu führen. Sie müssen auch Sorge tragen, dass sie das verstehen, was ich Ihnen gerade erklärt habe. Ich verlasse mich auf Sie.“
Der andere Offizier neigte den Kopf: „Die Reservegruppe wird ihre Aufgabe erfüllen, Admiral.“
„Ausgezeichnet. Dann werden wir für die Imperialen…“ bewusst bediente sich Mithel diesmal des CC-Jargons „vielleicht noch die eine oder andere unangenehme Überraschung vorbereiten können.“
Erst als die Silhouette Ikedas verblasste, entspannte sich der Admiral etwas. Das war nicht ganz risikolos gewesen. Er hatte irgend so etwas erwartet, von Ikeda oder Theodoru. Beide mussten sich erst daran gewöhnen, seinem Kommando zu unterstehen, in einer Situation, die alles andere als normal war. So gesehen war es bisher gut gelaufen.
Der Flottenoffizier wandte seine Augen zu einem der ,Fenster’, die die Illusion des Sternenhimmels erweckten. Soviel also zu den Problemen. Blieb nur noch eine komplette feindliche Flotte. Eine Flotte, die eigentlich gar nicht hätte hier sein dürfen…
Cattaneo
Ace

Die Schlacht um Hannover war noch keine zwei Monate her, und hatte doch schon viele Veränderungen für die Confederation gebracht. Die Akarii-Truppen unter Kal Ilis, die über das London-System ins Hauptsystem eingebrochen waren, hatten einiges im Gepäck gehabt, unter anderem einen Diplomaten, der einerseits den blutig erkauften Sieg der imperialen Truppen hinfortgeschenkt hatte, als hätte es die immensen, blutigen und teilweise unnötigen Verluste, den Verlust eines Trägers und die Kastrierung eines zweiten, nie gegeben. Für einen Apfel und ein Ei, nämlich zwei nahezu havarierte, uralte Träger, hatten sich die Akarii wieder komplett zurückgezogen. Wer befürchtet hatte, dass die Akarii Besatzungstruppen zurücklassen würden, als Seniorpartner die Grenzverteidigung kommandieren würden, coloniales Gebiet als Aufmarschgebiet nutzen würde, sah sich enttäuscht. Im Gegenteil, die Akarii des Kaisers benahmen sich im Moment ehrenvoller und zurückhaltender als die terranischen Alliierten, die wieder einmal mit dem Holzhammer durch die Interna der ColCon fuhren, die sich anmaßten, alles besser zu wissen als der kleine ungeliebte Stiefbruder. Natürlich hatte die Republik die neue Neutralität der ColCon nicht hinnehmen können, natürlich hatten sie die colonialen Schiffe auf ihrem Gebiet nicht einfach abziehen lassen können, hatten viele mit Gewalt erobert, sogar einen Kreuzer zusammengeschossen. Sie hatten damit bei vielen Colonials die alten Wunden wieder aufgerissen, die existierten, seit es die ColCon als selbstständigen Staat gab. WEIL es die ColCon als selbstständigen Staat gab. Die Colonial Confederation war gegründet worden als lose Koalition aus Grenzwelten. Hauptsächlich von Menschen, die sich von den terranischen Zentralswelten bevormundet und ausgebeutet fühlten.
Die Republik war damals schon alt gewesen, die ColCon noch jung. Der Schritt der Handvoll Planeten die Republik zu verlassen und ein gemeinsames Oberhaupt zu wählen, eine gemeinsame Zukunft zu wählen, eine gemeinsame Armee aufzustellen, war damals gegen die paternalistischen Terraner gerichtet gewesen, die zwar immer Glaubensfreiheit, Menschenrechte, Pressefreiheit und Brüderlichkeit propagierten... Aber im Gegensatz zu ihren Predigten nach Wasser tranken sie Wein. Und sie tranken ihn gerne und viel.
Die ersten Flotten waren damals erbärmlich gewesen, aber zumindest zahlreich. Die meisten kampfstarken Schiffe hatten Piraten gehört, die sich für ein militärisches Amt von ihrem alten Leben losgesagt hatten, aber die große Mehrheit der Menschen, die zur Waffe griffen, wollten vor allem eine Zweiklassengesellschaft verhindern zwischen den Grenzland- und den Kernwelten.

Letztendlich war die Republik in den Augen nicht weniger Konföderierter rassistisch, arrogant, intrigant, manipulierend und überheblich. Nur die drohende Gefahr mit akariischen Entlastungsangriffen an der ColCon-Grenze hatte die Führung unter Cochrane den Verbündetenfall ausrufen lassen. Die Gefahr, vom noch größeren Nachbarn, dem Kaiserreich, verschluckt zu werden, ließ sie mit den Terranern handeln. Damals waren sie zu Juniorpartnern herab gerutscht, hatten sich nach terranischen Einsatzplänen gerichtet, waren an deren Gängelband gegangen. Diese Zeit war nun vorbei, und niemand zweifelte daran, dass die Republik in absehbarer Zeit eine Offensive gegen die ColCon weder finanziell noch militärisch durchführen konnte. Nicht wenn sie damit rechnen musste, gegen ColNavy-Schiffe UND Akarii antreten zu müssen, die von Generalgouverneur Cochrane natürlich zu Hilfe gerufen worden wären. Ironischerweise war einige in der Admiralität sicher, dass eine intervenierende imperiale Marine nach der Verteidigung wieder abgezogen wäre. Hätte die Vierte Flotte der Terraner hingegen über Hannover gestanden, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch gewesen, dass die Terraner geblieben wären, alleine schon aus ihrer arroganten und ehrlichen Befürchtung heraus, die Verbündeten könnten ohne die Hilfe vom großen Bruder bereits besiegt sein. Andere Konföderierte waren weniger vertrauensselig, der warnungslose Überfall des Kaiserreiches zu Anfang des Krieges war nicht vergessen.
Die coloniale Führung zweifelte indes nicht im Geringsten daran, dass ihr Staatsgebiet für die kaum unter Kontrolle zu haltenden vielschichtigen Geheimdienste der Terraner dann freies Jagdgebiet geworden wäre. Denn wenn Terraner in einem gut waren, dann darin, ihre Rechte und ihre Freiheit "für die Sicherheit" über Bord zu werfen. Es gab nicht nur einen Bericht auf dem Schreibtisch Cochrane, der von illegaler Ermordung von Saboteuren berichtete, von illegaler Inhaftierung Verdächtiger über Wochen und Monate, über die Ermordung von Kriegsgefangenen, ja, Folter und Misshandlung. Terraner, die man von der Leine ließ, waren furchtbar. Und wie es ihre Art war, fühlten sie sich auch noch im Recht. Dass sie aber das System, das sie eigentlich verteidigen wollten, nach und nach unterminierten, zerstörten, pervertierten, wollten sie nicht sehen. Konnten sie nicht sehen, denn sie hatten ja die Erlaubnis von oben. Eine Einstellung, die jedem aufrechten Geheimdienstoffizier in Hannovers Diensten kalten Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Der große Bruder war ein weit launischerer Nachbar - und ein unzuverlässigerer dazu - als es das Kaiserreich jemals sein konnte. So hieß es im Moment zumindest offiziell.
Indes, der alte Kaiser war tot, und man würde sehen müssen, ob der neue Kaiser den großzügigen Frieden und die neuen lukrativen Handelsbeziehungen gutheißen würde, oder ob er nach einer endgültigen Lösung für die ColCon strebte.
Sich zu einem Angriff zu entschließen würde in jedem Fall ein Fehler werden, denn in langen Nächten hatte die Admiralität dafür gesorgt, dass das Schlupfloch London dicht gemacht worden war, gegen jeden Feind, auch einen terranischen. Man war vielleicht besiegt, aber weder verblödet, noch schlicht dumm. Und die Krieger der Colonial Navy waren dafür bekannt, dass sie eine zweite Chance bestmöglichst zu verwenden wussten.
Letztendlich aber schwebte die Gefahr eines terranischen Angriffs, wenn auch nicht in naher Zukunft, nach Ansicht eniger drohender über dem Staat, als eine Intervention akariischer Kaisertruppen.
Da war sie wieder, die maßlose Arroganz und Selbstüberschätzung der Terraner.

***

Als Generalgouverneur Edward Cochrane vor die Mikrofone trat, tat er dies im Friedenspark. Der Friedenspark war den Toten gewidmet, die in der Schlacht um London und in der Schlacht um Hannover gefallen waren. Er war erbaut worden in jenem zerstörten Gebiet der Hauptstadt, welches Ilis für den bevorstehenden Bodenangriff hatte einebnen lassen, anstatt sich von außen durch die schwere Abwehr zum Zentrum heran zu arbeiten.
Auch wenn die Propaganda-Maschinerie der Terraner anderes suggerierte, durch den "feigen und gegen jedes Völkerrecht verstoßende Akt" waren nicht hunderttausende Zivilisten gestorben oder verletzt worden. Das bombardierte Gebiet hatte nahe der Regierung und der Flottenzentrale gelegen, und war dementsprechend Botschaften, Parks, Reichenvillen, Büros und Dienstleistern vorbehalten gewesen. Private Großwohnblöcke waren kaum in der Region gewesen, dennoch hatte es insgesamt ca. 10.000 tote und noch deutlich mehr verwundete Zivilisten gegeben, darunter auch solche, die sich gegen eine Evakuierung in Schutzräume geweigert hatten. Teilweise aus der verständlichen Arroganz heraus, dass Ilis' Truppen sich erst einmal durch die Wohnblöcke der Unterprivilegierten hätten kämpfen müssen, hätten sie nach den Regeln gespielt. Aber Ilis hatte keine Regeln. Und kaum jemand hatte das Ausmaß und die Stärke des feindlichen Beschusses vorherahnen können.
Letztendlich waren ein Mehrfaches an Soldaten getötet oder verletzt worden, als es Zivilisten getroffen hatte. Und die militärischen Verluste durch die terranischen Unrechtstaten bei der Internierung und Kaperung von Navy-Schiffen und deren Mannschaften summierten sich noch einmal auf die gleichen Summen an Verlusten, wenngleich natürlich die Zahl der Toten und Verwundeten bei wenigen Prozenten der Opfer der Schlacht um Hannover lag. Das einzige Plus der Navy war die Tatsache, dass zumindest ein Teil Fronteinheiten auf dem gleichen Stand waren wie vor dem Angriff. Die eilig ausgedünnten und zu den Terranern gesandten Frontschiffe, Elite vor der Elite, hatten sich zum Teil rechtzeitig vor der Internierung gewarnt werden können. Einige waren desertiert, aber das Gros war der Confederation erhalten geblieben und stellte nun noch rund zwei Fünftel ihrer verbliebenen Streitkräfte im Weltall. Weitere zwei Fünftel war in den Systemen stationiert gewesen. Alles was entbehrbar war, eilte nun zur conföderierten-terranischen Grenze, um den neuen Feind von einem Angriffsversuch abzuschrecken - sicherheitshalber. Und um sicherzustellen, dass ihre Schiffe, von denen immer noch einige in Schleichfahrt aus terranischem Territorium flohen, sicher zurück in die Heimat gelangen konnten. Tatsächlich hatte es schon Scharmützel zwischen terranischen Verfolgern auf der Fährte eines Flüchtlings gegeben, in denen die Heimatschutzflotte eingegriffen hatte. So sah die Realität der Terraner aus. Und sie waren sich auch nicht zu schade, ColCon-Territorium zu verletzen, unerlaubt einzufliegen. Sie waren arrogant wie immer.

Die Menge war eine bunte Mischung, bestehend aus Menschen, Akarii und Vertretern anderer Völker, die in der Hauptstadt lebten. Ein nicht gerader kleiner Anteil bestand aus Presseleuten von Hannover und anderen Planeten.
Man konnte nicht sagen, dass sie den Generalgouverneur bejubelten, aber es gab einen gut gemeinten Applaus für ihn.
Er winkte dankend in die Runde, sah zu seinem Stellvertreter Gerold Holmes, zu Lord Arno Ativis, dem neuen obersten Botschafter der Kaisers in der ColCon, blickte ein letztes Mal in Richtung von Admiral Kalad, bevor er mit einer Geste bat, den Applaus zu beenden.
"Heute", begann Cochrane, "haben wir damit begonnen, unsere Kriegsgefangenen zu repatriieren. Siebzehntausendachthundertelf Akarii werden in den nächsten Tagen und Wochen in ihre Heimat zurückkehren."
Diese Erklärung ließ das Publikum raunen. Die Couleur reichte von erfreut über fassungslos bis hin zu verärgert. Immerhin stand man hier auf dem, was einmal die Trümmer eines Stadtviertels gewesen waren, und es hatte zahlreiche zivile Opfer des Bombardements gegeben.
"Gestern Abend haben die imperialen Truppen damit begonnen, unsere Navy-Soldaten und unsere Army-Leute zu repatriieren. Elftausendsechshundertsiebenundachtzig Männer und Frauen, Menschen wie Akarii, Lokter und Emphfter und Angehörige anderer Rassen werden in diesem Moment an unserer Grenze zum Kaiserreich Lazarettschiffen unserer Flotte übergeben."
Dies löste eine lautere Reaktion aus, teilweise wurde gejubelt. Zwei Monate nach dem Ende des Krieges kamen die Gefangenen nach Hause, ohne wenn und aber, ohne Ränkespiele, Politik und dergleichen. Vereinzelt rief jemand den Namen von Prinzessin Linai, der provisorischen Regentin. Irgendjemand in Hörweite wünschte sich lautstark, dass sie ewig Regentin des Kaiserreichs bleiben würde.
"Damit sind unsere Verlustlisten im Krieg mit dem Kaiserreich geschlossen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir nur noch wenige Vermissten in diesem Konflikt haben. Wir konnten jeden Lebenden retten,fast jeden Toten nachweisen und gegebenenfalls bergen. Anders sieht es nach der gewalttätigen Aktion der Republik aus. Wir führen derzeit deutlich über fünfzigtausend Offiziere und Mannschaften als vermisst. Ihr Schicksal ist unklar, denn die Republik verweigert uns Zahlen, Namen und Zugang zu Akten und Informationen."
Das löste ein ärgerliches Raunen aus.
Cochrane bat wieder um Ruhe. "Natürlich wissen wir, dass die meisten interniert wurden. Natürlich wissen wir, dass ungefähr jeder zehnte Soldat desertiert ist, um weiterhin gegen das Kaiserreich zu kämpfen. Und wir wissen auch, dass die Chance auf Repatriierung unserer internierten Mannschaften für die Dauer des Krieges und darüber hinaus bei einem Sieg Terras für lange Jahre ungewiss ist. Möglicherweise kommen unsere Mädchen und Jungs nie wieder nach Hause, außer sie desertieren zur republikanischen Marine und nehmen später ihren Abschied, um als Zivilisten in ihre Heimat zurück zu reisen. Falls Terra dann überhaupt zivilen Flugverkehr zulässt. Denn wie gesagt, Terra interpretiert unsere Neutralität, die wir als Verlierer in diesem Konflikt eingehen mussten, als Kriegserklärung. Das entspricht keinesfalls internationalem Recht. Es entspricht nicht mal republikanischem Recht. Im Gegenteil. Aber es ist nicht das erste Mal, dass die angebliche demokratische Regierung ihre eigenen Gesetze dehnt und bricht, wie es ihr gerade nutzt."
Wieder blickte Cochrane über die Massen. "Ich weiß, viele, wenn nicht alle sind unglücklich mit dem Waffenstillstand, mit dem Friedensvertrag. Viele sprechen davon, dass die Colonial Confederation unbesiegt war, dass wir den Vorteil zu früh aus der Hand gegeben haben, dass wir hätten siegen können, sobald die Terraner gekommen wären. Und ja, das hätten wir wahrscheinlich auch. Aber zu diesem Zeitpunkt hätten die Kämpfe die Hauptstadt vernichtet, und ein einziger weiterer atomarer Beschuss von unseren Atomstreitkräften der Armee hätte eine atomare Antwort erbracht. Selbst ohne eine Großstadt anzuvisieren hätte uns eine Antischiffsrakete in der Atmosphäre auf Jahrhunderte belastet - und das planetar.
Nun, sagen einige, zum Beispiel eine hitzköpfige Admirälin der Reserve, die es nicht lassen kann, sich zur Stimme für die Terraner zu machen, ihre Hosen runter zu lassen und sich für die Terrys zu bücken, die Hauptwelt zu opfern wäre es wert gewesen, um die Imperialen zu schlagen. Aber ich frage, auch unsere hitzköpfige Admirälin, zu welchem Preis wäre dies geschehen? Ich, die Regierung, die Admiralität, Sie alle hier vor mir, würden jetzt nicht mehr leben. Hannover wäre tot, verbrannt, seiner Industrie, seiner Bevölkerung, seiner Landschaften beraubt, und das alles nur, damit Terra siegen kann? Sollten wir wirklich wieder einmal den Prellbock für die Terraner spielen? Gewiss, es war das Kaiserreich, das zuerst angegriffen hat, gewiss, wir hatten Tote, Verwundete, haben Planeten verloren, auf ihnen gekämpft. Aber erst Admiral Kal Ilis, und danach Lord Dero Allecar haben das Kaiserreich entblößt, um den Krieg für uns zu beenden. Die verlangten Gegenleistungen waren ein Witz, eine lächerliche Geste, so dass ich mich seither frage: Warum wurde dieser Krieg dann überhaupt begonnen? Warum haben wir uns da hinein ziehen lassen? Warum haben wir für Terra den Kopf hingehalten? Gewiss nicht weil es unsere Pflicht war. Nein, Terra zeichnete für uns nach der Eroberung Manticores ein Horrorszenario, in dem die siegreichen imperialen Streitkräfte uns unsere Akarii-Welten wegnehmen würden, uns mit hohen Reparationen belegen und unsere Streitkräfte demobilisieren würden. Sie gingen sogar so weit, uns ein Szenario von Massenerschießungen unserer Soldaten vorzubeten.
Und was ist davon passiert? NICHTS!"
Ärgerlich sah Cochrane in die Runde. "Wir haben zwei Schiffswracks aufgegeben, und dafür wurden die ganzen Kämpfe beendet! Wir haben unsere Vorkriegsbande im Handel und der Diplomatie neu geknüpft, und wir haben wichtige Waren einführen können, die Terra uns in einem weit begrenzteren Umfang geliefert hat, als es das Kaiserreich jetzt macht.
Natürlich gibt es immer noch Leute unter euch, die sagen, wir hätten keinen Frieden schließen dürfen, nur um unsere Wirtschaft anzukurbeln. Und das stimmt wahrscheinlich auch. Aber die Alternative wäre Girad gewesen, und wie das ausgesehen hätte, kann sich jeder denken.
Für all jene, die es nicht können, möchte ich Admiral Girads Befehle für die Aktionen in Hannover verlesen, die unser Geheimdienst akquirieren konnte."

Der Generalgouverneur zog ein Lesegerät hervor und aktivierte es. Hinter ihm erwachte eine Leinwand zum Leben und stellte den gleichen Text dar, den Cochrane nun vor sich hatte.
"Ich werde mich auf die wichtigsten Passagen des Befehls beschränken, die für uns alle relevant sind. Sie betreffen unsere Hauptwelt, unsere Flotte, unsere Geheimdienste und unsere Bevölkerung. Vor allem unsere akariische Bevölkerung.
Unter anderem heißt es im Befehl von Admiral of the Fleets Frost an Admiral DeKerr: "Sie haben die unmissverständliche Aufgabe, das System Hannover wieder zurück zu erobern. Requirieren Sie für diese Aktion jedes erreichbare, kampfklare Schiff der Colonial Navy. Stellen Sie sicher, dass diese Schiffe fest unter Ihr Kommando gestellt sind und nicht eigenständig handeln. Stellen Sie sicher, dass den Navy-Schiffen der erste Angriff gestattet wird. Sie haben Befehl, anschließend durch die Kampflinien zu brechen und Hannover anzugreifen.
Weiter heißt es in dem Befehl: Für die Säuberung der Hauptwelt von imperialen Streitkräften ist der geringstmögliche Zeitaufwand anzusetzen. Der Einsatz atomarer taktischer Waffen ist ausdrücklich gestattet. Auf coloniale Gefangene, Stichwort menschliche Schutzschilde, ist angesichts des Zeitaufwands keine Rücksicht zu nehmen."
Unruhiges Raunen erfüllte die Menge.
"Weiter heißt es: Stellen Sie sicher, alle überlebenden Colonial Navy-Schiffe unter Ihr Kommando zu nehmen. Stellen Sie sicher, auf Hannover eine neue Flottenzentrale zu etablieren, und mit ihr das Oberkommando über die Colonial Navy zu übernehmen. Stellen Sie sicher, dass die regionalen Flottenzentralen Ihre Oberhoheit anerkennen. Es ist Ihnen gestattet, die Befehlskette regionaler Flottenzentralen, die sich nicht Ihrem Kommando unterstellen, mit angemessenen Mitteln zu unterbrechen."
Cochrane hob die Hände, weil die Menge nun aufgebracht war. "Es geht noch weiter:
Sobald Sie die Oberhoheit über die ehemalige Colonial Confederation gewonnen haben, bereiten Sie die Internierung der außerirdischen Bevölkerung vor; es muss davon ausgegangen werden, dass sich vor allem unter der Akarii-Bevölkerung ein hoher Anteil an imperialen Sympathisanten befindet, das sich zu Sabotage und Guerilla-Aktionen entschließen könnte. Bereiten Sie eine entsprechende Selektion vor."
Nun war die Menge sichtlich verärgert.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Cochrane wieder etwas sagen konnte. "Den kompletten Text des Befehls kann sich jedermann von der Regierungsseite ab sofort herunter laden. Lest den Text, bedenkt das meine Regierung ihn gefälscht haben kann, überlegt genau, was Ihr alle den Terrys zutraut, und entscheidet dann.
Für den Moment bleibt mir nichts, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die Neutralität der Colonial Confederation zu wiederholen. Ich lade hiermit die Republik ein, uns Ihren Gesandten zu akkreditieren. Und ich fordere sie auf, unsere neutralen Schiffe und Mannschaften zu repatriieren, so wie es das Kaiserreich gestern getan hat.
Ihr, Bürger der Colonial Confederation, aber fordere ich auf, das zu tun was Ihr am Besten könnt: Denkt selbstständig! Wägt ab! Entscheidet für euch! Macht mich stolz darauf, euch so lange gedient haben zu dürfen! Seid Colonials, und keine terranischen Blockschädel!"
Unter dem Jubel des Publikums beendete Generalgouverneur Cochrane seine Rede, die fortan als die "Das geringere von zwei Übeln-Brandrede" in die Geschichte einging.
Cattaneo
Tyr

Im Orbit von Seafort

Eines der ersten Opfer des Ausnahmezustands war das Arrow-Ausbildungsprogramm der Butcher Bears. Angesichts der verlangten Rund-um-die-Uhr-Einsatzbereitschaft hatte Kano irgendwo Abstriche machen MÜSSEN, wenn er seine Staffel kampffähig halten wollte. Und da es in den Sternen stand, wann die neuen Wunderwaffen eintrafen, war diese Zeiteinsparung die logische Wahl gewesen.
Während Kano sich bisher darauf konzentriert hatte, seine Untergebenen gnadenlos zu schleifen und zu fordern, unternahm er nun alles einem Lieutenant mögliche, um sicherzustellen, dass die Männer und Frauen ihre sechs bis acht Stunden Schlaf und zwei regelmäßige Mahlzeiten bekamen – was unter den augenblicklich herrschenden Bedingungen keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Aber wenn die Akarii ins System sprangen – FALLS sie es taten – dann würde er ausgeruhte Piloten brauchen.
Dieser Prioritätenwechsel ihres Vorgesetzten kam für einige Piloten der Butcher Bears einigermaßen überraschend. Für andere hingegen nicht. Auf Crusaders spöttische Nachfrage hatte Kano lakonisch geantwortet, dass auch Stahl spröde wurde, wenn man ihn zu lange härtete. Offensichtlich hatte sein Stellvertreter mit so etwas gerechnet.

Den Piloten die ihnen zustehende Frei- und Ruhezeiten zu verschaffen war eine ebenso ermüdende wie undankbare Aufgabe, die Kano nicht wirklich lag. Druck auszuüben und Leistung zu fordern – das war es, was man ihm auf der Militärschule, in der paramilitärischen Ausbildung und auf der Akademie beigebracht, was er von Darkness, Lone Wolf, Monty und Lilja gelernt hatte. Aber andererseits waren auch seine Vorbilder und Lehrer – meistens – NICHT NUR knochenharte Schleifer gewesen, und gerade Lone Wolf war ein ziemlich gutes Beispiel für die Fähigkeit gewesen, unangenehme Pflichten zu umgehen.
Auch wenn er das dem ehemaligen Geschwaderchef ganz bestimmt nicht sagen würde. Ihr Verhältnis war in letzter Zeit etwas abgekühlt. Was vor allem an Lone Wolfes fragwürdigem Vabanque-Spiel in der letzten Schlacht lag. Und ein wenig auch an der Art und Weise, wie er sich nach seiner ‚Wiedereinstellung’ verhalten hatte. Es gab boshafte Gerüchte darüber, dass er gegen die Geschwaderchefin intrigierte. Dann die Art und Weise, wie Lone Wolf die fabrikneuen Nighthawks für seine neue Staffel requiriert hatte – auf Kosten seiner alten Einheit… Und die Tatsache, dass Raven die Schwarzen – und nicht die Roten – mit dem Arrow-Ausbildungsprogramm betraut und der Ex-Geschwaderchef darauf höchst pikiert reagiert hatte…
Früher war das Verhältnis klar gewesen. Kano war ein Untergebener, Lone Wolf der Geschwaderchef – und ein Vorbild. Aber jetzt…jetzt war er kein Vorbild mehr. Oder jedenfalls nicht mehr so wie früher. Und auch nicht mehr Geschwaderchef. Nur noch ein Staffelführer und damit im gewissen Sinne auch ein Konkurrent. In mancher Hinsicht mehr als andere Schwadronenchefs. Er war immer noch ranghöher und erfahrener, aber dennoch…
Doch wenn Kano die Kniffe und Umwege, die Lone Wolf fast instinkthaft zu beherrschen schien, jetzt sinnvoll einsetzen konnte, dann würde er das tun.
Er tat sein Bestes. Er requirierte – mit Liljas und Blackhawks Unterstützung – einen der Bereitschaftsräume und achtete darauf, dass seine Leute erst dann zu den Maschinen gehetzt wurden, wenn sie auch wirklich startbereit und die Freigabe absehbar waren. Er versuchte, die Einsatz- und Manöverbesprechungen kurz zu halten. Und so weiter.

Die Vermutungen, Gerüchte, Spekulationen und Befürchtungen, die die oberen Führungsränge der Sterntor-Streitkräfte durchwucherten, verschonten natürlich auch nicht die niederen Dienstgrade. Vielleicht trieben sie hier sogar ganz besonders prachtvolle Blüten, genährt durch das Unwissen und die Erkenntnis, im Ernstfall an vorderster Front stehen zu müssen.
Und Kano hätte schon blind sein müssen, um nicht zu registrieren, was die ständige Anspannung und Ungewissheit bei den Männern und Frauen des Geschwaders anrichtete. Bei ihm ja auch. Kampfpiloten lag das Warten nicht. Die Fähigkeiten, die sie für ihren Beruf qualifizierten – Aggressivität, offensives Denken und ein gewisses Maß an Impulsivität – waren für diese Situation denkbar ungeeignet.
Nach dem Verstreichen der ersten, und fast schon einer zweiten Woche ergebnislosen, angespannten Wartens konnte man das deutlich sehen. Der Feind zog es vor, unsichtbar zu bleiben. Niemand wusste, wann, wie, in welcher Stärke und aus welcher Richtung die Akarii zuschlagen – und ob sie es überhaupt tun würden.
Einige Piloten der Angry Angels schienen nur noch auf Notreserve zu laufen, während andere zunehmend gereizt und mürrisch wurden. Die Kommandeure der Staffeln hatten alle Hände voll zu tun.

„Das ist doch Scheiße!“ La Reines Ausbruch wurde von einem lauten Knall begleitet, als sie ihren Pilotenhelm gegen die Wand des Bereitschaftraums pfefferte.
Kano, der abwesend auf ein Datapad gestarrt hatte, zuckte zusammen, öffnete den Mund…und schluckte hinunter, was ihm eigentlich auf der Zunge lag: „Wenn Sie das Teil beschädigen, dann wird Ihnen das vom Sold abgezogen.“
„Bah!“
Huntress, die scheinbar völlig in den Genuss eines Kaffeebechers vertieft gewesen war, richtete sich langsam auf. Die Art und Weise, wie sie sich dabei provokativ streckte, hätte Kano vielleicht nervös gemacht, wenn er nicht inzwischen begriffen hatte, dass das nicht für ihn bestimmt war. So war Huntress einfach. Die Pilotin musterte ihre dunkelhäutige Kameradin abschätzig: „Reiß dich zusammen, Hoheit.“
„Du kannst mich mal.“
„Ach, liegt es daran? Du solltest mal Dampf ablassen. Ich würde sagen, du bist nur deshalb auf hundertachtzig, weil dich schon lange keiner mehr richtig gut gef…“
„Was man von dir wohl kaum behaupten könnte!“
Agyris lachte schallend, was allerdings La Reines schlechte Laune noch aufzuheizen schien. Sie schnaubte wütend und schien zu bedauern, für ihren Helm kein besseres Ziel gefunden zu haben. Die übrigen Angehörigen der Butcher Bears, die gerade anwesend waren, verfolgten den Schlagabtausch mit müßigem bis regem Interesse.
„Aufhören. Alle beide. Reißt euch zusammen. Ihr benehmt euch wie ein paar Rekruten die Weltraumkoller haben.“ Kanos Stimme klang eher beiläufig als bestimmt, reichte aber, um die Streitenden kurz innehalten zu lassen.
Zumindest La Reine sah zwar so aus, als müsste sie sich auf die Zunge beißen, aber sie würgte die Worte hinunter, die sie Huntress in Ermanglung eines passenden Wurfgeschosses an den Kopf hatte knallen wollen.
„Gut, und und vielleicht erzählen Sie jetzt, was los ist.“
„Außer dem Mangel an gutem…“
Kano warf Huntress einen bösen Blick zu und fuhr mit dem linken Zeigefinger über die Kehle - ‚Verbindung unterbrechen.’ Und das Wunder geschah. Sie hörte auf ihn.
„Diese Scheißkerle haben uns eine volle Stunde durchs All fliegen lassen – HINWEG – weil es in der Nähe eines Sprungpunkts irgendwelche Energiefluktuationen gab. Lächerlich. Das Wurmloch dort ist so klein, dass höchstens ein leichter Kreuzer durchkäme. Und es fluktuiert andauernd.
Und als sich dann herausstellte, dass da nur irgendein Idiot die Raumflöhe hat husten hören, krieg ich auch noch einen Anschiss von irgendeinem Zerstörerkommandanten, der offenbar über unseren Schlenker nicht informiert wurde und dachte, dass wir die Speerspitze des Invasionsverbandes sind. Die werden noch alle komplett verrückt.“
Kano betrachtete die Delle, die La Reines Helm in der Tür eines Wandspindes hinterlassen hatte: „Tja.“
„Aber Sie hat Recht.“, mischte sich Spacer ein: „Das war jetzt der wievielte – der dritte Fehlalarm in zwei Tagen? Wenn das so weitergeht, dann können sich die Akarii die Schlacht sparen. Dann knallen wir uns gegenseitig über den Haufen.“
„Außer denen, die in der Klapsmühle landen.“
„Sprecht für euch selbst, ihr Sensibelchen. Ihr meckert und meckert…“ Phoenix musste mal wieder den Ex-Marines heraushängen.
„Sagt der, der unsere Führung zu einem Haufen hypersensibilisierter Angsthasen erklärt hat.“
feuerte Marat über die Schulter zurück, während er den Helm seiner Flightführerin aufhob, ihn flüchtig untersuchte, und dann beiseite räumte.
„Und stimmt das etwa nicht? Seit Jahren sind wir auf der Siegerstraße, und jetzt werden unsere Chefs auf einmal hysterisch, wenn ein paar Garnisonsakarii in unserem Hinterhof herumgeistern.“
Agyris lachte dreckig: „Vielleicht haben sie Angst, dass sie uns durch die Hintertür fertigmachen wollen, um mal bei deinem Bild zu bleiben. Aber als Marines bist du das ja wahrscheinlich gewohnt.“
Ein paar Piloten – auch Phoenix – lachten. Flyboy, Kanos Flügelfrau, und Bunny, Phoenixs Katschmarek, wurden rot. Kano verdrehte genervt die Augen: „Sehr bildhaft. Aber es dreht sich hier nicht nur um ein paar verrostete Garnisonseinheiten. Der Draned-Sektor – und besonders der T’rr-Militärbezirk – sind WICHTIG. Wir sollten mit Frontkalibern rechnen. Beim Material – und bei den Mannschaften.“
„Aber die werden doch nicht mal mit ihren eigenen Leuten oder ein paar rebellischen Eingeborenen fertig.“ Das war wieder Phoenix.
Kano schnaubte kurz: „Und wie lange schlägt sich das Marinekorps auf Pandora mit ein paar halbverhungerten Guerillas rum? Das dazu.
Und denkt daran, dass mindestens zwei Träger der Draned-Flotte Frontkaliber SIND.“
„Überreste von Jors Hasenherzen. Keine sehr tolle Empfehlung. Jedenfalls hatten sie nicht die Eier, der COLUMBIA auf die Pelle zu rücken, als sie Jor durch den halben verdammten Draned-Sektor gejagt und dann notgeschlachtet hat.“
„Sie sind ja bestens informiert, Lieutenant Jeanpierre.“
„Sie wären euch zwei zu eins überlegen gewesen.“
„Ich weiß nicht, warum sie diese Chance nicht genutzt haben. Aber den Akarii mangelnde Tapferkeit vorzuwerfen, erscheint mir denn doch etwas zu einfach. Denken Sie an Tukama.“
„Ja, diese Kamikaze-Aktion der Akarii hat es ihnen bestimmt angetan.“ stichelte Agyris von der Seitenlinie.
Kano blieb seinem Vorsatz treu, sich nicht provozieren zu lassen. Auch wenn das Huntress eher noch anzustacheln schien, war es doch die beste Methode, mit ihr fertig zu werden: „Sagen wir es mal so. Diese…Aktion hat jedenfalls bewiesen, dass wir den Kampfgeist unseres Gegners besser nicht unterschätzen sollten. Das ist unseren Kreuzern ziemlich teuer zu stehen bekommen.“
„Na dann Heika Banzai.“
‚Phoenix’ Jeanpierre schüttelte den Kopf: „Kampfgeist hin oder her. Bleiben wir bei den Fakten. Wenn wir wenigstens wüssten, wie viele Schiffe und Träger uns die Akarii schicken.“
Kano zuckte frustriert mit den Schultern: „Ich weiß genauso viel wieSsie. Auch wenn wir den Draned-Sektor vom Restimperium abgetrennt haben, wir kontrollieren nicht alle Zugangsrouten, und manchmal habe ich den Eindruck, dass unsere Geheimdienstler nur dann den feindlichen Militärfunk lesen können, wenn die Akarii es WOLLEN.
Und ansonsten weiß ich auch nicht mehr als Sie. Nur Schätzungen.“
„Und?“ ausnahmsweise meldete sich Babur ‚Bunny’ Shihab zu Wort. Der wortkarge Pilot vom Planeten Texas, dessen Familie iranische Wurzeln hatte, gab noch weniger auf den Bordklatsch und Gerüchte, als Kano.
„Es schwankt zwischen zwei Trägern, etwa 60 Begleitschiffen und ein paar Brigaden Bodentruppen und vier Flottenträgern, über 160 Begleiteinheiten und einem kompletten Armeekorps.“
„Vier Träger? Woher sollten die Akarii auf einmal so viele Trägerkampfgruppen haben?“
„Von der Homefleet?“ schaltete sich Agyris ein.
„Das würde zu unseren Schlapphüten passen, dass sie das verschwitzen.“ winkte Jeanpierre verächtlich ab.
Kano schüttelte den Kopf: „Das ergibt keinen Sinn. Warum sich so verzetteln? Selbst vier Träger und ein halbes Dutzend Divisionen…“
„Wären kaum genug, um das Sterntorsystem zu erobern, zu sichern und vor allem zu HALTEN. Immerhin sind wir nicht die Konföderierten, die mit den Patschhändchen wedeln, wenn ein paar imperiale Gardisten ihren Fuß auf den Boden setzen.“ vollendete La Reine den Satz.
„Aber für einen einfachen Raid wären vier Träger etwas zu viel. Oder auch nur zwei, wenn das stimmt, was man sich so über die Lage bei den Schuppenhäuten erzählt. Glaubst du, sie riskieren das für ein paar ausgebrannte Raumwerften und verwüstete Asteroidenminen? Außerdem würde ich mir dann andere Ziele aussuchen als ausgerechnet Sterntor.“ Agyris zuckte mit den Schultern: „Klar, die Minen im Asteroidengürtel, die Werften und Industrieanlagen von Seafort würden sich als rauchende Ruinen für die Akarii ziemlich toll machen. Aber dafür ein paar Flottenträger riskieren und einen ihrer Frontsektoren total entblößen?“
Kano zuckte mit den Schultern: „Es gab da…Gerüchte über den Kollaps eines Wurmlochs. Was, wenn die Akarii vorhaben, das Sterntorsystem lahm zu legen? Und denken Sie an Tukama. Glauben Sie niemals, dass ihr Gegner nach derselben Kosten-Nutzen-Rechnung spielt, wie Sie.“
„Vielleicht unterschätzen sie uns auch einfach. Oder IHR Geheimdienst hat diesmal Mist gebaut.“ vermutete Agyris, aber es klang skeptisch. Ob verdient oder unverdient – der imperiale Geheimdienst hatte einen ziemlich legendären Ruf.
„Jetzt, wo sich die Konfeds so begeistert für ihre neuen Freunde prostituieren? Jede Wette, die haben den Imperialen bereits alles über Sterntor zugeschoben, noch bevor die überhaupt gefragt haben.“ Jeanpierre sah so aus, als wollte er am liebsten ausspucken. Die meisten Piloten schienen seine Einstellung zu teilen. Das allzu rasche Umkippen der CC und die Art und Weise, wie sich die politische Führung jetzt auf einmal bei den bisherigen Todfeinden einschleimte, stieß auf allgemeine Verachtung.

Kano nickte langsam: „Nicht sehr wahrscheinlich. Aber vielleicht…vielleicht waren die Draned-Verbände nur ein Teil der Zange.“
„Und der andere?“ Das war das erste Mal, dass sich seine Flügelfrau zu Wort meldete. Phuong ‚Flyboy’ An Nguyen hatte sich bisher darauf beschränkt zuzuhören – so still, dass die meisten ihre Anwesenheit fast vergessen hatten. Aber so war sie meistens. Außerhalb ihrer Maschine verhielt sie sich derart zurückhaltend, dass es leicht war, sie zu übersehen. Aber sie hörte zu. Manche mochten ihre Reserviertheit für etwas enervierend, ja hochmütig halten, aber Kano hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Sie brachte gute Leistungen und war was ihr Flugverhalten anging die perfekte Flügelfrau. Und das reichte ihm. Im Gegenzug nahm er sie so ernst, wie sie es seiner Meinung nach verdiente: „Die Manticore-Flotte. Ich bin mir nicht sicher, aber was, wenn sie es so geplant hatten, dass die sich mit den Draned-Verbänden vereinen? Dann wären es insgesamt vier bis sechs Träger. Und sehr starke Begleitverbände. RICHTIGES Frontkaliber. Die Manticore-Einheiten gehören zur Elite. Das…“
„Das wäre schon eher ein Invasionsverband gewesen.“ vervollständigte Flyboy leise. „Die TSN hat teilweise mit sehr viel kleineren Verbänden weit reichende Offensivoperationen durchgeführt. Mit sechs Trägern…hätten sie sogar bis Terra vorstoßen können.“
Kano nickte widerwillig. In diesem Fall wäre der von Lone Wolf durchgedrückte zweite Angriff bei Karashin berechtigt, ja sogar notwendig gewesen, ungeachtet der Risiken und Kosten. Und der Gedanke gefiel ihm nicht.
Agyris schüttelte den Kopf so vehement, dass ihre zurückgebundenen Haare hin- und herpeitschten – ein ziemlich ablenkender Anblick: „Dann wäre das aber schandhaft schlecht organisiert und durchexerziert worden. Die zeitliche Abstimmung passt einfach nicht. Sie hätten die Manticore-Einheiten viel später losschicken sollen.“
„Vielleicht war es genau anders herum. Bei den Schwierigkeiten, die die Akarii im Draned-Sektor haben – die Rebellen, die Separatisten, dann noch das Problem, die versprengten Einheiten zu sammeln und auf Verstärkung zu warten…“ La Reine schien ihre vorherigen Differenzen mit Huntress vorerst vergessen zu haben. Aber das kam nicht wirklich überraschend, denn bemerkenswerterweise kamen die beiden gut miteinander zurecht. Obwohl Huntress kein Geheimnis daraus machte, dass sie mindestens auf ihre eigene Sektion setzte. Aber sie hatten die gleiche Art Humor. Und waren sich wohl auch darin einig, dass Männer NICHT die Krönung der Schöpfung waren.
Spacer nahm den Ball auf: „Dann wäre es aber klüger gewesen, etwas passiver zu agieren. Dieser irrsinnige Husarenritt mit den Kreuzern, und dass sie dann immer noch nachzimmern mussten…als gäbe es kein Morgen und als hätten sie noch von so etwas wie ‚Reserven bilden’ gehört. Selbst wenn sie uns den Arsch aufgerissen hätten – es wäre von ihnen auch so nicht viel übrig geblieben, was sich dem Draned-Verband hätte anschließen können. Statt mit dem Kopf durch die Wand zu rammen, hätten sich die Manticore-Einheiten etwas zurücknehmen sollen.“
Agyris schnaubte belustigt: „Noch ein Hobbystratege. Aber ausnahmsweise hast du Recht, Sternengeborener. Ich glaube nicht, dass der Draned-Admiral von DER Verstärkung begeistert gewesen wäre. Und jetzt kriegt er jedenfalls GAR NICHTS. Die kümmerlichen Überreste unserer Karashin-Freunde lecken vermutlich immer noch ihre Wunden.“
„Wahrscheinlich sind sie durch die Erfolge gegen die CC übermütig geworden. Sie dachten wohl, wir knicken genauso leicht weg, wie diese…Halbsoldaten über Hannover. Das Scheitern der Akarii sollten Sie als ein Beispiel dafür betrachten, was passiert wenn man den Gegner unterschätzt.“
Agyris salutierte spielerisch: „Ja, Sensei. Aber die Akarii waren nicht die einzigen, die sich bei Karashin übernommen haben, richtig?“
Das sorgte zwar bei einigen Veteranen der Schlacht für saure Mienen, aber niemand wollte Huntress widersprechen. Sie wussten alle, dass es knapp – zu knapp – gewesen war.
La Reine schnaubte kurz: „Na wir haben nur auf dich gewartet, Hotshot, damit du uns das sagst. Aber da wir schon mal bei dem Draned-Admiral sind…
Ich wüsste nur zu gerne, wen sie uns schicken.“ Sie warf Kano einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Kopfschütteln quittierte: „Ich weiß genauso viel wie Sie. Diese Informationen liegen oberhalb meiner Freigabestufe.“
La Reine drehte sich zu Agyris um: „Da du jetzt doch so dicke mit den Blauen bist…,“ das konnte nur ironisch gemeint sein, „…vielleicht fragst du ja mal bei Ace nach, ob der eine Ahnung hat. Wenn Blauhaar schon andauernd mit den hohen Tieren in seiner Familie und Bekanntschaft angibt...Und dann wären natürlich noch seine tollen NIC-Kontakte.“ Das sorgte für Gelächter. Dass Ace irgendwann in der Vergangenheit Probleme mit dem Sicherheitsdienst gehabt hatte, war ein offenes Geheimnis.
„Vergiss nicht, dass er ein halber Akarii ist. Also muss er nur seine Verwandtschaft väterlicherseits fragen und…“
„Das reicht jetzt.“ schaltete sich Kano ein.
Phoenix folgte der Anweisung – auch weil er einer von denen war, denen diese Anspielungen und Witze wenig sagten. Jeanpierre interessierte sich nur peripher für die anderen Staffeln – und überhaupt nicht für den Bordklatsch: „Na wie dem auch sei und wer uns auch besuchen kommt – auf die Manticore-Einheiten muss er jedenfalls verzichten. Die Frage ist, was macht er ohne sie? Was KANN er machen?“

Kano zuckte unbehaglich mit den Schultern. Die ganze Situation erinnerte ihn irgendwie an die antike Schlacht von Midway. Allerdings mit den Akarii als Japanern. Doch ob die TSN die Rolle der USA spielen konnten…
Was für einen Plan das feindliche Oberkommando auch verfolgte, er musste hochkomplex sein und den Einsatz mehrerer autonom agierender aber einem Gesamtplan folgender Flottenverbände beinhalten. Bisher kam Kano auf mindestens drei – die Manticore-Flotte, die Verbände des Draned-Sektors und natürlich die an der CC-Front offensiven Einheiten. Und dabei war noch nicht einmal die feindliche Homefleet oder die Hauptkampfverbände mit einberechnet. ‚Was haben die vor? Ich kann nicht glauben, dass sie sich ruhig verhalten. Das wäre…Wahnsinn. Ist das alles nur ein gigantisches Täuschungsmanöver? Aber für was? Es kann doch nicht nur darum gehen, uns aufzuscheuchen. Dafür einen ganzen Sektor zu entblößen wäre…schlimmer als ein Fehler. Es wäre eine Dummheit.
In dem Fall könnte es natürlich sein, dass wir hier bis in alle Ewigkeit auf einen Angriff warten können. Die Akarii brauchen gar nicht aufzutauchen, wir machen uns ja schon so verrückt genug. Und alle Ideen über ein offensiveres Vorgehen scheinen erst mal ad acta gelegt. Was die Imperialen uns auch schicken können – ich bezweifele irgendwie, dass es schlimmer ist als dass, was sich unsere Führung vorstellt.
Es ist schon wahr. Seit Hannover sind alle irgendwie etwas hysterisch geworden…’

Dann richtete er sich auf und schnitt Marat das Wort ab, der die Idee eines feindlichen Vorstoßes nach Terra als einen ‚riesigen Haufen Scheiße’ bezeichnete: „Das bringt uns nicht weiter. Wir könnten bis in alle Ewigkeit darüber spekulieren, was die Akarii jetzt in diesem Sektor wollen. Einen gigantischen Raid, ein Ablenkungsmanöver, oder eine ausgewachsene Invasion – ein neues Manticore? Ich glaube das nicht, aber wenn es das ist, was unsere Führung befürchtet, dann werden wir uns darauf vorbereiten.
Ändern können wir ja doch nichts. Nicht, bevor es zur Schlacht kommt. Konzentrieren wir uns also darauf.“
„Und das Denken sollten wir besser den Pferden überlassen, die haben eh größere Köpfe, oder wie das auch immer heißt.“ stichelte Agyris.
„Das muss Ihnen nicht gefallen. Mir tut es das auch nicht. Aber es gibt sinnvolleres zu tun, als sich den Kopf über etwas zu zerbreche, was wir ohnehin nicht ändern können.“
„Ja, wir könnten uns mit was Sinnvollerem beschäftigen, Sir. Aber ich dachte, daran haben Sie kein Interesse.“
Kano verdrehte die Augen. Das hätte er kommen sehen müssen. Aber solange Agyris ihre Pflicht tat, war er immer noch gewillt ihr eine gewisse Narrenfreiheit zu gestatten: „Witzig. Nachdem wir dann alle gelacht haben, sollten wir zusehen, dass wir uns wieder um unsere Pflicht kümmern. Crusader, Submarine, Shugar und Jimmy sind draußen. In einer Stunde lösen mein Flight und der von Phoenix sie ab. In acht Stunden haben wir unsere nächste Staffelübung. Und ich will, dass wir den Platz halten, den wir im Augenblick haben. Dass die Roten und die Blauen hinter uns liegen ist kein Grund, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, im Gegenteil.
Huntress, Spacer, La Reine, Marat – ab ins Bett. Das ist ein Befehl. Ich habe mich nicht mit Lone Wolf über die Verteilung unserer Flugzeiten gestritten, damit Sie ihre Freizeit mit Reden vertrödeln. Verschwindet.“
Tatsächlich befolgten die Angesprochenen nahezu widerspruchslos die Anweisung. Was vermutlich auch daran lag, dass sie hundemüde waren. Wenn erst mal das Adrenalin des Fluges – oder in La Reines Fall die Verärgerung über eine sinnlose Extraflugstunde – verschwunden war, machte sich die endlose Bereitschaft eben bemerkbar.

Kano warf einen frustrierten Blick auf den Datenblock, ließ ihn aus der Hand gleiten und kam ein wenig schwerfällig auf die Beine. Noch eine gute Stunde…er sollte vermutlich etwas Essen und sich mit ein paar Tassen Kaffe auf seinen nächsten Flug einstimmen.
Er wünschte sich, dass Kali hier wäre. Aber auch wenn die DERFLINGER zurückbeordert worden war, genauso gut hätte sie sich auch auf der anderen Seite der Galaxis befinden können.
‚Ich wünsche mir auch, dass ich mein eigenes Geschwader kommandiere, und dass Lone Wolf dem Bild gerecht werden würde, das ich von ihm hatte. Ich wünsche mir zu viele Dinge.’