Hinter den feindlichen Linien - Season 5

Cattaneo
Ace

Ein Offizier in dieser Region, bei dieser Arbeit war selten für die Schadenkontrollteams, aber nicht außergewöhnlich genug, um dafür zu salutieren. Der Vorarbeiter, Chief Watts, winkte seinem Stellvertreter zu, damit dieser übernahm und trat dann zu Lieutenant Nasahari herüber.
„Gute Arbeit bisher, Chief“, sagte der Inder freundlich und bot dem stämmigen Unteroffizier eine Zigarette an.
„Was denn, was denn? Nur weil ich in der Navy bin, heißt das doch nicht, dass ich automatisch rauche.“
„Also wollen Sie sie nicht?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Mit einem Schmunzeln griff der Master Chief zu. „Die Teerfreien paffe ich ganz gerne, ab und zu.“
Nasahari gab dem Unteroffizier Feuer und sah in die Runde. „Hatten Sie viele Verluste hier oben?“ Oben war eine freundliche Bezeichnung für die A- bis C-Decks des Kreuzers und wies auf den Arbeitsbereich der Schadenskontrollteams hin.
„Ich hatte einige Verluste bei den Bränden und im Foxtrott-Sektor. Dort gab es einen glatten Einschlag, der die halbe Sektion rausgestanzt hat, Skipper.“ Der stämmige Mann rollte die Zigarette wie einen Zigarrenstummel im Mund. „Und auch anderswo sah es nicht gerade rosig aus. Aber ich habe nur neun verloren, zwei vermisse ich noch. Aber die werden wohl verbrannt sein. Oder ins All gesogen.“
Nasahari sah auf seine Uhr und nickte. „Dreißig Stunden seit Kampfende. Die SAR-Shuttles fliegen gerade alle Routen ab und kontrollieren den direkten Umkreis auf jedes Staubatom. Wenn es da draußen was zu bergen gibt, werden sie es finden.“
Nasahari atmete tief aus und deutete nach vorne. „Wann sind wir in der Zentrale?“
„Wir sind fast durchgebrochen. Es war eine Scheiß Arbeit, erst die Sektion abzudichten, dann mit Sauerstoff zu fluten und danach die wieder aufflammenden Brände zu bekämpfen.“ Watts lachte rau. „Himmel, ich würde mir wie ein Riesenidiot vorkommen, wenn wir die Hauptbrücke erreichen und alle sind tot, weil ich mich um zehn Minuten verspätet habe.“
„Die Götter mögen uns vor diesem Übel bewahren, Chief.“
„Wie sieht es im restlichen Schiff aus, Skipper?“ Der Unteroffizier war zwanzig Jahre älter und diese zwanzig Jahre auch schon länger im Dienst als First Lieutenant Nasahari, aber er nannte den Jüngeren mit einem Selbstverständnis Skipper, dass der schlanke Mann immer wieder versucht war, vorsichtig hinter sich zu schauen, ob dort nicht gerade Justus Schneider aus dem Boden gewachsen war. „Wir hatten siebzig Mann Verluste, dazu kommen noch achtunddreißig Vermisste. Außerdem haben wir zweihundertneun Leichtverletzte und dreiundfünfzig stationäre Fälle. Das Schiff ist manövrierfähig und hypersprungtauglich, aber in ein Gefecht würde ich nicht mit ihm gehen wollen. Die meisten Schirmfeldgeneratoren sind hinüber, und versuchen Sie mal, hier Ersatzteile aufzutreiben. Von den Steuerdüsen und den Waffen ganz zu schweigen.“
„Das verstehe ich nicht, Skipper. Die Generatoren, die Kraftwerke und die Waffen sind doch von den Akarii, oder?“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Sir, die Anschlüsse sind doch vorhanden und die Programme sind geschrieben. Warum plündern wir nicht ein oder zwei Kreuzer aus und reparieren uns damit? Zeit genug sollten wir jetzt haben, oder? Und in zwei oder drei Wochen können wir dann eventuell einen Kampf riskieren.“
Nasahari schnaubte überrascht. „Ich werde Ihre Idee dem Captain vorlegen, sobald Sie ihn da raus geholt haben.“
Der Chief folgte dem Blick des Lieutenants und schüttelte sich. „Erwarten Sie mal nicht zuviel, Skipper. Das Ding da hat sich seit dreißig Stunden nicht mehr gerührt, wird seitdem nicht mehr mit Strom versorgt – nicht mal mit Notstrom – und auf unsere Klopfzeichen hat keiner reagiert. Ich meine, ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, und ich würde mich freuen, wenn wir aus achtunddreißig Vermissten acht machen könnten. Aber ich bin schon zu lange im Geschäft, um noch an Wunder und Märchen zu glauben, Skipper.“
„Ihr Pech. Ich glaube noch an Wunder. Und ich glaube an das unglaubliche Glück des Mannes vom Ereudyke-Nebel. Captain Schneider bringt nichts so schnell um.“
„Auch keine explosive Dekompression? Einer der ersten Treffer hat genau über der Zentrale die Decks weggeputzt. Ein Leck ist sehr wahrscheinlich.“
„Wir werden es sehen, sobald wir da rein können. Aber achten Sie auf Unterdruck. Und geben Sie den Sanis Bescheid.“
„Ja, Skipper.“
„Aber sicherheitshalber werde ich auch den Commodore über Ihren Vorschlag informieren, Mr. Watts.“

Die Schlacht hatte sie und die DAUNTLESS furchtbar gebeutelt, aber die Schäden waren weitflächig verteilt gewesen, da auch die Treffervektoren weit verteilt gewesen waren. Die schießenden Schiffe hatten einen lichten Pulk geflogen. Ein Wunder, dass das zu ihrem Vorteil geworden war und den Beschuss dadurch nicht konzentriert hatte. Nasahari schob es bei sich zwei Faktoren zu, dass die KAMI nicht mit Punktbeschuss zum Teufel geschossen worden war: Erstens, weil ein Teil der Schiffe Milizschiffe gewesen waren und diese normalerweise nicht im Verband operierten und zweitens, weil Commodore Mithel sein Bestes gegeben hatte, um für die Kreuzer eine ausreichende Bedrohung darzustellen und damit Druck von DAUNTLESS und KAMI zu nehmen.
Der Ticonderoga war nun ein waffenloses, halb lahmes Wrack, aber Mithel hatte nicht den Befehl gegeben, die KAMI aufzugeben. In dieser Situation, mit der zerschossenen FRISCO, diversen Verlusten bei den Dünnschiffen und mehrerer schwer beschädigten Kreuzern, einschließlich der KAMI und der DAUNTLESS, wäre es verrückt gewesen, hier, mitten im Feindesland, auch nur eines der Schiffe aufzugeben, ohne nicht alles versucht zu haben um sie wenigstens wieder sprungtauglich zu machen. Jedenfalls, Chief Watts hatte eine gute Idee gehabt. Es lohnte sich vielleicht, sie Mithel zu unterbreiten. Was machte es schon, wenn noch mal ein paar Shuttles zu den Wracks der Yankees rüber flogen und ein paar brauchbare Sachen abmontierten? Immerhin wurden die Akarii-Wracks ja schon auf Sprit und Munition gefilzt. Eine Flotte so tief im Feindesland konnte halt nicht wählerisch sein.
Außerdem… Zumindest unbeschädigte Panzerungssegmente konnten alle Schiffe der Flotte vertragen.
„Auf ein Wort, Skipper.“
„Major Hue. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich muss los. Ein Shuttle bringt mich und eine Hundertschaft meiner Leute auf das Gefängnisschiff, um die Wachmannschaft abzulösen. Ich werde also die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht an Bord sein. Darum wollte ich Sie bitten, mich sofort zu informieren, wenn Sie mehr über Captain Schneider wissen.“
„Natürlich, Sir.“ Der Inder nickte verstehend. Er kannte die Freundschaft, die sich beinahe sofort zwischen dem Major und dem Captain ergeben hatte, zur Genüge.
Commander Ishihiro hatte es als Nestgeruch bezeichnet. Oder in Worte gefasst: Helden erkennen einander. Allerdings war das eine Aussage, die sowohl Schneider als auch Hue entsetzt zurückgewiesen hätten. Und das machte sie vielleicht wirklich zu Helden.
„Danke, Lieutenant. Ich weiß das zu schätzen. Ach, und verfügen Sie über meine restlichen Leute wie bisher. Ein wenig harte Arbeit hat noch niemandem geschadet.“
„Danke, Sir.“
„Also, ich verlass mich darauf, dass wir nicht das Schiff wechseln müssen“, sagte Hue Zhao Ba und zwinkerte dem derzeitigen Skipper der KAMI zu. Ein merkwürdiger Mann, aber höchst sympathisch, fand Nasahari.

Sein nächster Weg führte ihn in die Krankenstation. „Hallo, Doc.“
Justine LaCroix, die Chefärztin, sah auf als der First Lieutenant eintrat. „Morgen, Skipper. Wollen Sie unsere Kids besuchen?“
„Jetzt fangen Sie auch noch damit an.“, tadelte Nasahari. „Haben Sie denn keine Hoffnung mehr, dass wir den Captain lebend aus der Zentrale ziehen? Ich dachte, Sie waren mit ihm auf der KAZE und am Ereudyke-Nebel.“
Die hübsche Frau runzelte die Stirn, und nicht mal das konnte sie auch nur ansatzweise hässlich machen. Wie hatte Gott nur so einen perfekten Menschen erschaffen können?
„Wissen Sie, Lieutenant, um Justus mache ich mir keine Sorgen. Der würde sogar im Zentrum einer Kernexplosion überleben. Aber egal in welchem Zustand man ihn da rausholt, dieses Schiff braucht einen Kapitän. Und das sind leider Gottes Sie, und ich finde, Sie tragen diese Last bisher hervorragend.“ Sie zwinkerte dem Inder zu, der daraufhin verlegen hüstelte.
„Allerdings gibt es da eine Sache, die mir Sorgen macht. Sie sind jetzt fast vierzig Stunden auf den Beinen, oder? Sehen Sie zu, dass Sie sich zwischendurch etwas hinlegen und schlafen. Einen schlafenden Kapitän kann man wecken, aber ein übermüdeter begeht nur Fehler.“
„Schlafen kann ich genug wenn ich tot bin.“, brummte Nasahari missmutig.
„Ich kann auch einen Befehl draus machen.“, erwiderte sie ernst. Und der Haken war, das sie das tatsächlich konnte. Sie konnte ihn sogar einsperren, ruhig stellen und ins künstliche Koma versetzen lassen, wenn sie meinte, er würde mit seiner Gesundheit Schindluder treiben.
„Es sieht schon sehr viel besser aus im Schiff“, versicherte Nasahari, „und ich muss nicht mehr bei jedem Scheiß auch vor Ort sein. Wenn alles so gut weiterläuft, wechsele ich mich mit Lieutenant Denge ab.“
„Chausiku? Haben Sie sie zu Ihrem XO gemacht?“
„Sie ist die dienstälteste Offizierin in ihrem Rang an Bord, und sie hat gute Arbeit in der Schlacht geleistet. Ich halte das für die richtige Entscheidung.“
„Ich kritisiere Sie nicht, ich habe nur nachgehakt.“, sagte sie freundlich.
„Entschuldigen Sie, ich bin wohl einfach nur etwas müde, Doc.“
„Schon in Ordnung. Und Sie sollten wissen, für Sie ist hier immer ein Bett frei.“
„Na, das sind ja tolle Aussichten.“, brummte der große Mann vom indischen Subkontinent.
„Falls Sie zusammenklappen, meine ich.“
„Na, ich sagte doch, das sind ja tolle Aussichten. So, ich gehe dann mal meine Schäfchen besuchen. Sind die Leichtverletzten wieder alle im Dienst?“
„Der letzte wurde auf eigenen Wunsch vor drei Stunden verlassen. Keiner will länger als unbedingt nötig auf der faulen Haut liegen, wenn seine Kameraden dabei sind, das Schiff, das freundlicherweise immer noch existiert, wieder auf Vordermann zu bringen.“
„Das nenne ich gut motiviert.“, erwiderte Nasahari und dachte an sich selbst, an die Schlacht und den Umstand, dass er noch lebte. Eigentlich hatte er in dem Moment abgeschlossen, in dem der Skipper seine Rede gehalten hatte. Eigentlich hatte er gedacht, die KAMI würde vernichtet werden, aber hoffentlich damit die COLUMBIA retten. Aber dann hatte dieses Schiff überlebt, er hatte überlebt. Und er hatte beschlossen, diesen unerwarteten Glücksfall nicht ungenutzt vorüber streichen zu lassen. Die KAMI würde wieder fliegen, wieder kämpfen können. Dafür erbrachte er Höchstleistungen.
„Bleiben Sie nicht zu lange.“, mahnte LaCroix. „Ich habe gehört, Ian kommandiert das Schiff zur Zeit.“
Ernüchtert sah Nasahari zurück. Richtig, er hatte ganz vergessen, dass der jüngste Offizier Deckwache hatte, während Denge schlief und er das Schiff inspizierte. „Und was wollen Sie damit sagen, Doc?“
„Er ist ein Cousin von Justus. Ich denke, mehr brauche ich nicht zu erwähnen.“, erwiderte sie mit treuem Blick.
Und der Inder fühlte sich von einem Moment zum anderen wirklich unkomfortabel. Nicht, dass Ian Davis´ Leistungen nicht vorbildlich waren. Keinesfalls herausragend, aber dennoch über dem Durchschnitt. Aber die Verwandtschaft zum Skipper hinterließ doch einen schalen Nachgeschmack, ein undefinierbares Gefühl der Gefahr. Doch die größte Gefahr, die Nasahari gerade sah war, dass Ian irgendwann dieses Schiff kommandieren würde. Unmöglich war es sicher nicht. „Ich beeile mich“, versprach er.

Nach dem Krankenbesuch bei den Schwerverletzten kehrte er in die Zweitbrücke zurück und schickte seine Depeschen, das Schiff und seinen Zustand betreffend, an die RELENTLESS und die COLUMBIA. Er vergaß dabei natürlich nicht die Idee von Watts zu erwähnen, und erbat dafür die Zustimmung vom Geschwaderchef. Bei sich wunderte sich der Inder, ob und wann Mithel offiziell das Kommando über beide Geschwader übertragen wurde und welcher Kapitän aus welchem Geschwader sein eigenes bekam und damit seine eigene Flagge als Commodore bekam. Außerdem wäre es interessant gewesen dabei zuzusehen, wie Mithel in den Rang eines Konteradmirals erhoben wurde und seine Admiralsflagge erhielt.
Nasahari seufzte leise. Britische Offiziere des Commonwealths und des viktorianischen Weltreichs hatten sich folgendes zuzuprosten gepflegt: Auf die Pest und blutige Kriege.
Denn das waren die einzigen Möglichkeiten für ihre Vorgesetzten zu sterben und den rangniedrigeren Offizieren den Aufstieg zu ermöglichen.
Für den COLUMBIA-Verband würde es sich wie folgt auswirken. Mithel rückte in den Admiralsrang nach und würde seine Marotte, sein Commodore-Schiff selbst zu führen, aufgeben müssen. Einer seiner Offiziere würde in den Kapitänsrang nachrücken und damit seinen eigentlichen Posten einem Untergebenen überlassen, der in Rang und Position nachrücken würde. Auf diese Position würde ein anderer Untergebener aufrücken, der zudem befördert werden würde. Das Ganze würde runter bis zu den Ensigns gehen.
Auch für den Kapitän, der als Führer des Geschwaders nachrücken würde – wahrscheinlich der 2.7, falls sich Mithel nicht dazu entschied, selbst dieses Geschwader zu übernehmen, da es größere Verluste hatte und deshalb seine direkte Hand brauchte – ergab sich eine derartige Reaktionskette. Er würde, wenn er es wollte, einen Kapitänsrang frei machen. Dadurch würde der Nachrücker seinerseits Platz machen, und so weiter und so fort.
Und selbst wenn Mithel befand, dass einer der Dünnschiffkapitäne den Kapitän ersetzen sollte, da keine fähigen Nachrücker an Bord waren, so würde auf dem Dünnschiff der Nachrückertanz beginnen.
In diesem Zusammenhang war es recht glücklich, dass sich die Zahl von Kapitänen ohne Schiff und Schiffen ohne Kapitänen die Waage hielt, denn es war eine uralte Regel, dass einem Skipper ohne Schiff eher ein Schiff gegeben wurde als dem XO die Chance, nachzurücken. Einmal Kapitän, immer Kapitän.
Für ihn selbst bedeutete das, dass, sollten Schneider und Ishihiro tot sein, Mithel einen Kapitän oder Commander auf die KAMI schicken würde, damit dieser das Kommando übernahm. Er selbst würde, falls Mithel den nicht auch mitschickte, auf den XO-Posten nachrücken. Aber das galt nur für den Fall, dass Schneider und Ishihiro nicht in der Lage waren, ihr Kommando wahrzunehmen, sei dies nun durch Krankheit oder durch Tod.
„Wir sind dann soweit, Skipper“, klang die interne Sprechanlage auf. „Wir brechen jetzt das Schott der Zentrale auf.“
„Ich bin unterwegs, Mr. Watts. Mr. Davis, Sie haben das Schiff. Ich gehe.“
Ian Davis strahlte ihn an. „Danke sehr.“
Der Inder konnte nicht anders, er musste dem Weltraumgeborenen einen Dämpfer verpassen. „Aber ich komme wieder.“
Der Waffenoffizier murmelte einen derben Fluch und zog eine mürrische Miene.
„Was denn, was denn, wer austeilt muss auch einstecken können.“, sagte Nasahari belustigt, klopfte dem Mann auf die Schulter und eilte von der Zweitbrücke.

Er kam gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie das Schweißgerät durchbrach. Für ein paar Sekunden geschah nichts, dann aber war deutlich zu sehen, dass ein Teil der Schweißperlen nach innen gezogen wurden. Nasahari straffte sich. Unterdruck in der Zentrale.
Doch glücklicherweise hörte das Phänomen schnell auf und Watts gab Anweisung, weiterzumachen.
„Was sagt der alte Haifisch? Dürfen wir zu den Akarii rüber?“
„Ich habe die Depesche gerade erst los geschickt. Ich schätze eine Antwort wird noch ein paar Stunden brauchen.“
„So.“, brummte der alte Offizier und rollte den Stummel der Zigarette von Nasahari in Mundwinkel herum. Ob es einen Unteroffizierslehrgang dafür gab, eine Zigarre, einen Zigarillo oder eine Zigarette vorschriftsmäßig im Mund zu rollen?
Es gab ein lautes Scheppern, dann fiel ein Teil des Schotts nach innen auf die Brücke.
Ein Team aus Sanitätern und Technikern drückte sich vorsichtig an den noch immer rot glühenden Nähten vorbei und betrat die Zentrale, in der vollkommene Dunkelheit herrschte. Die Notbeleuchtung war nicht angesprungen.
„Wenn hier jetzt einer plötzlich das Licht hochfährt, reiße ich ihm den Kopf vom Hals.“, knurrte eine raue, belegte Stimme. „Wir sitzen hier seit ’ner kleinen Ewigkeit in der Finsternis, also fahrt das Licht langsam auf.“
„Jawohl, Captain“, antwortete einer der Männer, und Nasahari wurden auf einmal die Knie weich. Verdammt, ja, so war es richtig! Der Skipper lebte noch!
„Die Schalter und die Kontrollen reagieren nicht. Wahrscheinlich ist der Verteilerkasten zerstört worden. Kaminsky. Beipass.“
„Aye, Petty.“
Einer der Crewmen kam wieder aus der Zentrale, schnappte sich zwei Helfer und begann ein Kabel zu verlegen. Nachdem er ein Wandpaneel aufgestemmt und ein wenig hantiert hatte, flammte in der Zentrale gedämpftes Licht auf. Trotzdem klang protestierende Stimmen auf, als es langsam aufgedimmt wurde.
„Verdammt, wir sitzen hier seit ’ner Ewigkeit in der Dunkelheit! Nehmen Sie etwas Rücksicht auf unsere Augen!“, klang Ishihiros Stimme auf.
Mit dem Licht kehrte auch die Energie für die Luftumwälzung zurück, und erst jetzt wurde Nasahari bewusst, dass ein Gemisch aus Schweiß, Kälte und verbrannten Kabeln das vorherrschende Aroma in der Luft war, die aus dem aufgeschweißten Schott trat.
Die Sanitäter gingen an ihre Arbeit und begannen die Offiziere und Besatzungsmitglieder in der Zentrale zu untersuchen. Einige pfiffen Kameraden mit Tragen heran, um einige der Erschöpfteren fortbringen zu lassen.
Nasahari lugte so weit hinein wie er konnte ohne die Sanis und Techniker zu stören und sah dabei zu, wie sich Schneider steif erhob. Dann sah er zu Nasahari herüber und winkte ihn in die Zentrale. „Zustand des Schiffs?“
„Wir leben noch, Sir. Diverse Beschädigungen, die meisten Waffen sind ausgefallen. Sprungfähigkeit und Manövrierfähigkeit vorhanden. Diverse Verluste.“
„Die DAUNTLESS?“
„Hat es nicht so schwer erwischt wie uns. Dafür aber die FRISCO und den Konteradmiral. Commodore Mithel hat jetzt das Gesamtkommando.“
„Die feindliche Flotte?“
„Uniform-Träger wurde von den Angry Angels zerstört. Außerdem haben wir dem Gegner über die Hälfte seiner Kreuzer abgenommen. Außerdem haben wir den Golf zerlegt, Sir.“
„Die COLUMBIA?“
„Hatte ein paar Schwierigkeiten, ist aber voll einsatzbereit.“
„Das Geschwader der COLUMBIA?“
„Hat ein paar Staffelchefs und XO verloren, existiert aber noch.“ Nasahari räusperte sich. „Ihr Cousin Clifford lebt noch und kommandiert die Rote Staffel, Skipper.“
„Ich nehme an der Gegner hat das System verlassen.“
„Das ist richtig, Skipper. Wir erwarten nicht, sie so bald wieder zu sehen. Allerdings haben wir keine Ahnung, wer uns noch besuchen kommt.“
„Verstehe.“
„Darf ich fragen, was hier passiert ist, Skipper?“
„Sie dürfen.“ Justus Schneider grinste, als er hörte, wie Haruka Ishihiro einen Sanitäter anpfiff, der ihm beim Aufstehen helfen wollte.
„Die KAMI muss einen sehr frühen Treffer kassiert haben, der beinahe bis zur Brücke runter geschlagen ist.“
Nasahari nickte bestätigend.
„Der Treffer hat sowohl Haupt- als auch Notstromversorgung gekappt. Außerdem hatten wir mehrere Lecks. Versuchen Sie mal, in absoluter Finsternis mit einem Leck-Gewehr zu hantieren und auch noch zu treffen.
Verluste hatten wir bis dato keine, aber leider auch keine Möglichkeit mehr, in den Kampf einzugreifen. Im Gegenteil, ein ungeschickter Treffer hätte die Brücke jederzeit ausradieren können. Also habe ich das einzig richtige befohlen, nachdem die Lecks gedichtet waren. Ich rief die Crew zusammen und wir haben uns am niedrigsten Punkt der Zentrale hingelegt.“
Schneider fühlte sich genötigt, dazu etwas zu erklären. „Für den Fall, dass es brennt. Am tiefsten Punkt bleibt die Atemluft am längsten von Kohlenstoffdioxid verschont.“
„Aha.“
„Irgendwann haben die Vibrationen dann aufgehört und ich musste annehmen, dass die Schlacht vorbei war. Uns blieb in absoluter Dunkelheit nichts anderes übrig als uns nicht vom Fleck zu rühren und soviel Luft wie möglich zu sparen. Die rapide Abnahme der Luftqualität hat uns nur zu deutlich vor Augen geführt, dass unser Sauerstoffvorrat begrenzt war.
Also habe ich Anweisung gegeben zu schlafen oder zu meditieren. Nur ab und an ist jemand in der Dunkelheit auf die Toilette zugestolpert. Aber reden wir nicht darüber. Es war jedenfalls eine merkwürdige Erfahrung.
Das ging so, bis wir die Schweißarbeiten gehört haben. Und jetzt sind Sie hier, Mr. Nasahari. Ich nehme an, Sie haben das Kommando?“
„Aye, Skipper.“
„Gut. Ich bin gespannt auf Ihren Bericht. Und jetzt bringen Sie mich und Commander Ishihiro auf die Krankenstation. Ich will mich schnell gesund schreiben lassen und das Kommando wieder übernehmen.“ Schneider musterte den Junioroffizier mit abschätzendem Blick. „Dürfte auch dringend nötig sein. Sie sind vollkommen übermüdet, Lieutenant.“
„Sir, sind Sie nicht dehydriert? Sollen wir nicht einen Tropf anlegen?“, wagte es einer der Sanitäter zu bemerken.
„Wasser hatten wir genug.“, erwiderte Schneider schroff, und sein Tonfall machte klar, dass er keine Detailfragen wünschte. „Und jetzt los, Mr. Nasahari. Commander Ishihiro?“
„Bin direkt hinter Ihnen, Skipper.“
„Wie immer, also. Commander Andread?“
„Bin ein wenig schwach auf den Beinen. Ich lass mich sicherheitshalber bringen und ein paar Tabletten verschreiben.“
„Commander Dumas?“
„Sir, ich schließe mich gleich an. Wer hätte gedacht, dass sich dieser Yoga-Kurs irgendwann mal bezahlt machen würde.“
„Commander Henrik?“
„Komme. In meinem Alter kriegt man die Knochen nicht mehr so schnell zum laufen, Skipper. Übrigens, Sie scheinen gute Arbeit geleistet zu haben, Mr. Nasahari. Ich freue mich auch auf Ihren Bericht.“
Der Inder unterdrückte ein hartes Schlucken. „Natürlich, Sir.“
„Na, dann wollen wir doch mal. Auf geht es, Mr. Nasahari.“
„Aye, Skipper.“
„Verdammt, dann haben wir also die ganze Schlacht verpasst“, murmelte Schneider traurig.
Und Lieutenant Nasahari hatte die große Chance verpasst, neuer XO der KAMI zu werden und die noch wesentlich geringere Chance, Skipper zu bleiben. Merkwürdigerweise machte ihm das aber nichts mehr aus, seit er wusste, dass Schneider noch lebte.
„Ich werde dann die Verlustliste aktualisieren, Skipper“, sagte der Inder froh. Vierundzwanzig Schicksale geklärt.

***

Als Juliane Volkmer aufsah, tat sie dies mit Augen, in denen die tiefe Erschöpfung, die allgemeine Verzweiflung und die schwere Verantwortung als Commander einer eigenen Staffel lagen. Sie hockte mehr als dass sie saß auf einer Stahlbank an der Wand und sah unglaublich blass aus. Aber als sie mich erkannte, als ich gerade auf die Krankenstation der COLUMBIA trat, hellte sich ihre Miene unmerklich auf. Sie zögerte nur einen Moment, dann nahm sie mich in die Arme. Die Schlacht war über achtundvierzig Stunden vorbei, aber Schlaf hatten wir beide in dieser Zeit nicht gesehen. Im Gegenteil. Aber nach über vierzig Stunden ohne Feindortung konnten wir trotz reduzierter Staffeln in einen ordentlichen rollierenden Modus gehen. Für Staffelführer bedeutete dies allerdings nicht, dass damit Schlaf und Freizeit verbunden war. Im Gegenteil. Da blieb immer noch was zu tun.
„Oh, Ace, ich habe das mit Kali und Skunk gehört. Es tut mir Leid. Wer will schon auf diese Weise befördert werden?“
„Bei dir sieht es doch viel schlimmer aus. Mein Beileid zu Annegret. Sie war eine gute Pilotin. Aber wir haben viele gute Piloten da draußen verloren.“
Sie nickte, dann löste sie ihren Griff wieder.
Wir setzten uns nebeneinander auf die Bank.
„Uns hat es übel erwischt. Skunk hat’s rausgeschafft, aber wegen seiner Erfrierungen muss er mindestens noch zwei Wochen auf der Krankenstation bleiben. Und dann steht noch nicht fest, dass er auch wieder flugtauglich ist. Kalis Abriss ist übel, aber der komplette Verlust des linken Arms wäre übel gewesen. Ich weiß, wie das ist. So aber ist sie in einem Vierteljahr wieder einsatzbereit.“ Dunkle Schatten der Erinnerung durchdrangen mich, Jollahran erfüllte mich für bange Sekunden wieder. Die Schlacht, der Marschflugkörper, die Explosion…
Danach diese primitive Chemotherapie, der multiple Krebs, der Verlust meines Arms, die Amnesie, Himmel, selbst jetzt musste ich noch zweimal die Woche zur Vorsorge. Da war so ein halb abgerissener Arm doch gar nichts gegen. Das konnten unsere Ärzte mit Spucke und ein wenig Bindfaden wieder richten. Diese Gedanken sollten mich selbst beruhigen, zu mehr waren sie nicht da. In Wirklichkeit hatte ich eine wahnsinnige Angst um sie gehabt, und wenn ich sie besuchte, würde ich sie spüren lassen, wie unendlich froh ich war. Danach musste ich zu Skunk und den anderen.
„Wie sieht es bei dir aus? Ich habe gehört, die Eisprinzessin hat zwei deiner Flieger gefickt?“
„Ace, hast du mit der Staffel auch Skunks schnoddrige Ausdrucksweise übernommen?“, tadelte mich die Lieutenant Commander. Aber wenigstens schmunzelte sie schon wieder ein wenig. „Chip hat zwei Flieger verloren, nicht Lilja. Sie hat ’nen guten Job gemacht, und ich hätte eh einen Teufel getan und ihr Vorwürfe gemacht, jetzt wo sie die Staffel von Diane geerbt hat. Ich meine, ich…“
„Zu Hause kriegen sie Lightning schon wieder hin.“, erwiderte ich beruhigend. „Mich haben sie auch wieder zusammen geflickt, anstatt mich in Methylalkohol einzulegen.“
„Ace, du bist unmöglich.“ Sie atmete tief aus und legte damit den Ärger der letzten Tage ab. Das war eine Eigenschaft die ich an ihr immer bewundert hatte. Sie konnte fühlen, sie konnte sich grämen. Aber sie konnte auch einen Schlussstrich ziehen. Endgültig. Etwas, was mir selten vergönnt gewesen war.
„Es hat Cord Larkin erwischt. Ist mit seinem Flieger explodiert. Und Shocker ist ausgestiegen, bevor sie mit ihrer Mühle gebraten wurde. Leider hat sich Diane neulich meine Ersatzmaschine gekrallt, deshalb sitzt das arme Mädchen jetzt auf dem Flugdeck fest.“ Wieder atmete sie aus, und ich sah, wie ihre Wangen wieder Farbe bekamen. „Chip war nicht sehr erfreut, auf diese Weise Staffel-XO zu werden. Aber nachdem es nicht nur Annegret, sondern auch noch Daniel Miller erwischt hat, gibt es ohnehin nicht mehr viel Staffel, für die er XO sein kann. Wenigstens hatte meine Sektion nur einen Verlust. Eleni Sourakis musste aussteigen und liegt jetzt hier, mit Taucherkrankheit.“
„Explosive Dekompression, begleitet von Erfrierungen und Stickstoff-Embolie?“, riet ich. Das waren Verwundungen, die unter Piloten sehr weit verbreitet waren. Nicht wenige von uns hatten schon mal Vakuum-Erfrierungen erlitten oder Weltraum geatmet, wie wir die explosive Dekompression oft nannten.
„Etwas in der Art. Wie sieht es bei dir aus? Hast du schon ’nen XO?“
Ich legte den Kopf schräg. „Habe ich. Noname.“
„Himmel, warum ausgerechnet Noname?“
„Weil er fliegen kann und weil er nach Skunks Ausfall die Sektion gut zusammen gehalten hat.“, erwiderte ich. „Außerdem macht er gerade für mich den Papierkrieg. Du siehst, es hat seine Vorteile. Und, sitzt Chip gerade über deinen Hausaufgaben?“
Sie gluckste amüsiert. „Hast mich erwischt, Ace. Und, weiter?“
„Insgesamt hatte die Staffel fünf Verluste, aber nur einen Toten. Trajan.“
„Moment, war das nicht der Typ, der mit dir von Graxon kam?“
Ich nickte schwer. „Ich denke, so ist es besser. Jules hatte die ganze Zeit eine horrende Angst davor, verletzt zu werden. Dass ihn nun ein Akarii gegrillt hat… Ich meine, man hätte ihn wieder zusammen geflickt, aber ich bin sicher, er wäre durchgedreht. Er wollte ja nur fliegen, einfach nur fliegen. Ihm das zu nehmen hätte ihn getötet. So rum ist es wahrscheinlich besser.
Außerdem musste Julianne Ward aussteigen. Sie hat auch Weltraum geatmet und muss erstmal ein paar Wochen hier bleiben. Aber egal, wir haben sowieso kaum Reservemaschinen.
Damit hat es einen kompletten Wing in meiner Sektion erwischt.
Dann haben sie neben Kali auch noch Too-Tall aus dem All gepult.“
Ich sah Huntress´ unverständlichen Blick und erklärte: „Den Basketball-Spieler.“
„Ach, Jack Grayson. Und? Kann er noch Basketball spielen?“
„Was setzt du denn für Prioritäten?“, fragte ich stirnrunzelnd. „Hat sich beim aussteigen den Arm gebrochen, und soweit ich weiß ging ihm mächtig die Sause. Kleines Panik-Syndrom. Er wird also auch erstmal ein paar Wochen hier bleiben müssen, bis ihn die Weißkittel wieder hinkriegen.“
„Er ist stark. Er schafft das schon.“
„Niemand kommt gut damit klar, plötzlich mit dem Tod konfrontiert zu werden. Sieh dir Lilja an. Sie ist immer noch auf ihrem Rachetrip. Und wenn wir nicht aufpassen, wird sie entweder zum Gefangenentransporter rüberflitzen und Akarii foltern oder im Frieden eine Falcon klauen und den Krieg fortsetzen.“
Huntress zog eine Augenbraue hoch. „Du hast schon mal bessere Witze gemacht, Ace.“
„Das war kein Witz, Huntress. Ich habe eine Scheißangst davor, dass Lilja irgendwann einmal durchdreht.“ Ich schnaufte amüsiert und betrachtete meine Hände, die in meinem Schoß komplizierte Gesten ausführten. „Sie war genau wie ich von Anfang an dabei. So etwas verbindet irgendwie. Sie gehört zur Familie, und du weißt ja, was man sagt. Man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht die Familie.“
„Jetzt übertreibst du aber.“, erwiderte sie lächelnd. „Aber vielleicht solltest du mal mit ihr darüber reden. Vielleicht zieht sie ja nicht ihr berühmtes Stiefelmesser, sondern nutzt die Chance, um sich endlich einmal die Ängste von der Seele zu reden.“
„Sicher. Und Trafalgar war nur ein kollektiver Albtraum.“
„Spötter.“
„Ich liebe dich auch.“
„Das will ich schriftlich.“
Ich gluckste amüsiert und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wer weiß, vielleicht mache ich das sogar. Aber nun sollte ich meine Schäfchen besuchen.“
„Tu das. Ich gehe auch mal zu meinen rein. Ach, weißt du, wie es Ohka geht?“
„Der hat ausnahmsweise mal nicht den Shuttle-Service genommen. Seine Mühle ist sogar noch reparabel, hat Dodson gesagt.“
„Das sollte man doch feiern.“
„Jetzt bist du die Spötterin.“, tadelte ich, drückte ihr noch einen Kuss auf und betrat die Station.

„First Lieutenant Davis, Commander Rote Staffel“, meldete ich der Oberschwester.
Die Frau, von der man sagte, sie könne einen Admiral mit ihren Blicken um acht Ränge degradieren, musterte mich von oben bis unten. Dann wurden ihre standardmäßigen Züge weich. „Ist in Ordnung, Lieutenant Davis. Zehn Minuten pro Pilot, verstanden?“
„Okay.“
Ich klopfte zaghaft an die erste Tür. Ich hatte eine Mehrfachbelegung erwartet, aber anscheinend war es doch nicht so schlimm gewesen. Ich korrigierte mich in Gedanken sofort. Vielleicht hatte es einfach auch nur zu viele Tote und zu wenig Verletzte gegeben.
„Herein.“
Ich trat ein und versuchte dabei das strahlendste Lächeln hinzukriegen, das ich konnte. „Hi, Kali, Schrecken der Echsen.“
Sie salutierte gespielt mit ihren gesunden, unbandagierten und nicht ruhig gestellten Arm. „Salut dem tapferen Anführer der gefürchteten Roten Staffel, Clifford Davis, auch genannt Blitz Blauhaar.“
„Wenn du spottest dann kriegst du weder die Schokolade, noch den Brief von Kano“, mahnte ich.
„Ich habe das alles todernst gemeint“, versicherte sie mir.
Ich lachte und setzte mich neben sie aufs Bett. Vorsichtig küsste ich sie auf die Wange. „Wie fühlst du dich, Helen?“
„So lala. Wann kommt mich Kano besuchen?“
„Was denn? Ich komme rein und das erste was du fragst ist: Wo bleibt Ohka? Wie gemein.“
„Nicht so gemein wie du. Du hast mir Schoki versprochen.“
„Hier, du Vielfraß.“ Seufzend reichte ich ihr die Tafel, die ich unter meiner Uniform eingeschmuggelt hatte. „Und Ohka kommt sobald er kann. Monty und Renegade sind beim laden miteinander kollidiert, und jetzt hat dein kleiner Freund eine große Last auf seinen Schultern. Im Prinzip macht er den Staffelchef-Job, denn unser aller allmächtiger Meister Lone Wolf muss sich ja um sein zusammengeschossenes Geschwader kümmern. Gib ihm noch ein paar Stunden, bis er einen Stellvertreter eingearbeitet hat.“
„Ich warte gebannt. Wie sieht es ansonsten aus? Die Schwestern und Pfleger sind leider unbestechlich und unempfänglich gegen Drohungen.“ Sie seufzte schwer.
„Wir hatten nur einen Verlust. Und nein, das ist leider nicht Skunk. Den bringt so schnell nichts um.“
„Wen hat es gelegt?“
„Trajan.“
„Das ist übel. Aber besser so als wenn er als Krüppel hier eingeliefert worden wäre. Er wäre die Decke rauf gegangen.“
„Trotzdem. Ich hätte es lieber gesehen, wenn er überlebt hätte.“
„Ich hätte bei vielen gerne gesehen, wenn sie überlebt hätten. Pinpoint zum Beispiel.“
Ich schluckte hart. Pinpoint war ein Freund für mich gewesen, mehr noch, ein kleiner Bruder. „Hoffen wir, dass die verdammten Akarii jetzt langsam weich genug gekocht sind, um einen Friedensvertrag anzubieten. Sonst haben wir bald mehr erobert als wir halten können.“
„Na, na, nicht so pessimistisch. Haben wir Jor erwischt?“
„Eine Thunderbolt hat ihn weg geputzt, als er mit Lone Wolf spielen wollte. Mist, den hätte ich gerne selbst abgeschossen.“
„Den hätten wir alle selbst gerne abgeschossen. Aber Hauptsache, er ist tot.“
„Das ist er definitiv. Seine Überreste wurden aus dem All geborgen und aufgebahrt. Und die Propaganda-Leute sind schon eifrig dabei, Bilder des Toten ins All hinaus zu funken.“ Ich schüttelte mich. „Zu Glück waren sie schlau genug, auch eine Ehrenwache dazu zu stellen, wie es sich für einen ehemaligen künftigen Imperator gehört.“
„Wenn’s nach mir ginge, hätten wir ihn klein geschreddert und als Dünger fürs Beet benutzt, und keine Ehrenwache aufgestellt. Dieser Mistkerl hat Manticore angegriffen.“
„Daran sieht man, dass du nie ein guter Diplomat sein wirst, Helen. Egal was er getan hat, er war Erbe des Akarii-Imperiums, und außerdem ein hervorragender Pilot.
Ich meine, ich habe persönlich was gegen ihn gehabt, weil er Melissas Sohn geköpft hat, aber wenn wir seine Leiche auf den Bug der COLUMBIA gespannt hätten, wäre das sicherlich nicht sehr friedensfördernd gewesen, oder?“
„So gesehen hast du recht. Dann nimm du ihn bitte auch und flieg ihn als Eskorte auf die Hauptwelt.“
„Du willst mich wohl gerne tot sehen, oder?“, raunte ich mit Schweiß auf der Stirn. Den toten Prinzen Jor auf der Hauptwelt abliefern wäre ein absoluter Geniestreich gewesen – und definitiv tödlich für den Boten.
„Aber nicht doch, Ace, nicht doch. Du hast nur die besten Chancen. Du bist ja der einzige hier, der fließend Heklar spricht, oder?“
„Nun red dich nicht raus, Kali.“ Ich erhob mich.
„Hey, das war doch nur Spaß, Cliff. Musst ja nicht gleich sauer werden und gehen.“
„Das ist es nicht. Ich habe nur zehn Minuten pro Besuch.“
„Komm wieder.“
„Mach ich. Was willst du haben, wenn ich das nächste Mal komme?“
„Kreuzworträtsel.“
„Versprochen.“
Leise trat ich aus dem Zimmer und ging zum nächsten.

„Herein, wenn’s kein Echsenficker ist!“
„Dir scheint es ja wieder sehr gut zu gehen, Skunk, hm?“
Als ich eintrat, strahlte mich der Lieutenant Commander an. „Das bisschen Vakuum bringt mich nicht um. Aber wenn du wüsstest wie neue Haut juckt…“
Ich räusperte mich vernehmlich.
„Ach ja, hast dich ja schon mal von der Macht des Atoms braten lassen, ich vergaß.“
„An so etwas hängt man normalerweise noch eine Entschuldigung an.“
Harvey Jones sah mich aus großen Augen an. „Bin ich ein Mädchen, oder was? Werde erwachsen und lerne den Ernst des Lebens zu ertragen.“
„Stimmt es eigentlich, dass die Krankenschwestern dein Zimmer nur noch mit Antiterrorausrüstung betreten?“, fuhr ich den anderen Piloten an.
„Eine hat sogar schon ne Gefechtsrüstung bei den Marines angefordert“, sagte er stolz. „Und als sie sie gefragt haben, wofür sie ne Rüstung braucht, und sie sagte, sie habe Skunk auf dem Revier, da hat ihr eine ganze Kompanie spontan das Beileid ausgesprochen.“
„Verdammt, die Geschichte glaube ich sogar!“
Wir sahen uns an und lachten zusammen. „Also, gestorben bin ich nicht, aber das hole ich wahrscheinlich hier drin nach. Vakuumverbrennungen, das ich nicht lache! Hier sitze ich und alles was ich zu tun habe ist atmen, fressen und scheißen!“
Ich griff unter meine Uniform und warf ihm einen Stapel Zeitschriften zu. „Hier, Lesestoff.“ Ein kleiner Computer folgte. „Und alles was ich bisher über Tukama zusammen getragen habe. Zum nacharbeiten. Willst du sonst noch was wissen?“
„Ja. Wie geht es Kali? Wer hat Jor gegrillt? Was ist mit dem Geschwader? Kommst du täglich hier rein damit ich dir das Händchen halten kann, damit du mit ’ner eigenen Staffel klar kommst? Wie lauten die Lottozahlen? Und stimmt es wirklich, dass die Echsen Lightning aus der Maschine geschmissen haben?“
„Gut, eine Thunderbolt-Crew, geht so, nein, keine Ahnung und ja. Damit wurden drei Staffelchefs ausgeschaltet, wenn wir Monty noch mit zu rechnen.“
Für einen Moment wurde Skunk aschfahl. „Monty?“
„Tot. Er und Renegade sind beim Landeanflug kollidiert und Montys Nighthawk hat sich über die Landebahn verteilt.“
„Himmel, was für eine Scheiße. Wenn es nach mir ginge, hätten wir diesen Ficker von Pandora gleich durch die nächste Schleuse geschickt, kaum dass er hier eintraf. Der taugte doch nichts, der elende Bastard! Hat’s ihn wenigstens auch erwischt?“
„Reicht nicht mal für ne Urne.“
„Dieser Trottel! Hätte er sich eher abballern lassen, dann müssten wir jetzt nicht ohne Monty auskommen! Genau deshalb hasse ich diese Weichlinge, Grünschnäbel und die ganzen Ärsche, die heimlich auf der Toilette wichsen!“
Er sah auf. „Wie geht es Noname?“
„Ist jetzt mein XO. Hat zwei Flieger unter sich. Die anderen beiden Sektionen habe ich zusammengefasst, bis wir neue Maschinen kriegen.“
„Halt ihn dir warm. Der Junge ist ganz passabel.“
Ich lachte leise. „Stimmt. Im Moment macht er meine Hausaufgaben.“
„Hast ja schon was gelernt, Ace.“ Er grinste mich an. „Grüß die Himalaja-Ziege von mir, wenn du wieder hingehst. Und jetzt verpiss dich. Gleich kommt ne Schwester die versprochen hat mir einen Blasen- und Nierentee zu machen.“
„Du änderst dich nie, was?“, fragte ich. Aber das war wenigstens eine wundervolle Konstante im Leben.
„Warum sollte ich auch? Soll sich doch das Universum ändern.“
Cattaneo
Cattaneo

Gewinn und Verlust

Büro des Kapitäns CA Relentless, System von Tukama

Das scharfgeschnittene Gesicht von Commodore Mithel wirkte nicht wie das Antlitz eines Mannes, der glücklich war. Es wirkte gewiss nicht wie das Gesicht eines Siegers. Das mochte verwundern angesichts dessen, was der Bildschirm auf seinem Schreibtisch zeigte. Aufgelistet waren dort die Schiffe, Shuttles und Jäger der Akarii, die bei der Schlacht von Tukama von den Kreuzern der jetzt unter seinem Kommando vereinten Schwadronen 2.3 und 2.7 vernichtet oder aufgebracht worden waren. Eine beeindruckende Liste, soviel war sicher, ein kampfstarkes kombiniertes Geschwader. Zwei schwere Kreuzer der Yankee-Klasse, zwei leichte Kilos, ein Golf-Hybridkreuzer. Dazu kamen die leichteren Schiffe, und Mithel war zu erfahren, um diesen Erfolg gering zu schätzen. Eine Korvette vom Typ Tango-A hatte kapituliert, eine Tango-B war zerstört worden, ebenso drei Sierra-Fregatten und vier Zerstörer – zwei Hotel IV und je ein Schiff der Echo- und Charlie-Klasse. Eine weitere Korvette war von den Akarii zerstört worden, als sie sich zurückzogen und das havarierte Schiff nicht mehr mithalten konnte. Außerdem kamen noch die zerstörten Jäger und Shuttles hinzu. Zählte man dazu noch die Abschüsse der Jagdbomber und Bomber der Columbia – zwei Zerstörer, einen leichten Kreuzer und natürlich die Korax ma Rah selber – dann war das in der Tat eine beeindruckende Liste, wie geschaffen für eine Siegesmeldung. Die Verluste der Akarii an Personal mussten beträchtlich sein, allein zwischen 4.000 und 5.000 an Bord des Flottenträgers. Sie hatten zudem fast das gesamte Geschwader der Korax ma Rah verloren und tausende an Gefangenen zurücklassen müssen, denn zur Bergung der Rettungskapseln der zerstörten Kriegsschiffe hatte ihnen die Zeit gefehlt.
Aber der Commodore zeigte dennoch kein Anzeichen von Begeisterung. Das mochte einerseits daran liegen, dass ihm Gefühlsausbrüche nicht unbedingt lagen. Aber es war nicht nur das. Vor sich hatte Mithel ein Blatt Papier liegen. Es war der Ausdruck einer Mitteilung, die er erst vor kurzem von der Columbia bekommen. Auf dem Blatt säuberlich aufgelistet waren die Toten der Columbia mit Namen und Rang – Jäger und Besatzungsmitglieder, letztere Opfer des Unfalls auf dem Flugdeck. Am höchsten im Rang ein Lieutenant Commander Miguel Terrano. Insgesamt waren es etwa 30 Männer und Frauen. Das Blatt war von der ersten bis zur letzten Zeile mit diesen Einträgen bedruckt. Eine knappe Notiz erinnerte ihn überdies daran, dass das Geschwader der Columbia – etwa 150 Piloten, Bordschützen und Beobachter mit 100 Maschinen – insgesamt etwa die Hälfte seiner Kampfflieger eingebüsst hatte, und nicht für jeden der einsatzfähigen Überlebenden noch ein Jäger oder Bomber zur Verfügung stand. Ungefähr ein Drittel der Angehörigen des Geschwaders waren ausgefallen, die Hälfte davon durch Tod, die anderen dauerhaft oder zeitweilig durch Verwundung.
Kein geringer Preis, aber es war nicht das, was Mithel den Sieg schal erscheinen ließ. Sein Blick huschte für einen Moment zur Seite. Dort waren säuberlich die Verluste der Schiffe der zwei Kreuzergeschwader ausgelistet. Und wo es die Angry Angels und die Columbia auf ein eng bedrucktes Blatt Papier brachten, da lagen dort genug Blätter für ein dickes Heft, oder ein dünnes Buch.
San Francisco – 436 Tote und Vermisste, darunter Rear-Admiral Mullins. Keine Hoffnung auf weitere Überlebende des zerstörten Ticonderoga. Helena – 42 Tote. Kadmos – 759 Tote. Die Kadmos war förmlich zerfetzt, pulverisiert, in ihre Atome zerschmolzen worden. Überlebt hatte nur die Handvoll Männer und Frauen, die gerade nicht an Bord gewesen war, weil sie die Shuttles des Kreuzers bemannt hatten – nur 21 Personen. Labienus – 32 tote Flottenangehörige und 51 gefallene Marines, das gesamte Kontingent des Kreuzers.
Dann kamen die Verluste von Mithels eigenen Geschwaders. Obliterator – 14 Tote. An Bord der Executioner 52 Gefallene, und der Kreuzer war schwer beschädigt. Merciless – 109 Tote, Schäden reparabel. Fearless – 86 Tote, außerdem war das Schiff verloren gegangen. Annihilator - 21 Tote. Die Kami hatte 70 Gefallene und 20 Vermisste gemeldet. Dauntless – 42 Tote und Vermisste. Die zwei detachierten Kreuzer hatten geradezu unwahrscheinlich viel Glück gehabt. Mithels Waffenoffizier hatte sich veranlasst gesehen, das alte Sprichwort zu zitieren, nach der Betrunkene, Kinder und Wahnsinnige offenbar einen besonderen Schutzengel hatten. Wenn man es so betrachtete, mochte es keine Überraschung sein, dass der Kapitän der schweren Kreuzers doch noch überlebt hatte.

Insgesamt waren es 1734 Tote und Vermisste, den letzten Meldungen nach zu schließen. Ein paar mochten noch gerettet werden von den Vermissten, aber nur wenige. Und mehr als einer der Verletzten würde seinen Wunden noch erliegen. Die Geschwader 2.3 und 2.7 hatten wahrlich einen hohen Preis gezahlt. Genug, um mehr als 50 Seiten mit Namen zu füllen wie jene Liste, die von der Columbia gekommen war. Mithel hätte es sich nicht einmal hier, allein, gestattet, um die Toten zu weinen, aber er spürte, wie ihn die Last der Verantwortung niederzudrücken drohte. Mehr als 1.700 Männer und Frauen, für die er, wenn schon nicht irgendeine Schuld, so doch eine Verantwortung trug. Mehr als 1.700 Lebensfäden, die abrupt und endgültig abgeschnitten worden waren. Mehr als 1.700 Familien, die den Sieg bei Tukama niemals würden feiern können, für die statt der Siegesfanfaren die Totenglocken erklingen würden. Mithel war Realist und er wusste, dass Siege immer mit dem Tod von unzähligen eigenen Soldaten erkämpft wurden. Gemessen an ihrer Zahl hatte das Jagdfliegerkorps gewiss hohe Verluste gehabt in diesem Krieg, doch es waren die Flottensoldaten und die Bodentruppen, die weit über 90 Prozent der Gefallenen ausmachten. Das Blut der gefallenen Piloten war nicht mehr als ein Becher voll Blut in einem endlosen, tiefroten Meer.
Manchmal musste er den Worten zustimmen, dass nur eine verlorene Schlacht schlimmer sei als eine gewonnene. Freilich bezog er das nicht auf die getöteten Feinde, denn deren Leid war ihm relativ egal. Es war seine Aufgabe Akarii zu töten, also tötete er Akarii. Er hasste sie nicht mit der Inbrunst wie einige seiner Kollegen und Untergebenen, aber er würde es ihnen nie vergeben, dass sie die Flotte an den Rand des Abgrunds gebracht und tief gedemütigt hatten. Deshalb kämpfte er seit dem ersten Tag des Krieges mit unermüdlichen Einsatz, ungeachtet, wie schwer das fallen mochte. Er hatte geholfen, das Blatt zu wenden, und die Flotte schien den Krieg zu gewinnen. Aber der Preis, den man selber zu zahlen hatte, war hoch. Und er wurde niemals geringer.
Und wenn er jetzt an die Kadmos dachte – nun, Mithel neigte nicht zu Theatralik, außer in seinen Ansprachen, und von Slogans wie, die Toten seien zu beneiden, hielt er nicht viel. Aber wenn er jetzt daran dachte, wie es für die Überlebenden der Kadmos seien mochte, weiterzuleben, während praktisch das gesamte Umfeld vernichtet war, ihre Gefährten, Freunde und Bekannten, all jene, die zum größten Teil ihr Leben in den letzten Jahren dargestellt hatten...
Nun, dann fragte er sich, ob hier ein solcher Ausspruch nicht angemessen gewesen wäre.

Der Commodore legte die Blätter behutsam zur Seite, in eine dafür vorgesehene Ablage. Sein Gesicht zeigte kaum eine Gefühlsregung, höchstens einen bitteren Zug um die Mundwinkel. Es war nicht das erste Mal, dass er solche Arbeit zu erledigen hatte. Und wenn er schon nicht jedem der Toten die Achtung erweisen konnte, die ihm zustand, so durfte er doch nicht zulassen, dass ihr Tod in Vergessenheit geriet, auch nicht bei ihm. Und er musste sich daran erinnern, wie viel stets auf dem Spiel stand. Er würde bei der Andacht der Schwadronen vier Abschiedsreden halten, eine davon, natürlich, für den Rear-Admiral, und je eine für einen Offizier, einen Unteroffizier und ein Besatzungsmitglied, deren Namen per Zufall ermittelt worden waren. Es stand natürlich außerhalb des Möglichen, jeder Familie einen persönlichen Brief zu schreiben. Wenn nicht ein Kapitän diese Mühe aus sich nahm – und wie wollte man das tun, wenn an Bord des eigenen Schiffes 30, 50, 100 oder mehr Männer und Frauen gefallen waren? - so blieb es bei den knappen Zeilen der formellen Meldung, die von der zuständigen Stelle der Personalabteilung verschickt wurde. Auch das war ein Teil des Krieges, von dem die Öffentlichkeit selten Notiz nahm. Dieses Sterben – und seine administrative Verwaltung – vollzog sich anonym, im Untergrund. So etwas wie den Staffelchef, der an die Angehörigen der Toten persönlich schrieb, das mochte es bei den Jägern geben. Aber nicht bei der Flotte, wo die Toten selbst bei einer gewonnenen Schlacht wie dieser eben schon einmal das Zehnfache der Mannstärke eines mittelgroßen Jägergeschwaders betragen konnten.

Aber Mithel wusste auch, wem seine Verantwortung an erster Stelle galt. Nicht den Toten, sondern den Lebenden. Er rief die Schadensberichte der Kreuzer auf. Auch das war nicht unbedingt dazu geeignet, ihn fröhlicher zu stimmen. Zwar war die Merciless sprungbereit, ebenso die meisten anderen Kreuzer. Aber die Executioner würde wohl nicht mehr rechtzeitig einsatzbereit sein. Und bei der Kami hatte Mithel auch erhebliche Zweifel. Gleichgültig ob ihr Kapitän nun noch lebte oder nicht, das Schiff war seiner Meinung nach mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu schwer beschädigt, und die kuriose Idee, Akariitechnik zu verwenden, erschwerte jede Reparatur noch zusätzlich, denn die meisten Ingenieure und Techniker hatten damit ihre Probleme. Als wenn das Fehlen eines Docks nicht problematisch genug gewesen wäre. Und ein Sprung eines Havaristen… Er hatte von einer früheren Mission der Angry Angels erfahren, wo sich ein schwerer Kreuzer beim Sprung förmlich aufgelöst hatte. Er war damals nicht zugegen gewesen, aber allein die Beschreibungen ließen einem Kapitän die Haare zu Berge stehen, selbst wenn er Eiswasser statt Blut in den Adern hatte.
Mithel ahnte, wusste, dass ihnen die Zeit davonlief. Und so sehr er die Kosten einer gewonnen Schlacht verabscheute – die einer verlorenen scheute er noch viel mehr. Wenn die Akarii sich reorganisierten...
Deshalb war er bereits bei der Admirälin vorstellig geworden und hatte angemahnt, nicht zu lange hier zu bleiben. Die Akarii brauchten nicht einmal einen ihrer Flottenträger aus dem Hut zu zaubern. Ein kampfstarkes Zerstörergeschwader und ein paar Minenleger, die sich am richtigen Sprungpunkt auf die Lauer legten, mochten ausreichen für ein Blutbad. Die Flottensoldaten der Akarii hatten bewiesen, dass sie durchaus noch Kampfgeist hatten, oder zumindest die Bereitschaft, Befehlen zu folgen. Sie mochten nicht mehr so siegesgewiss sein wie zu Anfang des Krieges, und ein Teil der alten Besatzungsmitglieder war desillusioniert, die jungen unerfahren. Aber sie kämpften noch immer, und im Verbund mit ihrer guten Ausrüstung machte sie das überaus gefährlich. Da musste nicht einmal ein Kjani Rau das Kommando führen. Je mehr Zeit man ihnen ließ, etwas auf die Beine zu stellen, umso schlimmer.
Mithel hatte deshalb schon angeregt, bei den künftigen Sprüngen eine wesentlich kampfstärkere Vorausabteilung loszuschicken, bis man aus dem Gebiet der Akarii hinaus war. Im Gespräch waren mindestens zwei schwere Kreuzer und ein paar leichtere Einheiten gewesen, etwa die Relentless und die Repulse, die beide keinen Gefechtsschäden zu verzeichnen hatten. Es blieb nur zu hoffen, dass dies im Ernstfall ausreichen würde.

Krankenstation der CV Columbia

Lilja schämte sich nicht der Tränen, die ihr über das Gesicht liefen. Ihre Hände umklammerten die Verstrebungen am Fußende des Krankenbettes, als sei dies das einzige, was sie noch aufrecht hielt. Sie war froh, dass niemand sie so sehen konnte. So tief der Schmerz ging und so sehr es half, ihm zumindest für einen Augenblick nachzugeben – dieser Moment war zu persönlich, um ihn mit irgendjemandem zu teilen. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle in sich zu verschließen, und nur die wenigsten vermochten es, hinter die Mauern und Masken zu schauen, die sie um sich herum errichtet hatte.
Es war der Anblick der Frau, die in dem Bett lag, der sie so mitnahm. Lieutenant Commander Diane Parker hatte die Staffel Grün von Anfang des Krieges an geführt, abgesehen von zwei kurzen Unterbrechungen, in denen sie sich von Verwundungen erholte. Aber es war niemals so gewesen wie jetzt. Als das Bergungsteam die Britin aus dem Wrack ihres Jägers herausgeholt hatte, während die Akarii gerade auf dem Rückzug waren, hatten sie kaum glauben können, dass die Pilotin noch lebte. Sie hatten den wracken Jäger dazu an Bord eines Zerstörers bugsieren müssen – allerdings war auch nicht mehr viel Jäger übrig gewesen. Das Cockpit war verwüstet und überall war Blut zu sehen gewesen, bereits gefroren wie tiefrotes Eis. Mikrorisse in der Außenhaut hatten Atemluft und Wärme entweichen lassen, bevor die automatische Versieglung angesprungen war. Es war überhaupt ein Wunder, dass das Cockpit nicht komplett aufgerissen worden war. Die im Vergleich zur Typhoon verbesserte Panzerung der Falcon-Jäger hatte Lightning wohl das Leben gerettet, außerdem hatte der Akarii keine Zeit gehabt, sich allzu lange mit seinem Ziel zu befassen, bevor die übrigen Jäger über ihn hergefallen waren. Wären die Risse größer und die meisten Schäden im Cockpit nicht die Folge von Sekundärexplosionen und Fliehkräften gewesen – keine Macht der Welt hätte Lightning retten können. Um ein Haar wäre die Bergung zu spät gekommen, so schwer waren die Verletzungen durch Splitter und Beschleunigungstrauma. Das linke Bein von Lightning war förmlich zerschmettert worden, die Knochen gesplittert. Das Rechte war fast vollkommen amputiert gewesen, und nur der Umstand, dass durch einen Zufall die wichtigsten Blutgefässe abgeklemmt worden waren, hatte Lightnings Leben gerettet. Splitter hatten ihre rechte Hand durchbohrt und zwei Finger abgerissen, die anderen waren gebrochen, ebenso wie der Arm an gleich zwei Stellen. Wie durch ein Wunder hatte ihr Kopf und Helm nichts abbekommen, sah man davon ab, dass sie „nur“ eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte. Der Helm war bei dem massiven Druckverlust versiegelt worden, und so hatte sie noch Luft bekommen und war nicht erstickt.
Dazu kamen etliche gebrochene Rippen, innere Verletzungen, Splitterwunden im Oberkörper, Erfrierungen... es war wirklich ein Wunder, dass dieses zerschundene Etwas noch bis zur Krankenstation des Zerstörers durchgehalten hatte. Eigentlich eine eins-zu-hundert-Chance, dass sie es überhaupt überlebt hatte, aber es fiel Lilja schwer, sich zu freuen, wenn sie ihre Vorgesetzte vor sich liegen sah.
Die Notoperation war auf Messers Schneide erfolgt und hatte zu einer Amputation beider Beine geführt – etwas anderes war nicht möglich gewesen. Man hatte die Anführerin der Grünen Staffel in ein künstliches Koma versetzt, und aus dem würde man sie auch nicht wieder aufwecken – eine lange Zeit nicht. Sie stand permanent unter starken Schmerzmitteln, denn ansonsten wäre sie unweigerlich aufgewacht.

Das, was vor Lilja im Bett lag, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der energischen, humorvollen und fürsorglichen Offizierin, mit der die Russin befreundet gewesen war. Und das lag nicht nur daran, dass dem Torso die Beine fehlten und der Rest des Körpers bandagiert war. Der Brustkorb hob und senkte sich langsam, fast mechanisch, während die Maschinen, die Lightning am Leben erhielten, piepten und ihre Anzeigen flackerten. Die Britin wirkte beinahe, als sei sie Teil der Apparaturen. Das Gesicht, obwohl selber zum größten Teil unverletzt, wirkte wie das einer Toten, mit eingefallenen Wangen, zerbissenen Lippen, aschfahl. All diese Wunden waren für die moderne Medizin grundsätzlich heilbar, wenn es nicht zu Komplikationen kam – aber Lilja wusste, wie schmerzhaft dieser Prozess seien konnte. Und es waren so viele Verletzungen, mehr, als für einen Menschen ertragbar schienen. Lilja hatte sich sehr zurückhalten müssen, um einen Krankenpfleger nicht zusammenzuschlagen, der ihr gegenüber Optimismus über die Verletzungen von Lightning geheuchelt hatte. Der Umstand, dass heutzutage die meisten Verwundungen heilbar waren, machte manche blind für die Schmerzen und psychischen Auswirkungen, die sie immer noch mit sich brachten. Niemand wusste das besser als Lilja. Sie hatte sich beherrscht – knapp. Wohl auch deshalb, weil sie wusste, dass Lightning es so gewollt hatte. Fürs erste war sie, Lilja, die Führerin der Grünen Staffel, und sie konnte sich keine Dummheiten leisten. Sie war sich nicht sicher, ob sie Lightnings Erbe dauerhaft antreten würde und ob sie das überhaupt konnte. In ihren eigenen Augen hatte sie in der Schlacht nicht genug getan – ungeachtet dessen, dass sie drei Feinde vernichtet hatte und zwei eigene Jäger geflogen hatte, bis sie fast auseinander fielen. Zu viele Jäger unter ihrem Kommando waren ausgefallen und die Jagdbomber hatten gleichfalls bitter bluten müssen. Andererseits, wer sollte sonst die Staffel führen? Verfügbare XO's gab es kaum, sowohl Staffel Blau als auch Schwarz hatten ihre Stellvertreter verloren, und auch Skunk als Führer der Roten Staffel war zumindest zeitweilig ausgefallen. Vielleicht würde man Sokol ihr vorziehen, oder Imp – und sie konnte im Moment nicht sagen, dass ihr dies etwas ausmachen würde.

Sie war hierher gekommen, wann immer sie Zeit dazu gefunden hatte, seitdem man Lightning auf die Columbia evakuiert hatte. In den drei Tagen, die seit der Schlacht vergangen waren, war Lilja kaum zur Ruhe gekommen. Sie hatte dafür sorgen müssen, dass die Staffel zumindest halbwegs einsatzbereit war – wenn man das noch eine Staffel nennen konnte, acht Piloten mit acht zum Teil havarierten Jägern. Die Moral der Truppe war nicht die beste gewesen. Das richtete sich zwar nicht gegen Lilja, aber allen lag der Verlust der Staffelchefin auf der Seele. Wenigstens ging es Fidai besser und der junge Pilot schien auch einiges Selbstbewusstsein zurückbekommen zu haben, nachdem er seinen ersten Abschuss erzielt hatte und Lilja ihn ausnahmsweise mal nicht „zur Schnecke gemacht“ hatte, sondern vielmehr lobende Worte gefunden hatte.
Natürlich hatte sich die Staffel auch an den Patrouilleflügen beteiligen müssen, und dann gab es noch den Nachlass der beiden Toten zu ordnen. Eine Aufgabe, die Lilja zukam, und um die sie sich auch nicht gedrückt hatte. Sie war sonst nicht so nah am Wasser gebaut, aber als sie Tyrs Habseligkeiten sortiert hatte, waren auch ihr beinahe die Tränen gekommen. Wie wenig doch von einem Leben blieb. Sie hatte ihren Kameraden recht gut gekannt – nicht, dass sie wirklich enge Freunde gewesen wären. Aber jetzt zu wissen, dass diese Konstante, der ungehobelte, humorvolle, laute, aber immer verlässliche Pilot gestorben war, und WIE er gestorben war…
Nun, sie war froh gewesen, dass in dem Augenblick kein Akarii in Reichweite gewesen war, sonst wäre sie ihm wohl an die Kehle gegangen. Mit ihren Zähnen. Und dann hatte sie die Briefe geschrieben, auch das nicht das erste Mal. Sie musste gegen die Übelkeit ankämpfen, wenn sie daran zurückdachte. Was sie hier taten war richtig, notwendig und unausweichlich – aber wie sollte man das als Überlebender, dazu noch unversehrt, denen erklären, die einen Angehörigen verloren hatten?

Aus diesen Gründen dachte sie in diesem Moment gar nicht darüber nach, wer die Staffel künftig übernehmen würde. Im Augenblick dachte sie vor allem an das, was sie mit Lightning verbunden hatte und noch immer verband. All diese Erinnerungen an die letzten Jahre, in denen sie zusammengearbeitet hatten und schließlich Freundinnen geworden waren. Kleine Episoden des Bordlebens, gemeinsame Gefechte, Diskussionen, all das, was zu ihrem Leben dazugehört hatte in diesen Jahren. Ein gemeinsames Frühstück der Staffel nach einem intensiven Patrouillendienst, während dem Imp beinahe mit dem Kopf im Rührei gelandet wäre, so müde war oder so müde tat sie. Die Staffelfeiern anlässlich von Geburtstagen, denn Lightning vergaß so etwas nie. Die ausgelassenen Momente, wenn es sogar ihr möglich gewesen war, wirklich und aufrichtig fröhlich zu sein, wenn ihr eigener Humor ausnahmsweise nicht mit Bitterkeit und Sarkasmus gewürzt war. Lightning, wie sie sich immer und immer wieder über den Geschwaderchef beschwert und stets eine sarkastische Spitze in petto gehabt hatte, wenn es um Lone Wolf ging. Lightning, wie sie Lilja mehr als einmal geholfen hatte, wenn diese mal wieder an Depressionen litt, weil sie dachte, sie wäre nicht gut genug. Oder wie sie und Lightning gelacht hatten, als Imp – die neben Tyr eben einfach die Frohnatur der Staffel war – die Pistolen der Schwadron für ein anberaumtes Probeschießen durch täuschend echte Wasserpistolen ersetzt hatte.
Lightning hatte einfach zum Leben der Schwadron, und besonders zu Liljas Leben, dazugehört. Nicht nur als Vorgesetzte, obwohl auch eine gute Vorgesetzte schon Gold wert war. Die Britin war für alle ihre Untergebenen da gewesen, in jeder Lage, und das bedeutete viel.
Aber es war noch mehr als das. Wie sonst nur noch Imp und Sokol war Lightning in der Lage gewesen, Lilja zu verstehen, und nur diese drei hatten sie wirklich gekannt. Sie hatte sich nie der Illusion hingegeben, ihre Freunde und sie selbst seien vor dem Krieg gefeit. Zu oft hatte sie es bei anderen beobachtet, und zu Anfang des Krieges auch selbst erlebt, wie Menschen die man schätzte oder liebte in Sekundenbruchteilen aus dem Leben gerissen wurden. Und das Schicksal machte keine Unterschiede, wen es traf – es konnten die überleben, die man am meisten verabscheute, und die besten Kameraden fielen. Oder umgekehrt. Es gab keine Sicherheit außer der, dass es eben keine Sicherheit gab.

Freunde bedeuteten Lilja viel, wohl auch, weil sie nicht mehr viele davon hatte. Und jetzt hatten die Akarii ihr wieder einen genommen, für lange Zeit, wenn nicht gar für immer. Selbst wenn Lightning überlebte – sie wäre nicht die erste gewesen, bei der ein Teil der Persönlichkeit, und oft der beste, draußen geblieben wäre, in ihrem zerstörten Jäger. Wunden veränderten einen Menschen, und so mancher wurde nie mehr der oder die Alte. Lilja wäre freilich nie auf den Gedanken gekommen, dass es bei ihr im Grunde genau so gewesen war. Würde die Lightning, die diese Wunden überlebte – wenn sie es schaffte, wenn ihre Verletzungen geheilt werden konnten – noch die Frau sein, die sie vorher war? Oder würden Schmerz und Verstümmlung sie bis zur Unkenntlichkeit verändern? Bewusstlosigkeit bedeutete nicht immer nur tiefen, traumlosen Schlaf. Niemand wusste das besser als Lilja, die selber schon einmal Tage mit den Schrecken zu kämpfen gehabt hatte, die hinter ihren Augen, in ihrem Kopf lauerten.
Doch die Russin schalt sich sofort als selbstsüchtig. Was spielte es denn für eine Rolle ob Lightning jemals wieder mit ihr lachen würde, oder den Geschwaderklatsch durchkauen – ein Luxus, den sich Lilja nur selten gegönnt hatte und an den sie sich erst langsam hatte gewöhnen müssen. Wichtig war doch nur, ob Diane überlebte, ob sie mit ihrem Leben selber wieder glücklich wurde wie zuvor.
Sie hatte der Bewusstlosen versichert, sie würde auf die Staffel aufpassen – aber wie konnte sie so etwas versprechen? Der Krieg kümmerte sich nicht um Versprechen, und wenn der Würfel rollte, war das Ergebnis stets offen. Lilja wusste das, und sie wusste, dass dies auch ihrer Vorgesetzten stets klar gewesen war. Aber dennoch blieb immer die Frage, ob sie selber, Lilja, auch gut genug gewesen war und gut genug seien würde. Denn auch wenn viel vom Schicksal und Zufall abhing – ein falscher oder richtiger Befehl entschied ebenfalls über Leben und Tod, ebenso wie eine sichere Hand und ein scharfes Auge.
Lilja hätte so gerne noch einmal mit Lightning gesprochen, doch das ging nicht. Sie hatte ZU ihr gesprochen, aber das war natürlich kein Ersatz.

Mit einem tiefen Ausatmen trat Lilja vor und legte ihrer Vorgesetzten die Hand auf die Stirn. Die Haut fühlte sich merkwürdig kühl an. Dann beugte sie sich behutsam vor und küsste die Britin auf beide Wangen und auf den Mund – ein russischer Brauch, über den sich ihre Freundinnen immer ein wenig mokiert hatten. Für einen Augenblick erstarrte sie, als ein Muskel im Gesicht der Britin zuckte. Würde sie vielleicht doch für einen Augenblick aufwachen?
Aber nein, da war nichts. Lightning lag bewegungslos da, nicht wie tot, aber auch nicht wie lebendig. Nichts verriet, woran sie dachte, ob sie sich vielleicht bewusst war, wer gerade im Zimmer anwesend war. Liljas seufzte zitternd. Oh nein, nicht schon wieder Tränen…!
Beim Klang der Tür fuhr sie herum. Die Schwester stoppte angesichts des wilden Gesichtsausdrucks der Russin, doch dann trat sie ein, mit einer Routine, die nur langjährige Erfahrung verlieh.
„Ihre Besuchszeit ist vorbei, Lieutenant Commander.“ Sie zögerte, auch als Lilja scheinbar gehorsam nickte, ein letztes Mal die Bewusstlose berührte und sich umwandte.
„Wenn Sie mit dem Priester sprechen wollen…“ begann sie, aber ein Blick Liljas ließ sie verstummen.
Die Stimme der Russin klang nicht unfreundlich, aber entschieden: „Nein danke, Schwester…Benedetti.“ Sie ging zu dem Waschbecken im Zimmer. Wusch sich das Gesicht und trocknete es ab. Dann richtete sie sich auf, die Augen leicht zusammengekniffen, damit man nicht sehen konnte, dass sie geweint hatte.
„Ich komme auch so gut alleine klar.“
Und mit einem letzten Blick und einem stummen Versprechen an ihre Vorgesetzte verließ sie die Krankenstation. Sie schritt aufrecht und energisch aus, eine Offizierin, die ein festes Ziel und wenig Zeit hatte. Von Trauer oder Schmerz war in ihrem Gesicht nichts mehr zu bemerken.
Cattaneo
Cunningham

Fünf Tage waren seit der geschichtsträchtigen Schlacht vergangen.
In diesen wenigen Tagen hatten die Erdstreitkräfte sich neu formiert und alle Rettungskapseln aufgefischt, derer sie habhaft werden konnten.
Admiral Wulff hatte entschieden, einen der beiden Flottenversorger als Gefangenenschiff einzusetzen. Fast neunhundert Akarii hatte man gerettet.
Das Regiment von Colonel Hammersmith fand sich als Gefängniswärter wieder.
Eine Bemerkung seitens Lone Wolf in Richtung Gefängnisaufseher und Generalsstern hatte Hammersmith beredt wie eben ein Marine beantwortet.
Doch statt den Colonel zu melden, hatte Cunningham sich entschlossen, dass sich unter seinem linken Auge abzeichnende Veilchen sowie die neugierigen Blicke seiner Piloten und der Trägermannschaft zu ignorieren.
Es war fünfzehn Uhr Flottenzeit, da hatten sich die Piloten der Angry Angels im Aussichtsraum auf der Backbordseite des Trägers eingefunden.
Die Männer und Frauen von der Navy trugen ihre weiße Paradeuniform. Ebenso Wulff, die Offiziere ihres Stabes, Captain Waco und ein Großteil seiner Ressortoffiziere.
Auch die Master Chief Petty Officers Eric Dodson und Mario Atti und eine Abordnung der Bodencrew waren anwesend.
Die Ehrenwache der Marines, sieben Mann unter dem Befehl von Cliff Davis kleiner Schwester, die vier Mann starke Fahnenwache, welche die Geschwaderfahne und die Kriegsflagge der Columbia hielten, und der Trompeter trugen das dunkle, fast schwarze Blau der Marineinfanterie. Hosen in hellerem Blau mit rotem Zierstreifen. Rotgoldene Dienstgradabzeichen, eine weiße Schirmmütze. Schuhe und Waffen glänzten.
Eine Aura von Würde und Ehrerbietung ging von den Marines auf. Ehrfurcht, die kein lebender Navypilot jemals erhoffen durfte.
Die Gefallenen jedoch, die standen über jeder Erbfeindschaft.
Richard Schönberg begann die Trauerfeier:
„Vater unser, der Du bist das Weltall,
geheiligt werde Dein Name,
Dein Wille geschehe, auf all Deinen Welten
Unser täglich Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
denn Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit
Amen.“
Der Bordkaplan der Columbia trat vom Pult zurück und überließ den Rednerplatz Lucas. Der CAG der Angry Angels ließ seinen Blick über sein Geschwader blicken. Trotz des großartigen Sieges schien vielen seiner Piloten eine Apathie anzuhaften.
„Wir haben uns heute versammelt“, begann er in einem so geübten Tonfall, dass er für einen Außenstehenden fast einstudiert wirken musste, „um von unseren gefallenen Kameraden Abschied zu nehmen. Ihrem Leben zu gedenken, ihre Taten zu ehren und ihren Tod zu betrauern.
Es waren Männer und Frauen aus allen Winkeln unserer Nation: Von Manticore, von Sterntor, New Boston, Antigua, Callisto, Reins, Mars, Lunar und der Erde.
Sie kämpften in allen bedeutenden Schlachten dieses Krieges: Bei Jollahran, bei Graxon und Corsfield, bei Groshen, bei Velorha, bei Beta Borealis und hier in Tukama.”
Er pausierte kurz und befeuchtete sich die Lippen: “Es war nicht allein der Sieg, für den sie ihr Leben ließen. Nicht Ruhm, nicht Ehre. Ihr Streben lag vielmehr in der Freiheit unserer Nation und der Zukunft all derjenigen, die nach uns kommen.
So soll uns ihr Verlust nicht schwächen. Oder uns gar brechen. Vielmehr soll er unseren Mut festigen und unsere Entschlossenheit, das zu verteidigen, was uns allen lieb und teuer ist.
Wofür unsere Freunde und Kameraden ihr Leben ließen.”
Dann hob er die Stimme etwas: “Und so erhob ich mich auf den Schwingen der Gerechtigkeit und flog durch den Himmel, bis hinauf ans Firmament. Um dort als Stern zu strahlen und den Weg zu weisen, bis zum Sieg.”
Lucas atmete tief durch und die junge Davis ergriff das Wort: “Ehrenwachen: PRÄsentiert das GEWEHR!”
Die bewaffnete Ehrenwache und die beiden bewaffneten der Fahnenwache brachten Ihre Sturmgewehre mit den blitzenden Bajonetten in Präsentiert-Stellung. Jean selbst hob ihren Paradesäbel zum Salut.
Das Geschwader nahm Haltung an und legte die rechte Hand zum Salut an den Mützenschirm.
Der Trompeter blies den Zapfenstreich, während Lucas die Liste der Gefallenen der letzten Schlacht verlas. Es waren mehr Namen als erhofft und doch gleichzeitig weniger als befürchtet.
Als Lucas endete, endete auch der Trompeter.
Den Platz am Rednerpult übernahm jetzt wieder Commander Schönberg: “Wir übergeben die sterblichen Überreste unserer Kameraden dem immerwährenden All, in der Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben. Wir kamen von den Sternen, zu den Sternen kehren wir zurück.”
Die Särge derjenigen Piloten, die man tot aus dem All geborgen hatte, wurden ausgestoßen. Von der Konserve erklangen einundzwanzig Salutschüsse abgespielt.
„Geschwader wegtreten.”
Die Versammlung löste sich auf und Lucas hechtete fast vom Pult weg: “Lilja, könnte ich Sie sprechen?”
Die Russin wirkte ausgemergelt und abgekämpft. Die Narben auf ihrem Gesicht waren noch deutlicher zu sehen als sonst. Selbst dem emotionell kältestem Wesen, in diesem Fall Skunk, wurde bei ihrem Anblick klar, dass das letzte Gefecht die Pilotin schwer mitgenommen hatte.
“Ja Sir, natürlich.” Sie richtete die Schultern auf.
Der CAG führte sie zu den großen Fenstern der Galerie.
“Sie werden die grüne Schwadron übernehmen Lilja, dauerhaft.” Lucas blickte den Särgen nach, die sich langsam von der im All liegenden Columbia entfernten. Lightning war nicht beerdigt wurden. Nein, Diane Parker hatte überlebt. Jedoch würden ihre Heilung und anschließende Rekonvaleszenz Monate in Anspruch nehmen.
„Sir ...”
Lucas wandte sich vom Fenster ab und unterbrach die Russin dadurch, dass er sie ins Auge fasste: „Lightning wird für eine lange Zeit nicht fliegen können. Wenn sie wieder in den Flugdienst eintritt ...” Wenn? Wäre ein falls nicht angebrachter? „... also, wenn sie wieder flugfähig ist, wird sie wahrscheinlich einem dann in Aufbau befindlichen Geschwader zugeteilt. Oder einem Geschwader, welches gerade Bedarf hat. Jedenfalls wird die grüne Staffel dann nicht mehr Lightnings Staffel sein. Sie waren ihre Stellvertreterin, nun ist es Ihr Haufen.”
Die Schultern der Russin bebten und sie setzte zweimal zum Sprechen an, ehe sie einen Ton raus brachte: “Sir, ... die Erfahrungen ...” Sie deutete nach draußen ins All. “Meine Leute, ... vor allem ich, wir konnten die Bomber nicht richtig beschützen ...”
„Tatjana, Tanja”, Lucas wurde sich gewahr, dass er sie wohl zum ersten mal mit Vornamen ansprach, “die Bomber sind durchgekommen und konnten ihren Angriff fliegen. Niemand hat damit gerechnet, dass dies ohne Verlust abläuft. Solche Annahmen sind utopisch. Kein militärischer Erfolg ist garantiert, egal, was in der Etappe erzählt wird.
Es gibt keine Erfolgsgarantie, jedes Mal werden Leute nicht zurückkehren. So sehr man sich auch anstrengt, sie selbst antreibt, irgendwer wird immer sterben.”
Er versuchte ein Lächeln zustande zu bringen: “Sehen Sie mich an.” Er ergriff ihre Schultern, die immer noch zitterten. “Sie sind eine gute Pilotin und eine noch bessere Offizierin. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie auch eine ausgezeichnete Staffelkommandantin sein werden. Sie holen das Beste aus Ihren Leuten raus, Sie fühlen mit ihnen und Sie übernehmen persönliche Verantwortung und haben dabei noch nie die große Wahrheit des Krieges vergessen. Krieg ist grausam und im Krieg müssen unbequeme Entscheidungen getroffen werden. Das beides wissen Sie und dazu sind Sie fähig. Außerdem brauchen Ihre Piloten Sie jetzt dringender den je. Wir haben ordentlich Federn lassen müssen. Wir können jetzt jeden guten Offizier gebrauchen.”
Lilja nickte: “Ich verstehe Sir, ich werde mein Bestes geben. Ich werden Sie nicht enttäuschen.”
„Ich weiß. Danke sehr.” Lucas wollte sich schon abwenden.
„Sir?”
„Ja?”
Lilja berührte bei sich im Gesicht die Stelle, die sich bei Cunningham bläulich verfärbt hatte: “Ich will nicht neugierig oder so erscheinen ...”
Der CAG verzog das Gesicht zu einem Grinsen, dass ihm die Stelle schmerzte: “Colonel Hammersmith hat mir nur zu der exzellenten Leistung meines Geschwaders gratuliert.”
Cattaneo
Ace

Der folgende Text ist der rohe Mitschnitt eines Interviews, welches Christian ,Chip' Harris, der fliegende Außenreporter der New Boston Gazette, nach der Schlacht von Tukama mit dem Piloten und dem Bordschützen der Thundertbolt-Maschine abgehalten hat, die Großadmiral Jor abgeschossen hatten.
,Chip' Harris, Stellvertretender Staffelführer der blauen Staffel der Angry Angels, wird fortan mit NBT abgekürzt, der Pilot der Thunderbolt, Thomas ,Trash' Brody mit TTB und der RIO Loic ,Ferret' Dupree mit LFD.

NBT: Ich sitze hier zwanzig Stunden nach der Schlacht von Tukama mit der Besatzung der Thunderbolt zusammen, die den legendären Piloten und Kriegstreiber – entschuldigt meine Wortwahl – Jor abgeschossen haben. Trash, Ferret, was ist das für ein Gefühl?
TTB: Gefühl? Ich könnte jauchzen vor Freude. Weißt du, einer meiner besten Freunde ist damals gefallen, als die Akarii uns Manticore abgenommen haben. Dass wir Jor nun in die Echsenhölle geschickt haben, ist ausgleichende Gerechtigkeit.
LFD: Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt etwas fühle. Ich dachte eigentlich, wenn wir Jor killen, hört dieser verdammte Krieg auf, als würde jemand einen Schalter umlegen. Aber davon sehe ich irgendwie noch nichts.
NBT: *räuspert sich* Nun, daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig. Es waren wohl nicht zuletzt meine Artikel, die diese falsche Erwartung erzeugt haben. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen.
TTB: *lacht* Jeder macht mal Fehler. Und jeder der denken kann, muss doch wissen, dass es nicht damit gegessen ist, Jor zu töten. Ein wenig mehr müssen wir schon tun.
LFD: Du hast leicht reden.
TTB: Mecker nicht. Du hast Jor abgeschossen. Freue dich lieber drüber.
NBT: Was uns wieder zum Thema bringt. Der Abschuss wurde eurer Thunderbolt zugesprochen, und der CAG hat gestattet, dass die Abschussmarkierung mit einem goldenen Stern umrandet wird, um die Bedeutung dieses Abschusses hervor zu heben. Trash, Ferret, befürchtet ihr jetzt nicht, das bevorzugte Angriffsziel feindlicher Akarii-Jäger zu werden?
TTB: *runzelt die Stirn* Du meinst, mehr als ohnehin schon?
LFD: Chip, wir fliegen eine Thunderbolt! Unsere Hauptaufgabe ist es nicht, uns mit feindlichen Jägern anzulegen, wir haben es auf die großen Pötte abgesehen. Und wir kriegen immer Prügel, wenn es die Roten und die Schwarzen nicht schaffen, uns den Weg frei zu räumen. Dass die Thunder-B auch über Raumüberlegenheitseigenschaften verfügt, ist da eher zweitrangig, weil unsere Raketenbewaffnung fast immer auf Schiffskampf ausgelegt ist.
NBT: Apropos Schiffskampf. Abgesehen von Prinz Jor zieren drei weitere Abschussmarkierungen, die für Jäger stehen, euren Rumpf. Wie aber sieht es mit Kampfschiffen aus? Ihr seid ja schon lange keine grünen Jungs mehr.
TTB: *lacht* Okay, wir sind nicht die großen Stars wie Raven, Razor, Lone Wolf oder Lightning. Und wir sind auch keine der halb berühmt und halb berüchtigten Piloten wie Skunk oder Ohka. Und wir sind auch nicht wieder von den Toten auferstanden wie Ace. Aber wir machen unseren Job, und der ist hart genug.
LFD: Wenn wir unsere Raketen auf ein Dünn- oder Dickschiff abschießen, dann macht es die Masse, nicht der einzelne Schuss. Als die Bronzestaffel die KORAX geknackt haben, waren sechzig atomar bestückte Maverick-Raketen auf dem Marsch. Wir hatten den Kahn auf drei von sechs Ebenen eingekeilt, und die Hälfte unserer Schätzchen haben es geschafft. Dabei jemanden zu finden, der den Fangschuss abgegeben hat, ist etwas schwierig.
TTB: Zugegeben. Aber es kommt vor. Wenn es üblich wäre, auch für ein Schiff eine Silhouette aufzumalen, dann hätten wir... Hilf mir mal, Loic.
LFD: Du und dein Gedächtnis. Wenn wir die Schiffe aufmalen dürften, dann hätten wir schon eine Korvettensilhouette, einen Leichten Kreuzer und drei Frachter auf der Seite. Und wenn die Unterstützung aufgezeigt werden würde, müssten wir auf dem Flügel weiter malen. Es ist ein langer Krieg, und die Jagdbomber und Bomber der Angry Angels haben einen blutigen Job getan.
TTB: Wie ich schon sagte, wir machen einen Knochenjob. Aber einen erfolgreichen Knochenjob. Es sind meistens wir, die die Dickschiffe aus dem Rennen werfen. Und glaub mir, Chip, Bronze, Silber und Gold haben alleine schon ein Geschwader an Feindschiffen vernichtet. Auch wenn man immer nur die Jäger und ihre Abschussmarkierungen sieht, eigentlich müsste man uns Bombern und JaBos mehr Aufmerksamkeit schenken, weil wir das Zwanzigfache an Tonnage vernichtet haben. Aber man wird eben nicht berühmt, wenn man eine Thunderbolt fliegt. *seufzt*
NBT: Das hört sich etwas frustriert an, Trash.
LFD: Thomas hat ein Aufmerksamkeitsdefizit. Wenn er nicht alle fünf Minuten hochgejubelt wird, bekommt er depressive Anfälle. *wehrt einen gespielten Schlag von Trash ab*
TTB: Ist doch wahr. Würdest du mit uns dieses Interview führen, wenn wir der KORAX den Fangschuss verpasst hätten, Chip? Eher nicht, oder? Und angenommen, eines der Asse hätte Jor erwischt, Lone Wolf, Monty, Lightning oder meinetwegen Skunk, dann wäre er jetzt schon auf einem Kurierschiff auf dem Weg nach Hause, um seine Konfettiparade in Berlin zu kriegen.
NBT: Nun, ich würde dieses Interview gar nicht führen, wenn es nicht eine Thunderbolt gewesen wäre, die sich Jor geschnappt hat. Bei den Jägerpiloten hätte ich es eher als Selbstverständlichkeit angesehen. Bei euch hingegen ist es eine außerordentliche Leistung. Immerhin habt ihr die feindlichen Dickschiffe bombardiert und wart schon auf dem Heimflug. Ihr habt Jor nur mit den Bordwaffen zerlegt und Lone Wolf damit den Hintern gerettet, oder?
TTB: Die Echse hatte zwei Asse dabei, und der CAG war echt in Bedrängnis. Es war ja nicht so, als hätten wir uns Jor gezielt geschnappt. Er war halt der erste, der uns vors Visier gelaufen ist, als wir zur Hilfe eingeschwenkt sind. Wir sind ja keine Abstauber oder so.
LFD: Dass es nun ausgerechnet Jor war, den wir aus dem All geputzt hatten, war ja das eigentliche Wunder. Das haben wir erst später registriert, sehr viel später. In dem Moment war es für uns erstmal nur wichtig, dass wir den CAG aus der Scheiße raus gehauen haben. Hey, und jetzt sitzen wir hier und geben ein Interview. Wo wird das überall erscheinen? Nur auf New Boston?
NBT: Nein, nicht unbedingt. Meine Kolumne wird grundsätzlich in die restliche Republik weiter verkauft. Über euch wird man also auch auf Terra lesen.
LFD: *unruhig* Denkst du, New Antigua hat auch eine Zeitung, die deine Kolumne bringen wird?
NBT: Sicherlich, Ferret. Du wirst berühmt sein, wenn du wieder nach Hause kommst.
LFD: *sarkastisch* Für die Versenkung von dreiundachtzigtausend Registertonnen Kriegsschiffe, oder für den Abschuss von Jor?
TTB: Für die Ehre, im Geschwader der Angry Angels mitgeflogen zu sein.
LFD: *schnaubt amüsiert*
NBT: Wie haben es eure Kameraden aufgenommen? Wie die anderen Piloten? Hat euch schon einer Prügel angedroht, weil ihr Jor vor ihnen abgeschossen habt?
TTB: Wir können nicht sagen, dass alle damit glücklich sind, dass es eine Thunderbolt war, die den Kriegstreiber ins Vakuum geputzt hat. Aber die meisten sind eher froh darüber, dass es überhaupt einer getan hat.
LFD: Der CAG meinte, er hätte Jor gerne selbst abgeschossen, aber überleben wäre ihm lieber, also ist es in Ordnung.
NBT: Zusammengefasst: Ihr wart zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und dann habt ihr das Richtige getan.
TTB: *stolz* Und deshalb haben wir jetzt eine Abschussmarkierung mit Goldumrandung auf der Maschine.
LFD: *lacht* Für ’nen Bronce Star reicht es wohl nicht, aber es ist eine Sorge weniger für die Republik.
NBT: Und darauf kommt es wohl letztendlich an. Gute Arbeit, Jungs. Ich hoffe, wir werden noch mehr von euch hören.
TTB: Wir geben uns immer Mühe, Chip.
LFD: Auch wenn du uns nicht noch einmal interviewen solltest, weil uns nichts Spektakuläres mehr gelingt, wir machen unseren Job als Arbeitstier des Geschwaders.
NBT: Das war gut formuliert. Und ich bin sicher, meine Leser werden eure Einstellung honorieren. Danke für das Gespräch.
TTB: Wir danken dir, Chip.
LFD: Und du meinst wirklich, das Interview bringt auch eine Zeitung auf New Antigua?
Cattaneo
Tyr

Auch wenn Kano Nakakura übermüdet und immer noch von dem sinnlosen Unfalltod Montys geschockt gewesen war, er hatte Commander Cunningham dennoch vorschriftsmäßig gegrüßt, wie immer. Und auch wenn er angesichts des immer noch im Hangar herrschenden Chaos und des Hämmern in seinen eigenen Schläfen Schwierigkeiten hatte, Lone Wolfs Worte zu verstehen, er würde sie bestimmt nicht vergessen.
„Sie haben es nicht geschafft. Verdammte Scheiße. Nakakura, Sie übernehmen fürs Erste Montys Posten als Staffel-XO.“
Kano hatte sich im Laufe der Jahre einen gewissen Ruf als kaltblütiger Flieger erworben, aber die Leichtigkeit, mit der sein Vorgesetzter von einem kurzen Nachruf zur Tagesordnung überging, schockierte sogar ihn. Lone Wolf war dafür bekannt, dass er nicht zu Gefühlsäußerungen neigte, aber immerhin hatte er mit Monty seit Jahren zusammengearbeitet. Aber natürlich äußerte sich der japanische Pilot nicht dazu – das stand ihm seiner Meinung auch gar nicht zu. Also antwortete er, wie es sich gehörte:
„Sir.“
„Natürlich bleiben Sie erst mal Lieutenant. Feldbeförderungen muss man sich verdienen. Also zeigen Sie, was in Ihnen steckt. Monty schien zu meinen, dass Sie Potential für den Posten haben. Enttäuschen Sie ihn nicht. Und enttäuschen Sie auch mich nicht. Wenn ich zu dem Schluss kommen müsste, dass diese Aufgabe zu viel für Sie ist, dann…“ Kano verstand, was Cunningham damit andeutete.
Der Geschwaderkommandant kannte seine Untergebenen inzwischen ziemlich gut. Vor allem diejenigen, die es tatsächlich geschafft hatten, seit Kriegsbeginn dabei zu bleiben. Kano war seit der zweiten Feindfahrt Mitglied der Angry Angels. Er war mehrmals abgeschossen und verwundet worden, aber er hatte überlebt und gehörte inzwischen zu den Spitzenassen des Geschwaders. Wäre er nicht vor allem Flieger und nur in zweiter Linie Offizier gewesen, und hätte er nicht ein paar fragwürdige Einträge in seiner Akte angesammelt, er wäre wahrscheinlich schon früher befördert worden. Aber im Laufe der Zeit war er erwachsener geworden, hatte sich aber gleichzeitig sein Pflichtgefühl und eine manchmal schon beunruhigende Einsatzbereitschaft und Todesverachtung erhalten. Im Gegensatz zu anderen Feldbeförderungen, denen Cunningham vielleicht ein paar aufmunternde Worte auf den Weg gegeben hätte, war es bei Kano effektiver, ihn bei seiner Ehre zu packen. Jetzt würde der Pilot buchstäblich ALLES tun, um Cunninghams Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Und das war gut so, denn Cunningham sah sich nach den Verlusten und Schäden der Schlacht vor einem Berg von Aufgaben und Problemen. Er konnte sich nicht auch noch gleichzeitig um seine Staffel kümmern. Und da Darkness nicht mehr an Bord und Monty tot war, musste jemand anderes das übernehmen: „In vier Stunden müssen zwei unserer Nighthawk wieder raus. Ermöglichen Sie das. Machen Sie Druck bei den Wartungscrews. Stellen Sie fest, wie schnell wir die beschädigten Maschinen wieder einsatzfähig sein können. Und…“ So ging es weiter.

Kano hatte sich diese Beförderung schon lange Zeit gewünscht. Allerdings nicht so. Über Montys Leiche den Posten zu erhalten…
Außerdem war seine Beförderung nur provisorisch. Kano wusste genau, was das bedeutete. Er musste sich bewähren, oder er konnte sehr rasch wieder zurückgestuft werden. Und das wäre noch schlimmer, als den Posten überhaupt nicht zu bekommen. Auch wenn momentan niemand in der Staffel erfahrener war als er, abgesehen von Lone Wolf selber, er durfte sich nicht zu sicher fühlen. Irgendwann würden sie wieder Ersatzpiloten bekommen. Selbst die bei der Ausbildung von Nachwuchspiloten notorisch schwerfällige und zu halbherzig vorgehende TSN würde nicht ausgerechnet eines ihrer Elitegeschwader vergessen.
XO in der Schwarzen Staffel zu sein, der Schwadron des Geschwaderchefs, das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum eigenen Kommando. Denn als Geschwaderchef überließ Cunningham seinem Schwadronstellvertreter in der Regel den Großteil der Staffelführung. Die meisten XO’s von Lone Wolf hatten bereits als Lieutenant Commander den Posten übernommen, oder waren schnell befördert worden. Monty hatte sogar seinen alten Rang zurück erhalten, und es war weitaus schwerer, zum zweiten Mal Lieutenant Commander zu werden, als beim ersten Mal. Degradierte Offiziere hatten immer einen besonders schweren Stand. Darkness führte inzwischen sein eigenes Geschwader, und sogar Skunk war Staffelchef geworden. Natürlich, Skunk hatte auch Beziehungen. Die einzige Beförderung, die dieser Typ jemals aus eigener Kraft geschafft hätte, wäre die zum Angeklagten eines Kriegsgerichts oder zumindest Ehrengerichts gewesen.
Und war Kano erst einmal Lieutenant Commander…
‚Eins nach dem Anderen’. Erst einmal würde er dafür sorgen müssen, dass er XO blieb. Alles Weitere würde sich finden.
Die Schwarze Schwadron war schwer zusammengeschlagen worden. Von zwölf Einsatz- und vier Ersatzmaschinen waren den Butcher Bears gerade noch vier voll einsatzfähige Nighthawk geblieben, zwei weitere Maschinen waren beschädigt geborgen worden.
Drei Piloten waren permanent ausgefallen – Goliath verschollen, Monty und Renegade tot – und ein Pilot schwer verwundet worden. Effektiv bedeutete das, die Butcher Bears hatten nur noch ein Drittel bis die Hälfte ihrer alten Einsatzstärke. Bei manchen der anderen Staffeln sah es nicht besser aus. Es würde für die Angry Angels schwer werden, die Späh- und Sicherungspatrouillen in der alten Stärke durchzuführen. Für die nächste Woche würden auf jede einsatzfähige Nighthawk der Schwarzen Staffel zwei Piloten kommen.‚Nun ja, dann haben wir wenigstens keine Probleme mit Übermüdung.’ dachte Kano zynisch und unterdrückte ein Gähnen. Obwohl seit der Schlacht inzwischen fast fünfzig Stunden vergangen waren, hatte er nur wenig Zeit zum Schlafen gefunden.
Die Schäden mussten festgestellt und bei den Reparatureinheiten Druck gemacht werden. Selbstverständlich hatte er es sich auch nicht nehmen lassen, an den angesetzten Patrouillenflügen teilzunehmen. Die Angry Angels bildeten immer noch die äußerste Verteidigungslinie des Trägerverbandes.
Zu den Einsatzpatrouillen kamen Spähflüge durch das Trümmerfeld der Schlacht. Mit Sensorpods bestückte Jäger suchten nach Überlebenden. Die Luftreserven in den Rettungskapseln der Menschen und der Akarii reichten je nach Bauarbeit und Belegung zwischen zwölf Stunden und sechs Tagen. Solange auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass da draußen noch jemand am Leben war, wurde weitergesucht. Und sie suchten nach SSM-Blindgängern, Minen und Raketenminen. Keiner wollte, dass diese Überreste der Schlacht noch weitere Opfer fordern konnten. Es hatte genug tote Soldaten der TSN und des TSMC, des Terran Space Marines Corps, gegeben. Es wurden immer noch mehr. Die Toten der Akarii hatte keiner gezählt. Auf jeden Fall gingen sie in die Tausende.

Je länger sie in diesem System blieben, umso mehr stiegen Anspannung und Nervosität. Die fliehenden Akarii hatten todsicher gefunkt – und keiner der Piloten wusste genau, wie die Echsen auf die Nachricht von Jors Tod reagieren würden. Nur die wenigen Optimisten an Bord tippten auf die baldige Unterbreitung eines akzeptablen Friedensangebotes. Andere rechneten eher damit, dass die Akarii jetzt Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, um sich für diese Niederlage zu revanchieren. Und dabei würde es todsicher ein guter Anfang sein, wenn die Akarii endlich die Angry Angels vernichten würden, das ‚Geschwader der Entscheidungsschlachten’. Immerhin waren sie weit hinter den feindlichen Linien. Viel weiter, als etwa die alte Redemption jemals vorgestoßen war. Und sie wussten alle, wie DAS geendet hatte.
Der Kamikaze-Angriff der feindlichen Bomber und Jabos war ein bitterer Vorgeschmack darauf gewesen, wozu die Akarii fähig sein mochten, wenn man sie mit dem Rücken zur Wand in die Enge trieb.
Einige Besatzungsmitglieder beklagten nur halb im Spaß, dass mit Jors Tod die Republik einen unfreiwilligen Verbündeten verloren hätte. Spätestens seit der Niederlage über Graxon und Corsfield war Jors ‚Ansehen’ in der TSN, falls er je so etwas gehabt hatte, bei nicht wenigen Menschen stetig gesunken. Und sogar in der Republik kursierten inzwischen Gerüchte darüber, dass es in der Akarii-Führung Kräfte geben sollte, die Jor schon vor Jahren am liebsten von jeder Entscheidungskompetenz abgeschnitten hätten.

Aber all das kümmerte Kano momentan nicht besonders. Weitaus häufiger kreisten seine Gedanken um eine bestimmte Pilotin auf der Krankenstation der Columbia, die erst vor ein paar Stunden aus dem künstlichen Koma erwacht war.
Als er das erste Mal gelandet war, nach einigen Stunden im ‚Parkorbit’ um die Columbia, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte er kaum Zeit gehabt, sich umzuhören. Er hatte nur soviel mitbekommen, dass Helen abgeschossen worden war, aber hatte aussteigen können. Dann kam die ‚Feldbeförderung’ zum XO der Schwarzen Staffel. Da Cunningham Wichtigeres zu tun hatte, war die ganze ‚Nacharbeit’ für seine Staffel an Kano hängen geblieben. Und das war einiges gewesen. Die Erfolge und der Einsatzstand der Piloten musste ermittelt und die Gefechtsberichte abgeglichen werden. Dann ging es noch um die Frage, welche der Maschinen noch einsatzfähig war und wie lange eventuelle Nachrüstungen und Reparaturen dauern würden. Anschließend musste der Bereitschaftsstand mit den Einsatzkapazitäten der anderen Staffeln abgeglichen werden, damit ein realistischer Einsatzplan für die nächste Zeit erarbeitet werden konnte. Und dann war da noch der verheerende Unfall von Renegade und Monty. Besonders der Tod des Staffel-XO war für viele ein Schock gewesen, aber natürlich mussten die genauen Umstände dieses Debakels genauer untersucht werden. Der Sicherheitsdienst und die technische Abteilung wollten detaillierte Berichte, und das schloss Aussagen aller Staffelmitglieder mit ein. Dieses Begehren mit den längst überfälligen Ruhezeiten und den nächsten Einsätzen zu koordinieren war ebenfalls Kanos Aufgabe gewesen.

Irgendwann hatte er dann endlich Zeit gefunden, sich wenigstens für ein paar Stunden hinzulegen. Als er aufwachte, war es noch eine halbe Stunde bis zu seinem nächsten Einsatzflug. Er hätte das auch delegieren können, aber darin war er noch nie gut gewesen. Die halbe Stunde hatte gereicht, um zu erfahren, dass Helen offenbar doch schwerer verwundet worden war, als er gedacht hatte. Mit diesem Wissen hatte er starten und fliegen müssen. Es war verdammt schwer geworden, sich voll auf seinen Einsatz zu konzentrieren, aber er hatte es geschafft. Als er nach zwei Stunden wieder gelandet war, hatte er etwas mehr in Erfahrung bringen können. Helen schwebte offensichtlich nicht mehr in Lebensgefahr, aber sie hatte beinahe ihren Arm verloren.
Bei seiner ersten Feindfahrt, noch auf der alten Redemption, war Kano auch einmal schwer verwundet worden. Damals wäre er beinahe im Cockpit seines Jägers verblutet. Aber als er jetzt zur Krankenstation kam, hatte man ihm nur mitteilen können, dass Kali immer noch im künstlichen Koma lag. Ja, sie würde wieder gesund werden und keine bleibenden Schäden davontragen. Nein, er könne momentan nicht zu ihr. Eine der Schwestern hatte ihm ziemlich unverblümt geraten, dem medizinischen Personal nicht länger im Wege zu stehen. Es kamen immer noch Verwundete rein, auch weil die Krankenstation der Columbia die größte und wohl auch modernste in der ganzen Flotte war. Die Träger erhielten immer die neusten Geräte und das beste Material.
Danach hatte ihn wieder seine neue Aufgabe voll in Anspruch genommen, und er hatte es sich ganz einfach nicht leisten können, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren. Ein weiterer Patrouilleflug, ein Suchauftrag und seine eigene Befragung durch den Sicherheitsdienst hatten ihn zusätzlich gefordert. Natürlich hatten die Sicherheitsleute von den früheren Spannungen zwischen Kano und Renegade gewusst. Derartige Andeutungen hatte er mit dem Hinweis gekontert, dass der pandoranische Pilot mit praktisch jedem Mitglied der Staffel Streit gehabt hatte. Als der Sicherheitsdienst dann aber Fragen über seine Angewohnheit zu stellen begann, an seiner eigenen Maschine zu arbeiten, und aus Kano nicht ganz nachvollziehbaren Gründen auch noch einige mehrere Jahre alten Einträge in seiner Dienstakte erwähnte, hatte er nur mit Mühe den Drang unterdrücken können, laut zu werden. Aber offenbar fischten die ‚Schlapphüte’ einfach nach dem Prinzip Hoffnung in der Vergangenheit und der Gerüchteküche des Geschwaders, um zu sehen, was dabei ans Tagelicht kam.
Für Kano war Montys und Renegades Tod ein Unfall gewesen, und das hatte er auch gesagt. Landungen unter Zeitdruck, dazu noch mit beschädigten Maschinen und dem Adrenalin der Schlacht im Blut, waren eine riskante Sache. Eigentlich war es ein Wunder, dass es nicht häufiger zu schweren Unfällen kam. Materialprobleme und Pilotenfehler, besonders im Fall von Renegade, waren für Kano eine wahrscheinlichere Unfallursache, als das wieder heraufbeschworene Schreckgespenst des ‚Phantoms’, das während der zwei ersten Feindfahrten der Angry Angels auf der Redemption angeblich sein Unwesen getrieben hatte.
Schließlich hatte man ihn natürlich laufen lassen.

Und jetzt, endlich, war er hier.
„Sie schon wieder.“ Die Schwester klang nicht besonders freundlich.
„Kann ich zu ihr?“
„Aber nur kurz. Sie braucht Ruhe. Und es geht hier sowieso zu wie in einem Taubenschlag. Das ist eine Krankenstation und kein Raumhafenterminal.“
Aber endlich erbarmte sie sich und ließ ihn passieren. Seine Schritte waren fast lautlos, als er den Raum betrat, und auch die Tür glitt nahezu geräuschlos auf, dennoch hob Kali den Kopf von Kissen. Ein etwas mühsames Lächeln erschien auf ihren Lippen: „Da bist du ja.“
„Hallo Helen. Du siehst gut aus.“ Aber das stimmte nicht. Sie war nur mit knapper Not dem Tod entkommen, dass wussten sie beide, und sie sah dementsprechend aus. Ihre dunkle Haut wirkte ungewöhnlich hell, und in ihren Augen konnte Kano die Schmerzen und den Schock erkennen, die auch nach fünfzig Stunden noch nicht völlig abgeklungen waren. Sie mochte versuchen das zu verbergen, aber Kano war ebenfalls ein Mensch, der seine Gefühle oft zu kaschieren wusste, und deshalb erkannte er die Zeichen, die er sah. Allerdings erkannte sie offenbar ebenfalls, dass er log.
„Lügner.“ Sie drehte leicht den Kopf und sah zu, wie er sich einen Stuhl heranzog und sich an ihre rechte Seite setzte. So konnte er diejenige ihrer Hände ergreifen, in der sie momentan noch etwas fühlen konnte: „Du siehst jedenfalls ziemlich fertig aus.“
„Zu tun, zu tun…“
„Hast du schon einen Stellvertreter rekrutiert? Ace sagte…“
Kano schüttelte knapp den Kopf, und grinste dabei dünn: „Da hat er etwas falsch verstanden. Das könnte ich vielleicht machen, wenn ich den Posten sicher hätte. Wenn ich ein Lieutenant Commander wäre. Aber Lone Wolf hat sehr deutlich gemacht, dass ich mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhen soll. Und was würde das für einen Eindruck machen, wenn ich mir zuerst jemanden rauspicke, auf den ich meine Pflichten abwälzen kann? Das wäre das falsche Zeichen. Ich muss beweisen, dass ich es selber schaffen kann. Dass ich fähig und willens bin, XO zu sein. Außerdem…wir haben momentan acht einsatzfähige Piloten. Und vier Maschinen. Wenn wir Glück haben irgendwann mal wieder sechs. Aber das ist alles, bis wir wieder die eigenen Linien erreicht haben. Jetzt noch einen Vize für den Vize zu bestimmen… Parker nannte das, glaube ich, einen Wasserkopf.“
Helen grinste kurz: „Deine Ausdrucksweise lässt nach. Aber du hast Recht, das würde sie. Es hat euch ganz schön erwischt.“
Kano nickte: „Ja. Ausgerechnet Monty.“
Helen wusste, was er meinte. Miguel ‚Monty’ Terrano war schon vor dem Beginn des Akarii-Krieges ein Veteran gewesen. Anspruchsvoll, ehrgeizig, streng und gleichzeitig zurückhaltend und unnahbar war er gewesen, und keiner der Piloten konnte sich erinnern, ihn einmal gelöst, kameradschaftlich, freundlich erlebt zu haben. Aber er hatte sich um seine Untergebenen gekümmert, war immer bereit gewesen, genauso viel zu leisten, wie er von anderen forderte. Und so etwas wie Angst schien er nicht zu kennen. Er war nicht beliebt gewesen, aber er war verlässlich gewesen, ein kleiner, nicht sehr ansehnlicher Stein in der Brandung des Krieges, aber eben ein Stein. Wie manch anderer, hatte er zu der Sorte von Männern gehört, von denen man erwartete, dass sie den Krieg überleben würden. Ganz einfach deswegen, weil sie es niemals erlauben würden, sich von so etwas wie dem Gegner oder gar einem trivialen Unfall von ihrem Ziel abbringen zu lassen. Wenn es aber schon Monty erwischen konnte…
Aber keiner von ihnen sprach diese Gedanken aus. Das war auch nicht nötig. „Wie lange müssen sie dich hier behalten, Helen?“
Sie hätte am liebsten mit den Schultern gezuckt. Aus Rücksicht auf ihren geschienten und verbundenen linken Arm unterließ sie es aber: „Ein paar Wochen mindestens. Wahrscheinlich mehr. Bis dahin sind wir wahrscheinlich schon wieder längst zu Hause.“ Trotzdem sie momentan nicht in dem besten Zustand war, entging ihr doch nicht das kurze Zucken in Kanos Gesicht: „Was ist los?“
„Es ist nichts.“
„Hör mal, so kannst du mich nicht abspeisen. Wenn ich mich schon aus der Maschine schießen lasse, dann kannst du wenigstens jetzt mal etwas ehrlicher mit mir sein.“
„Ich lüge dich nicht an.“
„Das habe ich auch nicht gesagt. Und du weichst mir schon wieder aus.“
Kano gab auf: „Schon gut. Es ist nur…ein Gefühl. Wir haben den Akarii diesmal wirklich genug Grund gegeben, nach Vergeltung zu sinnen. Und das mehrmals. Wenn es in diesem Sektor noch einen Akarii-Befehlshaber geben sollte, der nicht von uns gehört hat, dann muss der unter einem Felsen leben...“ Er spielte unter anderem auf die Aktion über T’rr an. Sie wusste, was er meinte, auch wenn er nicht deutlicher wurde.
„…und ich kann einfach nicht glauben, dass wir jetzt ganz einfach und problemlos von hier verschwinden können. Soviel Karma hat keiner von uns noch übrig.“
„Sag bloß, du glaubst an so etwas?“
„Nein, eigentlich nicht. Aber wenn wir es ohne Verzögerungen und ernsthafte Probleme bis zu unseren Linien zurückschaffen, dann wäre das für die Angry Angels wirklich ein denkwürdiges Ereignis.“
Diesmal war er es, der sie nicht täuschen konnte. Sie erkannte, was hinter seinem fast leichtfertigen Tonfall verborgen war. Kano hatte keine Angst, oder aber er verbarg sie gut. Aber er war beunruhigt. Wie viele Jagdflieger, einschließlich Kali, war er nicht bereit, Ahnungen und dergleichen einfach als Hirngespinste abzuhaken. Zu häufig hatten sich solche Ahnungen im Nachhinein als wahr erwiesen. Wenn einen nur Sekunden vom Tod trennten, wurde man zwangsläufig empfänglicher für die Warnungen des Unterbewusstseins. Deshalb waren die Mitglieder der Raumstreitkräfte auch so empfänglich für Gespenstergeschichten und Aberglauben.
„Sehr beruhigend.“ knurrte Kali. Aber wen er ihr nicht gesagt hätte, was ihn beschäftigte, wäre sie wahrscheinlich ernstlich sauer geworden.
„Weißt du übrigens, wie wir die leeren Hangarbuchten aufgefüllt haben?“
„Mit eingefrorenen Akariis?“ Dieser Witz war ziemlich alt und ging noch auf die erste Feindfahrt der Redemption zurück. Viele Piloten der Angry Angels wussten gar nicht, worauf damit angespielt wurde. Es waren nur noch wenige Piloten an Bord, die sich daran erinnerten, wie die Angry Angels ein Marinekommando eskortiert hatten, um aus einem havarierten Feindschiff einige tote Akarii zu bergen.
„Fast. Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber als Prinz Jor abgeschossen wurde, haben einige seiner Piloten die Nerven verloren. Sie sind ausgestiegen oder haben sogar kapituliert. Und ein paar andere Maschinen wurden zwar zusammengeschossen, waren aber noch halbwegs intakt.“
In Helens Augen blitzte es auf: „Wir haben Akarii-Jäger an Bord?“ Es war nur natürlich, dass sich die Piloten der TSN für die Waffen und Geräte ihrer Gegner interessierten. Aber das war nicht alles. Die Maschinen der Akarii hatten einen legendären Ruf. Auch wenn mit Nighthawk, Falcon und Thunderbolt moderne Maschinen die republikanischen Staffeln erreicht hatten, die Akarii-Einheiten waren ihren jeweiligen Gegenstücken immer in irgendwelchen Parametern überlegen gewesen, teilweise in geradezu spektakulärer Art und Weise. Und wahrscheinlich hatte die Korax auch die modernsten Serienmodelle an Bord gehabt.
„Zwei Bloodhawk, einen ziemlich zusammengeschossenen Deltavogel, und sogar einen Reaper. Dem fehlt allerdings die eine Tragfläche.“
„Und wir beide wissen ja, was das für ein Gefühl ist.“ bemerkte Kali sarkastisch. Kano wusste, was sie meinte.
„Fürs erste hat der Geheimdienst das Kommando übernommen, auch wenn die technischen Dienste gerne auch mal einen Blick auf die Maschinen werfen würden. Und wir natürlich auch.“ Mit ‚wir’ meinte Kano etwa achtzig Prozent der Piloten, die Verwundeten mit einberechnet.
„Wir werden die Vögel sowieso nicht fliegen können. Eher kapitulieren die Akarii bedingungslos. Das ist was für die Erprobungskommandos und Testflieger auf dem Mars.“
„Vermutlich hast du Recht.“
„Was gibt es sonst Neues? Was haben wir erreicht? Dass wir Jor kalt gemacht haben, habe ich schon mitbekommen. Aber das kann doch nicht alles gewesen sein.“
Kano überlegte kurz und berichtete ihr dann über den weiteren Verlauf der Schlacht. Mit kurzen, knappen Worten schilderte er den verbissenen Kampf der Kreuzer.
„Was ist mit deinem Bruder?“
Kano lächelte kurz: „Dem geht es gut. Aber wahrscheinlich ist er ziemlich wütend. Die Caulaincourt ist nicht einmal zum Einsatz gekommen. Ich glaube, bei den kleinen Kriegsschiffen denken sie, die Kreuzer haben sie nicht zum Zug kommen lassen wollen.“
„Sie werden es überleben.“
Als Kano allerdings von dem Kamikaze-Angriff der feindlichen Bomber berichtete, fiel es Kali schwer, ihren Humor zu behalten. Wie fast jeder Pilot konnte sie sich ausrechnen, was auf sie zukommen würde, wenn das nicht nur eine einzelne Verzweiflungstat sein sollte. Es war ein beunruhigender Gedanke, gegen einen Gegner antreten zu müssen, dessen Leben eine Waffe war. Und fast genauso beunruhigend fand sie den Tonfall, mit dem Kano über den Opfertod der Akarii sprach. Vielleicht war es ihm selber gar nicht bewusst, aber in ihren Ohren klang seine Stimme verdächtig nach fast so etwas wie uneingestandener Bewunderung. Und leider konnte sie sich das bei ihm nur zu gut vorstellen. Sie lehnte den Kopf in das Kissen zurück, lauschte Kanos Worten und versuchte die düsteren Gedanken zu verdängen. Es gelang ihr aber nicht vollständig.
Deshalb schwieg sie, als er mit seinem Bericht zu Ende war. Auch Kano sagte nichts. Als sie nach ein paar Sekunden wieder den Kopf hob, stellte sie fest, dass er sie direkt ansah. Er lächelte, aber seine Augen glänzten merkwürdig. Waren das etwa Tränen?
„Was ist?“
„Nichts. Ich bin einfach nur froh, dass du es geschafft hast.“ Und für jemanden, der leichter über die Möglichkeit seines eigenen Todes als seine Gefühle sprach, war das schon ziemlich viel.
Bevor sie allerdings etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und eine Krankenschwester steckte den Kopf herein: „Ich sagte KURZ. Sie braucht Ruhe. Also raus mit Ihnen, Lieutenant.“
Helen seufzte frustriert. Kano aber grinste nur: „Bis bald. Ich komme, sobald ich kann.“
„Ich verlasse mich darauf.“
Er beugte sich vor und küsste sie. Dann ging er, während die Krankenschwester ungeduldig mit dem Fuß wippte. Die Piloten, und vor allem die, die wie Kano schon ein paar Mal in der Krankenstation gelandet waren, wussten, es war sehr unklug, es sich mit dem medizinischen Personal zu verscherzen. Jetzt war sein Gang wider wie immer – hoch aufgerichtet, akkurat, das Gesicht ausdruckslos. Der Krieg hatte ihn wieder.
Cattaneo
Tyr

T'rr

Manchmal fiel es ihm schwer zu sagen, wie viel Zeit seit seiner Landung vergangen war. Tage, da war er sich sicher. Aber wie viele? Wie viele Wochen? Oder waren es schon Monate?
Seine Existenz war reduziert auf das bloße Überleben. Morgen für Morgen schleppte er sich weiter, ohne ein Ziel zu kennen, auf einem Weg ohne Ende. Und in dem Wissen, möglicherweise der einzige Mensch auf diesem Planeten zu sein. Aber dennoch trieb er sich weiter, zwang seinen geschwächten Körper einen Fuß vor den anderen zu setzen. Denn er wusste, dass er gejagt wurde.

T’rr, das war eine grüne Hölle, von der er wenig mehr als den Namen wusste. Irgendwo auf diesem Planeten, in den endlosen, lebensfeindlichen Dschungeln der tropischen Zone, kämpften einheimische Guerillas gegen die Akarii und wahrscheinlich auch gegen ihre ‚loyalen’ Landsleute. Und wurden dabei möglicherweise von Soldaten der RF des TSMC, der Recon Forces des Terran Space Marine Corps, unterstützt. Aber für einen einzelnen, abgeschossenen Piloten war die Suche nach diesen Männern und Frauen wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Oder nach einem einzelnen Blatt in einem verdammten Wald.
First Lieutenant Ariel „Goliath“ Jogiches war vor seiner Versetzung zu den Angry Angels Kampfflieger der Marines gewesen. Er hatte die Infanteriegrundausbildung absolviert und er war zäher und besser trainiert als die meisten Piloten des Geschwaders. Während seiner Dienstzeit beim Korps war er auf Pandora abgeschossen worden und hatte sich zu den eigenen Truppen durchschlagen können. Und manchmal überlagerten sich nun die Erinnerungen an damals mit der Gegenwart, bis er nicht mehr genau wusste, wo er sich nun eigentlich befand.
Wie auf Pandora fehlten auf T’rr Säugetiere gänzlich. Hier gab es nicht einmal vogelähnliche Wesen, der ganze Planet schien den Reptilien zu gehören, die alle Lebensräume erobert hatten – das Land, das Wasser und die Luft. Er war hier ein Eindringling. Und damit wahrscheinlich eine leichte Beute. Am vierten oder fünften Tag seiner Flucht hatte er an einem kleinen Wasserlauf einen flüchtigen Blick auf ein Rudel Raubtiere erhascht – etwa drei Meter lange, flinke und muskulöse Raubechsen, die sich auf zwei Beinen bewegten, und deren wachsames Verhalten ihn beunruhigt hatte. Diesen Jägern würde er nicht entkommen können, und seine Laserpistole erschien ihm als eine eher kümmerliche Verteidigungswaffe. Abwechselnd hatten diese Tiere Wache gehalten, während der Rest trank. Aus ihren Bewegungen und ihrem Verhalten hatte eine beunruhigende Wachsamkeit und Intelligenz gesprochen.

Außerdem war T’rr ein Planet, auf dem Krieg geführt wurde, genau wie Pandora. Allerdings machten hier die Regierungstruppen auf ihn Jagd, während er versuchte, die Guerilla zu finden. Aber eine Guerilla überlebte nun einmal dadurch, beweglich und möglichst unauffindbar zu sein. Und selbst wenn er in die Nähe der Widerstandskämpfer geraten sollte, bestand immer noch die Gefahr, dass ihn die Wachposten einfach über den Haufen knallten. Er wusste nicht, bei welcher der wahrscheinlich zahlreichen Guerillatruppen die Recon Forces sich befanden, wusste nichts über eventuelle Streitigkeiten oder Fehden unter den Rebellen. Eigentlich wusste er fast gar nichts.
Aber er wusste, dass es seinen Tod oder die Gefangenschaft bedeuten würde, wenn er auf die Regierungstruppen stieß. Deshalb waren seine Nerven in jeder wachen Minute zum Zerreißen angespannt, lauschte er ängstlich auf das Geräusch von schweren Motoren und Turbinen. Und auf das dumpfe Dröhnen der Bombenabwürfe. Wenn er es hörte, was schon zwei oder drei Mal der Fall gewesen sein musste, änderte er sofort die Richtung.

Und im Gegensatz zu Pandora war seine Ausrüstung und Vorbereitung ziemlich mangelhaft. Er wusste nicht, welche Pflanzen und Tiere essbar und welche giftig oder gefährlich waren. Das Korps pflegte seine Piloten einen Survivallehrgang absolvieren zu lassen, bevor es sie in den Einsatz schickte. Vor dem Einsatz über T’rr hatte es nichts gegeben als eine kurze Einweisung. Und statt einem speziell abgestimmten und zusammengestellten Überlebenspack wie auf Pandora hatte er nur die Standartvariante für Raumpiloten bei sich gehabt. Und da diese nur sehr selten auf einem Planeten notlanden mussten, war sie äußerst dürftig.
Er hatte seinen Pilotenanzug, einen recht primitiven Wasserfilter und eine Isoliermatte, die sich zu etwas verwandeln ließ, was für einen Schlafsack zu groß und für ein Zelt zu klein war. Das Überlebenspack beinhaltete zudem ein Überlebensmesser, das Feuerzeug, Angelhaken, Skalpell, Schleifstein, ein paar Medikamente und ähnliche Kleinigkeiten. Dazu kamen noch die fünfundzwanzigschüssige Dienstpistole und eine Ersatzenergiezelle. Seine kümmerlichen Nahrungsvorräte waren nach ein paar Tagen aufgebraucht. Notgedrungen hatte er versuchen müssen, sich von der einheimischen Flora und Fauna zu ernähren. Auch wenn ihm dabei ein paar Mal schlecht geworden war, immerhin lebte er noch…

Auch wenn er versuchte dem Krieg auszuweichen, der auf diesem Planeten tobte, es gelang ihm nicht vollständig. Dazu war die Region offenbar zu sehr umkämpft. Vielleicht war es gerade der Einsatz der TSN gewesen, der die Akarii dazu veranlasst hatte, in diesem Gebiet ihre Offensivtätigkeiten zu verstärken. Jedenfalls hätten es die Erdstreitkräfte es so gemacht. Vor vier Tagen war er regelrecht über die Überreste eines Eingeborenendorfes gestolpert. Erschöpft, halb verhungert, hatte er fast spät gemerkt, dass sich der Wald um ihn herum lichtete. Es war nicht viel übrig geblieben. Die Gebäude waren der Reihe nach angezündet und eingerissen worden. Das war planvoll geschehen, gezielt. Ob die verkohlten Knochen, die er hier und da zwischen den Trümmern in der Sonne bleichen sah, auch zu diesem Plan gehörten, konnte er nur vermuten. Es hatte ihn allerdings verwundert, dass man auf ein Anzünden der Felder verzichtet hatte, auf denen unbekannte, aber vermutlich essbare Pflanzen reiften.
Aber dann waren Goliath die Kadaver aufgefallen, die inmitten der teilweise angefressenen Feldfrüchte verfaulten, und er hatte begriffen. Er wusste nicht, welches Gift die Akarii versprüht hatten, aber es tötete offenbar sehr schnell. Nachdem er das gesehen hatte, hatte er sich selber beglückwünscht, dass er nicht so dumm gewesen war, seine Wasservorräte aus den Brunnen des Dorfes aufzufrischen. Fluchtartig hatte er die verwüstete Siedlung verlassen. Vielleicht hatten die Akarii auch noch Sensoren zurückgelassen. Wenn das der Fall war, dann war er bereits so gut wie tot. Oder in Gefangenschaft. Aber wenigstens in dieser Hinsicht hatte er Glück gehabt.

Unwillkürlich erinnerte er sich jetzt wieder an dieses Erlebnis, während er aus seinem Versteck auf die Szenerie schaute, die sich vor ihm entlang des unbekannten Flusses entrollte, dem er seit heute früh gefolgt war.
Offenbar setzten die Akarii nicht nur auf Schweberpatrouillen und Luftlandeeinheiten. Sie und ihre einheimischen Verbündeten versuchten auch die Flüsse unter Kontrolle zu halten. Offenbar mit wechselndem Erfolg. Goliaths pandorageschärfte Augen hatten keine Mühe, den Verlauf des Gefechtes zu enträtseln.
Die loyalistische Flußpatrouille hatte aus zwei gepanzerten Schnellbooten bestanden, die mit Schnellfeuerlasern, Granatwerfern und bordgestützten Flammenwerfern armiert gewesen waren. Vermutlich waren die Boote im Abstand von etwa einhundert bis zweihundert Metern gefahren – weit genug auseinander, um sich nicht gegenseitig zu behindern, aber nahe genug beieinander, um sich im Notfall gegenseitig zu unterstützen.
Die Guerillas mussten von der Patrouille gewusst haben, denn sie hatten den Fluss vermint. Das erste Schnellboot war nahe dem Ufer förmlich in Stücke gerissen worden. Vermutlich hatte es kaum Überlebende gegeben. Der Kapitän des zweiten Bootes hatte erkannt, dass dies ein Hinterhalt gewesen war, und es geschafft, sein Boot zu wenden. Doch dabei war er in die Falle der Guerillas geraten, die offenbar mit einem solchen Vorgehen gerechnet hatten. Beim Rückzug war er auf die zweite Minenkette geraten, die die Boote wenige Minuten vorher unwissentlich passiert hatten, ohne dass die Guerillas sie gezündet hatten. Das Schnellboot war offenbar beschädigt worden und auf Grund gelaufen. Die Überlebenden waren überrannt worden. Den Gefechtsspuren zufolge hatten sie bis zum letzten Augenblick Widerstand geleistet. Irgendwann später – vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch zwei – waren dann akariische oder loyalistische Erdkampfflugzeuge eingetroffen und hatten das umliegende Gelände in eine Mondlandschaft verwandelt. Unter ihrer Deckung waren anscheinend Luftlandetruppen zu dem Wrack vorgestoßen, hatten die Leichen mitgenommen und das Wrack angezündet. Aber vielleicht deutete er auch zuviel von dem in die Brand-, Spreng-, und Gefechtsspuren hinein, was er selber vor einigen Jahren auf einem anderen Planeten erlebt hatte.
Wie auch immer, da unten rührte sich offenbar nichts mehr. Und wie er die Akarii und die T’rr einschätzte, auf welcher Seite auch immer sie kämpfen mochten, es würde ihn nicht überraschen, wenn sie für neugierige Passanten der jeweils anderen Feldpostnummer einige unangenehme Überraschungen hinterlassen hatten. Er würde einen großen Bogen schlagen müssen. Es war wie verhext – so sehr er auch diesem fremden Krieg auszuweichen versuchte, irgendwie holte er ihn immer wieder ein. Noch einmal dachte er an Pandora zurück und fast hätte er zynisch gelächelt. Nun ja, warum sollte es ihm anders oder gar besser ergehen als so vielen anderen Menschen in einem Guerillakrieg. Schwerfällig, aber so lautlos wie möglich, erhob er sich, und setzte seinen Weg fort.
Er wusste nicht, dass er beobachtet wurde.
Cattaneo
Tyr

Etwa acht Stunden später, T’rr

Die Nacht war hereingebrochen. Aber diesmal hatte Goliath nicht Halt gemacht. Er wagte es nicht, auch wenn er hundemüde war. Etwa anderthalb Stunden nachdem er die Kampfstätte verlassen hatte, glaubte er kurz das Geräusch eines tief fliegenden Schwebers gehört zu haben. Aber vielleicht hatten ihm auch seine überreizten Sinne etwas vorgegaukelt. Es war nur ein kurzes Echo gewesen, das er zu hören glaubte, und es war danach nicht wiedergekehrt. Und dennoch…
Seitdem die von den scheinbar beständig über den Wipfeln wabernden Dunstschleiern abgeschwächte Sonne den Horizont berührt hatte, war das Gefühl der Bedrängnis und der Gefahr in ihm ständig gewachsen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, von kalten Schlangenaugen, in denen nichts Menschliches war. Die inzwischen fast schon vertraut klingenden Geräusche des Dschungels wirkten mit einmal…bedrohlicher. Und diese Bedrohung trieb ihn vorwärts. Er wusste, es war Wahnsinn, nachts durch einen Urwald wie den von T’rr zu marschieren, wenn die Raubtiere der Dunkelheit ihre Pirsch begannen. Selbst wenn die nachtaktiven Jäger dieses Planeten wechselwarme Echsen sein mochten, auch die Nächte auf T’rr waren warm genug, um diese Tiere kaum in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Er wusste nicht, mit welchen Sinnen sie sich orientierten, aber zweifelsohne waren sie ihm überlegen. Vielleicht lebte er nur noch deswegen, weil die Jäger von T’rr mit seinem Geruch nichts anfangen konnten.
Zwar gehörten zu seinen Besitztümern auch eine IR-Brille, eine Erinnerung an Pandora, aber in diesem feuchtschwülen Klima war sie nicht besonders effizient. Bei jedem Knacken im Unterholz, bei jedem Rascheln, fuhr sein Kopf herum, und er suchte angespannt nach der Quelle des Geräusches. Aber selbst mit der Nachtsichtbrille reichte seine Sicht nicht viel weiter als vier bis fünf Meter.

Das war zu wenig.
Als sich vor dem erschöpften Piloten plötzlich die Zweige des Unterholzes teilten und eine riesenhafte Gestalt direkt auf ihn zuzuspringen schien, wurde Goliath kalt erwischt. Der plötzliche Überfall war umso unheimlicher, da dies mit einer fast unwirklichen Lautlosigkeit geschah. Aber dennoch reagierte Goliath, wie man es ihm bei den Marines gelehrt hatte. Die Laserpistole hatte er ohnehin schon in der Hand gehalten. Er riss die Waffe hoch…
Und ein brutaler, völlig überraschender Schlag, der von der Seite geführt wurde, prellte ihm die Pistole aus den Händen und schleuderte sie ins Unterholz. Ein fast gleichzeitiger, heimtückischer Tritt in seine Kniekehle warf ihn zu Boden.
Aber er war ein Marine, und deshalb rollte er sich über die linke Schulter ab und war im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen. Wie von selbst war seine Hand zu dem Messer an seinem Gürtel gefahren. Mit blank gezogener Klinge stellte er sich seinen Angreifern.
Und erkannte, dass er keine Chance hatte.
Es waren drei. Alle schienen sie mindestens ebenso hoch gewachsen zu sein wie er, auch wenn sie schlanker gebaut waren. Aber den Schmerzen in seinem Arm und Kniegelenk nach mussten sie Muskeln aus Stahl haben. Offensichtlich trugen die Angreifer nur leichte Körperpanzer, deren Tarnfarben sie beinahe mit dem Urwald verschmelzen ließen. Es waren keine Akarii, das mussten Einheimische sein. Sie wirkten…menschenähnlicher als die Akarii, aber das machte sie nur noch einschüchternder. Ihre Köpfe waren runder, und sie hatten offenbar nur rudimentäre Schwänze. Aber die kalten, gelblich schimmernden Augen erinnerten Goliath an Schlangen, oder an die Gila-Warane von Pandora. In den leicht geöffneten Mündern blitzten Raubtierfänge. Diese…Wesen erinnerten ihn auf verstörende Art und Weise an das Rudel Raubechsen, das er vor ein paar Tagen erblickt hatte. Aber diese Gegner besaßen nicht nur Klauen und Fangzähne, sie waren außerdem mit Akarii-Lasergewehren bewaffnet, die sie mit der Professionalität erfahrener Soldaten handhabten. Und diese Waffen zielten auf ihn. Er wusste, dass er verloren war. Aber dennoch, er wollte, er konnte nicht einfach aufgeben. In einer Geste, die ihm selber fast lächerlich vorkam, ging er in Kampfstellung, die Hand mit der Klinge stoßbereit zurückgezogen, den anderen Arm schützend vor dem Körper angewinkelt. Die Echsenwesen schienen einen kurzen Blick auszutauschen. Goliath biss sich auf die Lippen. War er wahnsinnig? Das mussten Kommandosoldaten sein, die vermutlich von dem Schweber abgesetzt worden waren, den er vor einigen Stunden gehört hatte. Entweder durch einen hochfliegenden Aufklärer oder einen automatischen Sensor mussten sie auf ihn aufmerksam geworden sein, und erkannt haben, dass er eine lohnendere Beute war, als ein versprengter Rebell. Sie hatten seine Spur verfolgt, ihn in diesem Urwald aufgespürt, eingekreist, und hatten die Falle zuschnappen lassen. Was wollte er jetzt mit einem Messer erreichen?
Aber sie eröffneten nicht das Feuer. Ihre leisen, zischenden Worte verstand er nicht. Jedenfalls klang es nicht nach Akarii. In einer beunruhigenden Synchronisation öffneten sie die Münder und ließen sie klackend wieder zuschnappen. War das eine Drohgebärde? Aber nachdem sie die Geste ein paar Mal wiederholt hatten, begriff er. Sie lachten. Lachten ihn aus.
Einer der Drei senkte plötzlich seine Waffe und legte sie beiseite. Selbst diese Geste wirkte in ihrer Flüssigkeit und Präzision arrogant. Dann zog die Echse einen nach vorne gekrümmten, schweren Hiebdolch, der Goliath an die irdischen Gurkha-Messer erinnerte. Der Kommandosoldat streckte die offene Hand nach Goliath aus, ließ noch einmal das einschüchternde Gebiss spöttisch klacken und winkte den abgeschossenen Piloten lässig näher. Die Bedeutung der Geste war eindeutig: ‚Na dann komm her, du Schwachkopf!’ Die anderen T’rr schienen sich mit der Rolle des Zuschauers begnügen zu wollen. Ihre Waffen senkten sie allerdings nicht.

Goliath war überrascht. Das hatte er nicht erwartet. Warum taten sie das? Dann begriff er. Vermutlich hatten diese Soldaten noch nie zuvor einem Menschen gegenübergestanden. Und todsicher waren dies Mitglieder einer Spezialeinheit, und stolz auf ihre Fähigkeiten, ihrer Überlegenheit gewiss. In dieser Hinsicht ähnelten sie wahrscheinlich auch den Spezial- und Eliteeinheiten der Republik. Goliath hatte die Arroganz und das Selbstbewusstsein dar SAS/SEAS, der RF und der Paras der Fremdenlegion erlebt, oder davon gehört.
Der gegnerische Soldat, vermutlich der Befehlshaber des Einsatztrupps, hatte ganz einfach nicht der Versuchung widerstehen können, sein Können an einem Wesen zu beweisen, das er bisher wohl höchstens in irgendwelchen Filmen gesehen hatte. Zumal er wusste, dass er gar nicht verlieren konnte. Außerdem waren die T’rr den spärlichen Informationen nach, die man den Piloten hatte zukommen lassen, ein noch kriegerischeres Volk, als die Akarii. Der feindliche Soldat hatte die Herausforderung wahrscheinlich ganz einfach annehmen müssen.

Zehn Sekunden später musste Goliath erkennen, dass er seine eigenen Chancen richtig eingeschätzt hatte. Er war wahrscheinlich der beste Nahkämpfer im Geschwader, besonders mit dem Messer, und stärker als jeder andere Pilot. Er hatte den Nahkampf bei den Marines gelernt, nicht in einer Sporthalle oder bei den mehr oder weniger ernst gemeinten Raufereien in der Etappe. Vermutlich war er, vielleicht mit Ausnahme von Noname, der einzige Pilot an Bord, der schon einmal einen Menschen im Nahkampf getötet hatte. Und er hatte sogar eine „Nahbegegnung“ mit einem drei Meter langen Gila-Waran überlebt.
Aber das war nicht genug. Jetzt blutete er bereits aus zwei Wunden. Schlimmer noch, die Schnitte über seiner Brust und seiner linken Schulter hätten viel tiefer sein können, wenn der gegnerische Kämpfer ernsthaft versucht hätte, ihn zu töten. Das einzige, was er selber hatte erreichen können, war eine eher oberflächliche Stichwunde am Unterarm seines Gegners – und ER hatte den T’rr töten wollen.
Aber sein Gegner schien mit ihm nur zu spielen. Momentan umkreisten sich die beiden Kämpfer, geschah mehrere Nerven zerreißende Sekunden lang gar nichts. Beide Kontrahenten behielten jede Bewegung des Anderen im Auge, begingen nicht den Fehler, sich nur auf die Klinge in der Hand des anderen zu konzentrieren. Schließlich konnte auch ein Schlag, ein Tritt oder ein Fußfeger dem Kampf die entscheidende Wendung geben.
Mit dem Mut der Verzweiflung startete Goliath einen erneuten Ausfall. Sein Messer stieß nach dem Gesicht des Gegners, der den Kopf erwartungsgemäß reflexartig zurückriss. Darauf hatte der Pilot gerechnet, drehte sich leicht um die eigene Achse und ließ seinen Fuß wie eine Sichel über den Boden fahren. Tatsächlich traf der den Knöchel des Kommandosoldaten. Der T’rr wankte und ging zu Boden. Mit einem gutturalen Schrei warf sich Goliath nach vorne, die Klinge ausgestreckt – und verfehlte sein Ziel. Sein Gegner hatte sich buchstäblich im letzten Augenblick zur Seite gerollt. Die Klinge, die auf die ungeschützte Kehle des Gegners gezielt hatte, glitt an der Schulterpanzerung des Tarnanzugs ab und schnitt nur leicht in die Schulter des Kämpfers. Goliath hätte am liebsten aufgeheult vor Wut. Nicht nur, dass sein Gegner schneller und besser ausgebildet war, er war auch noch gepanzert – und selbst die Haut dieser verdammten Echse war weitaus zäher als die eines Menschen.
Doch der abgeschossene Pilot hatte keine Zeit, seine Enttäuschung deutlicher zu artikulieren, denn als Antwort auf seinen Angriff ließ sein Gegner, noch während er sich zu Seite rollte, seinen Hiebdolch durch die Luft fahren, und schlitzte Goliath mit einer fast beiläufig wirkenden Bewegung die Stirn auf. Jetzt war es der Mensch, der zurückzuckte, und seinem Gegner dadurch Zeit gab, wieder auf die Beine zu kommen.
Der T’rr nutzte seinen Vorteil allerdings nicht aus. Er ließ dem Menschen die Zeit, um ebenfalls auf die Beine zu kommen. Wieder ließ die Echse ihr Gebiss klacken und nickte dann knapp.
Goliath knirschte mit den Zähnen. Sein Gegner spielte immer noch mit ihm. Der T’rr schien nicht einmal schneller zu atmen, während Goliath sich bereits jetzt wie nach einem Marathonlauf fühlte. Aus dem Schnitt über seiner Stirn strömte Blut, sickerte unter die Nachtsichtbrille und erschwerte ihm die Sicht. Es war hoffnungslos. Und selbst wenn er gewinnen sollte, und danach sah es nicht aus, da waren immer noch die beiden anderen Kommandosoldaten. Nur in zweitklassigen Actionstreifen würden sie ihn im Fall eines Sieges laufen lassen. Nein, mit seinem Messer alleine hatte er keine Chance. Nicht mit dem Messer…
Konnte das klappen? War es möglich? Egal, selbst eine kleine Chance war besser als das hier. Wieder umkreisten sich die beiden Kämpfer lauernd. Aber diesmal verfolgte Goliath damit ein spezielles Ziel. Auch wenn er sich auf seinen Gegner konzentrierte, der T’rr war jetzt nicht mehr sein Ziel. Sondern die Stelle, wo er sein Lasergewehr an einen Baumstamm gelehnt hatte.
Das schien auf den ersten Blick eine Standart-Marineinfanterie-Waffe zu sein, wie sie auch die Wachtruppen an Bord der Akarii-Schiffe benutzten. Lediglich den Lauf hatte man etwas verkürzt und statt des festen Kolbens eine einklappbare Schulterstütze angebracht. Offenbar bekamen die T’rr-Loyalisten nicht unbedingt das modernste Material. Goliath hatte solche Gewehre schon mal in der Hand gehalten und auch damit geschossen. Wenn er die Waffe in die Hände bekam…wenn er die T’rr damit überraschen konnte…
‚Wenn, wenn, wenn!’
Als einer der anderen beiden Kommandosoldaten mit ungeduldig klingender Stimme Goliaths Gegner ein paar Worte zuzischte und dieser ihm knapp antwortete, ohne allerdings seinen Kopf zur Seite zu wenden, glaubte der Pilot seine Chance gekommen. Blitzschnell ließ er seine Hand nach vorne schnellen, schleuderte sein Messer dem für einen kurzen Augenblick ein wenig abgelenkt wirkenden T’rr entgegen, und warf sich in Richtung des Gewehrs, die Arme nach Vorne ausgestreckt.
Er erreichte die Waffe nicht. Noch im Sprung schien seine linke Seite in einem brennenden Schmerz förmlich zu explodieren, wurde er zur Seite geschleudert und schlug ungeschickt auf dem Boden auf. Der stechende Schmerz in seinem Oberkörper kündete von mindestens einer gebrochenen Rippe, und bei dem Sturz hatte er sich Schulter und Oberarm böse geprellt. Als er wieder aufblickte, standen die drei T’rr über ihm. Sein Gegner hatte sein Gewehr wieder aufgenommen und über die Schulter gehängt. Noch einmal klackte mit den Zähnen, und schüttelte langsam den Kopf. Dann packte er zu und riss Goliaths Arme brutal auf den Rücken. Im nächsten Augenblick schnappten Handfesseln zu, und der vom Sturz noch halb benommene Pilot wurde hochgerissen und vorwärts gestoßen. Offenbar hatten die T’rr jetzt genug gespielt. Einer der T’rr ging voraus, dann kam Goliaths Gegner und sein Gefangener, und dann der letzte T’rr. Der Soldat nahm wenig Rücksicht auf seinen übel zusammengeschlagenen Gefangenen. Vermutlich war er der Meinung, der habe sich seine Blessuren selber zuzuschreiben. Die T’rr legten ein straffes Tempo vor und bewegten sich dennoch mit einer fast unheimlichen Lautlosigkeit und Sicherheit durch den Urwald. Dies war ihre Welt, und diese Männer wirkten auf unheimliche Art und Weise wie Geschöpfe des Dschungels. Sie sprachen nicht, und als ein Ast gegen Goliaths Brust schlug und er ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte, schlug ihm sein Wächter blitzschnell ins Gesicht. Es war ein eher beiläufiger Schlag, aber er war kraftvoll geführt und riss Goliaths Lippen auf. Er begriff, was das bedeutete – keinen Laut.

Wie lange der Marsch dauerte, konnte er nur schätzen. Eine Stunde, vielleicht zwei. Wenigstens war mit seinen Beinen alles in Ordnung, sonst hätte er dieses Tempo niemals mithalten können. Erst als sie eine kleine Lichtung erreichten, die ein stürzender Urwaldriese geschlagen hatte, hielten die T’rr in ihrem Eilmarsch inne. Goliaths Wächter beförderte ihn mit einem unsanften Stoß zu Boden. Während einer der Soldaten in eine tragbare Kommunikationseinheit sprach, behielt ein anderer Goliath im Auge, während der dritte nach außen sicherte. Nachdem das Funkgespräch abgeschlossen war, konzentrierte sich auch der Funker nach außen. Allzu sicher fühlten sich die T’rr offenbar nicht. Goliath vermutete, dass sie durch den Funkspruch einen Transportschweber angefordert hatten. Wahrscheinlich würde der in höchstens einer Stunde da sein. Und dann saß er endgültig in der Falle. Man würde ihn den Akarii überstellen. Und die würden ihn verhören. Dass er nichts über die Spezialeinheiten wusste, die wahrscheinlich hier abgesetzt worden waren, würde ihn nicht retten. Im Gegenteil. Die Akarii gingen nicht gerade zartfühlend mit Gefangenen um, das war bekannt. Was sie aber mit einem Menschen machen würden, den sie ausgerechnet auf T’rr erwischt hatten…
Das wollte er nicht einmal unbedingt wissen. Und ganz bestimmt wollte er es nicht am eigenen Leib erfahren.

Ungefähr eine dreiviertel Stunde später drang ein schwaches Summen an sein Ohr, das rasch lauter wurde. Goliath kannte dieses Geräusch, und an dem Verhalten seiner Bewacher bemerkte er, dass auch sie es gehört hatten. Offenbar war ihr Transporter im Anflug. ‚Verdammt.’
Nur eine halbe Minute später tauchte der Schweber auf, ein gepanzertes Modell, mit Kasettenwerfern an den Flanken und einem Zwillings-Schnellfeuerlaser im Bug. Vermutlich kamen dazu diverse Stör- und Täuschkörperwerfer.
Der Pilot verschwendete keine Zeit mit Überflügen, sondern ging sofort fast senkrecht tiefer. Offenbar beherrschte er sein Handwerk, und ebenso offensichtlich wollte er seinen Aufenthalt in Bodennähe so kurz wie möglich halten.
Die Kommandosoldaten waren in Deckung gegangen, die Gewehrläufe nach außen gestreckt. Auch sie schienen diesen Augenblick für besonders gefährlich zu halten. Dann schwebte der Transporter nur noch einen halben Meter über dem Boden. Die Kommandosoldaten sprangen auf und kämpften sich gegen den Windstrom, der aus den Manöverdüsen ausgestoßen wurde, auf den Schweber zu. Goliath schleiften sie dabei mit. Dann hatte sie die offenen Seitenluken erreicht, und booteten ein. Langsam, ein wenig schwankend, gewann der Schweber an Höhe. Auch der Start verlangte höchste Konzentration seitens des Piloten.
Als die Maschine einmal kurz zu einer Seite wegsackte und die Kommandosoldaten nach Halt suchten, handelte Goliath, der bisher scheinbar schicksalsergeben am Boden gekauert hatte. Er schnellte in die Höhe, rammte seine Schulter dem T’rr neben ihm in die Seite, und warf sich aus der Luke.
Noch war der Schweber gerade mal anderthalb Meter über dem Boden. Goliath kam nicht sehr gut auf, erneut loderte der Schmerz in seiner Seite auf, aber er bemerkte es kaum. Taumelnd kam er auf die Beine und rannte los. Er wusste, dass er keine echte Chance hatte. Aber besser auf der Flucht erschossen zu werden, als den Folterexperten der Akarii in die Hände zu fallen.
Neben ihm explodierte ein dünner Stamm regelrecht, als eine Lasersalve im Holz einschlug. Wütende Schreie wurden laut, und eine einzelne Stimme bellte ein paar scharfe Kommandos. Die nächste Salve ging über seinen Kopf hinweg. Noch wollten sie ihn offenbar lebend fangen.

Die Flucht war ein Albtraum. Das eingetrocknete Blut unter seiner Nachtsichtbrille machte ihn fast blind, und seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Bei jedem Schritt schoss eine neue Schmerzwelle von den gebrochenen Rippen durch seinen Körper. Er stolperte, kämpfte sich durch das Unterholz. Zweige und Ranken peitschten in sein Gesicht, rissen an seiner Kleidung, wollten ihn zu Fall bringen.
Und er wusste, dass seine Verfolger nahe sein mussten, schnell und lautlos wie jagende Schatten.
Dann waren sie über ihm. Ein brutaler Hieb erwischte ihn im Rücken, schleuderte ihn gegen einen Baumstamm. Nach während Goliath zu Boden ging, trat ihm der T’rr in Kniekehle und Rücken.

Und dann schien der Urwald zu explodieren. Zwei Lasersalven erwischten den T’rr in Brust und Seite, schleuderten ihn zurück. Irgendwo explodierte eine Granate, während die Maschinen des Loyalistenschwebers aufheulten und das charakteristische Stakkato-Zischen eines schweren Schnellfeuerlasers durch die Luft schnitt. An zwei, drei Stellen eröffneten unsichtbare Schützen ein wütendes Sperrfeuer, und Laserimpulse zischten hin und her, setzten Blätter und Holz in Brand.
In schneller Folge verkündeten dumpfe Explosionen, dass der Schweber jetzt seine Raketenwerfer ins Spiel brachte. Rauchschwaden und Feuersäulen verwandelten den Urwald in den Vorhof der Hölle. Noch einmal heulten die Maschinen des Schwebers auf, und wurden dann leiser. Offenbar war dem Pilot die Flucht gelungen.
Goliath versuchte wieder auf die Füße zu kommen. Es ging nicht. Die Nachtsichtbrille hatte er verloren. Nur silhouettenhaft nahm er zwei oder drei schlanke Gestalten wahr, die plötzlich aus dem von einzelnen Feuern nur spärlich erhellten Dunkel auftauchten. Eine der Gestalten trat näher. Sie war deutlich kleiner als die T’rr-Kommandosoldaten. Dann erkannte Goliath, dass dies eine Frau war, oder vielleicht auch nur ein halbwüchsiges Mädchen. Sie trug eine ziemlich zusammengestückelt wirkende Kombination aus Panzerungsteilen und graugrün gefärbten Kleidungsstücken. Aber sie bewegte sich mit fast derselben fließenden Eleganz und Leichtigkeit wie die Kommandotruppen. Und die schwere Laserpistole mit Anschlagkolben die auf ihn zielte, wirkte zwar antiquiert, aber voll funktionsfähig. Vorsichtig beugte sich die schlanke T’rr näher. Und Goliath sah schon wieder in eines dieser unheimlich menschlich-nichtmenschlichen Gesichter, in gelbe, leicht zusammengekniffene Schlangenaugen. Seine Gegenüber musterte ihn gründlich von Kopf bis Fuß. Dann öffnete die junge T’rr den Mund und klackte amüsiert mit den Zähnen.
Die Schmerzen, die Erschöpfung, und die Anspannungen erwiesen sich jetzt endgültig als zu viel für den abgeschossenen Piloten. Goliath verlor das Bewusstsein.
Cattaneo
Tyr

Einige Zeit später

Der Erdboden unter Goliath bäumte sich auf, als wollte er den menschlichen Piloten abschütteln. In Wirklichkeit aber protestierte er gegen die Gewalt, die ihm angetan wurde. Ob durch die Raketen, Bomben und überschweren Granaten, die die Akarii und Loyalisten über dem Urwald abluden, oder wegen den Meteoriten, die dank der von den Akarii teilweise deaktivierten Raumabwehr nun ungehindert in den ‚umkämpften Gebieten’ einschlagen konnten, wusste er nicht. Und es spielte eigentlich auch keine Rolle.
Einige Erdbrocken lösten sich von der Tunneldecke und fielen auf den Boden des Verstecks, aber das war auch schon alles. Er befand sich hier gut zehn Meter unter der Erdoberfläche, und die T’rr-Rebellen beherrschten das Tunnelgraben offenbar genauso gut wie den Kampf gegen ihre Feinde. Andernfalls hätten sie natürlich auch nicht so lange überlebt.
Goliath war zuerst ein Flieger der Marines und dann ein Raumpilot gewesen. Für dieses Leben unter der Erde fühlte er sich dadurch nur schlecht vorbereitet. Die T’rr-Rebellen hatten ihn vor etwa anderthalb bis zwei Woche aufgesammelt, auf Schleichpfaden und erschöpfenden Nachtmärschen gnadenlos vorwärts getrieben, bis er schließlich zusammengebrochen war. Am Ende hatten sie ihn tragen müssen, und er war nicht mehr in der Lage gewesen, die übel riechenden, kargen Rationen zu sich zu nehmen, von denen die Rebellen lebten. Seitdem die Guerillas dieses unterirdische Versteck erreicht hatten, hatte er nicht mehr das Tageslicht gesehen. Die ersten drei oder vier Tage hatte er zwischen Bewusstlosigkeit und Erschöpfungsschlaf geschwebt. Wahrscheinlich hatte sich ein Sanitäter oder Arzt um ihn gekümmert, aber seine Erinnerungen daran waren mehr als verschwommen. Sobald klar war, dass er überleben würde, hatte man ihn isoliert. Seit ein paar Tagen war er zumindest halbwegs wieder auf dem Damm, und litt vor allem an der Untätigkeit und Ungewissheit. Damit war er noch nie gut klargekommen. Langsam wurde er hier noch verrückt. Er wusste nicht einmal genau, wie viel Zeit seit seiner ‚Rettung’ vergangen war, und ob es momentan Tag oder Nacht war. Die ‚Zelle’, wie er seinen Aufenthaltsort nannte, war recht spartanisch eingerechnet. Eine Matte auf dem Boden, dazu eine Decke. Eine kombinierte Lufttrockner/Beleuchtungsanlage, die allerdings schon ziemlich veraltet wirkte, und eine Chemietoilette. Das war alles. Natürlich, das war immer noch um Längen besser, als die Tage seiner Flucht. Aber die Untätigkeit machte ihn fertig. Vielleicht war das ja auch so beabsichtigt.
Die Gänge, die die T’rr Maulwürfen gleich in den Boden gegraben hatten, waren über weite Strecken so niedrig und schmal, dass man sich nur auf allen vieren fortbewegen und auf keinen Fall umdrehen konnte. Allerdings waren seine Eindrücke an die Ankunft hier nur sehr verschwommen. An einigen Stellen hatte man ihm möglicherweise auch die Augen verbunden. Als er versucht hatte, sich dagegen zu wehren, hatte man ihm mit einem Laserlauf eines Besseren belehrt. Goliath hatte nicht unbedingt erwartet, dass man ihn bei den Rebellen mit offenen Armen empfangen würde, aber die Art und Weise, wie man mit ihm verfuhr, zehrte doch an seinen Nerven.
Die Guerillas schienen erst einmal zufrieden damit, ihn wegzusperren. Sie zeigten keine Neugier und ganz gewiss keine Hochachtung oder Dankbarkeit für ihre menschlichen ‚Verbündeten’. Aber vielleicht war dies hier ja auch nur eine kleine, isolierte Einheit, die nicht genau wusste, was sie mit ihm anfangen sollte. Oder sie warteten auf weitere Anweisungen vorgesetzter Stellen.

Die Tür öffnete sich, und das schweigsame T’rr-Mädchen, das ihm am Tag seiner ‚Rettung’ zum ersten Mal begegnet war, trat ein. Natürlich. Es schien ihre Aufgabe zu sein, sich um ihn zu kümmern, auch wenn sich das auf die Versorgung mit Nahrung und Wasser und das Wegschaffen der Abfälle beschränkte. Bisher hatte sie noch kein einziges Wort gesagt. Er hatte es auf Englisch versucht und auf Terrekarii. Er hatte sogar die paar Brocken Drom hervorgekramt, die er kannte. Genauso gut hätte er einen Gila-Waran auf Hebräisch anreden können. Das Mädchen hatte ihn angesehen, zugehört, und hatte geschwiegen. Ob sie ihn verstanden hatte, hatte er nur raten können. Wenn er daran dachte, was er ihr bei seinem dritten Versuch alles an den Kopf geknallt hatte, musste er allerdings annehmen, dass sie wirklich keine ihm bekannte Sprache sprach.
Einmal hatte er versucht, sie festzuhalten, als sie sich zum Gehen wandte. Das hätte er besser nicht gemacht, nicht in seinem immer noch geschwächten Zustand. Sie hatte ihm beinahe die Hand gebrochen. Es erstaunte ihn immer wieder, dass jemand derart zierliches so stark sein konnte. Kombiniert mit der Schnelligkeit und den Reflexen eines Taipan war dieses Mädchen ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte. Wenn er gesund gewesen wäre, tja dann…
Die einzige weitere Reaktion, die er durch diese blöde Aktion bei ihr noch provoziert hatte, war wieder ein spöttisches Zähneklacken.

‚Na ja, auf ein Neues.’ Goliath richtete sich auf, wobei er darauf achtete, dass seine bandagierten Rippen nicht zu sehr belastet wurden. Er wartete, bis sie die Fertigrationen und die Wasserflasche abgesetzt hatte, und ihn einmal anblickte. Bewusst vermied er jede Bewegung, die als Angriff verstanden werden konnte. Einmal war genug. Zum wer weiß wievielten Mal klopfte er sich auf die Brust: „Goliath. Goliath.“ Er benutzte sein Callsign, weil er davon ausging, dass die Mitglieder der republikanischen Spezialeinheit, die wahrscheinlich auf diesem Planeten aktiv waren, am ehesten diesen erhalten oder gehört hatten. Wenn überhaupt.
Und diesmal, er hatte schon nicht mehr damit gerechnet, bekam er eine Antwort: „Goliath?“ Ihre Stimme war eine Überraschung. Sie klang hell, melodiös – überhaupt nicht zischend und lauernd, wie er es unwillkürlich erwartet hatte. Aber natürlich waren zum Beispiel die Akarii auch keine ‚kaltblütigen, zischenden Echsen’, auch wenn man sie so nannte.
Der Pilot nickte eifrig, und klopfte sich wieder auf die Brust – so enthusiastisch, dass seine Rippen protestierten: „Goliath!“ Versuchsweise streckte er seinen Arm in ihre Richtung, achtete aber darauf, Abstand zu halten.
Das Mädchen musterte ihn ein paar Augenblicke, den Kopf leicht schräg gelegt. Dann kräuselten sich ihre schmalen Lippen in etwas, was man fast für ein Lächeln halten konnte. Sie ahmte seine Geste nach, deutete auf sich selbst: „Arima.“
Am liebsten hätte Goliath sie umarmt oder so etwas wie einen Freudentanz aufgeführt. Aus Rücksicht auf seine Rippen und seine allgemeine Gesundheit ließ er das aber lieber bleiben. Aber bevor er noch ein weiteres Wort herausbringen konnte, stand die T’rr auf, und marschierte hinaus. Auf sein: „Warte, verdammt!“ kam die selber Antwort, wie auf seine früheren Fragen. Gar keine. Er ließ sich wieder zurückfallen und unterdrückte einen Fluch.
Eine erneute ferne Explosion zuckte durch die Wände der Kammer.

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Ein paar Stunden später

Als sie die Zelle betraten, bewegten sich die T’rr fast lautlos. Zuerst trat Arima ein, ihre Waffe locker in den Händen haltend. Sie bezog an der Wand Aufstellung, während zwei hoch gewachsene, unbewaffnete T’rr hineinhuschten, die Goliath nicht unbedingt grob, aber doch sehr bestimmt in die Mitte nahmen. Ein Stoffbeutel wurde ihm über den Kopf gestülpt, dann drängten sie ihn hinaus. Arima folgte dem Trio. Diese Operation lief so schnell und professionell ab, dass der Pilot nicht einmal dazu kam, eine Frage zu stellen, oder sich gar zu wehren. Keiner der T’rr sagte etwas.
Jetzt begriff Goliath auch, warum die beiden Kämpfer unbewaffnet gewesen waren. Beide waren zweifelsohne in der Lage, ihn mit bloßen Händen, mit Klauen und Zähnen zu töten. Wenn sie bewaffnet gewesen wären, hätten sie ihm nur die Gelegenheit geboten, eine Dummheit zu begehen. Und selbst wenn er sich freimachen konnte, da war immer noch Arimas schwere Laserpistole. Seine bandagierten Rippen protestierten spürbar gegen die nicht eben sanfte Behandlung, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um ein Stöhnen und die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Was hatten sie mit ihm vor? Und warum gerade jetzt? Eben noch hatte er geglaubt, endlich verstanden zu werden.
Er verstand einfach nicht, was die T’rr von ihm wollten. Und ihre kalte, lautlose Entschlossenheit war ziemlich beunruhigend. Aber er versuchte nicht, sich zu wehren. Er wusste, dass er keine Chance hatte, und dass auch die Guerillas wenig Hemmungen hatten, ihn notfalls mit Gewalt zur Räson zu bringen.
Zuerst versuchte er noch, auch ohne seine Augen die Orientierung nicht völlig zu verlieren. Aber das musste er bald aufgeben. Schnell verlor er die Übersicht darüber, welche Kurven, Auf- und Abstiege sie nahmen. Die Gänge waren so eng, dass die T’rr ihn meistens nicht in die Mitte nehmen konnten. Stattdessen ging einer voraus, während der andere ihn mit auf den Rücken gebogenen Armen vorwärts schob. Arima machte den Abschluss. Sie waren nicht die einzigen, die die Gänge benutzten, aber alle Bewegungen vollzogen sich in einer beunruhigenden Lautlosigkeit. Einmal pressten ihn die beiden T’rr schweigend an die Wand, und er hörte, wie sicher eine Minute lang eine Kolonne von Kämpfern vorbei huschte, vierzig oder fünfzig Mann. Ein paar halblaute Wortfetzen, das Schaben von Stoff, Waffen und Panzerteilen waren das einzige Geräusch, das er dabei hörte.
Dann ging es weiter.

Er war sich nicht sicher, wie lange ihre schweigende Wanderung dauerte. Vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze. Paradoxerweise beruhigte ihn dies. Selbst wenn die T’rr zu dem Schluss gekommen wären, das sie ihn loswerden wollten, sie hätten sich damit sicherlich nicht solche Umstände gemacht. Also hatten sie mit ihm noch etwas vor. Vielleicht waren die RF ja sogar…

Dann stoppten die T’rr plötzlich, und er konnte wieder sehen. Ehe er sich fassen konnte, wurde er auch schon von Arima in einen Raum geschoben. Die beiden anderen Kämpfer blieben auf dem Gang. Der Raum war nicht viel größer als seine alte Zelle, aber völlig anders eingerichtet. Der Lufttrockner arbeitete fehlerlos. An den Wänden flimmerten die Bildflächen mehrerer Kommunikations- und taktischer Analyse-/Koordinierungsanlagen. Das Equipment wirkte zwar etwas veraltet, aber für eine Guerilla stellte dies sicherlich Hightech dar. Dazu kamen ein funktionaler Tisch und dahinter ein einzelner Stuhl. Der T’rr auf diesem Stuhl ähnelte auf den ersten Blick den meisten der Eingeborenen, die Goliath bisher gesehen hatte. Das hieß, dass er hoch gewachsen und schlank gebaut war. Außerdem trug er eine Uniform, die Goliath als eine umgearbeitete Akarii-Offizierskluft ohne Rangabzeichen identifizierte.
Und wie bei den anderen T’rr konnte Goliath nur raten, was hinter diesen gelben, emotionslosen Reptilienaugen vorging.
Dieser T’rr war allerdings versehrt, und Goliath war sich ziemlich sicher zu wissen, wo er sich die Verletzungen geholt hatte. An der rechten Hand hatte der T’rr statt den üblichen vier Fingern nur noch drei. Von der Wange bis zum Kinn zogen sich mehrere breite Narben, die den Mund zu einem permanenten schiefen Grinsen verzerrten. Weitere Narben zierten den Hals. Goliath vermutete, dass diese Male von den Klauen eines T’rr oder Akarii stammten, und fragte sich flüchtig, was mit dem Mann oder der Frau geworden war, der sie verursacht hatte.
„Mensch…“ Der T’rr sprach ein schwerfälliges, aber verständliches Terrekarii. Seine Stimme klang rau: „…Sternenpilot, nicht wahr. Abgeschossen.“
Goliath schluckte, zögerte kurz, dann fielen ihm die nötigen Worte ein: „Lieutenant Ariel Goliath Jogiches, Erdstreitkräfte. Kennnummer 34679A450.“
„Welche Einheit?“
„Angry Angels, Schwarze Staffel, Träger Columbia.“
Der T’rr klackte mit den Zähnen: „Das Geschwader der…“ Das nächste Wort kannte Goliath nicht, aber er konnte sich denken, was der Guerilla meinte. Das lief doch gar nicht schlecht an. Offenbar hatte dieser Mann schon von den Angry Angels gehört, und ihm gefiel, was er wusste: „Nun…Mensch. Die Verräter und die Akarii suchen dich. Sie suchen dich. Du bist viel wert. Zwanzigtausend…“ Noch ein Wort, dass er nicht verstand, „…das könnten wir gut gebrauchen.“
Diese Wendung gefiel dem Piloten natürlich gar nicht: „Die Akarii…eure Feinde.“
„Was weißt du, Sternenpilot?! Was von Feinden? Hast du schon einen Gegner getötet? Mit dem Messer? Mit den HÄNDEN?!“
„Das habe ich.“
Der T’rr musterte ihn spöttisch: „Einen Akarii?“ Arima, die bisher schweigend an der Wand gelehnt hatte, murmelte leise etwas, was Goliath nicht verstand. Vermutlich brachte sie ihre wahrscheinlich nicht sehr hohe Meinung zu seinen Nahkampffertigkeiten ein. Goliath vergegenwärtigte sich, dass sie das Gespräch offenbar interessiert verfolgt hatte. Was aber auch bedeuten musste, dass sie Terrekarii verstand. Und das hieß, dass sie ihn in den letzten Tagen für dumm verkauft hatte.
„Nein. Ein Mensch. Einen Verräter.“
Wieder ein amüsiertes Klicken der Raubtierfänge: „Klingt gut. Ich dachte, ihr Menschen seit…weich. Aber die Akarii wollen euch unbedingt haben. Und irgendwann sickert es durch, dass wir dich haben. Und dann schwärmen sie aus wie…“ Ein paar zischende Silben, die vermutlich irgendein einheimisches Raubtier bezeichneten. „…ich kann dich in einem Versteck vergraben lassen, bis der Krieg vorbei ist. Aber was nützt mir das?“
„Unsere Spezialeinheiten…“
Die Augen des T’rr blitzten wütend auf, und mit einer jähen Handbewegung schnitt der dem Piloten die Worte ab: „STILL!! Es gibt keinen Menschensoldaten auf T’rr. KEINEN EINZIGEN! Verstehst du, Sternenpilot?!“
Natürlich verstand er. Die menschlichen Kommandosoldaten auf T’rr mussten für die Akarii und die Loyalisten eine besonders verlockende Beute sein. Damit stand die Guerilla vor einem Dilemma. Sicherlich war die Präsenz der RF ein psychologisches Kapital, das man ausnutzen konnte. Aber andererseits machten die RF auch jede Guerillagruppe, mit der sie kooperierten, zu einem bevorzugten Ziel ihrer Gegner. Die Einheit bei der Goliath gelandet war, schien jedenfalls keine menschlichen ‚Berater’ zu haben. Und ihr Kommandeur wollte wohl nicht auch noch irrtümlich das Ziel der nächsten Offensive werden.
„Aber wenn es welche gäbe…dann wären sie sehr daran interessiert, dass es mir gut geht.“ Insgeheim war er sich da gar nicht so sicher. Die RF galten selbst bei den Marines als eine Bande kaltherziger Killer, denen ihr Auftrag allemal wichtiger war, als die Interessen der anderen Waffengattungen. Ob sie für einen Ex-Marines, der jetzt für die TSN flog eine Ausnahme machen würden, konnte Goliath nur vermuten.
Offenbar teilte der T’rr diese Zweifel, den er zischte anscheinend abfällig durch die Zähne: „Nicht genug. Sag mir, was du wert bist…“
„Wenn…es sich herum spricht, dass die Menschen auch eurer Einheit helfen…das hat auch Vorteile. Und ich kann kämpfen!“
„Kämpfen? Du?“ Wieder mischte sich Arima mit ein paar schnellen Silben in das Gespräch ein, die Goliath nicht verstand. Beide T’rr ließen ihre Zähne klacken. Offenbar waren sie von seinen kämpferischen Fähigkeiten nicht unbedingt überzeugt. Wenn er ehrlich sein wollte, dann durfte ihn das aber auch nicht überraschen. Er hatte sich bisher nicht gerade mit Ruhm bedeckt. Aber auf keinen Fall wollte er weiter in dieser verdammten Zelle versauern, geschweige denn an die Loyalisten oder Akarii verhökert werden. Aus seiner Dienstzeit auf Pandora wusste er, dass selbst in erbitterten Guerillakriegen ähnliche Geschäfte nicht unbedingt unüblich waren.
„Ich kenne mich mit Maschinen aus. Habe auch schon mal einen Akarii-Jäger ausschlachten helfen. Ich bin Sternenpilot. Habt ihr noch mehr davon?“
„Du willst…fliegen für uns? Kannst du einen Schweber fliegen? Eine Fähre? Einen…“
„Ich kann alles fliegen.“ Und das war nicht einmal völlig gelogen. Das Marinekorps verlangte von seinen Piloten Vielseitigkeit und Flexibilität. Die Luftstreitkräfte des Korps waren so klein und die Einsatzgebiete so unterschiedlich, dass man sich reine Fachidioten nicht leisten wollte. Ein Marine-Pilot musste auch in der Lage sein, Nachschubsflüge zu übernehmen und Verwundete zu evakuieren, egal wo sein eigentlicher Schwerpunkt lag. Da das Korps bei seinen Einsätzen in den Kolonien oft mit recht veraltetem, nicht selten einheimischen und teilweise regelrecht abenteuerlichen Geräten fliegen musste, hatten die Marines-Piloten wie die Piloten der Fremdenlegion ein wesentlich breiteres Bildungsspektrum als die Army-Piloten oder gar die ‚Primadonnen’ der TSN. Die Ausbildung zum Raumjägerpiloten hatte natürlich auch noch dazu beigetragen, seine Fähigkeiten zu verbessern. Er war ganz bestimmt nicht der beste Pilot im Geschwader, aber wohl einer der vielseitigsten. Und wenn ihm dieser Umstand half, aus dieser Dreckszelle herauszukommen…
„Shuttle, Schweber – sogar Frachter.“ Das stimmte immerhin zur Hälfte. Zwar war er wohl kaum in der Lage, einen Sprung durchzuführen, aber einen leichten Frachter fliegen, starten und landen, das traute er sich tatsächlich zu. Wenn die Umstände nicht zu schlecht waren.
Der T’rr musterte ihn abschätzend und murmelte etwas Unverständliches. Dann wandte er sich an Arima. Dem heftigen Wortgefecht, das nun folgte, konnte Goliath unmöglich folgen. Aber es schien, dass der T’rr irgendetwas von der Guerilla wollte, wovon diese alles andere als begeistert war. Schnell setzte sich der ältere Mann allerdings durch und überschüttete die junge Kämpferin mit einem barsch klingenden Schwall von Befehlen oder Anweisungen. Arimas Antworten waren knapp und offensichtlich widerwillig.
Dann wirbelte sie plötzlich zu Goliath herum und schlitzte ihm mit einer schnellen Handbewegung die rechte Wange auf. Es gelang dem Piloten ein Zusammenzucken zu unterdrücken.
Der ältere T’rr nickte knapp und wandte sich wieder Goliath zu: „Gut. Vielleicht…gebrauchen wir dich als Piloten. Wir haben nur wenig. Aber wir haben…keine Menschenmaschinen. Also musst du lernen. Unsere Maschinen. Unsere Anzeigen. Versagst du…reiße ich dir die Eingeweide heraus und trinke dein Blut, Mensch oder nicht. Wir haben nur wenige Flugmaschinen. Verstehst du?!“
„Ja.“ Diese Drohung schien beunruhigend ernst gemeint zu sein.
„Wir werden sehen. Arima…hat die Verantwortung für dich. Deswegen das Blut. Sie hat dich eingebracht. Ist für deine Sicherheit zuständig. Und überwacht dich. Sie bringt dir auch die Sprache bei.“
Der TSN-Pilot blickte zu der Guerilla hinüber, die seinen Blick anscheinend nicht gerade begeistert erwiderte und sich sein Blut von den Krallen ihrer rechten Hand wischte.
Der Guerilla-Offizier winkte ihn hinaus: „Das ist alles für jetzt. Später reden wir weiter. Und lern besser zu sprechen!“
Noch ehe Goliath sich eine Antwort überlegen konnte, schob ihn Arima hastig nach draußen. Ihre helle Stimme klang verärgert: „Du bist ein Stein um meinen Hals.“ Ihr Terrekarii war deutlich besser als das ihres Kommandanten. Und natürlich auch als Goliaths Fähigkeiten: „Das war nicht…mein Wunsch.“
Sie zischte abfällig: „Was macht das schon. Ich hoffe für dich, dass du nicht gelogen hast.“
„Du sprichst sehr gut.“
„Besser als du.“
„Und warum…“
„Weil ich den Befehl dazu hatte. Keiner spricht mit dem Gefangenen. Keiner versteht ihn.“
„Und warum hast du dann heute…“
Sie legte kurz den Kopf schief und musterte ihn abschätzend: „Ich dachte, er lässt dich erschießen. Es gibt…einen Brauch bei T’rr und bei Akarii. Einem zum Tod verurteilten…gewährt man einen Wunsch. Und da du unbedingt verstanden werden wolltest…Goliath.“
„Den Brauch gibt es auch bei den Menschen.“
„Gut. Außerdem war ich es langsam Leid, mich von dir anbrüllen zu lassen. Und du kannst wirklich auch einen Frachter fliegen?“
Goliath zuckte mit den Schultern, mit einer Sicherheit, die er nicht unbedingt empfand: „Noch besser, als kämpfen.“
Sie musterte ihn noch einmal, erkannte, dass das wohl ein Witz sein sollte, und klackte kurz mit den Zähnen.
Auch Goliath ließ seine Zähne aufeinander klacken. Wenn er hier überleben wollte, dann würde er sich anpassen müssen. Mit etwas Glück kam er bald aus dieser erbärmlichen Zelle heraus. Er würde etwas tun, kämpfen, und vielleicht auch wieder fliegen können. ‚Und das ist doch schon mal ein Anfang.’
Cattaneo
Tyr

Mars

Lieutenant Commander George „Blackhawk“ Lincoln wirkte nicht einmal leicht beunruhigt. Andere Offiziere hätten nervös reagiert, wenn das Naval Intelligence Corps sie einbestellte, dazu auch noch ohne Angabe von Gründen. Vor allem, wenn dann statt des NIC-Offiziers plötzlich ein Vertreter des auch in Navy-Kreisen geheimnisumwitterten Terran Intelligence Service auftauchte. Die Zusammenarbeit zwischen dem wichtigsten „zivilen“ und den „militärischen“ Geheimdiensten war nicht unbedingt gut zu nennen. Die Natur des Konfliktes mit den Akarii führte dazu, dass NIC und TIS vielfach dasselbe Feld beackerten und die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den beiden Diensten waren legendär. Meistens gewann allerdings der TIS. Und wenn er mal wieder den NIC als „Tarnfirma“ benutzte, bedeutete nichts Gutes.

Der TIS-Offizier hatte nur kurz aufgeblickt und sich dann wieder in das Studium seines Laptop-Bildschirms vertieft. Diese Zermürbungsstrategie konnte den Navy-Offizier allerdings nicht aus der Ruhe bringen. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren war er im aktiven Dienst. Viele Offiziere seines Jahrgangs waren längst aus dem aktiven Flugdienst ausgeschieden und blieben auf dem Boden. Doch für Blackhawk gehörte das Fliegen schneller Kampfmaschinen zum Leben, fast wie das Atmen. Trotzdem er fast die Hälfte seiner Dienstzeit als Fluglehrer gearbeitet hatte, hatte er insgesamt sechzehn Feindmaschinen abgeschossen, die meisten davon während des Akarii-Krieges.
Blackhawks Ausgeglichenheit und ruhige Selbstsicherheit war allgemein bekannt. Geradezu legendär war die Tatsache, dass er es geschafft hatte zu heiraten und seit nunmehr fünfzehn Jahren eine anscheinend harmonische Ehe zu führen, der mehrere Kinder entsprungen waren. Eigentlich war der Job Gift für jede Beziehung.
Blackhawk kam in der Regel sowohl mit Vorgesetzten wie mit Untergebenen gut aus, ohne seine Prinzipien verraten oder sich anbiedern zu müssen. Er war bereit, fast jedem eine zweite und dritte Chance zu geben, und selbst den unsichersten Neuling anzuspornen und motivieren zu können. Und selbst wenn einmal disziplinarische Maßnahmen nötig waren, er verlor niemals die Geduld.
Es war nur logisch, dass man ihn wieder aus der Frontlinie herauslöste und als Fluglehrer zum Mars zurückschickte, als sich die Lage etwas stabilisiert hatte.

Blackhawk war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass der TIS-Mann wahrscheinlich über jede Kleinigkeit seiner Kariere Bescheid wusste. Aber Angst fühlte er keine. Keine der ‚Sünden’, die er hin und wieder doch einmal begangen hatte, rechtfertigten das Eingreifen des TIS oder verursachte ihm ein schlechtes Gewissen.
„Sie haben um die Versetzung zur Sonderstaffel AFT-24 ersucht. Der Posten des Staffelführers ist vakant. Wir wüssten gerne, wie Sie davon erfahren haben. Eigentlich ist die Personallage des Sonderverbandes Verschlusssache.“ Die Stimme des Geheimdienstlers, der sich als Andrew Wallner vorgestellt hatte, verriet keine Gefühle. Der TIS-Offizier war noch nicht sehr alt, Anfang Dreißig vielleicht, und damit fast zehn Jahre jünger als Blackhawk. Im Stehen war er sicherlich einen halben Kopf kleiner als der Pilot, und eher schlank als breitschultrig. Das schmale Gesicht hätte attraktiv gewirkt, wenn Wallner bereit gewesen wäre zu lächeln. Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war. Die schwarzen Haare trug er streichholzlang, und die Frisur wirkte etwas nachlässig. Die dunkelbraunen Augen musterten den schwarzhäutigen, hoch aufgeschossenen Navy-Offizier forschend.
Der Sonderverband AFT-24 war ein gemeinschaftliches Projekt der Navy, des Armeegeheimdienstes und des TIS. Von Anfang an hatte Uneinigkeit darüber geherrscht, was mit den erbeuteten Feindmaschinen werden – und wer für sie die Verantwortung haben sollte. Die Streitkräfte sahen natürlich zuallererst ihren militärischen Nutzen, während der TIS die erbeuteten Feindeinheiten für seine geheimdienstlichen Operationen wollte. AFT-24 war der Versuch, die ewigen Streitigkeiten zu beenden. Die Aufgabe der Sonderformation war es, erbeutete Feindjäger und Taktiklehrbücher auf Herz und Nieren zu prüfen, Schwachstellen und Stärken des Gegners herauszufinden und Gegenstrategien zu entwickeln. Allerdings war es ein offenes Geheimnis, dass sich der TIS gelegentlich Maschinen und angeblich sogar Piloten ‚auslieh’. Kein Pilot nannte den Sonderverband normalerweise mit seinem offiziellen Kürzel. Die Flieger, die von der Einheit wussten, nannten sie stattdessen die ‚Loki’-Staffel, nach dem Wikingergott der Täuschung und Gestaltwandlung. Zu „Loki“ zu gehören, war der Traum vieler Piloten.
„Wie Sie sicherlich meiner Dienstakte entnommen haben, bin ich schon seit mehren Jahren qualifiziert, Informationen dieser Geheimhaltungsstufe einzusehen. Diese Einstufung erfolgte im Rahmen meiner Beteiligung an mehreren Analyseprojekten und Untersuchungsausschüssen betreffs der Akarii-Jäger und Taktiken. Die Einstufung wurde niemals herabgesetzt. Und nach meiner Herauslösung aus dem Frontdienst war ich noch elf Mal als Teilnehmer, Sachverständiger oder Vortragender an entsprechenden Expertengremien und Arbeitsgruppen beteiligt. Auch wenn keine dieser Gruppen und Ausschüsse streng genommen zur AFT-24 gehört, gibt es personelle Überschneidungen und Kontakte.“
Was Blackhawk damit sagen wollte, war klar: ‚So leicht können Sie mich nicht einschüchtern.’ Inzwischen vermutete er, dass der TIS-Agent ihn einfach ein wenig unter Druck setzen wollte, damit er den Wünschen des Geheimdienstes gegenüber aufgeschlossener sein würde. Und tatsächlich brauchte er nicht lange auf den nächsten Versuchballon zu warten: „Wie Sie sicherlich wissen, verlangt eine Versetzung zur AFT-24 zwingend die erneute Überprüfung der entsprechenden Kandidaten. Und dabei sind wir auf…gewisse Unstimmigkeiten gestoßen. Unstimmigkeiten, die Zweifel an Ihrer Eignung aufkommen lassen könnten. Letzten Endes haben wir das letzte Wort, verstehen Sie? Es könnte sogar der Eindruck entstehen, dass Sie auch für die Ausbildung nicht mehr unbedingt geeignet sind. Und in dem Fall…“
Der Agent vollendete den Satz nicht. Das war aber auch nicht nötig, es war klar, worauf er anspielte – die Abschiebung auf einen Garnisonsposten oder sogar die Versetzung an die Front.
Jetzt war Blackhawk doch überrascht, sogar in zweifacher Hinsicht. Zum einen hatte er keine Ahnung, worauf der Geheimdienstler eigentlich anspielte. Inoffizielle Gespräche und der Austausch von Gerüchten mit Mitgliedern der AFT-24 konnte er jedenfalls nicht meinen. Und außerdem verwunderte ihn die etwas plumpe, unsubtile Vorgehensweise des Agenten. Dass der so unverhohlen drohte, war mehr als ungewöhnlich. Entweder war er in diesem Job neu, oder er stand selber unter Druck. George Lincoln entschloss sich, ebenfalls deutlicher zu werden. Seine Stimme blieb ruhig, aber es lag eine unterschwellige Härte darin: „Agent Wallner, ich diene seit inzwischen zwanzig Jahren in den Streitkräften. Wie Sie meiner Akte entnehmen können, habe ich gegen die Akarii gekämpft und wurde dafür ausgezeichnet. Ich würde vorschlagen, Sie behandeln mich nicht wie einen Bürokraten aus der Etappe, dem Sie mit der Verschickung an die Front einschüchtern können. Ich habe stets meine Pflicht erfüllt, und ich habe sie gut erfüllt. Wir beide haben sicherlich Wichtigeres zu tun, als diese Schattenfechterei fortzuführen. Lassen Sie also die Drohungen und sagen Sie lieber, was Sie wissen wollen. So sparen Sie Zeit.“
Das war ein Risiko, denn manche Geheimdienstler schätzten es gar nicht, wenn man ihre mehr oder weniger subtilen Verbalspielchen durchschaute. Aber anscheinend hatte Blackhawk den Agenten richtig eingeschätzt. Der Mann schien kurz aus dem Konzept, aber er wurde nicht laut. Stattdessen änderte er die Taktik, und wurde konkreter: „Sie wurden während ihres Kriegsdienstes von der Maryland auf die Redemption versetzt. Was war der Grund dafür?“
„Die Verluste der Angry Angels sollten ausgeglichen werden.“
„Gab es einen speziellen Grund, dass Sie angefordert wurden?“
„Abgesehen von meiner Qualifikation? Nein. Der Commander der Maryland hat Protest gegen meine Versetzung eingelegt, aber vergeblich. Offenbar hatten die Angry Angels damals die besseren Karten.“
„Sie wurden in die Staffel Grün versetzt. Staffelführer war Lieutenant Commander Diane Parker, XO Lieutenant Tatjana Pawlitschenko. Warum sind Sie nicht XO der Staffel geworden? Sie hatten eine entsprechende Position auf der Maryland inne und waren als ehemaliger Ausbilder und angesichts Ihrer Dienstakte doch wohl zweifelsohne besser geeignet als Pawlitschenko.“
Blackhawk war zu erfahren, um diesen Köder zu schlucken. Außerdem war er weder missgünstig noch nachtragend: „Es ist unüblich, jemanden der neu dazu stößt einen solchen Posten zu geben. Normalerweise soll der XO jemand sein, den die Piloten kennen und dem sie vertrauen. Und Pawlitschenko war eine hervorragende Pilotin.“
„Aber keine hervorragende XO.“
„Es steht mir nicht zu, eine ehemalige Vorgesetzte zu kritisieren. Oder sie im Rückblick zu bewerten. Soviel ich weiß, wurde sie inzwischen zum Lieutenant Commander befördert. Ihre Befähigung dürfte damit geklärt sein.“
„Sie behalten ihre Laufbahn im Auge?“
„Nicht nur ihre. Ich möchte wissen, wie es meinen alten Kameraden geht, wie sich meine Geschwader schlagen. Aber ich versichere Ihnen, ich halte dabei die geltenden Geheimhaltungsregeln ein.“ Fast hätte so etwas wie Spott in Blackhawks Stimme mitgeschwungen.
Agent Wallner steuerte jetzt direkt auf sein Ziel zu: „Die Angry Angels erlitten in der Schlacht von Jollahran hohe Verluste. Einer der Piloten der Roten Staffel, Clifford Davis, wurde für tot erklärt, tauchte aber etliche Monate später in einem Gefangenenlager der Akarii wieder auf, bei deren Befreiung ausgerechnet die Columbia-Kampfgruppe beteiligt war. Ist das richtig?“
„Ace? Warum fragen Sie mich das? Er gehörte nicht zu meiner Staffel, und wir waren auch nicht befreundet. Ich hatte mit ihm kaum etwas zu tun.“
„Wussten Sie, dass gegen Davis mehrere Untersuchungen des NIC liefen?“
„Nein. Da haben Sie mir etwas voraus. Da Sie Ace aber weiter fliegen lassen, nehme ich an, diese Untersuchungen haben nichts Verdächtiges zutage gebracht, oder?“
Der Agent gab keine Antwort, trommelte nur kurz mit den Fingern auf die Tischplatte.
„Nach der Schlacht von Jollahran musste die Redemption aufgegeben werden. Die Evakuierung verlief chaotisch und unorganisiert, was zu unnötigen Verlusten führte. Die Überlebenden wurden von der Galileo aufgenommen. Stimmt das?“
„Das wissen Sie doch.“
Die Knappheit der Antwort sagte dem Agenten, was er hören wollte. Blackhawk dachte nicht gerne daran zurück. ,Gut.'
“Sie gehörten zu den Piloten, die noch einsatzfähig waren. Während des Rückmarsches der Galileo, führten Sie und die verbliebenen Piloten der Angry Angels die üblichen Sicherungs- und Patrouillenflüge durch. Erinnern Sie sich an den 12. Juli 2634?”
“Wie bitte?”
„Darf ich Ihr Gedächtnis auffrischen? Sie und Lieutenant Commander Parker führten einen Langstreckenpatrouillenflug durch, zum größten Teil außerhalb der Sensorenreichweite der Galileo. Sie fingen einen SOS-Funkspruch auf, der Sie zu einer Kursänderung veranlasste. Ist das richtig? Sie fanden ein Wrack, das im Bericht als ‚vermutlich in Folge eines Unfalls aufgegeben’ eingestuft wurde.“
Blackhawks Gedanken überschlugen sich, auch wenn seine Miene ausdruckslos blieb. Was sollte das? Der zwölfte Juli 2634? Aber das war doch… Er antwortete automatisch: „Ja, das ist wahr…“
Der Agent ließ seine Hände auf die Tischplatte knallen: „UND DAS WAR EINE LÜGE! EINE LÜGE, LIEUTENANT!” Dieser Ausbruch kam völlig unvermittelt. Auch Wallner schien von seiner eigenen Heftigkeit überrascht zu sein. Aber er nahm dennoch kein Tempo weg: „Sie und ich wissen, dass das was in Ihrem Bericht stand, nicht stimmt, Lieutenant Commander. Ich frage Sie noch einmal – WAS GESCHAH BEI DIESEM PATROUILLEFLUG?!“
„Wie haben Sie davon erfahren?” Der Pilot hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, kaum dass die Worte seinen Mund verlassen hatten. Denn damit hatte er dem Agenten bestätigt, dass dessen Anschuldigungen wahr wurden. Dem knappen Lächeln nach, das kurz über das Gesicht von Agent Wallner glitt, war er sich seines Sieges nur zu bewusst: „Die Sensoraufzeichnungen aller Einsatzflüge in feindlichem Territorium, oder bei denen Kampfhandlungen stattfanden, werden aufbewahrt. Ebenso zeichnet der Sicherheitsdienst routinemäßig auch alle elektronischen Anfragen und Recherchen der Bordmitglieder auf. Meisten ist das dienstlicher Kram oder Freizeitrelevantes. Aber…wie soll ich es ausdrücken? Parker Interessen waren sehr…speziell und fokussiert. Und decken sich nicht mit der ‚Unfallthese’. Sehen Sie sich als Opfer der Bürokratie. Die Zeit der Lügen ist vorbei. Ich weiß, was Sie damals getan haben. Jetzt aber will ich wissen, WARUM.“
Als Blackhawks Gedanken zurückkehrten zu jenem Patrouillenflug, fühlte er, wie ein Gefühl in ihm wach wurde, dass er schon seit Jahren geglaubt hatte überwunden zu haben. Dieses unheimliche Gefühl einer fremden Präsenz, eines unsichtbaren Beobachters am Rande des Bewusstseins. Ein Schatten der auf einen schlafenden Menschen fiel, ein Kräuseln im dunklen Wasser, ein kalter Luftzug in einem unterirdischen Raum. All das, was er auf diesem Flug empfunden hatte. Genauso wie Parker.
„Ich hatte die Sensorpods an meiner Maschine. Wir hatten fast schon die Hälfte des Einsatzes hinter uns, maximale Entfernung zur Galileo. Da empfing ich das SOS eines terranischen Schiffes, ein automatisches Funkfeuer, zivile Kennung. Ein Frachter – die Copernikus. Das Signal war unregelmäßig, auf einer unüblichen Frequenz, und stark verstümmelt. Wir machten der Galileo Meldung und gingen auf Abfangkurs.”
„Das weiß ich alles. Erklären Sie mir lieber, wie Sie zu der Ansicht kamen, die Copernikus sei nach einem Unfall aufgegeben worden. Nach den Aufzeichnungen Ihrer Sensoren war der Rumpf des Frachters unbeschädigt. Es gab keine Anzeichen einer Havarie. Und das Schiff bewegte sich auf einem festen Kurs, ohne irgendwelche Abweichungen auf der Längs- oder Vertikalachse. IST DAS RICHTIG?!“
“Im Weltall kann ein Objekt praktisch bis in die Ewigkeit auf einem einmal eingeschlagenen Kurs fliegen, solange es nicht in das Schwerkraftfeld eines Himmelskörpers gerät.“
„Sie wollen mir weismachen, dass dieses Schiff vor über hundert Jahren aufgegeben wurde, nach einer ‚Havarie’ die die Hülle nicht beschädigte? Dass es dann auf einem scheinbar perfekt eingegebenen Kurs weitergeflogen ist, bis Sie es gefunden haben? Und dass die Besatzung der Copernikus einfach verschwand? Weil Sie vielleicht zu weit draußen waren und ihre Rettungskapseln nicht gefunden wurden? Oder weil Sie alle von Weltraumschnecken gefressen wurden?!“
„Wir…“
Der Agent ließ Blackhawk nicht ausreden: „Das ist Schwachsinn! Und das wissen Sie! Die Position, bei der Sie die Copernikus fanden, war etwa 200 Lichtjahre von ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort entfernt, mitten im leeren Raum. Die Copernikus kann unmöglich diese Strecke gedriftet sein! Und wenn sie das nicht ist, wenn die Havarie in der Region stattfand, in der Sie die Copernikus fanden – was sollte die Besatzung eines HANDELSSCHIFFS dann in diesem Raumsektor gesucht haben, mitten im Akarii-Raum, weitab von jeder Handelsroute oder bewohnten Welt?“
„Vielleicht haben Piraten das Schiff gekapert und später aufgegeben.“
„Piraten, die im Akarii-Raum operieren? Das müssen sehr tapfere Piraten gewesen sein. Und nach Ihren Aufzeichnungen gab es weder Anzeichen von Gefechtsschäden, noch Umbauten oder Aufrüstungen. Und wenn Sie diese Vermutung hatten, warum haben Sie oder Lieutenant Commander Parker dann nicht eine entsprechende Meldung gemacht und eine Untersuchung angeregt? Warum hat der Captain der Galileo nichts unternommen? Warum hat das NIC das Schiff nicht untersucht? Es gibt Richtlinien für den Umgang mit Raumschiffwracks. Dieses Schiff war immerhin VERSCHOLLEN. Es wäre Ihre verdammte Pflicht gewesen, eine Untersuchung einzuleiten. Warum haben Sie es nicht getan?“
George Lincoln verzog kurz den Mund, als hätte er einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Aber seine Stimme blieb ruhig und sicher. Sicherer, als er sich fühlte: „Sie haben es selbst gesagt, wir hatten schwere Verluste erlitten. Außerdem befanden wir uns immer noch im Akarii-Raum. Kaum der Ort für eine gründliche Untersuchung. Viele an Bord waren verwundet, einige sehr schwer. Die…Beziehung zu Captain Ward war schwierig, und er…maß einem solchen Vorfall wohl auch keine große Bedeutung bei.“
„Sie können offen sein. Ward war ein Feigling, der in der Schlacht die Nerven verloren hatte. Ein altes Raumschiffwrack war ihm egal, Vorschriften hin oder her. Da er schon seine Befehle und die Traditionen der TSN missachtet hatte, kam es darauf nicht mehr an.“
Blackhawk antwortete nicht. Aber diese Einschätzung Wards deckte sich mit der Meinung, die die meisten Piloten der Angry Angels von dem Captain der Galileo hatten.
„Ward hatte ganz einfach Angst. Und auch Sie wollten nur noch nach Hause. Keiner stirbt gerne im All.“
George Lincoln fixierte den Agenten, und jetzt lag eine unterschwellige Herausforderung in seiner Stimme. Diesmal war der samtene Handschuh über dem Stahl sehr dünn: „Wenn Sie mir Pflichtverletzung vorwerfen wollen, stehe ich jederzeit bereit, mich vor dem JAG zu verantworten. Ich wusste allerdings nicht, dass das den TIS beschäftigt.“
Der Agent zuckte kurz mit den Achseln: „Es hätte wohl wenig Sinn, mit einer juristischen Aufarbeitung ausgerechnet bei Ihnen anzufangen. Und es gibt vieles, was Sie nicht verstehen. Aber in diesem Fall… Nur soviel, es geht hier um mehr als eine unbedeutende Verletzung des Einsatzprotokolls. Es besteht der Verdacht…dass die Akarii schon wesentlich länger als bisher angenommen an der Ausforschung des terranischen Raumes arbeiten. Dass sie schon seit Jahrzehnten einzelne unserer Raumschiffe kapern. Möglicherweise nur, um Informationen zu gewinnen. Aber vielleicht auch, um an Schiffe zu kommen, mit denen sie in unser Territorium einsickern können. Um die Gefangenen einer Gehirnwäsche zu unterziehen, und sie als Agenten einzusetzen. Oder sogar, um Agenten zu ZÜCHTEN. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass dies eine massive Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellt, egal wie lange das her ist. Denn darauf aufbauend hätten sie langfristig die ganze Republik und die Konföderation unterwandern können. Es würde einiger unserer Rückschläge…plausibel erklären. Es gibt gewisse Hinweise, dass die Copernikus möglicherweise in derartige Aktivitäten verwickelt wurde, bevor sie dann später aufgegeben wurde. Verstehen Sie JETZT das Interesse des TIS?“
Blackhawk musterte den Agenten ungläubig: „Glauben Sie wirklich…“
„Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Eine Rolle spielt nur, dass Sie an diesem Tag Ihrer Pflicht nicht gerecht geworden sind. Und Ihrer Dienstakte…”, ein humorloses Lächeln, “…nach, ist das nichts, was Sie auf die leichte Schulter nehmen. Wir haben die Aufzeichnungen. Ihre Vorgesetzte hat damals Nachforschungen angestellt, die eine weitere Untersuchung verlangt hätten. Sie, Parker, ihr Commander und Ward haben das versäumt. Und momentan sind Sie nun einmal der einzige, bei dem wir mit einer Beseitigung ihrer Nachlässigkeiten anfangen können.
Ich will alles wissen, was Sie auf diesem Einsatzflug gedacht, gefühlt und wahrgenommen haben. ALLES. Was Parker Ihnen über ihre Nachforschungen erzählt hat, und wieso sie der Sache nicht nachgegangen ist. DENKEN SIE NACH. Die anderen werden wir auch noch verhören. Also seien Sie präzise!“ Und damit erhob sich Andrew Wallner abrupt und drehte beim Aufstehen den Bildschirm seines Laptops, so dass Blackhawk ihn sehen konnte: „Sie haben einmal versagt. Enttäuschen Sie uns nicht noch einmal. Es steht weit mehr auf dem Spiel, als Sie sich überhaupt vorstellen können!“ Dann verließ er den Raum.

Blackhawk erwartete ein Fragenkatalog, der ausgedruckt sicherlich dreißig Seiten umfasst hätte. Mindestens. Der Pilot hütete sich, seine Gefühle zu zeigen, als er dem entschwindenden TIS-Mann kurz hinterher blickte: ‚Wenn wir hier schon von Lügen reden…’ Aber der TIS saß am längeren Hebel. Wenn sie wirklich auch Parker verhören wollten, dann hatte es jetzt keinen Sinn, etwas zu verschweigen. Zumal es dafür eigentlich keinen Grund gab. ‚Außer dem Wunsch, nicht zu paranoid und abergläubisch zu wirken’. Hoffentlich dachte sich der TIS eine bessere Geschichte aus, wenn sie Parker verhörten.
Kurz überlegte Blackhawk, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn sie damals das treibende Wrack einer näheren Untersuchung unterzogen hätten. Aber dann erinnerte er sich noch einmal daran, was er bei dem Anblick der Copernikus gespürt und gefühlt hatte. ‚Besser wäre gewesen, wir hätten niemals Meldung darüber gemacht…’
Aber warum interessierte sich die TIS WIRKLICH für die Copernikus?
Cattaneo
Tyr

Der Agent trat so lautlos ein, dass einer der beiden Menschen, die in dem direkt an das Verhörzimmer angrenzenden Raum saßen, überrascht zusammenzuckte.
„Nur ruhig, ich bin es nur.“
Der Angesprochene, ein hagerer Bursche Anfang Zwanzig, mit fahrigen, nervösen Bewegungen, lächelte unsicher: „Hallo Trem…“
„Du hast es schon wieder vergessen. Hier heiße ich Wallner.“
„Entschuldigung.“
Andrew Tremane schüttelte frustriert den Kopf: „Du bist ein lausiger Spion.“
„Das war nie mein Job, das weißt du doch.“ Das stimmte natürlich, auch wenn Johann Steinmark zum TIS gehörte. Aber er war nie ein Einsatzagent gewesen. Stattdessen hatte er bis vor etwa zwei Jahren zur EAD gehört, der Extraterrestrial Archaeology Division, einer ziemlich unbedeutenden Unterabteilung des TIS. Aufgabe der EAD war es gewesen, archäologische Ausgrabungen im Auge zu behalten, oder solche Ausgrabungen selbst durchzuführen, die den Überresten außerirdischer Siedlungen und Vorposten galten. Der TIS wollte nicht das Risiko eingehen, dass irgendwelche universitären Fachidioten vollkommen unkontrolliert in den Überresten technologisch teilweise sehr weit fortgeschrittener Zivilisationen herumstocherten. Immerhin konnten sie dabei auch auf militärisch relevantes Material stoßen.
„Aber jetzt ist es dein Job. Also versuch’ dir wenigsten ein paar Regeln zu merken. Und meinen Namen.“
„Lass den Jungen in Ruhe. Aus einem Golden Retriever machst du keinen Fuchs.“ Die Frau hatte Tremanes Eintreten sofort bemerkt, obwohl sie ihm den Rücken zuwandte und ihre Aufmerksamkeit auf die Anzeigen der Geräte konzentriert war, die momentan alle auf Lieutenant Commander George Lincoln gerichtet waren. Der hatte keine Ahnung, dass seine Hauttemperatur, Herzfrequenz, Pheromonausschüttung, Atmung und sein Gesichtsausruck lückenlos aufgezeichnet und analysiert wurden. Die Frau war hoch gewachsen, Ende Zwanzig, wirkte durchtrainiert und zäh. Momentan trug sie die Uniform eines Navy-Lieutenant. Auch wenn sie nicht zu den Streitkräften gehörte, trug sie diese Kleidung wie eine zweite Haut. Das weißblonde Haar war nach Art der Marines kurzgeschoren, was ihrem ausdrucksstarken, scharf geschnittenen Gesicht eine unleugbare Aggressivität verlieh. Jetzt drehte sie sich um und warf Tremane aus eisblauen Augen einen spöttischen Blick zu: „’Agenten zu züchten?’ Euch Typen vom BUB fallen doch wirklich nur die blödsinnigsten Geschichten ein.“
Tremane fletschte die Zähne. Er mochte diese Bezeichnung nicht. Jean Falkner WAR Einsatzagentin gewesen. Eigentlich hatte sie hier nichts verloren. Sie gehörte an die ‚Front’. Aber aus irgendeinem Grund war sie trotzdem unter Tremanes Kommando gelandet, ihm aber rangmäßig gleichgestellt. Gerüchten zufolge hatte ihre Abkommandierung irgendetwas damit zu tun, dass vor gut drei Jahren einige Leute im TIS und NIC aus irgendwelchen dubiosen Gründen an verschiedenen Instanzen vorbei auf Terra ein Kriegsgefangenlager für Akarii eingerichtet hatten. Angeblich waren etliche Gefangenen geflohen, oder eine spezielle Operation des Geheimdienstes extrem aus dem Ruder gelaufen. Das hatte manchen TIS- und NIC-Angestellten seinen Posten oder seine Kariere gekostet, und Falkner auf ihre Irrfahrt durch die diversen Unterabteilungen und Karriere-Sackgassen geschickt, bis sie vor drei Monaten bei Tremane gelandet war.
Und eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war es, ihn wegen seiner Angehörigkeit zum BUP, dem Bureau for unclassified Phenomenon aufzuziehen. Diese Unterabteilung des TIS hatte wie das EAD lange Jahre ein Dasein im Schatten anderer Abteilungen geführt, und sich mit solchen Fällen, Sichtungen und Berichten herumschlagen müssen, die meist eher eine Sache für den Psychiater als für ernst gemeinte Geheimdienstarbeit waren. Deshalb hatte das BUP im internen Jargon des TIS schon vor Jahren die Bezeichnung BUB (Bureau for unclassified Bullshit) erhalten, und war nur dank bürokratischer Trägheit und dem wenig schmeichelhaften Umstand nicht aufgelöst worden, dass IRGENDJEMAND sich um solche Fälle kümmern musste.
„Ich musste improvisieren. Der Kerl war ein zäher Brocken.“
„Das steht in seiner Dienstakte.“ Jean zog spöttisch eine Augenbraue hoch: „Ich glaube, die kam ein paar mal in eurem Gespräch vor, seine Dienstakte, oder?“
Ausnahmsweise stieg Tremane nicht auf ihre Sticheleien ein: „Und, was sagen deine Geräte?“
„Dass du die richtigen Knöpfe gedrückt hast. Die Sache damals muss ihm wirklich zu schaffen gemacht haben, wenn er jetzt noch so stark reagiert.“
„Wundert dich das? Ich habe es dir doch gesagt. Behalt ihn genau im Auge. Ich will wissen, was er fühlt, bei jeder einzelnen verdammten Frage, die er ausfüllt.“
„Ich kenne meinen Job. Wir lassen ihn den Papierkram ausfüllen, geben ihm etwas Zeit, damit er wieder runter kommt, und dann kaust du das noch einmal mündlich mit ihm durch. WENN er was zurückhält, dann kriegen wir das raus.“
„Hoffentlich.“
„Erzähl mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll. Klar, es ging einfacher, wenn wir ihn mit Drogen voll pumpen und ein paar Elektroden anlegen würden. Aber das fällt ja wohl weg, oder?“ Falkner war zwei Jahre im Außendienst gewesen und außerdem zur Verhörexpertin ausgebildet worden. Tremane wusste immer noch nicht genau, ob ihr Fundus an Anekdoten und Schauergeschichten auf der Realität oder gar eigenen Erfahrungen beruhte. Steinmark glaubte ihr offenbar und lauschte Jeans Worten immer mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.
„Sir…warum sagen wir ihm nicht die Wahrheit?“ Das war Steinmark. Bei dem Blick, den Tremane ihm zuwarf, wurde er sichtlich blasser: „Die Wahrheit, Johann? Die Wahrheit? Meinst du, ich soll ihm erzählen, dass er an diesem Tag dem Tod begegnet ist? Dass, wenn Ward nach den geltenden Richtlinien gehandelt hätte, die Galileo vielleicht nicht mehr zurückgekommen wäre? Dass dieses treibende Wrack gefährlicher ist als eine Fusionsbombe?! Hätte ich ihm das sagen sollen?“
„Äh…nein, wohl doch nicht.“
„Ich wusste doch, dass Du mir zustimmst. Wahrscheinlich hätte er mir sowieso nicht geglaubt. Oder er hätte gedacht, dass ich verrückt geworden bin.“
Das war der perfekte Aufhänger für Jean: „Wie könnte er bloß auf die Idee kommen?“
Tremane fuhr unbeirrt fort: „Und was wäre, wenn er mir geglaubt hätte? Wir können doch nicht zulassen, dass so etwas die Runde macht.“ Er fixierte noch ein paar Sekunden den nervösen Ex-EAD’ler, dann wandte sich Tremane um und verließ den Raum genauso lautlos, wie er eingetreten war.
Jean Falkner lachte amüsiert auf: „Sie schaffen es echt, auf die richtigen Knöpfe zu drücken, damit der Chef in die Luft geht. Und ich dachte, ich wär’ die Einzige, die das kann.“ Bei diesen Worten verschränkte sie ihre Finger und streckte sich ausgiebig. Ihr Lächeln war…zweideutig. Johann Steinmark lief rot an. Was auch ihr Ziel gewesen war: „Ein guter Rat unter Kollegen, Professor. Wenn es um die Copernikus geht, solltest du dir jedes Wort zweimal überlegen. Worte wie ‚Öffentlichkeit’ oder ‚Wahrheit’ schluckst du besser runter. Wie auch irgendwelche Zweifel an der ganzen Sache. Die Copernikus…das ist Tremanes Weißer Wal. Kapierst du, was ich damit meine?“ Sie hatte keine Hemmung, Tremanes echten Namen zu benutzen.
„Ich…glaube schon. Aber warum ist das so? Woher wissen Sie das?“ Jeans einzige Antwort war ein anzügliches Grinsen. Johann Steinmark raffte alles zusammen, was ihm an Mut zur Verfügung stand, und stellte die Frage, die ihm schon seit langen auf der Zunge brannte: „Sie und der Chef, haben Sie beide…“
„Wenn ich irgendeine deiner letzten Fragen beantworten würde… Dann müsste ich dich anschließend leider erschießen.“
Cattaneo
Tyr

Andrew Tremane erreichte sein Quartier. Am liebsten hätte er die Tür hinter sich zugeknallt, aber das war im Zeitalter der Automatiktüren unmöglich geworden. Mit einem lautlosen Fluch ließ er sich auf das schmale Bett fallen und starrte zur Decke. Normalerweise diente dieses Quartier einem der Flugausbilder oder auch einem Gastlehrer als Unterkunft. Es war im Vergleich zu den Kadettenunterkünften großzügiger aber nicht verschwenderisch angelegt, und verfügte sogar über ein Pseudofenster, das einen Ausblick auf die Marsoberfläche und den Sternenhimmel bot. Tremane hatte den Schirm ausgeschaltet. Wo andere nur eine schöne Aussicht, eine Abwechslung von der recht tristen Innenausstattung sahen, hatte er die Leere und die Schatten erblickt, die zwischen den Himmelskörpern lauerten.
Er war müde, wütend und frustriert. Es hatte ihn Jahre gekostet, an diesen Ort zu kommen, DIESE Aufgabe zu erhalten, aber er fühlte keine Erleichterung. Nur Verbitterung, wenn er an die fruchtlosen Jahre beim BUP zurückdachte, die unbeantworteten Eingaben und abgelehnten Anträge. Die verdeckte Geringschätzung und den offenen Hohn, der ihm von den Mitgliedern anderer Abteilung entgegenschlug.
Er wusste sehr genau, dass er sein Hiersein nur in zweiter Linie der eigenen Hartnäckigkeit verdankte. Hauptgrund war der verdammte Krieg. Im TIS waren nach den Schlappen der ersten Monate eine Menge Köpfe gerollt. Dann hatte man alle Ressourcen in den Dienst der Krieganstrengung gestellt. Paradoxerweise war das dem EAD und dem BUP in gewisser Weise sogar zugute gekommen. Jedenfalls Tremanes Meinung nach. Immerhin hatte das EAD gute Kontakte in der Konföderation und zum Explorerkorps des NSC, des Naval Scientific Corps. Und man war in der TIS-Führung endlich auch bereit gewesen, etwas…unorthodoxere Methoden und Beobachtungen in Betracht zu ziehen. Angeblich hatte man sogar die Forschung im Bereich Telepathie wieder aufgenommen, auch wenn das wahrscheinlich nur ein Gerücht war.
Jedenfalls hatte man BUP und das EAD zusammengelegt, dann offiziell aus dem TIS ausgegliedert, und vor einem Jahr als „Sektion Sieben“ dem NSC angegliedert. So hatte der TIS mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die ‚alten Spinner’ der beiden Abteilungen, die sich zäh an ihre alten Kompetenzen und verschrobenen Lieblingsprojekte klammerten, konnten endlich in den Ruhestand versetzt oder rausgeekelt werden. Man konnte die Budgets der Navy anzapfen und mit dem NSC eine auch in der Gesellschaft angesehene Institution unterwandern. Außerdem fiel es dem Explorerkorps jetzt viel schwerer, seine Forschungsergebnisse dem Zugriff des TIS zu entziehen, der die „Eierköpfe“ und „Weltraumvagabunden“ immer schon etwas skeptisch betrachtet hatte.
Tremane war es im Gegensatz zu anderen BUP-Mitarbeitern egal gewesen, dass die Abteilung ihre Eigenständigkeit verloren und zumindest formal den Brotgeber gewechselt hatte. Er empfand sogar eine gewisse grimmige Belustigung. Seine Tätigkeit im BUP war immer nur Mittel zum Zweck gewesen, nachdem man ihn beim NSC nicht hatte annehmen wollen. Jetzt hatte er endlich die nötigen Mittel zur Verfügung, hatte mit Falkner eine kompetente Mitarbeiterin und stieß endlich auch auf offene Ohren.
Aber all das hätte ihn nicht weitergebracht, nicht einmal die Tatsache, dass er es gewesen war, der den Copernikus-Vorfall der Galileo entdeckt hatte, wenn nicht vor vier Monaten Bewegung in diesen Fall gekommen wäre, der für ihn sehr viel mehr war, als ein einfacher Ermittlungsauftrag.

Nach ein paar Minuten, in denen seine Gedanken um die vergangenen Demütigungen und verpassten Chancen gekreist waren, richtete Tremane sich auf und griff nach einem handlichen aber abgegriffenen Audio-Abspielgerät, das unter seinem Kissen lag. Kurz zögerte er, dann schaltete er das Gerät an.

Die TSN und der TIS hatten in den vergangenen Jahren buchstäblich tausende von Hyperfunk-Empfängern und vollautomatischen Abhörstationen im All stationiert – in den Grenzregionen, im umkämpften Raum und im Akarii-Territorium. Pausenlos lauschten die automatischen Ohren, fingen die Langstreckenkommunikation zwischen den Akarii-Welten, Raumstationen, den zivilen Frachtschiffen und auch den Kriegsschiffen des Gegners auf. Anfänglich nur eine spärlich rinnende Informationsquelle, war der Nachrichtenstrom inzwischen zu einer wahren Informationsflut angeschwollen. Wenn es gelang, die gegnerischen Kodes rechtzeitig zu knacken, bevor die Informationen veraltet waren. Während die zivilen und administrativen Verschlüsselungen inzwischen regelmäßig und mit geringer Verzögerung geknackt wurden, waren die Militärkodes eine härtere Nuss. Und bei den Geheimdienstverschlüsselungen bissen sich die Kryptologen immer noch in mehr als zwei Dritteln der Fälle die Zähne aus, oder konnten höchstens Bruchstücke entziffern.

Dieser spezielle Funkspruch war mit einem etwas älteren Militärkode verschlüsselt gewesen, wie er für nachrangige Garnisons- und Patrouilleeinheiten charakteristisch war. Er war offenbar von einem zum Hilfskreuzer umgerüsteten Akarii-Frachter der ‚Goose’-Klasse abgeschickt worden. Mit sechs Lasergeschütztürmen, einigen Antijägerraketenwerfern und einem Zwillings-SSM-Werfer ausgerüstet, versahen Dutzende oder Hunderte dieser Schiffe Patrouillendienste im Akarii-Hinterland. Auch wenn sie selbst einer veralteten Korvette unterlegen waren, konnten sie mit den meisten Schmugglern und Piraten fertig werden. Üblicherweise bestand die Besatzung aus etwa zwanzig Besatzungsmitgliedern und gelegentlich einem kleinen Kontingent Marineinfanterie. Der Funkspruch war aus einem völlig uninteressanten Winkel des Akarii-Imperiums abgeschickt worden, fernab der momentanen Kampfhandlungen. Nur durch Zufall hatte eine der Abhörstationen das Signal empfangen, das teilweise verstümmelt und insgesamt von schlechter Qualität gewesen war. Vermutlich wäre der Funkspruch nicht einmal übersetzt worden, wenn nicht ein von Tremane eigens entwickeltes Suchprogramm Alarm geschlagen hätte. Mit der Installation dieses Programms hatte er sich damals weit aus dem Fenster gelehnt, hatte den Dienstweg übergangen und war beinahe gefeuert worden. Aber der Erfolg hatte ihm Recht gegeben.
Auch wenn seine Sekurr-Kenntnisse eher begrenzt waren, hatte er den Funkspruch so oft im Original wie der Übersetzung gehört, dass er inzwischen fast jedes Wort verstand. Und was er schon beim ersten Mal verstanden hatte, was ihm fast ebensoviel gesagt hatte, wie der Inhalt der Worte, waren die Gefühle, die aus ihnen sprachen.

Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte er jetzt noch einmal der Botschaft, die ihn nicht mehr losließ, ob im Schlafen oder im Wachen. Und fragte sich unwillkürlich, wie viele ähnliche Funksprüche im Lauf der letzten hundert Jahre ausgesandt worden waren.

Die aufgezeichnete Stimme gehörte einer Akarii-Frau, immer wieder überlagert von Störgeräuschen. Aber die schlechte Qualität der Aufnahme konnte nicht hinwegtäuschen über das Grauen, das aus der Stimme der Offizierin sprach: „…verlief ohne besondere Vorkommnisse. Vor vier Tagen aber fingen unsere Sensoren ein Signal auf, das offenbar terranischen Ursprungs war. Es handelte sich anscheinend um ein Notsignal…
…ein Frachter der Menschen, älterer Bauart. Keinerlei Energiesignatur bis auf die Positionslichter und das Notsignal. Lebenserhaltungssysteme und Maschinen offenbar schon seit Jahrzehnten ausgefallen. …unklar, wie er in dieses System geraten ist.
….vielleicht ein altes umgebautes Spähschiff? Ein Flottenversorger oder Handelsschiff, das einen katastrophalen Fehlsprung durchgeführt hat?
…Name Copernikus…
Kapitän Tan Placat schickte ein Enterkommando unter Befehl von Lieutenant Lagg Ken an Bord. Die Shuttlerampe war offen.
Nach den ersten Berichten gab es an Bord der Copernikus weder Spuren von Kämpfen, noch Leichen. Die Aufzeichnungen des Bordcomputers waren gelöscht worden.
…Schiff seit über einhundert Standartjahren verlassen…
…unbekannt, was dann geschah.
…Explosion an Bord des Erdfrachters…
…dachten, es wäre ein Unfall gewesen. Das war ein Irrtum.
…muss mit den Toten und Verwundeten an Bord gekommen sein, trotz unserer Sicherheitsvorkehrungen…weiß ich nicht, wie das möglich war.
Zuerst nur Unregelmäßigkeiten bei den Triebwerken. Wir dachten nicht…
…fielen die Maschinen vollständig aus, dann Waffen- und Lebenserhaltungssysteme.
…verloren den Kontakt zum Maschinenraum. Keiner konnte entkommen.
…Offiziere und Mannschaften starben einer nach dem anderen, ohne dass wir den Angreifer…
…unmöglich, die Brücke weiter zu halten. Ich weiß, dass es da draußen ist. …versuche, mich zu einer der Rettungskapseln durchzuschlagen….muss es versuchen.
Was es auch ist…kein Mensch. Ein Mensch könnte niemals…
Lieutenant Rip Lay, dritte Offizierin, letzte Überlebende des Hilfskreuzers Motronos.
Ende der Aufzeichnung.“

Was danach geschehen war, war nicht ganz klar. Aber etwa vierzig Stunden nach diesem Hilferuf war eine Korvette der Quebec-Klasse in das System gesprungen.
Tremane wusste nicht, ob Lieutenant Rip Lay überlebt hatte. Obwohl sie eine Akarii war, hoffte er es. Er hasste die Echsen nicht wirklich.
Zwölf Stunden nachdem die Korvette in dem System aufgetaucht war, hatte sie einen umfangreichen Funkspruch an die nächste Flottenbasis abgesetzt. Leider hatte dieser Funker einen der modernen Marinekodes benutzt, den die Kryptologen des TIS nur teilweise entschlüsselt hatten.
Da in der Nachricht irgendetwas von ‚Befragung’ oder ‚Verhör’ gesagt wurde, schien es wenigsten einen Überlebenden gegeben zu haben. Nach Absetzen des Funkspruchs hatte der Korvettenkapitän offenbar auf weitere Befehle gewartet, die erst zehn Stunden später ankamen. Diesen Funkspruch hatte man etwas besser entschlüsseln können. Offenbar hatte der verantwortliche Sektorkommandant den Befehl gegeben, die Motronos zu sprengen. Dieser Befehl war ausgeführt worden, und dann hatte die Korvette das System sofort verlassen.
In keinem der späteren Funksprüche war die Copernikus erwähnt worden. Auch keine Wrackteile, die ihr zugeordnet wurden. Als wäre sie spurlos verschwunden.
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„Hörst du dir schon wieder diesen Scheiß an?“
Tremane blickte auf. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Falkner in der Tür stand.
„Ist Lincoln fertig?“
„Netter Versuch. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Das hatte er tatsächlich nicht, und verdammt wenig Lust, es jetzt noch zu tun. Außerdem kannte sie die Antwort.
„Also ich glaube immer noch eher, dass das ein dummer Witz von irgendeinem Akarii-Funker ist, als deine Geschichte…“
„Hör auf, dich selber zu belügen. Du kennst die Fakten. Woher hätte ein Akarii von der Copernikus wissen können? Es ist gut drei Jahre her, dass die Galileo sie gesichtet hat, und es wurde kein Wind darum gemacht. Etwas zu viel Zeit für einen Geheimdienstscherz.“
„Und wenn diese Akarii-Offizierin einfach übergeschnappt ist? Gut, dann haben sie eben ein treibendes Wrack gefunden. Aber nicht mehr. Die Goose-Frachter sind veraltet. Vermutlich gab es eine Havarie an Bord der Motronos, und die Überlebende hat angefangen zu halluzinieren. Unsere Analysten schätzen sie jedenfalls nach den Aufzeichnungen als in einem labilen psychischen Zustand ein.“
„Und was hat diesen Zustand verursacht? Sie war immerhin eine Offizierin der Marine, nicht irgendeine Handelsmatrosin. Und die Copernikus KANN gar nicht gedriftet sein, verdammt.“
Tremane sprang auf und beugte sich über das Datenverarbeitungsgerät, das zur Ausstattung des Quartiers gehörte. Mit schnellen, geübten Bewegungen rief er eine Interstellarkarte auf. Falkner musterte ihn mit einer Mischung aus Besorgnis, unterschwelliger Zuneigung und Frustration.
„Schau her, Jean. Hier ist die Copernikus verschwunden. Hier wurde sie zum ersten Mal gesichtet…“
„Das ist nur ein Gerücht. Es gibt keine Beweise dafür.“ Sie war die einzige, die ihm gegenüber solche Zweifel äußern konnte. Aber Tremane fuhr unbeirrt fort: „Es ist die Wahrheit. Ich weiß es! Hier traf sie dann auf die Galileo-Kampfgruppe. Und hier stieß sie auf die Motronos!“
Er knallte die geballte Faust auf die Tischplatte, und seine Stimme überschlug sich fast: „Vier Positionsangaben, über einhundert Jahre verteilt. Die Entfernung beträgt über 210 Lichtjahre. Sie KANN diese Strecke unmöglich in dieser Zeit getrieben sein. Entweder sie kann schneller driften als das Licht, oder sie ist gesprungen. Und zwar mehrmals, auch innerhalb der letzten drei Jahre! Alle Sichtungen besagten dasselbe – keine Triebwerksemissionen, Lebenserhaltungssysteme ausgefallen, Energiesignatur kaum vorhanden. Nur die Positionslichter und diese Notrufaufzeichnung waren noch aktiv. Aber die sind praktisch für die Ewigkeit konzipiert worden.
Und noch etwas…“ Seine Hände flogen über die Tastatur, dann drehte er den Sichtschirm zu Falkner. „Ich habe die Positionsangaben und den ermittelten Kurs der Copernikus verglichen. Sie fliegt immer noch stur denselben Kurs!“
Tatsächlich ergaben die Positionsangaben eine gerade Linie, wie mit einem Laser gezogen, die vom Randsektor des republikanischen Raumes durch das Akarii-Imperium schnitt, und deren Ziel irgendwo in den unbekannten Regionen des sternenleeren Galaxisrandes zu liegen schien. Sollte die Copernikus ihren Kurs fortsetzen und der Vormarsch der TSN der bisherigen Stoßrichtung folgen, dann bestand anscheinend wirklich die Möglichkeit, dass irgendwann in den nächsten Monaten oder Jahren Erdenschiffe erneut den Kurs des Geisterschiffs kreuzen würden. Jean Falkner fühlte, wie ein kalter Schauder über ihren Nacken fuhr, und unterdrückte das Gefühl verärgert. Jetzt fing sie auch schon damit an! Das war offenbar ansteckend.
„Das weiß ich doch alles. Aber du verrennst dich! Und dass du dann auch noch einen Haufen Kriegshelden und hochrangige Offiziere verhören willst…“
Tremane winkte verächtlich ab: „Ward ist nicht mal mehr bei der Navy. Der ist als nächstes dran, dieser erbärmliche Feigling! Und Cunningham, Parker und die anderen…Keiner von denen ist mehr als ein Commander. Die machen mir keine Angst.“
„Warum schießt du dich so auf die Angry Angels ein?“
„Das weißt du doch! Die Copernikus stößt ausgerechnet auf das Geschwader, in dem Clifford Davis Dienst tut. Kurz nachdem der unter extrem unglaubwürdigen Umständen verschwunden ist, und kurz bevor er unter noch merkwürdigeren Verhältnissen wieder auftaucht. Die Angry Angels sind die einzigen, die eine Begegnung mit der Copernikus unbeschadet überstanden haben.“
„Weil sie das Schiff haben treiben lassen.“
„Ja, aber ich will wissen WIESO! Und ich glaube nicht an Zufall. Es waren Piloten der Grünen Staffel, die auf die Copernikus gestoßen sind. Und jetzt, gut drei Jahre danach, meldet eine Pilotin der Grünen Staffel schon wieder einen unidentifizierten Kontakt. Weißt du, wie unwahrscheinlich das alles ist?!“
„Musst du dich unbedingt auf Davis einschießen? Enkel eines Commodore, Kriegsheld…“
„Und Schoßhund der Dilettantin, der wir den Verlust von Manticore verdanken! Ich glaube nicht, dass irgend jemand seine schützende Hand über ‚Ace’ halten wird. Er schuldet mir noch ein paar Antworten! Und ich werde sie bekommen!“
Jean Falkner wusste sehr genau, warum sich Tremane ausgerechnet auf Clifford Davis konzentrierte, auch wenn der gar nicht an Bord der Galileo gewesen war, als der Träger den Kurs der Copernikus kreuzte.
Vor zwanzig Jahren hatte der Handelsraumer Stardancer, der im Grenzgebiet der Republik operierte, einen kurzen Funkspruch abgesetzt, dass man das Notsignal eines Frachters namens Copernikus aufgefangen hätte.
Das war das letzte Mal, dass man von der Stardancer hörte. Sie verschwand, als hätte sie das Vakuum aufgesogen, mitsamt ihrer dreißigköpfigen Besatzung. Der Kapitän der Sternentänzer war Dean Davis gewesen, ein Onkel von Clifford Davis und wohl so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Das war allerdings nicht die einzige Verbindung zur Gegenwart. Denn der Name des Zweiten Offiziers war John Tremane gewesen – Andrews Vater.
Deshalb hatte man ihr insgeheim auch den Auftrag gegeben, Tremane genau im Auge zu behalten. Ohne Zweifel war er in Bezug auf die ‚Akte Copernikus’ eine Koryphäe. Aber sein Enthusiasmus barg die Gefahr, in Besessenheit umzuschlagen. Einige seiner Ideen bewegten sich haarscharf am Rande der Paranoia oder überschritten die Grenze sogar. Jean Falkner wusste nicht genau, warum man ihn überhaupt weiter ermitteln ließ. Aber offensichtlich gab es irgendjemand ziemlich weit oben im TIS, der wollte, dass Tremane mit seiner Arbeit fortfuhr. Auch wenn er damit irgendwelchen Navy-Helden auf die Füße trat oder Gespenstergeschichten nachjagte.
Und diese Jagd war jetzt auch die ihre geworden. Sie musterte Tremanes angespanntes Gesicht. In dieser Stimmung war nicht mit ihm zu reden, das hatte sie inzwischen gelernt. Mit einem unterdrückten Seufzen stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Sie würde später noch einmal vorbeischauen.
Tremane hatte währenddessen wieder das Wiedergabegerät eingeschaltet, während seine Augen über die Wände des Quartiers wanderten, die den Blick auf die Dunkelheit des Weltraums versperrten.
Die Wahrheit wartete irgendwo da draußen, zwischen den Sternen. Aber sie machte nicht frei – sie tötete.
„…Was es auch ist…kein Mensch. Ein Mensch könnte niemals…“
Cattaneo
Cattaneo

Ein Gespräch unter Freunden
Columbia, eine Woche nach der Schlacht von Tukama

In der üblicherweise geschäftigen Atmosphäre der Haupttrainingshalle der Columbia war es normalerweise nicht einfach, sich auf etwas zu konzentrieren. Zu den meisten Tageszeiten schwirrte die Luft von Gesprächsfetzen, Flachsereien und nicht selten auch Flüchen, dazu kam noch der Geruch von Schweiß und, wie man so sagte, nicht selten auch Testosteron. Fast alle Besatzungsmitglieder nutzten diese Räume, außer sie waren absolute Feinde der Körperertüchtigung oder bevorzugten andere Möglichkeiten – etwa den Hangar. Hier hielt man sich fit, hier fand man aber auch eine Möglichkeit, Konflikte „unter der Hand“ zu klären, anzugeben und Kontakte zu knüpfen. Momentan aber war nach Bordzeit gerade „Nacht“ - das hieß, wer nicht gerade Dienst hatte oder das dringende Bedürfnis verspürte, sich zu beschäftigen, schlief sanft und selig – mehr oder weniger. Für einige Unentwegte galt dies allerdings nicht, außerdem hatte nicht jeder an Bord einen „normalen“ Tagesablauf, denn Maschinenraum und zahlreiche andere Bereiche funktionierten im Schichtbetrieb. Dennoch war die Halle, die wesentlich größer und auch moderner als die auf der alten Redemption war, so gut wie leer. Das Paar Unentwegter in einem der Ringe schien sich nur aufeinander zu konzentrieren – jeder ganz offenbar in der festen Absicht, den anderen umzubringen.
Während Ace vorsichtig zurückwich und sein Gegenüber betrachtete, kam ihm auf einmal in den Sinn, wie sehr doch die augenblickliche Situation seiner ersten Begegnung mit Lilja ähnelte. Genau wie damals standen er und die Russin sich im Ring gegenüber. Tja, blieb die Frage, wie viel sich wirklich seit diesem ersten Zusammentreffen zwischen ihnen geändert hatte...
Rein äußerlich war die Russin ganz die Alte geblieben – die Narben waren noch ein paar mehr geworden, aber ansonsten hatte sich bei ihr nicht viel geändert. Anders als bei manch anderem Veteranen ließ sie sich auch körperlich nicht gehen, und trotz der erlebten Schrecken und erlittenen Verletzungen zeigte ihr Haar noch keine einzige der grauen Strähnen, wie man sie mit zunehmender Kriegsdauer oft schon bei Männern und Frauen in den Zwanzigern fand. Kriegsjahre zählten eben einfach anders, und die fast fünf Jahre Krieg gegen die Akarii hatten auch die Überlebenden oft schwer gezeichnet, insbesondere diejenigen, die einen großen Teil der Zeit im Einsatz gestanden hatten. Doch dergleichen schien für Lilja nicht recht zu gelten, und noch immer hatte sie üblicherweise einen Blick drauf, gegen den Eis warm wirkte. Ihre schwarzen Augen hatten nichts von ihrer Schärfe verloren. Und sie war in Form geblieben, hatte eher noch an Kraft gewonnen, und auf jeden Fall an Heimtücke. Zudem – auch dies hatte sich nicht geändert – legte sie noch immer beträchtliche Energie in ihre Bemühungen, ihn auszuknocken.
Das zumindest hatte er gelernt – es spielte eigentlich kaum eine Rolle, ob man sich mit Lilja einen Wettstreit lieferte, sei es im Ring, auf dem Laufband oder im Simulator, oder ob mit ihr redete, oder besser, zumindest in seinem Fall, herumstritt.
,Und vermutlich war es nicht viel anders für die Akarii, wenn die gegen sie kämpften' dachte er säuerlich. Lilja zeigte stets eine unerbittliche Entschlossenheit, ließ sich durch keinen Rückschlag entmutigen und machte nötigenfalls aus reinem Trotz weiter, wo andere eingelenkt hätten. Das war wohl auch ihr Erfolgsrezept. Und wie bei Diskussionen, und vermutlich auch im Kampf gegen die Akarii, war sie sich selten zu fein für irgendeinen hinterhältigen Trick. Fairness war jedenfalls etwas, wozu sie sich selten bemüßigt sah, deshalb ähnelten solche Übungskämpfe einer Auseinandersetzung mit einem Gegner, der zu gleichen Teilen Boxer, bockendes Maultier und wütende Katze war...
,Und wenn sie siegt, hört sie selten auf, ehe ihr Gegner nicht im Staub liegt.'
Er vermutete, dass dies GENAU SO war wie wenn man gegen sie kämpfte. Sie hatte selber gelegentlich durchblicken lassen – üblicherweise im Zorn – dass die wenigsten der Akarii, die sie besiegte, diese Erfahrung überlebten. Und er hatte so seine Vermutungen, woran das liegen könnte.

Seit der Schlacht von Tukama hatte Lilja ihren ohnehin engen Zeitplan noch weiter gerafft. Natürlich – sie musste ihre Staffel wieder soweit einsatzbereit machen, wie dies möglich war, angesichts des Umstandes, dass ein Drittel gefallen oder verwundet war. Ace hatte selber eine ähnliche Arbeit am Hals, auch weil SEIN Staffelchef ebenfalls verletzt war, wenngleich nicht schwerwiegend, und seinem Naturell entsprechend auch im Krankenzimmer eher anderen Menschen auf die Nerven ging, anstatt zu arbeiten. Immerhin war die eigentliche XO der Roten Staffel ebenfalls ausgefallen, also blieb die meiste Arbeit an ihm hängen, wenn er sie nicht abwälzen konnte. Aus diesem Grund konnte er sich ungefähr vorstellen, was in kürzester Zeit alles auf die Russin eingestürzt war. Zudem kam bei ihr – anders als bei ihm – noch die Belastung, dass ihre bisherige Vorgesetzte definitiv auf lange Zeit ausgefallen war. Und Lightning war für Lilja eine echte Freundin gewesen, was man im Verhältnis Skunk-Ace nicht so ganz sagen konnte. Aus diesem Grund war Lilja in den letzten Tagen eigentlich ständig im Einsatz gewesen – wenn sie nicht flog, trainierte sie, sprach mit den Mitgliedern ihrer Staffel, versuchte zu erreichen, dass die Techniker vielleicht DOCH noch eine Überstunde dranhängten um die Jäger der Grünen etwas schneller einsatzbereit zu machen, oder kümmerte sich um den unvermeidlichen Papierkrieg. Folglich machte sie einen permanent überarbeiteten Eindruck und lief vor allem am ,Morgen' mitunter mit Ringen um die Augen herum wie eine Schlafwandlerin. Das schien aber ihrer Einsatzbereitschaft keinen Abbruch zu tun. Sie hatte sich offenbar recht schnell im Kreis der Offizierskollegen eingefügt – einmal abgesehen davon, dass sie wohl die Staffelchefin war, die Lone Wolf mit Abstand den meisten Respekt, ja fast Ehrerbietung entgegenbrachte. Gegenüber den anderen Lieutenant Commandern hatte sie weit weniger Probleme, obwohl man gegenüber Huntress mitunter fast von einem schlechten Gewissen ihrerseits sprechen konnte, vermischt mit Trotz, da sie sich zu der Meinung durchgerungen hatte, den ihr bei Tukama unterstellten Blauen nicht mehr abverlangt zu haben als ihren eigenen Leuten. Diese Gewissenbisse waren jedoch im Schwinden begriffen. Emotional schien sie die schwere Verwundung ihrer Freundin und Vorgesetzten bereits verdaut zu haben – zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Aber es war sowohl typisch für sie, keine Gefühle zu zeigen, wie sich nach Tiefschlägen zu erholen. Sie hatte ja auch derer schon genug erlebt. Der Kriegsbeginn, der Verlust der Redemption, mehrere Verwundungen, einmal in die Etappe abgeschoben... Dass sie all das durchgehalten hatte, sprach für ihre Belastbarkeit. Oder ihre Fähigkeit im Verdrängen.

Es war schon eine Überraschung gewesen, dass sie ausgerechnet ihn, Ace, gebeten hatte, ihr bei einer Übungsrunde als Sparringspartner zu assistieren. Kein Wunder freilich, dass sie die Sitzung um elf Uhr abends Bordzeit anberaumt hatte. Und wohl auch kein Wunder, dass sie gleichsam erklärend erläutert hatte, bei ihm mache es ihr nichts aus, einmal etwas fester zuzuschlagen, zudem müsse sie nach dem Schreibkram mal wieder etwas Frust ablassen...
,Vermutlich will sie um Himmels Willen den Eindruck vermeiden, ihr liege etwas an meiner Gesellschaft.' dachte er.
So standen sie sich nun seit geraumer Zeit gegenüber, und wie fast immer schien der Punktestand ziemlich ausgeglichen. Er war ihr etwas an Kraft, Größe und Gewicht überlegen – sie war auf Grund ihres erbarmungslosen Trainings vielleicht ein wenig besser in Form, und vor allem kam ihre schiere und extrem gut entwickelte Sturheit ins Spiel, die manche bereits als „Liljas Geheimwaffe“ bezeichneten. Außerdem war es schwer gegen jemand zu boxen, der selbst dann eine Beinschere versuchte, wenn er gerade selber zu Boden gegangen war. Ace hatte nicht den Eindruck, dass Lila ihm wirklich schmerzhaft eine verpassen wollte – anders als bei ihrem ersten Zusammentreffen – aber das bedeutete nicht, dass sie sonderlich schonend mit ihm umging.

Schließlich signalisierte die Russin das Ende des Kampfes, indem sie zurücktrat und die Arme in der Luft kreuzte. Nach dem Zustand seiner Muskeln und seinem eigenen Puls zu urteilen, musste sie selber auch kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Sie war jedenfalls ziemlich durchgeschwitzt, aber das schien ihrer Laune, die ausnahmsweise für ihre Verhältnisse etwas besser war, keinen Abbruch zu tun. Allerdings war es wohl auch für sie eine Art Erholung, nach besten Kräften zu versuchen, ihn niederzuschlagen.
„Belassen wir es dabei.“ meinte sie knapp und mit einem schiefen Grinsen. Vermutlich freute sie sich diebisch, dass sie auch so manchen Treffer hatte landen können. Dann wurde ihr Lächeln noch eine Spur boshafter: „Gar nicht mal schlecht, würde ich sagen – zwar nicht perfekt, aber nicht schlecht.“ Eigentlich waren sie sich ziemlich ebenbürtig gewesen, aber das schien sie zu ignorieren. „Aber jetzt sollte ich dich nicht länger malträtieren. Ich nehme an, du bekommst sowieso noch weniger Schlaf als ich.“
Ace dachte erst, sie spiele auf seine augenblicklichen zusätzlichen Pflichten an, doch dann kam ihm der Gedanke, Lilja könnte etwas ganz anderes gemeint haben, vor allem angesichts ihres süffisanten Grinsens. Er lächelte nur: „Willst du das WIRKLICH so genau wissen? Mit allen Details?“
Der hämische Gesichtsausdruck der Russin verschwand wie weggewischt – sie mochte es nicht, wenn man den Spieß umdrehte, schon gar nicht, wenn es um solche Dinge ging, egal ob sie selber angefangen hatte: „Eigentlich nicht.“ schnappte sie. Ace konnte es sich nicht verkneifen, noch einen draufzusetzen: „Was denn – neidisch?“ Im nächsten Augenblick hätte er sich beinahe gewünscht, er hätte sich eher auf die Zunge gebissen, denn Lilja sah für einen Augenblick so aus, als wolle sie sich auf ihn stürzen, und zwar mit klaren Mordabsichten. Dann aber entspannte sie sich. Sie murmelte etwas in ihrer Muttersprache, das nicht gerade wie ein Segenswunsch klang, fügte dann aber hinzu, mit einer Mischung aus ehrlicher Zerknirschung und Entschlossenheit: „Na schön, lassen wir das. Ich musste ja anfangen, also bin ich selber schuld. Aber wenn du jetzt nicht aufhörst, sorge ich dafür, dass du deinen Jäger im Gipskorsett fliegen musst.“ Ein derartiges Eingeständnis, wenn auch nur bei so etwas Nebensächlichen, war tatsächlich etwas Neues bei der Russin. Nun, so neu nun wieder auch nicht – sie war durchaus in der Lage Fehler einzugestehen. Allerdings tat sie das normalerweise nicht ihm gegenüber.

Lilja verließ das Trainingsrund und ließ sich auf eine Bank an der Wand der Halle fallen. Ihr Atem ging immer noch schnell und ihre Trainingskombination war ziemlich durchgeweicht – wie sie selber auch. Aber sie schien im Augenblick weit weniger abweisend als sie es üblicherweise war. Während Ace sich neben sie setzte und wie sie einen Moment verschnaufte, dachte er, ein zufälliger Zuschauer könnte sie beide für Freunde halten, wie sie so friedlich nebeneinander saßen. Nun, natürlich nur so lange er Lilja nicht kannte. Denn die Freunde der Pilotin im Gedächtnis zu behalten war nicht schwer – so viele waren es nämlich nicht. Im Grunde konnte man die Russin ja eigentlich ganz gut gern haben – wenn man ihren schroffen Charakter, ihr vernarbtes Gesicht und Oberkörper, ihre unnachgiebigen Ansichten, ihren fanatischen Diensteifer und ihre generell sehr widerborstige Art und Weise zu ignorieren bereit war. Allerdings gab es an Bord der Columbia wenige Heilige, folglich hatte Lilja kaum richtige Freunde. Sie genoss Respekt, in einigen Fällen sogar Bewunderung, vor allem bei einigen Neulingen, die sie noch nicht von ihrer unfreundlichen Seite erlebt hatten. Einige Leute mochten sie sogar richtig verabscheuen, was sie in den meisten Fällen auf eine geradlinige und offene Art erwiderte. Aber aufrichtige Zuneigung war selten, vermutlich schon deshalb, weil sie bei den meisten Leuten, die mit ihr uneingeladen ein persönliches Gespräch anfangen wollten, den Eindruck erweckte, sie würde ihnen am liebsten die Nase abbeißen. Er wusste nicht einmal selbst so richtig, warum er sich gelegentlich Sorgen um sie machte – normalerweise waren es eher die Leute mit denen die Russin aneinander geriet, um die man zu fürchten hatte. Was nicht nur für Akarii galt. Nun, vielleicht lag es daran, dass sie eine der wenigen noch verbleibenden Veteranen von der Redemption war. Oder dass sie, wie er auch, oft ein etwas distanziertes Verhältnis zu vielen Kameraden hatte. Beide ragten sie etwas aus der Masse hinaus – einfach auf Grund dessen, dass sie noch so ziemlich vom Anfang an übrig waren. Woran es ansonsten bei ihr lag war klar – und sie hatte ihm mehr als einmal ihre Meinung darüber an den Kopf geworfen, warum es bei IHM der Fall war. Die Liste seiner Sünden war ihren Augen lang, und ihr über die Jahre zunehmend entspanntes Verhalten hatte nichts daran geändert, dass sie ihm jede Verfehlung – oder was sie dafür hielt – gnadenlos unter die Nase rieb, wenn sie Zeit und Lust dazu hatte. Dass sie es zunehmend selten tat, lag wohl eher am Mangel an Zeit denn an fehlender Motivation ihrerseits...
Dennoch, eigentlich war die Gelegenheit zu günstig, um sie verstreichen zu lassen. Lilja schien ausnahmsweise nicht auf der Suche nach Jemandem, den sie treten, anschreien oder sonst wie fertigmachen konnte, sie wirkte fast gelöst. Er wusste allerdings nur zu gut, wie schnell sie imstande war, auf Abwehr umzuschalten.
„Wie läuft es denn mit der Staffel?“ erkundigte er sich.
Lilja warf ihn einen halb misstrauischen Seitenblick zu – sie rief ihm gelegentlich in Erinnerung, dass sie ihm im Rang übergeordnet war, und ein Lieutenant Commander und ein First Lieutenant waren zwar dicht beieinander, aber doch nicht ebenbürtig – doch dann entspannte sie sich wieder: „So gut es eben gehen kann. Vasco und Hellcat sind in Ordnung, also kann ich zur Not acht Jäger aufbieten – ehe Fidai wieder fliegen kann, dauert es noch.“ Von Lightning und von den zwei Toten der Staffel sagte sie nichts, aber er sah, wie sie für einen Augenblick ihre eiserne Selbstkontrolle vernachlässigte. Erschöpft durch den Übungskampf und die Arbeit war sie einen Moment lang nicht die kaltherzige Mustersoldatin. Ace sah, wie sich ihre Züge verhärteten, und das galt offenbar diesmal nicht ihm. Für einen Augenblick blitzte der nur zu bekannte Hass in ihren Augen. Ihre rechte Hand verkrampfte sich reflexartig, als würde sie die Feuerknöpfe an einem Steuerknüppel betätigen und ein geisterhaftes, grausames Lächeln huschte über ihre Züge. Oh nein, manche Dinge hatten sich definitiv nicht verändert. Dann war sie wieder im Jetzt und warf Ace erneut einen sekundenlangen misstrauischen Blick zu, als frage sie sich, ob er sie aus der Reserve locken wolle. Sie zuckte mit den Schultern, schien unsicher, ob sie weiterreden sollte: „Aber ich werde auch das schaffen. Ich werde weder Lone Wolf noch Lightning enttäuschen. Und es sollte dir eigentlich reichen, wenn die zwei meinen, ich könnte es schaffen. Natürlich vermissen wir die Alte, wir alle. Aber sie kennen mich inzwischen, und sie wissen, dass ich sie niemals irgendwohin schicke, wo ich ihnen nicht vorangehen würde. Wir alle haben von Anfang an gewusst, dass es eines Tages so kommen könnte.“
„Fragst du dich eigentlich, warum Lightning dich zur XO gemacht hat, und nicht Imp?“ erkundigte sich Ace.
Lilja lächelte knapp: „Was soll das denn jetzt werden? Willst du mich aushorchen? Ich wüsste ja gar nicht, dass du unter die Spione gehen wolltest – nun, es ist auch ein ziemlich unprofessioneller Versuch. Du meinst, ob sie eifersüchtig seien könnte? Nun, das Wort fehlt offenbar in ihrem Wortschatz. Sie wäre auf meinem Platz die bessere Kameradin und sie ist eine gute Pilotin, aber ich glaube, sie hatte nie meinen Ehrgeiz – und vielleicht auch nicht die nötige Rücksichtslosigkeit. Eine Staffelchefin muss sich mit einer Menge Mistkerle herumärgern.“ Sie lachte bellend: „Wenn dein Stinktier so weitermacht, schlägt ihn irgendwann noch mal ein Akarii oder ein Mensch so gründlich zusammen, dass du das selber herausfinden kannst.“ Sie musterte ihn abschätzend: „Was uns im Übrigen zu der Frage führt, ob DU das Zeug zum Staffelführer hast.“ Ihr Tonfall implizierte, dass sie dies bezweifelte.
,Na, so war es eigentlich nicht gedacht.' dachte Ace. Aber bei Lilja konnte man immer damit rechnen, dass sie schnell zum Gegenangriff überging und Fragen über sich in Erörterungen über den Fragenden umwandelte.
„Und was sagt dir deine langwährende Erfahrung als Staffelchefin?“ konterte er spöttisch. Lilja ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Heh, ich habe ja auch schon vorher gelegentlich als Interimschefin fungiert. Also weiß ich was darüber. Und XO bin ich ja auch schon ein Weilchen. Außerdem...“ fügte sie nicht ohne Bosheit hinzu: „habe ich einen halben Ring am Ärmel mehr als du, der mir sagt, ich darf das. Und ich BIN Staffelchefin.“ Hier schwang eine Art schmerzlicher Stolz in ihrer Stimme.

Er hob in gespielter Verzweiflung die Hände, was sie zum Anlass nahm, fortzufahren: „Weißt du Ace, ich glaube einfach, du bist zu sehr Kumpel und zu gerne ,Held' um ein guter Staffelchef oder mehr zu werden. Ich sage nichts gegen dein Können, mal abgesehen davon, dass du ein verdammter Akariikuschler bist...“ – letzteres klang eher halb scherzhaft –: „aber wenn du eine Staffel führen willst, brauchst du mehr Härte gegen dich, deine Leute und natürlich gegen den Feind, als ich dir zutraue.“ Sie gestikuliert erklärend: „Gegen dich selbst, das bedeutet, du musst Dinge tun, die dir vielleicht zuwider sind – ohne eine Diskussion anzufangen. Und deine eigenen Interessen jederzeit zurückstellen. Ich glaube, ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass dir deine Stellung als Ass was bedeutet. Nicht nur wegen der kaltgemachten Akarii, sondern wegen dem Ruhm den das bedeutet. Ein Staffelführer darf nicht mal einen Gedanken darauf verschwenden, als Held dazustehen. Selbstverständlich sind Abschüsse gut und wichtig, man soll ja vor den eigenen Leuten was gelten – er muss aber vor allem an seine Aufgabe denken.
Und was die Härte gegen seine Leute angeht... Natürlich bedeuten mir meine Kameraden etwas. Ich trage für sie Verantwortung und sie folgen mir. Und ich werde bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen, dass sie sicher nach Hause kommen. Aber ich weiß, mehr noch, ich AKZEPTIERE, dass ich sie zur Not in den Tod führen – oder, und das kann noch schwerer sein, in den Tod schicken muss. Ach zum Teufel, ich habe das verdammt noch mal bei Tukama auch getan. Und ich würde es verstehen, wenn einige Leute mich dafür verabscheuen – aber es war meine Pflicht, es war notwendig. Glaubst du, du würdest das fertig bringen? Erinnerst du dich noch daran, wie dich Cunningham niederschlagen musste, weil du unbedingt raus wolltest, um Pinpoint zu suchen, damals vor Jollahran? Das waren schon zwei unverzeihliche Fehler für einen künftigen Staffelchef auf einen Streich – du wolltest einen ausdrücklichen Befehl ignorieren, den dir dein Vorgesetzter quasi ins Gesicht geschrieen hat, und dazu noch das Wohl eines Einzelnen über die Mission stellen.“ Für einen Augenblick schwang so etwas wie Trauer in ihrer Stimme. Vielleicht beim Gedanken an Pinpoint, vielleicht weil sie sich erinnerte, dass sie in ihrer Staffel auch zwei ihrer wenigen Freunde hatte, und weil sie daran dachte, dass sie selbst eines Tages vielleicht die Suche nach einem der beiden würde untersagen müssen, oder sie dorthin schicken, wo das Feuer der feindlichen Geschütze sie auslöschen würde. Zugleich schien sie aber bereit, das nötigenfalls zu tun.
„Härte gegen den Gegner – nun, ich denke, darüber brauche ich dir nichts zu erzählen, das habe ich dir oft genug zu erklären versucht. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas bringt, in den Akarii auch denkendes Wesen zu sehen. Mehr noch, das ist schädlich. Das sind einfach Feinde, und sie müssen getötet werden. Egal wie.“ Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Oh ja, das war Lilja wie er sie kannte
Ace musterte das energische Gesicht der Pilotin. Sie glaubte offenbar, was sie sagte.
„Meinst du nicht, nach fast fünf Jahren Krieg und Gefangenschaft weiß ich genug darüber?“ Er versuchte nicht an Troffen zu denken, aber er wusste, die Russin würde auch dann nicht ihre Meinung ändern, wenn er es ihr erzählte. Sie verstand einfach nicht, was sein Problem dabei gewesen wäre.
Die Russin betrachtete ihn mit leicht schiefgelegtem Kopf. Sie klang nicht einmal feindselig, eher fast mitleidig, als sie ihn fragte: „Weißt du das denn? Ich habe meine Zweifel. Dir fehlt meine Erfahrung und dir fehlt offenbar die Fähigkeit, aus deinen eigenen Erfahrungen zu lernen. Vergiss nicht, ich habe schon viele Piloten kommen und gehen sehen. Ich sage nicht, dass ich sehen könnte ob du es schaffst zu überleben, denn das weiß keiner. Aber ich glaube nicht, dass du das Zeug zum Staffelchef hast, oder gar mehr.“
Er hielt ihr entgegen: „Immerhin weiß ich mehr über Verwaltungsarbeiten und Hierarchien als viele andere.“
Doch Lilja ließ den Einwurf nicht gelten: „Verwaltung ist wichtig – klar. Aber als Staffelführer braucht man mehr als einen guten Bürohengst. Und was Hierarchien angeht – meinst du solche Hierarchien wo du nicht weißt, wann du zu gehorchen hast und wann nicht? Mein lieber Mr. Davis, ICH bin noch nicht wegen Prügelei im Arrest gelandet oder wie ein Winterbär mit Schlafstörungen durch das Schiff getobt, nur weil meine Schwester erwachsen geworden ist – wäre ich auch nicht, wenn ich eine hätte. Also wenn du meinst, dass sei das Verhalten eines Offiziers und Gentlemen... Ebenso deine Freundschaft mit dieser Schuppenflechte.“ Ja, das war Lilja wie sie leibte und lebte. Sie vergaß nichts, was sie jemanden mal aufs Brot schmieren konnte.
Er seufzte: „Du hasst die Akarii wirklich, was?“ fragte er leise. Nun, eigentlich war es keine Frage.
Ihr Blick wurde wieder misstrauisch: „Ich denke mal, darüber wären wir uns inzwischen einig. Was meine Gefühle ihnen gegenüber angeht – das ist wie mit meinen Gefühlen DIR gegenüber. Ich meine jetzt, meine Gefühle gegenüber dem Gedanken, dir irgendwie mal näher zu kommen. Und du brauchst nicht zu glauben, du könntest an einem von beiden etwas ändern. Warum fängst du eigentlich jetzt wieder davon an? Ich dachte wir hätten uns darauf geeinigt, dass jeder auf seiner Seite bleibt.“ Mit ihren Worten über seine Gefühle spielte sie auf die kurze und unglückliche Zeitspanne an, als einige an Bord geglaubt hatten, Ace habe ein romantisches Interesse an Lilja. Er war sich nicht so sicher, ob ER denn solche Gefühle oder Ansätze dazu gehabt hatte, oder nicht.
Ace lehnte sich zurück: „Nun, ich dachte, du würdest vielleicht gerne mal darüber reden – über deinen Hass und deine Angst.“

Für einen Augenblick fragte er sich, ob er sich mit den letzten Worten nicht – wieder einmal – die Möglichkeit verbaut hatte, mit Lilja offen zu reden. Denn wenn es etwas gab, das sie normalerweise explodieren ließ, dann war es die Unterstellung, sie habe Angst. Merkwürdigerweise zeigte die Russin aber diesmal keine Feindseligkeit, ihre Miene drückte eher leichten Spott aus: „Ach Davis, Davis...“ Sie klang in etwa so wie eine Großmutter, die sich mit einem Kind unterhielt, das ihr die Scheibe eingeworfen hatte. Oder wie ein Veteran, der einem Neuling etwas erklärte.
„Mit dir reden? Ausgerechnet? Warum sollte ich das wohl wollen? Meinst du vielleicht, weil ich einen Kameraden brauche? Nun, ich verrate dir wohl kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass es andere gibt, mit denen ich schon ebenso lange zusammen kämpfe wie mit dir, und die mir weitaus näher stehen. Nimm es nicht persönlich, aber du würdest ja auch nicht zu mir kommen, wenn du einen Kameraden suchst, um dich auszusprechen.
Soll ich mit dir reden, weil ich die Meinung eines Freundes brauche? Auch dann würde ich mir wohl jemand anderen suchen, egal ob der oder diejenige nun in meiner Staffel fliegt oder nicht. Wir sind ja nicht gerade Feinde,“ sie kicherte boshaft: „oder sagen wir nicht mehr Feinde, aber Freunde sind wir auch nicht, DA?
Glaubst du vielleicht, ich brauche einen Beichtvater oder Psychiater? Dafür finde ich auch andere Leute, und die verstehen mehr davon als du. Nicht, dass ich auf unseren Doktor oder auf den Popen so viel gebe, wenn es darum geht.“
Sie lächelte spöttisch, aber nicht direkt feindselig, als sie fortfuhr: „Oder denkst du, ich bräuchte deine Hilfe als MANN? Ich dachte ja eigentlich, ich hätte dir angelegentlich klargemacht, dass in der Hinsicht nichts zwischen uns läuft oder je laufen wird. Außerdem reicht mir schon Ärger mit einer deiner Weibergeschichten... Ehrlich gesagt, auch jemand wie ich hat seinen Stolz, und ich lege keinen Wert darauf, Platz Nummer Drei bei dir zu belegen – ich bin nicht mal an Platz Nummer Eins interessiert.“
Nun, diese Art von Reaktion von ihr war für Ace ja keine wirkliche Überraschung. Immerhin schrie sie ihn nicht an. Natürlich – sie war nicht gerade dafür bekannt, ihre Beweggründe freigiebig unters Volk zu bringen.
„Ich dachte, du könntest mit mir reden, weil es mich interessiert. Immerhin bist du eine Kameradin. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du damit glücklich bist.“
Lilja grunzte unwirsch, aber immer noch nicht wütend oder auch nur ernsthaft genervt: „Damit wären wir wieder am Anfang, Ace, dort, wo wir vor ein paar Jahren schon standen. Bei deiner mangelnden Vorstellungskraft, oder nenn‘ es vielleicht auch Einfühlungsvermögen. Was ich bestimmt NICHT von dir will, ist Mitleid. Weder wegen meiner Narben, noch wegen was anderem. Ich bin kein verdammter Krüppel, der Mitleid nötig hat. Auf Brotkrumen spucke ich. Und ich bin mit meiner Haltung auch nicht unglücklich, jedenfalls nicht mit dem Teil der die Akarii angeht. Das ist eben unser Grundproblem – abgesehen davon, dass ich eine ehrgeizige Fanatikerin und du ein selbstverliebter Angeber mit einem zu großen Herzen bist – in erster Linie für dich selbst, aber auch für Echsen. Ich habe meine Lektionen gelernt und stehe dazu, du hast nicht dieselben Dinge erlebt und kannst außerdem nicht daraus lernen.“ Das mit der Fanatikerin und dem Angeber klang nicht ernst gemeint. Nun ja, nicht GANZ ernst gemeint...
„Musst du eigentlich immer so reagieren?“ meinte er nur. Er gab sich ja Mühe mit ihr – aber man brauchte schon sehr viel Geduld mit ihr und ein dickes Fell...
Nun, im Grunde betrachtete er sie – aus welchem Grund auch immer – als eine Art Freundin. Er wusste aber, sie hätte ihn vermutlich ausgelacht, hätte er ihr das gesagt. Oder ihn gefragt, ob er denn so masochistisch veranlagt sei.
„Muss ich? Tja, vielleicht muss ich ja tatsächlich. Ich könnte ja auch fragen, ob du mich immer löchern musst.“ Sie lehnte sich zurück und ob die Arme hinter den Kopf. Das war bei ihr keinerlei Pose, um ihre Figur besser zur Geltung zu bringen, sie lockerte einfach ihre Muskeln. Noch etwas, was für sie typisch war. Lilja die unnahbare, bei der es in all den Jahren keine ernsthafteren Gerüchte gegeben hatte, sie habe mit irgendjemanden ,etwas laufen', sei es an Bord oder in der Etappe. Lilja, die niemals so etwas wie Make-up zu verwenden schien, die niemals zu ihrer Galauniform hochhackige Schuhe trug, und die bei ihrem Äußeren nur darauf achtete, immer wie eine gute Offizierin auszusehen – nicht, hübsch zu wirken. Als sie sich streckte, war für einen Augenblick ihr Stiefeldolch zu sehen, den sie offenbar auch hier ständig bei sich trug. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte schwach, als wollte sie sagen: ,Du kannst es ja als Warnung nehmen...'
Dann fuhr sie in ernstem Ton fort: „Aber eigentlich gehen meine Gefühle nur mich was an – schließlich halte ich dir ja auch keine Vorträge über dein Privatleben.“
„Außer wenn es um Akarii geht.“ spottete Ace milde.
Lilja bleckte nur die Zähne. Was ein Lächeln seien mochte, oder nicht.
„Die Echsen sind keine Privatsache – die sind unser Job. Unser Schicksal. Unsere Nemesis – such es dir aus. Genauer gesagt, sie kaltzumachen – ich will jetzt mal nicht daran denken, welche Worte dein herrlicher Staffelführer sonst dafür benutzt was wir machen...“
„Meinst du nicht, man kann das ganze auch tun, ohne dass man jeden Akarii tot sehen will?“
Lilja setzte sich ruckartig auf: „Du gibst wohl niemals Ruhe? Das erinnert mich an das alte Märchen vom Karpfen, der von der Eule wissen wollte, wie es ist zu fliegen! Am Ende konnte keiner von beiden den anderen verstehen. Jetzt hör mal her, Ace! Ich bezweifle ja, dass es was bringt, aber ich will noch mal versuchen, es dir zu erklären. Ich weiß ja nicht so genau, warum ich das jetzt tue. Bestimmt nicht, weil es mir schlaflose Nächte bereitet, dass ich nicht weiß, was du von mir denkst. Aber eines Tages sind wir vielleicht mal gemeinsam Staffelkommandeure, und dann könnte es wichtig sein, dass du mich verstehst.“
Er lachte: „Ich frage mich jetzt, was du mit ,gemeinsam Staffelchefs‘ meinst – und ich darf das wohl als Kompliment auffassen.“
Liljas Antwort war ein unwirsches Knurren. Sie fand das offenbar nur bedingt komisch, in ihrer Stimme schwang allerdings etwas sarkastische Belustigung: „Immerhin haben sie sogar Skunk zum Staffelchef gemacht – so viel schlechter kannst du ja auch nicht sein. Schön, das könnte man wohl auch über einen Schimpansen sagen… Außerdem, willst du nun eigentlich meine Meinung hören oder nicht? Dann lass mich erst mal ausreden. Deine Spötteleien kannst du dann auch noch loswerden.“ Sie wartete auf sein Nicken, dann holte sie tief Luft.

Ihre schwarzen Augen funkelten, und der harte Zug um ihre Lippen unterstrich das noch. Sie hob aber, anders als sonst, nicht die Stimme: „Ich glaube, ich habe dir das teilweise schon zu Anfang mal erklärt. Natürlich habe ich zu einem gewissen Maße Angst – ich wäre verrückt, wenn ich keine hätte. Nicht so sehr die Angst, die einen zittern lässt und dir das Mark aus den Knochen saugt, eher die Angst, bei der du dich am liebsten irgendwo zusammenrollen und sterben würdest. Warum? Nun, ich habe meinen eigenen Tod als Möglichkeit einkalkuliert, so ziemlich vom ersten Tag dieses besch… dieses verdammten Krieges an, aber du weißt sehr gut, dass es hier um weit mehr geht als um mich oder dich. Oder du solltest es wissen, wenn du mal nachdenken würdest! Du weißt ja wohl immer noch einfach nicht wie das ist, wenn alles, was für dich wertvoll und teuer ist – deine Kameraden, deine Einheit, deine Heimat – auf einmal in den Dreck getreten wird. Oh ja, du hast wie wir alle erfahren, wie es ist, wenn man Kameraden verliert, gute Freunde, aber so schlimm das auch ist, es ist nicht das selbe. Ich habe erlebt was es bedeutet BESIEGT zu werden, wenn man glaubt ALLES zu verlieren. Wenn der Feind alles in Asche verwandelt, was dir so stark erschienen ist. Du weißt wie für mich der Krieg angefangen hat, und bei Jollahran habe ich es dann wieder erlebt. Glaubst du ich will den Tag sehen, an dem SIE mit der Erde dasselbe machen wie mit uns in den ersten Wochen? Ein Moment der Schwäche – und alles ist hin, beiseite gefegt. Und dann gibt es kein Nachspiel, keine zweite Gelegenheit, keine Revanche – dann ist alles hin.“ Ihr Gesichtsausdruck ließ die Bitterkeit erahnen, die sie gefühlt haben musste und vermutlich heute immer noch empfand.
„Du verstehst einfach nicht wie er war, dieser schier endlose Rückzug in den ersten Wochen. Neue Kameraden kommen, fallen, werden wieder ersetzt, bis auch die gefallen sind, immer mehr und mehr. Eine Stellung nach der anderen, ein Schiff nach dem anderen geht verloren. Du siehst die brennenden Wracks und kannst sie nicht retten, du weißt dass dort hunderte oder tausende Kameraden sterben, und musst sie doch im Stich lassen. Und du fragst dich, ob man den Gegner überhaupt noch mal stoppen kann. DAS – das ist Angst. Das ist Ohnmacht. Nun, ich habe mich nicht unterkriegen lassen, und ich bin dabei gewesen als wir das Blatt gewendet haben, aber das möchte ich nie, NIE wieder erleben.“ Sie lächelte sarkastisch: „Ich sehe schon deinen Einwand kommen, dass die Wende ja den Grund nimmt, den Gegner so zu hassen. Dass ich meine Angst ja überwunden hätte. Aber das trifft es einfach nicht.“
Sie ballte die Fäuste: „Jeder Akarii, den ich töte, ist einer weniger der meine neuen Kameraden umbringen kann. Und er ist einer weniger, der vielleicht meine alten Kameraden getötet hat. Und einer weniger, der in einem künftigen Krieg gegen uns kämpfen wird. Denn ob wir nun siegen oder verlieren – er wird das nicht mehr erleben. Ich hasse die Akarii für all das, was sie uns angetan haben, und für all das, was wir noch werden verlieren müssen, bevor sie am Boden sind. Und jeder Akarii weniger ist ein Schritt zu diesem Ziel.“ Sie beugte sich vor: „Jaja, ich weiß, die Akarii haben eine reiche Kultur, und sie tun ja auch nur ihre Pflicht wie wir und blablabla...“ Sie schnaubte abfällig: „Klingt alles sehr einleuchtend und hört sich in der Theorie auch wunderbar an. Blödsinn, sage ich dir! Es spielt für mich keine Rolle, ob ein Akarii mein Feind ist, weil er alle Menschen umbringen will und seine Rasse für die Krönung des Universums hält, ob er hier ist weil er meint er müsse sein Land verteidigen, oder ob er in die Armee gezwungen wurde. Es zählt nur, dass er ein Mitglied der feindlichen Streitkräfte ist. Und auch ihre Zivilisten sind Teil ihrer Kriegsmaschinerie, sie stellen die Waffen, die Nahrung, die verdammten Schiffe her. Vergiss nicht, auch jetzt noch, auf dem Rückzug, frisst diese Maschine Tag für Tag Menschen und spuckt sie als Leichen oder Krüppel wieder aus. Töte ich einen, töte ich einen Teil dieser Maschine. Bis sie schließlich zusammenbricht. Und nein, ich halte nicht viel von Regeln und Richtlinien. Wie idiotisch ist das denn, wenn jemand einen Kampf auf Leben und Tod anfängt, und dann auf einmal, mittendrin, wenn es nicht gut für ihn läuft, entscheidet er sich auf einmal anders! Woher soll ich denn wissen, dass er es sich nicht mal wieder anders überlegt, heute, morgen, in zehn Jahren? Das ist kein Spiel, hier sterben Menschen – tausende. Du weißt doch, wie viel wir allein bei Tukama verloren haben, und das war ein großer Sieg! Und dennoch, für mehr als anderthalbtausend Familien war es eine Katastrophe, dieser Sieg! Denn aller Stolz, alle Gewissheit, dass unsere Toten nicht umsonst gestorben sind, all das bringt sie nicht zurück.“

Sie schien jetzt Mühe zu haben, nicht zu schreien, aber sie behielt ihre Stimme unter Kontrolle: „Wir, ja auch ich, wir zahlen diesen Preis schon seit fast fünf Jahren. Tyr, Katana, und auch Lightning – das sind Leute die ich seit Jahren kenne. Und weißt du, wie viele von ihnen es gibt, Leute wie sie? Jeder einzelne unserer Soldaten, der stirbt oder schwer verwundet wird, hat Kameraden, Angehörige, Freunde. Mit jedem der stirbt, sterben ihre Kameraden ein Stückchen mit. Das ist Krieg, und wir haben uns bereit erklärt, das zu ertragen – aber wie sollen wir das dem Gegner jemals verzeihen können? Ich habe es dir schon mal gesagt – die verdammten Akarii können einfach nicht genug dafür zahlen! Dafür allein will ich sie schon am Boden sehen, mit meinem Stiefel in ihrem Nacken. Und wenn wir ihre Felder mit Salz bestreuen und ihre Städte in Schutt und Asche legen, soll mir das auch Recht sein. Denn egal ob sie dann kapieren oder nicht, eine wie dumme Idee es war, uns anzugreifen – sie werden es in jedem Fall nicht noch einmal tun können. Wenn wir sie ein für alle mal niederschlagen, dann wissen wir, es hat sich gelohnt. Ich will nicht, dass wir denselben Kampf in fünf oder zehn oder fünfzig Jahren wieder führen müssen. Ich meine – sie hätten doch auf ihrer Seite der Grenze bleiben können! Meinethalben bis in alle Ewigkeit. Aber sie wollten es ja unbedingt ausschießen. Dann sollen sie ihren Krieg auch haben!“ Sie grinste wieder sarkastisch: „Das soll natürlich keine Aufforderung sein, irgend etwas BÖSES zu tun... Aber ich denke, meine Gefühle sind damit klar. Jetzt kennst du meine Angst – und indem ich Akarii töte, besiege ich diese Angst. Bis zu dem Tag, an dem keiner von uns mehr Angst haben muss.“

Er fixierte sie eindringlich: „Denkst du nicht, wir sollten uns auch Gedanken darüber machen, wie wir mit den Akarii zusammenleben können, ich meine hinterher? Wir können sie ja nicht alle umbringen, schon weil es die Öffentlichkeit nicht hinnehmen würde.“ Er wusste allerdings, dass zwischen der Öffentlichkeit und dem Handeln der Entscheidungsträger der Terranischen Republik erhebliche Unterschiede bestanden. Die Republik hatte Troffen ausradiert, und die Öffentlichkeit hatte nie die Wahrheit erfahren.
,Aber sie können ja nicht den ganzen Akarii-Raum in ein einziges Troffen verwandeln.‘ dachte er. Nicht wegen moralischer Skrupel – ob diese Leute so etwas kannten, wusste er nicht. Aber man hätte es nie geheim halten können, und die Akarii hätten irgendwann zurückgeschlagen.
Lilja zuckte mit den Schultern: „Wenn wir genug von ihnen töten, genug Planeten erobern und ihre Werften in Schutt und Asche legen, dann sollte das wohl reichen. Und ich habe gehört, die Akarii haben in ihrem Imperium nicht nur Freunde – vielleicht würden sich ein paar ihrer Untertanen auf die Gelegenheit zur Abrechnung freuen… Oder bekümmert es dich nur, wenn wir Akariis kaltmachen, und nicht was mit den unterworfenen Völkern geschieht?“
Sie lachte: „Nun, wenn ich ehrlich seien soll, wirklich vor Sorge um sie vergehen tue ich auch nicht – ich denke, genug von ihnen werden inzwischen servile kleine Sklaven sein, die den Echsen helfen. Aber es sind nicht die einzigen. Schlagen wir hart genug zu, dann können wir dafür sorgen, dass die Akarii in fünfhundert Jahren nicht wieder hochkommen, und wir können ein paar gute Verträge mit ihren einstigen Sklaven abschließen. So eine Art interstellare Allianz, mit gegenseitig garantierten Grenzen und so, eine lockere Kooperation von Staaten. Aber das ist eigentlich nicht unsere Aufgabe, das sollen unsere Staatschefs entscheiden.“
„Aber glaubst du nicht, die Akarii werden ihren Kindern und Kindeskindern beibringen uns zu hassen, wenn wir sie gnadenlos niederschlagen?“ fragte er sie.
Die Antwort der Russin klang recht gelassen: „Kommt drauf an. Zunächst einmal will ich verhindern, dass sie UNS niederschlagen. Und wenn wir ihnen das Genick nur gründlich genug brechen… Ich glaube, ich habe mal gehört, die Akarii haben genau das mit anderen Völkern gemacht – heute sind die nicht mehr als eine galaktische Fußnote, ein paar Systeme ohne Macht und Zukunft. Wäre doch irgendwie ein Akt kosmischer Gerechtigkeit, wenn die Echsen über ihre eigenen Ambitionen stolpern und ihnen dasselbe geschieht.“

Sie wirkte beinahe erschöpft von ihrem leidenschaftlichen Statement, aber vielleicht waren das auch die darin liegenden Emotionen: „Wenn ich genau nachdenke, so bin ich eigentlich des Krieges schon lange müde, egal wie erregend es ist, mit tausendvierhundert Kilometern die Sekunde in den Sitz gepresst zu werden und sich einen Kampf auf Leben und Tod mit einer Bloodhawk zu liefern. Ja, man fühlt dass man lebt in diesem Moment, und dazu kommt das Gefühl des Triumphs, wenn der Feind vernichtet ist.“ Sie schüttelte den Kopf: „Aber der Preis dafür ist hoch, zu hoch. Ich habe heute schon Schwierigkeiten, mich an die Gesichter von allen zu erinnern, die in meinen Staffeln geflogen und gefallen sind – und das waren meine Kameraden. In ein paar Jahren werde ich mich vielleicht kaum noch an Katana oder Tyr erinnern. Die Freude, die man im Kampf empfindet, kann das gewiss nicht aufwiegen. Aber wenn ich auch des Krieges überdrüssig bin – vom Töten habe ich bestimmt noch lange nicht genug! So lange nicht, bis ich sicher seien kann, dass wir sie besiegt haben.“

Lilja stieß sich von der Wand ab und erhob sich. Sie baute sich vor Ace auf. In ihrer Miene rangen Bitterkeit mit Spott und grimmiger Entschlossenheit: „War das jetzt ausführlich genug? Hat dir das zu tiefschürfenden Erkenntnissen über mein armes gequältes Selbst verholfen? Ich brauch dir wohl nicht zu sagen, dass ich dir den Kopf abreiße, wenn du ’rumerzählst was ich dir anvertraut habe – warum weiß ich wirklich nicht. Glaub bloß nicht, ich meine, ich bräuchte was von dir.“
Er lächelte sie an – warum wusste er wirklich nicht. Vielleicht, weil es sie auf die Palme bringen konnte: „Man könnte ja auch sagen, du hast Angst jemanden etwas zu schulden…Schon gut, nimm es nicht wieder persönlich. Aber glaubst du nicht, als Kameraden kann man über so etwas reden?“
Die Russin seufzte, aber wohl nicht aus Verzweiflung: „Ace – mit meinen BESTEN Kameraden muss ich darüber nicht reden, die verstehen mich auch so sehr gut. Vielleicht bleibst du einfach ein Karpfen und ich eine Eule.“
„Aber fühlst du dich nicht besser so?“
Sie schien etwas Sarkastisches erwidern zu wollen, dann aber zuckte sie nur mit den Schultern und marschierte mit einem gemurmelten „Nacht, allerseits.“ in Richtung der Umkleidekabinen. Ace schaute ihr einen Augenblick hinterher. Sollte er wirklich… Nein, besser nicht… oder doch?...Ach, zum Teufel!
„Ach, noch etwas, Lilja…“ rief er ihr hinterher.
Die Russin blieb stehen und drehte sich zu ihm um: „Was denn?“
„Ich finde ja, du hast immer noch einen hübschen Hintern.“
Dem Medizinball, den sie als Antwort zielsicher in seine Richtung warf, konnte er knapp ausweichen.
Cattaneo
Cunningham

„Für die Toten können wir jetzt nichts mehr tun. Es sind die Lebenden, die jetzt unsere Unterstützung, unserer Hilfe und unserer Führung bedürfen.“
Cmd. Lucas „Lone Wolf“ Cunningham zugeschrieben


Lucas saß hinter seinem Schreibtisch. Eigentlich hätte er sich hinlegen sollen. In den letzten Tagen hatte er mehr Flugstunden angesammelt, als das ganze halbe Jahr zuvor.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine einfache Kampfpatrouille geflogen war. Aber zu viele Maschinen waren ausgefallen oder zerstört, und ein Großteil seines Geschwaders war, wenn nicht gefallen, so doch auf der Krankenstation eingekerkert.
In den Händen hatte er einen Becher Kaffee, schwarz, sehr stark. Mit geschlossenen Augen hielt er ihn sich unter die Nase und sog das Aroma des schwarzen Goldes ein.
Das Aroma, zehntausend mal besser als der Geschmack von Kaffee, auch wenn es schon seit Jahren zu seinem Grundnahrungsmittel gehörte, faszinierte ihn noch immer, und die gewaltige Diskrepanz zum Geschmack.
Er pustete in den Becher und nahm dann einen langen Zug. Verdammt bitter, er hätte Zucker hinein kippen sollen, doch der Kaffee sollte ihn nur wach halten.
Dann stellte er den Kaffeebecher beiseite und brachte seine Hände über der Tastatur in Position. Auch wenn er nie einen Schreibkursus mitgemacht hatte, flog er die Tastatur genauso sicher wie seinen Raumjäger. Jahre der Übung eben.
An: Admiral Jean-Baptist Renault, CO 2. Flotte, TRS Gettysburg
Von: Commander Lucas Cunningham, CO 127 Fighter Wing, TRS Columbia

Betreff: 2nd Lieutenant Donovan Cartmell, 127 Fighter Wing, TRS Columbia


Dear Sir,

Unter normalen Umständen hätte ich gegenüber 2nd Lieutenant Cartmell vor zwei Tagen eine Feldbeförderung zum 1st Lieutenant ausgesprochen.
Doch der Status von Lieutenant Cartmell als begnadigter Straftäter lässt eine Bestätigung einer solchen Feldbeförderung als sehr unwahrscheinlich erscheinen.
Und eine Ablehnung würde sowohl Lieutenant Cartmells Chancen auf eine reguläre Beförderung, so minimal diese jetzt schon ist, auf Null reduzieren, als auch darüber hinaus Zweifel an meiner Urteilsfähigkeit aufkeimen lassen.
Daher wende ich mich an Sie als Flottenkommandeur und schlage hiermit vor, 2nd Lieutenant Cartmell so schnell wie möglich zum 1st Lieutenant zu befördern.
Denn ungeachtet seiner Vorgeschichte hat sich Lieutenant Cartmell in den vergangenen zwei Jahren dieses Krieges kontinuierlich hervorgetan.
Er zeigt ein beachtliches fliegerisches Können und ist der Schwadron in der er dient eine wichtige Stütze sowohl im Gefecht als auch im alltäglichen Dienst.
Als erfahrener aber rangniederer Pilot fällt es ihm zu, die Zugänge von der Akademie weiter auszubilden und in den Geschwaderdienst einzuarbeiten. Eine Aufgabe, die er laut seinem Staffelführer exzellent erledigt. Meine persönlichen Beobachtungen stimmen mit denen des Staffelführers überein.
Das in ihn gesetzte Vertrauen seiner Vorgesetzten und Staffelkameraden ist so groß, dass er jetzt aufgrund der gefechtsbedingten Ausfälle als stellvertretender Staffelführer Dienst tut.
Abschließend ist zu sagen, dass Lieutenant Cartmell bereit ist, seinen Dienst bis weit über die eigentliche Pflichterfüllung hinaus zu erfüllen.

Mit dienstlichen Grüßen

Lucas Cunningham
CO, 127 Fighter Wing


Lucas öffnete die Augen und las den Text zweimal. Reichlich dick aufgetragen, gestand er sich selbst ein. Er ließ den Text jedoch so und hoffte das Renault den letzten Satz richtig interpretieren würden. Denn ungeachtet allen Schmalzes, würde wohl dieser, wenn er denn richtig gedeutet wurde, für die Beförderung ausschlaggebend sein.



Emergency Allert Message

An: J. B. Renault, CO 2. Flotten
Von: N. Frost, CNO TSN


Betreff: Operationale Bereitschaft 2. Flotte

Admiral:

Am 18. März 2637 führten die Akarii einen Antimaterieschlag gegen die Wurmlochpassage von Texas nach Manticore aus.
Das Wurmloch wurde aus der Phase gebracht und unsere Experten gehen davon aus, dass es bis zu einem Jahr dauern wird, bis es wieder passierbar ist.

Der Wegfall dieses Wurmloches macht es uns unmöglich Manticore und somit Akar von Texas aus zu bedrohen. Der Nachrichtendienst geht davon aus, dass die Akarii ihre verbliebenen Flottenträger und große Teile ihrer Garnisonsflotte von Manticore abziehen werden.
Damit stehen dem Feind im besten Falle drei, wenn auch wohl schlecht versorgte, zusätzliche Trägergruppen zur Verfügung.

Die 2. Flotte ist um jeden Preis in operationsfähigem Zustand zu halten. Auch wenn Sie dafür große Gebiete aufgeben müssen.

Ich lasse die 1. Flotte nach Minas Mori verlegen. Admiral Thomsen wird dort eine Verteidigungsstellung errichten, in die Sie zurückfallen können und von der aus er in die Offensive gehen kann.

Ferner habe ich die Verlegung der Alexander von Humboldt und unserer Reserve an leichten Trägern nach Minas Mori angeordnet.

Ungern wiederhole ich mich, aber es ist von einem starken Gegenschlag auszugehen. Ihre Flotte muss unter allen Umständen einsatzfähig bleiben.

Gezeichnet
Frost


Jean Baptist Renault starrte auf die Meldung. Der wachhabende Offizier hatte ihn aus dem Schlaf gerissen: „Maike?“
Die Antwort, die er von Admiral Maike Nolze erhielt, war ein ausgiebiges Gähnen. Seine Stellvertreterin hatte eher noch weniger geschlafen als er selbst.
„Was halten Sie davon?“
„Wir sollten als erstes eine mögliche Fluchtroute planen, dann eine Kundschaftertruppe nach Axius aussenden und je nach Meldung greifen wir Axion an, und zwar ohne die Columbia, oder wir gehen stiften.“
„Ein Angriff auf Axion mit nur drei Flottenträgern und drei leichten Trägern. Das scheint mir dann doch sehr gewagt.“
Nolze grinste: „Frechheit siegt. Wer nicht wagt der nicht gewinnt. Angriff ist die beste Verteidigung. Soll ich mehr aufzählen?“
„Wir schicken einen Spähtrupp vor. Wenn der Gegner unorganisiert ist, schlagen wir sofort los. Wir verlegen die ganze Flotte in Angriffsformation vor den Sprungpunkt. Befehl an die Drake, ins Axion System einzudringen und sich umzuschauen.“
„Wird erledigt, Sir.“
Renault blieb am Kartentisch zurück. Frechheit siegt. War das wirklich eine Option oder sollte er das Hasenpanier ergreifen?


Flottenträger Nakobi,
Flaggschiff 1. Akariische Flotte, Axion

Norr Wilko sprang aus seiner rot-weißen Bloodhawk. Energisch ließ er den Verschlussriemen seines Helmes aufschnappen und nahm diesen ab.
Sein Empfangskomitee war sehr klein. Es bestand aus Duv Ren, dem Geschwaderkommandanten des Trägers. Wilko maß den jüngeren Piloten einen Augenblick, ehe sie sich umarmten.
„Ich habe gehört, die alte Dame hat hier wieder das Regiment inne.“
Ren kicherte: „Oh ja, und Sie hat sich mindestens drei neue Todfeinde gemacht. Sie hat einem Admiral sogar einen Blumentopf an den Kopf geworfen.“
„Ist das wahr?“, wollte Wilko wissen.
„Oh ja, der Arme musste mit sieben Stichen genäht werden. Für ihr Alter hat sie eine verdammt gute Wurftechnik. Aber was trägst Du dort für ein Paket?“
„Sonderzustellung für die Admiralin. Was darin ist weiß ich nicht, aber Du siehst ja das imperiale Siegel.“
Die beiden Männer betraten den Lift: „Aber Duv, eines möchte ich wissen.“
„Was denn?“
„Wie zur Hölle hat es Admiral Lian geschafft hier zehn Flottenträger zu versammeln, wo ich doch gehört habe, dass einige Flottenträger der Homefleet woanders hin abkommandiert wurden?“
„Wir haben keine zehn Quarsare. Wir haben fünf. Die anderen sind zwei alte Novas und drei Schlachtschiffe. Alle fünf sind vor einigen Monaten vom Schiffsfriedhof geholt worden. Die Schlachtschiffe sind einzig und allein dazu da, für uns die Raketen einzufangen. Sie haben neue Schildgeneratoren bekommen und verstärkte Panzerung. Die beiden Novas werden derzeit tatsächlich mit Geschwadern ausgerüstet. Die ELOKA all dieser Schiffe wurde so aufgerüstet, dass sie wie Quarsare aussehen.“
„Die Schlachtschiffe sollen als Raketenfang dienen?“ Norr blieb kurz stehen.
„Ja, sie haben vierzig Mann Crew pro Schiff. Nur die nötigsten Systeme laufen. Den Rest des Schiffes hat man mit Plaststahlbeton ausgefüllt.“
Der ältere Akarii nickte: „In Ordnung Duv, ich sollte jetzt aber unbedingt zur Admiralin.“
Duv Ren nickte und führte seinen ehemaligen Geschwaderführer durch den Träger.

Lay Rian erwartete ihn in ihrer Flaggkajüte.
Die Admiralin saß an ihrem riesigen Schreibtisch, der mit derart vielen Computerausdrucken, Sternenkarten, Listen und Tabellen überfüllt war, dass Norr beinahe den Überblick verlor.
Er und Duv Ren waren von einer Ordonnanz angemeldet und ins Büro vorgelassen worden.
Nun standen sie beide schon einige Minuten in Rührt-Euch-Haltung vor dem Schreibtisch, während Rian irgendwelche Berichte studierte.
Schließlich geruhte die alte Dame, sie zur Kenntnis zu nehmen: „Nun, Wilko, was führt Sie zu uns?“
„Mylady Admiral: Commander Wilko meldet sich mit Depeschen aus dem kaiserlichen Palast und zur weiteren Verwendung zum Flottenstab der 1. Flotte.“
Lay Rians Antwort war ein kurzes Schnaufen. Sie musterte ihn einen Augenblick: „Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass seine Majestät unseren besten Jagdpiloten als einfachen Kurier zweckentfremdet?“
„Nein, Mylady, nicht seine Majestät. Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Linai Thelam und Ihr Gemahl, seine Exzellenz Kriegsminister Tobarii Jokham.“
„Jokham ist Kriegsminister?“ Der linke Mundwinkel der Admiralin zuckte vergnügt. „Haben sie Jor etwa aufgegeben?“
„Seine Königliche Hoheit Großadmiral Jor Thelam, in Personalunion seine Exzellenz der Kriegsminister und Kronprinz von Götter Gnaden, ist vor wenigen Tagen im Kampf gefallen.“ Norr atmete tief durch. „Die Nachricht wurde per Translichtfunk von einem der Begleitschiffe der Korax ma Rah gesendet.“
„Und der Träger?“
„Er wurde vernichtet. Die Menschenlinge haben ihm die Columbia nachgejagt.“
Feuer brannte in den Augen der alten Frau auf: „Die Columbia ist nicht bei der Erdflotte?“
„So scheint es, Mylady. Aber vielleicht solltet Ihr die Depeschen begutachten.“
„Sie haben Recht, Norr. Ruhen Sie sich etwas aus, wir haben viel Arbeit, auch für Sie.“
„Mylady.“
Lay wartete, bis die beiden Piloten den Raum verlassen hatten, dann brach sie das elektronische Siegel der Depeschen und rief die erste ab:

An: Alle Streitkräfte
Von: Kriegsministerium seiner imperialen Majestät Eliak IX.
Sicherheitsstufe: Zur unverschlüsselten Verlautbarung bestimmt

Am 28. Rashok 5326 ist der geliebte Sohn seiner imperialen Majestät und Thronfolger Jor Thelam, Großadmiral der Flotte und Kriegsminister des Imperiums, im Kampf um unser aller Zukunft gefallen. Er war ausgezogen den Feind zu stellen, der unsere Welten bedroht, der seine geliebten Soldaten im mörderischen Feuer des Krieges verschlingt.
Nach all den Jahren der Mühen und des Kampfes gab er zur Verteidigung seiner Heimat, unser aller geliebten Welten, das kostbarste, was ein Akarii für die Gemeinschaft, das Volk und den Staat geben kann. Er warf seinen zerbrechlichen Leib zwischen den Feind und seine Heimat.
So mag er wie ein jeder Akarii nicht vollkommen gewesen sein. Gezeichnet von Schlacht um Schlacht, so soll sein Handeln, sein Wirken und sein Wünschen uns allen Beispiel sein.

Ihre Königliche Hoheit

Linai Thelam

Danach folgte die zweite Nachricht:
An: Die gesamte Flotte
Von: Kriegsministerium seiner imperialen Majestät Eliak IX.
Sicherheitsstufe: Zur unverschlüsselten Verlautbarung bestimmt

Um den Verlust, den unsere Streitkräfte erlitten haben zu ersetzten und den Kampf seiner Königlichen Hoheit Jor Thelam fortzuführen, wird Admiral Lay Rian zum Oberkommandierenden Admiral der imperialen Raumflotten befördert. In dieser Position soll Sie den Rang eines Großadmirals innehaben.

Unser Vertrauen, unsere Wünsche und unsere Hoffnungen für die Zukunft legen wir in ihre Hände.

Ihre Königliche Hoheit

Linai Thelam


Die dritte Nachricht:
An: Alle Streitkräfte
Von: Kriegsministerium seiner imperialen Majestät Eliak IX.
Sicherheitsstufe: Zur unverschlüsselten Verlautbarung bestimmt

Um den großen Verlust, den das Kriegsministerium und die Streitkräfte erlitten haben zu ersetzten, wird der Ehrenwerte Tobarii Jokham zum Kriegsminister berufen.

Unser Vertrauen, unsere Wünsche und unsere Hoffnungen für die Zukunft legen wir in seine Hände.

Ihre Königliche Hoheit

Linai Thelam

Die letzte Nachricht war eine Überraschung für Lay:
An: Großadmiral Lay Rian, imperiale Raumstreitkräfte
Von: Ihrer Königlichen Hoheit Linai Thelam
Sicherheitsstufe: STRENG GEHEIM! KEINE WEITERGABE ERLAUBT!

Mylady Großadmiral,

Ihr sollt wissen, dass die Nachricht von Jors Tod meinen Vater sehr schwer getroffen hat. Er erlitt einen Schlaganfall und liegt seit sechs Tagen im Koma. Nur wenige Vertraute wissen derzeit von seinem Zustand. Man riet mir, die Nachfolgeregelung in Gang zu setzen.

Sagt mir, wem folgt die Flotte?

Linai
Cattaneo
Tyr

Der Materialaufzug, voll beladen mit Raketen und Ersatzteilen, hatte vor wenigen Augenblicken den Lagerraum verlassen und näherte sich nun mit konstanter Geschwindigkeit seinem Ziel – dem Hangar der Columbia. Und dann, etwa fünf Meter unterhalb des Bestimmungsortes, knackte es ein paar Mal, und der Aufzug kam zu einem abrupten Halt.
„So eine Scheiße!“ Garreth ‚Crusader’ Kyle trat vor Wut gegen die Hangarwand. Kano hätte es seinem früheren Flügelmann am liebsten gleich getan, hielt aber ein solches Verhalten für kontraproduktiv und etwas unter seiner Würde als XO der Schwarzen Staffel. Aber genau diese neu erworbene Würde brachte ihn gleichzeitig unter Zugzwang.
Die dritte Sektion der Butcher Bears (oder vielmehr die zweite, da die ursprüngliche zweite Sektion nach den Verlusten der letzten Zeit praktisch nicht mehr existierte) war zu einem außerplanmäßigen Langstreckenpatrouillenflug eingeteilt worden, nachdem ein SWACS-Shuttle der Außensicherung einige nicht ganz eindeutige Signale aufgefangen hatte. ‚Hoffentlich ist es kein Akarii-Späher. Wenn sie jetzt anrücken, dann haben wir keine guten Karten…’
Die für den Einsatz bestimmten Nighthawks waren weder betankt noch aufmunitioniert gewesen, und die Zeit war knapp. Der Treibstoff konnte problemlos in ein paar Minuten über die schiffsinternen Leitungen in den Hangar gepumpt werden. Aber der Lastenaufzug streikte. Mal wieder.
Kano warf dem Techniker, der an der Bedienungskonsole des Aufzuges stand, einen düsteren Blick zu: „Das wievielte Mal ist das jetzt in den letzten drei Tagen? Ich habe irgendwie die Übersicht verloren.“
Der Mann fühlte sich in seinem Berufsstolz verletzt: „Das ist dieses verdammte Hangarfeuer gewesen! Die Elektronik hat ganz schön was abbekommen, und wir haben einfach keine Zeit, die Leitungen zu ersetzen. Wir müssten die Hangarwand abreißen und die gesamte Verkabelung der Aufzüge Zwei bis Vier ersetzen. Aber wann sollen wir das denn bitteschön machen, während wir eure Weltallschleudern warten, reparieren und bestücken müssen und außerdem noch zugweise auf die beschädigten Großraumer abkommandiert werden?!“
Kano blendete die Worte des Technikers aus, der leider nicht ganz Unrecht hatte. Die technischen Dienste der Columbia waren mindestens genauso überarbeitet wie die Piloten, die bei bis zu vierzig Prozent zeitweiligen oder permanenten Verlusten nur mit Überstunden und zu langen Dienstzeiten die Sicherung der Columbia-Gruppe weiter gewährleisten konnten.
Viele der Piloten halfen sogar bei der Wartung und Bestückung ihrer Maschinen mit, damit die Reparatur beschädigter Kampfflieger und Großkampfschiffe schneller vorankam. Die meisten Männer und Frauen in der Flotte wussten, dass die Lage der Columbia-Kampfgruppe umso gefährlicher wurde, je länger sie hier weiter wie auf einem Präsentierteller sitzen blieben. Wenn die geflohenen Akarii-Schiffe des Korax-Verbandes mit Verstärkung zurückkamen und sich zum Beispiel am Sprungpunkt festsetzten, dann konnte es unangenehm werden.
Eigentlich hätte er sich jetzt an Chief Dodson wenden müssen, aber als er das dass letzte Mal gemacht hatte, hatte der Typ einen regelrechten Tobsuchtanfall bekommen und sich geschlagene zehn Minuten lautstark über die angeblich völlig utopischen Forderungen an seine Leute sowie die Starallüren der Piloten ausgelassen. Nur seine anerzogene Zurückhaltung, der gesunde Menschenverstand und die Zwänge der Dienstordnung hatten Kano davon abgehalten, dem Mann zu sagen, was er ihn mal konnte.
Außerdem würde es bei Einhaltung des Dienstweges vermutlich mindestens eine halbe Stunde dauern, bis sich hier etwas tat. Immerhin waren sie nicht im Gefecht. Damit würde aber Kanos Zeitplan durcheinander geraten, und er würde vor Cunningham nicht besonders gut dastehen. Auch dazu hatte Kano keine Lust. Blieb also eigentlich nur eine Lösung…
Kurzerhand übernahm Kano das Kommando über das halbe Dutzend Wartungstechniker, die eigentlich die Nighthawks bestücken sollten: „Es gibt doch eine Möglichkeit, den Aufzug auch während eines Energieausfalls zu verwenden, oder?“
„Ja, wir haben da noch eine kleine transportable Winde, aber damit wird es dauern. Es gibt für den Handbetrieb noch einen Flaschenzug, da könnten wir einen der Zugwagen für die Jäger vorspannen. Aber dann müssen wir die ganze Angelegenheit von Hand stabilisieren. Und das ist eine ziemliche Viecherei…“
„Kann sein. Aber wir haben nicht ewig Zeit. Die Kaffeepause ist vorbei!“ Einer der Techniker murmelte leise ‚Arschloch’, und auch bei den Piloten hielt sich die Begeisterung in engen Grenzen. Aber es gab keine weitere Kritik.
Allerdings wusste Kano, dass das keine auch nur mittelfristige Lösung war und nicht lange helfen würde. Und bis der Bosun sich dazu herabließ, auf die Bitte nach einem Reparaturteam zu reagieren… Moment: „Ace!“
Der blauhaarige Pilot hielt inne. Falls ihn der Anblick des knappen Dutzend Piloten und Techniker überraschte, die sich an den Zugketten des Augzugs abmühten, dann ließ er es sich nicht anmerken: „Was ist los?“
„Du hast doch mal erzählt, dass du die meisten elektronischen Anlagen eines Raumschiffs reparieren kannst. Dann sollte ein einfacher Lastenaufzug doch kein Problem für dich sein, oder?“
Ace zuckte mit den Schultern: „Kleinigkeit…“
Einer der Techniker mischte sich ein: „Moment mal, Sie wollen DEN die Reparatur machen lassen? Was soll denn dieser Weltraumjockey…“
„Er ist hier. Ace, hilfst du uns?“
Der Pilot zuckte noch einmal mit den Schultern: „Warum nicht.“ Schon alleine deswegen, weil einige der Techs von der Idee nicht unbedingt angetan waren. Es würde ihm ein Vergnügen sein, sie eines Besseren zu belehren. Auch die Rote Staffel hatte mit diesem Aufzug bereits Probleme gehabt: „Wie komme ich am besten da ran?“
Erst nach einem drohenden Blick Kanos bequemte sich einer der Techs, eine kleingewachsene, zäh wirkende Frau, zu einer Antwort, während sie Aces hoch aufgeschossene Gestalt etwas zweifelnd musterte: „Man muss in den Aufzugsschacht. Über die Wartungsleiter klettern und die Verkabelung überprüfen. Vermutlich ist mal wieder eines der Kabel durchgeschmort. Dann muss die Verkleidung gelöst und das defekte Kabel überbrückt werden. Das ist natürlich nur provisorisch…“, sie grinste boshaft, „Immer noch scharf darauf, Wunderknabe? Wusstest du übrigens, dass es da drinnen Ratten gibt?“
Das stimmte vermutlich. Genauso wie die Kakerlaken und die Ameisen hatten es die Ratten geschafft, den Menschen auf seinem Weg zu den Sternen zu begleiten, ob der es nun wollte oder nicht. Auf Großkampfschiffen wie der Columbia waren sie ein ständiges Problem. Wenn sie nicht schon beim Bau des Schiffes an Bord gelangt waren, dann kamen sie mit der Fracht oder während der Werftaufenthalte auf das Schiff. Und war das erst mal geschehen, wurde man sie meistens auch nicht wieder los.
Clifford Davis gefiel dieses Bild nicht besonders, aber er war fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen: „Na dann waren die es. Haben eure Kabel für einen Imbiss gehalten.“

*****

Ein paar Minuten später fragte sich Ace, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war. Der Aufzugsschacht war ziemlich eng und dunkel – die Elektronik war ja ausgefallen. Der stickige, brandige Geruch gab der Technikerin Recht, die ein durchgeschmortes Kabel diagnostiziert hatte. Die schmale Wartungsleiter war halb in die Wand eingelassen und wirkte ebenfalls wenig Vertrauen erweckend. Im Licht einer Taschenlampe sah Ace, wie der Boden des Aufzugs über ihm langsam, Zentimeterweise, in der Dunkelheit verschwand. Offenbar hatte die Winde die Arbeit aufgenommen. Der Pilot nahm die Taschenlampe in den Mund und begann zu klettern.
Im nächsten Augenblick krachte es über ihm mörderisch, und der Boden des Aufzuges sackte nach unten. Instinktiv zog Ace den Kopf ein und unterdrückte einen Aufschrei. Nach einem halben Meter stoppte die Abwärtsbewegung in Ace Richtung zum Glück. In dem engen Schacht des Frachtaufzuges hätte er keinen Platz zum Ausweichen gehabt, der schwere Aufzug hätte ihn einfach ‚mitgenommen’. Gott sei Dank hatten die mechanischen Notfallbremsen funktioniert. Dumpf hörte er oben laute Flüche. Irgendjemand, vermutlich nicht Ohka, brüllte: „Verfluchte Scheiße!“
Eine etwas leisere, aber scharfe Stimme schnitt durch die Verwünschungen und sorgte für Ruhe. Vermutlich war das Ohka gewesen. Dann bewegte sich der Aufzug wieder in die planmäßige Richtung. Ace gönnte sich noch ein paar beruhigende Atemzüge und kletterte weiter. Dabei achtete er allerdings darauf, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum Boden des Aufzuges zu halten. Man durfte das Glück nicht herausfordern.

Tatsächlich, die Technikerin hatte Recht gehabt. Die Leitung war durchgeschmort. Ein Glück, dass sich nicht ein richtiger Kabelbrand entwickelt hatte, dann hätte man hier nur mit Atemmaske arbeiten können. Aber auch so würde es schwierig genug werden. Reichliche fünf Jahre nach ihrem viel umjubelten Stapellauf wies die Columbia bereits eine Reihe von Materialermüdungen auf. Auch für die Geräte und Leitungen galt, dass Kriegsjahre doppelt zählten. Zu intensive Nutzung, zu seltene Werftzeiten, die Notwendigkeit, mit Behelfsmitteln und provisorischen Reparaturen auszukommen…
Man hätte den gesamten Träger einmal gründlich generalüberholen müssen. Aber dazu war nie die Zeit gewesen. ‚Vermutlich, wenn der Krieg vorbei ist.’ Er machte sich an die Arbeit.

********

Diesmal knallte es unter ihm. Als Ace seinen Kopf herumriss, entglitt ihm die Taschenlampe und verschwand im Aufzugsschacht. Der blauhaarige Pilot blieb mit in einem Fluch auf den Lippen in der Dunkelheit zurück.
Wieder knallte es ohrenbetäubend, dann noch einmal. Es klang, als würde jemand von innen gegen die Schachtwände hämmern. Tatsächlich, irgendein Idiot machte genau das. Dann leuchtete unter Ace eine Taschenlampe auf und blendete ihn: „Was soll das, verdammt?“
„Sicherheitsdienst. Sind Sie Lieutenant Davis?“
„Ja. Hören Sie, was zur Hölle…“
„Der Commander und der Sicherheitschef wollen Sie sehen. Sofort.“
Ace fragte sich, was jetzt nun wieder los war. Die Situation erinnerte ihn irgendwie an das Theater um den Trackball. Auch wenn es diesmal eigentlich nur um einen simplen Lastenaufzug ging…
Der Mann von der Sicherheit hatte auf ihn gewartet. Der stämmige Petty Officer hätte auch bei den Marines Kariere machen können. Trotz seines niedrigeren Ranges musterte er Ace ziemlich respektlos: „Was suchen Sie denn in dem Schacht?“
„Ich habe meine Kontaktlinsen verloren.“ konterte Ace bissig, was der NIC-Officer mit einem zynischen Grinsen quittierte: „Und ich dachte schon, Sie spielen mit dem Phantom Haschen. Ach ja, ich vergaß…“ Manche Dinge änderten sich offenbar nie. Und eines davon war die Einstellung des NIC zu Lieutenant Davis.
„Ich muss im Hangar noch Bescheid sagen, dass sie jemanden anderen für den Aufzug anfordern müssen.“
Der Petty Officer zuckte mit den Schultern: „Was kümmert es mich? Aber der Commander wartet wahrscheinlich nicht gerne.“

Als Ace ein paar Minuten später das Dienstbüro von Commander Cunningham betrat, wartete der Geschwaderchef bereits. Neben dem Tisch stand Lieutenant Commander Kennet Ross, Lings Nachfolger auf dem Posten des Sicherheitschef. Der hagere Mann mit den kurzen weißblonden Haaren und grauen Augen musterte Ace ungefähr so enthusiastisch, wie ein Ertrinkender ein Glas Wasser. Ross war von Ling angelernt worden und hatte anscheinend dessen Ressentiments gegenüber Ace übernommen. Der blauhaarige Pilot erinnerte sich noch daran, wie der NIC-Offizier, damals noch ein Lieutenant, Kali nach der schweren Hangarexplosion auf der zweiten Feindfahrt unter Druck gesetzt hatte. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn Ross damals zu der Fraktion gehört hatte, die Ace verdächtigten, das ‚Phantom’ zu sein.
Auch Jean hatte schon mit Ross zu tun gehabt, auch wenn sie nicht darüber redete, was das für eine Operation gewesen war. Sie hatte wohl auch keine sehr positiven Erfahrungen gemacht. Jedenfalls hatte Jean den Verdacht geäußert, dass Ross nicht nur ein einfacher NIC-Offizier war. Nach Jeans Meinung stank der Mann nach Spezialeinheit und verdeckter/unkonventioneller Kriegführung, war vielleicht sogar ein TIS-Wolf im NIC-Pelz.
Commander Cunningham bot Ace keinen Stuhl an. Natürlich, der Lieutenant Commander stand auch noch, und es sollte wohl nicht lange dauern: „Ace. Wie gut ist Ihr Akarii eigentlich? Ich hoffe, Sie sind in Übung geblieben?“
„Nun, ich beherrsche Harra, Drom und Terrekari. Mein Sekurr…“
„Das wird genügen!“ fiel ihm Ross ins Wort: „Auch wenn ich noch einmal betonen muss, dass mir das Ganze nicht gefällt!“
Der Commander winkte ab: „Sie haben Ihren Standpunkt klar gemacht, Ross.
Also, Ace, Sie sind immer noch der Mann mit den besten Akarii-Kenntnissen in der Kampfgruppe, der gleichzeitig auch fliegen kann. Wir haben ein paar Sprachexperten…“, ein Blick zu Ross verriet, zu welcher Abteilung diese Spezialisten gehörten, „…aber das sind nun einmal keine Piloten. Einige im Geschwader können ein wenig Terrekari, Drom oder Harra, oder sogar einige Brocken Sekurr. Aber das reicht nicht.“
„Ich verstehe nicht. Soll ich bei dem Verhör von gefangenen Piloten helfen?“
Lieutenant Commander Ross lächelte humorlos: „Damit Sie sich auch noch mit denen fraternisieren? Eher lasse ich die erschießen. Vergessen Sie nicht, ein Großteil der gefangenen Piloten gehörte zu dem Geschwader, das einen Kamikazeangriff gegen unsere Kreuzer geflogen hat. Wenn Sie glauben, ich lasse Sie diese Fanatiker mit Schokolade und Zigaretten abfüllen…“
Ehe Ace das sagen konnte, was ihm auf den Lippen lag, und was ihn garantiert in Schwierigkeiten gebracht hätte, schaltete sich Cunningham ein: „Jetzt reicht es aber, Ross. Bleiben Sie sachlich.“
„Sir.“ Das klang widerwillig, aber der Commander fasste es offenbar als Einverständnis auf und wandte sich wieder an Ace: „Sie wissen, dass wir hohe Verluste gehabt haben, vor allem an Maschinen. Dazu kommt noch, dass wir bereits vor der Schlacht mit der Korax eine Reihe von Kampffliegern eingebüßt haben. Unsere Reserven an Ersatzmaschinen sind erschöpft, und wir haben eine Reihe von Piloten, für die wir momentan keine Raumjäger mehr haben. Das wird sich noch verschärfen, wenn wir einige Verwundete aus der Krankenstation entlassen können. Wenn es zu weiteren Gefechten kommen sollte, fehlen uns die nötigen Reserven, um beschädigte oder abgeschossene Kampfflieger zu ersetzen. Kurz und gut, wir haben mehr Piloten als Maschinen.
Wie Sie wissen, haben wir unsere Treibstoffvorräte aus Akarii-Beständen aufgefrischt. Wir haben auch einige Bestände an Ersatzteilen und Raketen erbeutet. Und wir haben eine Reihe von Akarii-Maschinen erbeutet. Einige davon sind in sehr gutem Zustand, oder relativ einfach wieder in Stand zu setzen. Also haben wir eigentlich die nötigen Jagdmaschinen. Es ist bloß leider Akarii-Gerät. Und an diesem Punkt kommen Sie ins Spiel.“ Cunningham blickte zu Ross, der mit unterkühlter Stimme fortfuhr: „Sie haben den Auftrag acht Piloten an den vier momentan einsatzfähigen Akarii-Maschinen auszubilden, die sich in unserem Besitz befinden. Das sind augenblicklich zwei Bloodhawk, ein Deltavogel und ein Deathhawk. Zuallererst müssen die Piloten natürlich erst einmal lernen, die Anzeigen abzulesen. Wir werden die Maschinen nicht für Standartaufgaben einsetzen, aber wir wollen eine gewisse Reserve für den Notfall schaffen.
Für den einleitenden Flugunterricht wird Ihnen eine spezielle Übungs-Software zur Verfügung gestellt. Wie die Akarii-Maschinen unterliegt diese Software der Top Secret-Einstufung. Wenn Sie also Mist bauen, dann bekommen Sie Ärger. Ich will keine Trainingsunfälle oder Sicherheitsverstöße. Ein Offizier des NIC, Lieutenant Gandhi, wird die Ausbildung überwachen. Haben Sie verstanden?“
„Ja.“
„Das will ich hoffen.“ Lieutenant Commander Ross erhob sich, nickte Commander Cunningham knapp zu, und marschierte hinaus.
„Warum hat der mich eigentlich gefressen?“
„Der NIC wollte die Maschinen eigentlich nicht herausrücken. Sie wollen die Dinger lieber in einem Labor auseinanderschrauben. Außerdem…du und unsere Sicherheitsabteilung.“ Ausnahmsweise wirkte Cunningham mal wieder erheitert. In letzter Zeit hatte er wenig Gelegenheit gehabt, sich zu amüsieren: „Das ist keine Dienstbefreiung. Sie werden das, wie die ausgewählten Piloten, zusätzlich zum normalen Dienst machen müssen. Und ich will, dass jeder von diesen acht Piloten etwa zehn bis zwölf Flugstunden hat, noch bevor wir den Akarii-Raum verlassen haben. Trauen Sie sich das zu?“
„Natürlich.“
„Übertreiben Sie es mal nicht, O. K.? Und das ist keine Beförderung. Da der ein oder andere Lieutenant Commander oder Staffel-XO unter den acht ist, werden Sie sehen müssen, wie Sie mit denen klar kommen. Wenn alles gut geht, macht sich das bestimmt nicht schlecht in Ihrer Dienstakte. Die könnte das vertragen. Vielleicht kommen Sie und der NIC dann doch noch einmal zusammen…
Ach ja – die Piloten wurden ausgewählt nach ihrer Fähigkeit, sich an neue Maschinen anzupassen, die meisten haben schon mehrere Modelle im Einsatz geflogen. Also sollten Sie es nicht zu schwer haben. Die Akten, nach denen wir die acht ausgewählt haben, sind natürlich auch Top Secret.“ Wieder zuckte es um Cunninghams Lippen.
„Wollen Sie wirklich jemanden in einer Akarii-Maschine rausschicken? Ich meine…“
„Nur wenn uns nichts anderes übrig bleibt. Kann sein, dass es mal auf jeden verdammten Jäger ankommt. Oder ich brauche an paar Cracks für eine verdammte Spezialmission. Immerhin haben die Maschinen noch die Transponder-Sender der Akarii, verstehen Sie?
Sagen wir mal so… Besser die Möglichkeit haben, und sie nicht brauchen – als sie zu brauchen, aber nicht zu haben.“
„Sieht es so ernst aus?“
Der Commander verzog die Lippen zu einem etwas säuerlichen Grinsen: „Sie sind nicht mein Beichtvater. Aber sagen wir es mal so… Für den Fall, dass uns die Akarii mit heruntergelassenen Hosen erwischen, will ich lieber noch ein Ass im Ärmel haben. Also sehen Sie zu, dass mein Blatt keine Dead Man’s Hand wird.“
„Was?“
„Pokern können Sie doch, oder?“

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Anmerkung:
‚Dead Man’s Hand’: Kombination aus zwei Assen und zwei Achten der Farben Pik und Kreuz, das Blatt von Wild Bill Hickok, als er am Spieltisch erschossen wurde.
Cattaneo
Cattaneo

Ein letzter Salut

Commodore Mithel spürte, wie alle Augen auf ihn gerichtet waren, als er durch die Reihen der Männer und Frauen schritt, die sich auf dem Oberdeck der Relentless versammelt hatten. Die Flottenangehörigen trugen ihre Galauniform, ebenso wie die Marines und die Angehörigen des fliegenden Personals – trotzdem sie nur eine Handvoll waren, gehörten die Shuttlepiloten des Kreuzers zu einer Gattung für sich. Doch es war kein Anlass zum Feiern, der sie alle hier zusammengerufen hatte. Der Flottillenchef hielt sich aufrecht, und wie so oft sah man seinem Gesicht keine erkennbare Regung an. Als er sein Ziel erreicht hatte – direkt vor einem der großen Sichtfenster – drehte er sich mit einer genau abgezirkelten, aber dennoch geschmeidigen Bewegung um. Vor ihm standen unzählige Besatzungsmitglieder seines Schiffes. Und wenn möglich, strafften sie sich in diesem Augenblick noch zusätzlich. Hunderte Stiefel scharrten über das Deck, als die Männer und Frauen Haltung annahmen. Natürlich waren es nicht so viele, dass die Einsatzbereitschaft der Relentless darunter gelitten hätte, immerhin war man ja in Feindesland. Aber es war ein eindrucksvoller Anblick, all die weißen Uniformen, viele mit Auszeichnungen, Verwundetenabzeichen und Kampagnebändern verziert. Und Mithel wusste, auf den anderen Kreuzern der beiden Flottillen fand in diesem Augenblick eine ähnliche Zeremonie statt. Doch das Herz des Geschehens schlug hier. Ganz vorne standen, hoch aufgerichtet und mit verschlossener Miene, die Kapitäne Oleg Petrowitsch Oparin und Jang-Hoo Lee. Die sie umgebenden Besatzungsmitglieder hielten respektvoll Abstand. Es gab wenig, was einen Raumfahrerkapitän mehr traf, als der Verlust seines Schiffes. Jahrhunderte alte Traditionen und die eigentümliche Bindung zwischen Menschen und den stählernen Rümpfen, die für Jahre ihr Zuhause und letztendlich das Einzige waren, was sie vor dem Tod in den eisigen Weiten des Alls schütze, waren dafür verantwortlich, dass so eine Niederlage den Kapitän manchmal noch mehr traf als der Tod eines Verwandten. Dazu mochte beitragen, dass ein solcher Verlust sich nicht gut in der Dienstakte ausnahm. Aber oft war es mehr als nur das. Vor allem wenn ein Kapitän ein Schiff lange Jahre und durch manch bittere Schlacht führte, oder wenn es sein erstes Kommando war, dann bildete sich mit der Zeit eine besondere Art der Verbundenheit, als hätte das künstliche Gebilde eine eigene Seele und ein eigenes Wesen. Mithel verstand das, auch wenn er nicht zum Mystizismus oder Vermenschlichung von Gegenständen neigte, und deshalb empfand er jeden Atemzug als ein Eingeständnis der Niederlage. Immerhin war ein Schiff in jedem Fall Symbol militärischer Macht und Stärke, Sinnbild des Erfindungsgeistes seiner Erbauer.
Er hatte sich bemüht, diesen Augenblick zu vermeiden, hatte weder sich noch seinen Untergebenen Rast oder Ruhe gegönnt. Am Ende war es umsonst gewesen, trotz aller Bemühungen. Jetzt konnte er nur noch im Angesicht des Scheiterns versuchen, den Schein aufrecht zu erhalten, damit die Traditionen der Flotte gewahrt blieben. Und das würde er tun.
Eine knappe Geste des Commodore, und der leitende Kommunikationsoffizier aktivierte die Verbindung. Mithels Worte waren jetzt auf allen Schiffen der zwei Kreuzerschwadronen zu hören. Die Stimme klang ruhig, entschlossen, aber mit einem stählernen Unterton.

„Männer und Frauen der Geschwader 2.3 und 2.7. Soldaten, Offiziere – Kameraden. Ihr alle wisst, warum wir heute hier zusammengekommen sind. Heute wollen, heute müssen wir Abschied vom letzten Opfer der Schlacht um Tukama nehmen. Ihr habt in dieser Schlacht euer Bestes gegeben, und ihr habt ein neues ruhmvolles Blatt in der Geschichte des Raumkrieges geschrieben. Vor euren Geschützen mussten zahllose Einheiten des Gegners kapitulieren. Unsere Brüder von den Trägerstreitkräften trafen den Feind ins Herz, als sie die Korax ma Rah und weitere Einheiten des Feindes vernichteten und Prinz Jor liquidierten, einen der Hauptschuldigen an diesem Krieg. Doch ihr habt dem Feind das Genick und die Glieder gebrochen. Ohne euch hätten die Jäger und Bomber keinen Platz mehr zum Landen gehabt, und die Akarii hätten das Blatt vielleicht noch wenden können. Doch an euch sind sie gescheitert! Der Name eurer Schiffe und euer eigener Name werden auf ewig untrennbar mit unserem Sieg verbunden sein.
Wir alle wissen, dass wir für diesen Sieg einen hohen Preis zu zahlen hatten. Wir haben es noch immer mit einem starken, fanatischen und erfahrenen Gegner zu tun. Einem Feind, der mitunter nichts anderes mehr will, als vor seinem unvermeidlichen Ende so viel Leid wie möglich zu verursachen. Doch dies wird an unserem letztendlichen Sieg nichts ändern können.
Mit unseren Kameraden starben auch ihre Schiffe. Die San Francisco, die Kadmos, die Fearless – starke und stolze Schiffe, Schiffe, die in Niederlagen standhaft geblieben sind, und manchen Sieg an ihre Fahnen hefteten. Und nun, trotz eures aufopferungsvollen und unermüdlichen Einsatzes, müssen wir ein letztes Opfer beklagen. Wir sind hier, um Abschied von der Executioner zu nehmen.“
Ja, dieses Eingeständnis schmerzte. Mithel hatte alle Möglichkeiten prüfen lassen, hatte nichts unversucht gelassen. So lange ein Schiff noch irgendwie zusammenhielt und sein Reaktor, seine Munition nicht zu einer tödlichen Bombe wurden, bestand noch Aussicht auf Rettung. So hatte er Spezialisten für Schadensbekämpfung und Reparaturen auf der Columbia und bei den kleineren Schiffen rekrutiert – die Kreuzer selber hatten nicht viel beitragen können, denn immerhin hatten von den 17 Schiffen, die die Schlacht überstanden hatten, sieben zum Teil schwere Schäden hinnehmen müssen. Er hatte die Besatzung der zerstörten Fearless und die Überlebenden der San Francisco, soweit sie körperlich und seelisch dazu in der Lage waren, auf die anderen Schiffe verteilt, um die Gefechtsverluste zu ersetzen. Er war mit gutem Beispiel vorangegangen, um die Schiffe wieder einsatzbereit zu machen und die Havaristen zu retten. Aber letzten Endes hatte man nur bestätigen können, was schon nach den ersten Diagnosen zu vermuten gewesen war. Die Executioner war durch die Kamikaze-Treffer zu stark beschädigt worden. Zu stark, um sie ohne ein Dock, ein halbes Jahr Zeit, genügend Ersatzteile und vor allem ohne Sicherheit retten zu können. Jeder Tag hier bei Tukama war ein Tag mehr, an dem sich die Akarii reorganisieren konnten. Das Geschwader der Columbia war angeschlagen und auf bestenfalls zwei Drittel reduziert, die Kreuzergeschwader hatten mindestens ein Sechstel ihrer Stärke als Ausfall zu verbuchen. Und dies in einem Raumsektor, in dem noch immer mindestens zwei feindliche Flottenträger aktiv waren, und wer weiß wie viele Zerstörer und Kreuzer. Zusammengefasst, befehligt von einem energischen, rachsüchtigen oder einfach pflichtbewussten Akariioffizier, konnten diese Schiffe schnell zu einer tödlichen Gefahr werden. Zudem wartete der Krieg nicht, und es war einfach unverantwortlich, einen ganzen Trägerverband so lange aufzuhalten. Unklar war, ob und wie schnell der Feind zurückschlagen würde, aber mit der Flucht der letzten Überlebenden des Korax-Verbandes musste die Kunde von der Schlacht bei Tukama inzwischen zumindest im ganzen Sektor herum sein. Dank des „genialen“ Einfalls, den Akarii den Tod ihres Prinzen brühwarm über Breitband quasi transgalaktisch mitzuteilen, wussten jetzt vermutlich selbst die letzten Flotteneinheiten der feindliche Home Fleet Bescheid. Mithel konnte sich nicht recht erklären, wie jemand auf die Idee kommen konnte, dass die schnelle Verbreitung dieser Nachricht das Risiko eines feindlichen Vergeltungsschlages rechtfertigte. Seiner Meinung nach wäre für solche Gesten frühestens beim Verlassen des Tukama-Systems Zeit gewesen. Zu diesen Problemen, die ihm den Schlaf raubten – graue Haare konnte er davon jedoch kaum bekommen, denn andere hatte er inzwischen nicht mehr – kam noch, dass die anderen beschädigten Schiffe der Schwadronen ohnehin einen Großteil der Ressourcen und Arbeitskraft forderten. Insbesondere die Kami, deren exotischen Systeme weit mehr Aufwand erforderten, war ein richtiges Sorgenkind. Es war gelungen, den Kreuzer unter großen Mühen soweit zusammenzuflicken, dass er bei der Flotte bleiben konnte. Dies allerdings hatte die dafür abgestellten Männer und Frauen bis an die Grenze der Belastbarkeit geführt. Und auch die Merciless hatte viel Fürsorge benötigt nach den schweren Treffern, die sie hatte hinnehmen müssen.
Oh ja, Mithel kannte seine Verantwortung. Auch wenn sich sein Herz dagegen sträuben mochte – er führte mit Verstand, nicht mit dem Gefühl. So hatte er schließlich entschieden, den leichten Kreuzer Executioner zu opfern. Es war seine Verantwortung, und er hatte sich ihr gestellt. Denn diese Verantwortung galt letzten Endes den Lebenden, nicht den Toten. Und das galt auch für die Schiffe. Man durfte den Toten nicht noch die Lebenden hinterherwerfen, in dem vergeblichen Versuch zu ändern, was nicht zu ändern war. Was nicht zu halten war, musste man fahren lassen, so schwer es fiel. Er hatte den Kreuzer abrüsten lassen, insoweit die Schäden und das Personal es erlaubten – die Munition an Schiff-Schiff- und Jäger-Abwehr-Raketen würde man vielleicht noch brauchen können.

„Die Executioner stieß vor der Doppelschlacht von Graxon und Corsfield zur Schwadron 2.3. Sie kam zu uns vor der Schlacht, die wohl mit Fug und Recht als Kriegswende bezeichnet werden kann. In dieser Schlacht, in der wir erstmals den Akarii auf gleicher Ebene entgegentraten und siegreich blieben, tat das Schiff unerschütterlich seine Pflicht. Unter seinem Kapitän hat es in den folgenden zweieinhalb Jahren an zahllosen Schlachten und Gefechten teilgenommen und so geholfen, den Krieg immer weiter ins Feindesland hineinzutragen. Und als es in seine letzte Schlacht zog, die Schlacht, in der einmal mehr die Flotte der Republik siegreich blieb, da blieb das Schiff seiner Besatzung treu. Trotz schwerer Schäden hielt es durch und rettete ihnen so das Leben. Auch wenn das Opfer derer, die an Bord des Kreuzers fielen, niemals in Vergessenheit geraten wird – die meisten Männer und Frauen der Besatzung werden an Bord eines anderen Schiffes den Kampf fortsetzen. Sie werden die Geschichte der Executioner weiter schreiben, auch wenn der Kreuzer selber nicht mehr ist.“
Mithel ließ seinen Blick über die angetretenen Reihen wandern. Er erwiderte offen den starren Blick von Captain Jang-Ho Lee. Für ihn musste es mit am schwersten sein. Auch wenn die Zeiten vorbei waren, wo man von einem Kapitän erwartete, mit seinem Schiff unterzugehen – auch heute noch blieb immer die unausgesprochene Frage, ob der Befehlshaber auch wirklich sein Bestes gegeben hatte, und wie es sein konnte, dass er überlebte, wenn das ihm anvertraute Schiff verloren war. Mithel machte seinem Untergebenen keine Vorwürfe. Er hatte sich gründlich mit ihm unterhalten – wie auch mit dem anderen überlebenden Kapitän eines Gefechtsverlustes, Captain Oparin. Die Kapitäne von San Francisco und Kadmos waren mit ihren Schiffen umgekommen. Auch für sie, für die Nachwelt und für die Angehörigen, hatte er Beurteilungen verfassen müssen. In all diesen Fällen gab es kein objektiv feststellbares Verschulden oder Unterlassung. Gefechtsverluste waren bei solchen Schlachten einfach unvermeidbar, und niemand hatte mit den Kamikaze-Angriffen gerechnet. Mithel hatte diese Einschätzung auch in seinem Bericht vermerkt, und hinzugefügt, er hoffe, man werde beiden überlebenden Offizieren baldmöglichst ein neues Kommando zuteilen. Ob dies freilich geschah, lag leider nicht mehr in seiner Hand.
„Es ist niemals leicht, von einem alten Kameraden Abschied zu nehmen – und dieses Schiff war unser Kamerad. Es war für seine Besatzung Heimat, und für uns war es ein unerschütterlicher Mitstreiter. Jetzt, nach einer letzten erbitterten Schlacht, hat sich sein Schicksal schließlich erfüllt. An uns ist es, diesem Opfer und der Verpflichtung, die in dem Verlust liegt, gerecht zu werden. Ich weiß, dass wir dies können. Wir werden die Executioner niemals vergessen, ebenso wenig wie die anderen Schiffe, die mit ihr gefallen sind, und niemals werden jene Männer und Frauen in Vergessenheit geraten, die in der Schlacht von Tukama für das Überleben und den Sieg der Republik fochten und fielen.“
Er schwieg einen Augenblick, gab seinen Untergebenen und ihren Kameraden auf den anderen Schiffen Zeit, sich die Bedeutung der Worte klarzumachen. Dann fuhr er fort: „In alten Zeiten, lange bevor unser Volk zu den Sternen aufbrach, war es bei uns auf der Erde in vielen Kulturen Sitte, den Königen und Fürsten Grabbeigaben ins Jenseits mitzugeben. Kostbarkeiten, Waffen, und manchmal sogar Tiere und Menschen, die geopfert wurden. Es war ein archaisches, ja grausames Ritual, und dennoch – sicher fanden die Hinterbliebenen Trost in dem Gedanken, dass es ihrem Toten an nichts mangeln würde.
Wir geben heute unserem treuen Schiff seine letzte Beute als Begleitung mit. In der Schlacht von Tukama kapitulierte die Akarii-Korvette Toschak Na Gor vor unserer Flotte. Heute wird sich auch das Schicksal dieses Schiffes erfüllen!"
Mithel neigte nicht zu solch altertümlichen Aberglauben, aber er glaubte an die Macht von Symbolen, und er ahnte, dass das vergossene Opferblut – oder in diesem Fall die Vernichtung eines feindlichen Schiffes – seine Besatzungen von dem Gefühl der Niederlage ablenken würde, die in der Aufgabe eines Kreuzers lag. Die feindliche Korvette war überprüft und ausgeschlachtet worden, und da eine Reparatur nicht zweckmäßig erschien, hatte man sich entschlossen, sie zu sprengen. Mithel hatte sich dafür entschieden, diese Art der Exekution zu wählen - so diente die Zerstörung des Gegners noch einem weiteren Zweck.
Der Commodore hob seine rechte Hand, die zur Faust geballt war. Er versagte es sich, Gott oder ein anderes übernatürliches Wesen anzurufen. Mithel hatte Respekt vor dem Glauben seiner Untergebenen – eben deshalb unterließ er es. Denn an Bord der Executioner waren Christen gewesen, Moslems, Buddhisten, Konfuzianer, Shintoisten, Menschen mit animistischen Glaubensvorstellungen und Atheisten. Es stand ihm nicht zu, ein übernatürliches Wesen – er mochte selber daran glauben oder nicht – über ihre Religionen zu stellen.
„Wir grüßen die Executioner ein letztes Mal. Möge sie nach ihrem Flammentod als Wächter über unsere gefallenen Kameraden wachen, wo immer sie auch sein mögen, und möge die Erinnerung an dieses Opfer niemals verblassen.“
Mithel hob die Hand, die er nun geöffnet hatte, zum Rand seiner Schirmmütze und salutierte. Hunderte Arme – tausende, wenn man die auf den anderen Kreuzern mitzählte – strafften sich zum letzten Gruß. Einen Augenblick, eine kleine Ewigkeit hielt der Commodore den Gruß. Dann ließ er den Arm sinken. Er drehte sich um, wandte sein Gesicht den Sternen zu. Seine Stimme klang metallisch: „Primärwerfer Zwei – Rohr eins bis drei... LOS!“

Auf der Hauptbrücke der Relentless bestätigte der Erste Offizier, Commander Liu Shan-Lee, den Befehl. Auf ihr Kommando schossen drei mächtige Exocett-II-Raketen aus den Werfern des Schweren Kreuzers. Die Marschflugkörper beschleunigten, lange Flammenschweife hinter sich herziehend. Binnen weniger Sekunden hatten sie die Entfernung zu dem wracken Kreuzer überbrückt. Die feindliche Korvette lag längsseits, sie war von Traktorstrahlen an ihren Platz bugsiert worden. Der erste Einschlag traf die Executioner am Bug, dann folgte ein Treffer im Heck und schließlich einer, der nicht den Erdkreuzer sondern sein Grabopfer mittschiffs traf. Die gigantischen Explosionen, jede einzelne stark genug, eine Großstadt vom Antlitz der Erde zu tilgen, vereinten sich zu einer Miniatursonne. Unerträglich hell erstrahlte sie, als sei hier und heute im Tukama-System ein neuer Stern geboren worden. Die großen Sichtfenster verdunkelten sich automatisch, fingen das Licht ab, das sonst jedes ungeschützte Auge für immer geblendet hätte. In einem Orkan aus Feuer und Glut verschwanden die Executioner und ihr letztes Opfer für immer. Die Explosionswolke dehnte sich aus, bis schließlich die eisige Kälte des Weltalls über das atomare Feuer siegte. Als die Eruption in sich zusammenfiel, war von dem einst so stolzen und starken Kreuzer und der agilen Korvette nichts mehr übrig geblieben.
Commodore Mithel verweilte noch einen Augenblick schweigend. Er ließ den Anblick auf sich wirken. Vielleicht fragte er sich auch, ob eines Tages ein ähnliches Feuer ihm oder seinem Schiff den Untergang bringen würde. Dann drehte er sich zu seinen Untergebenen um. Er musterte ihre Gesichter. Er sah Trauer, Wut, Hass, Enttäuschung – doch nirgends Gleichgültigkeit. Denn selbst wer mit dem sterbenden Kreuzer nichts verband, der wusste nur zu gut, wie leicht die Executioner sein eigenes Schicksal vorweg nehmen konnte. Mithel achtete diese Gefühle, und er verstand sie. Er wusste auch, es war seine Aufgabe, und die Aufgabe seiner Offiziere, aus diesen Gefühlen Entschlossenheit zu schmieden. Ein scharfes Schwert, das auf das Herz des Akarii-Imperiums zielte. Und er hatte nicht vor, dabei zu versagen.
„Das Ganze – rührt...Euch! Weggetreten!“
Cattaneo
Cunningham

Die Realität faltete sich zusammen und dehnte sich gleichzeitig zur Unendlichkeit aus.
„Status?“ Melissa Auson-Cunningham blickte auf die taktische Anzeige ihrer Station.
„Wir sind in Axion, Skipper.“ Armand Hall, ihr Erster Offizier, blickte genauso konzentriert auf seine Station. „Alle Stealth-System arbeiten einwandfrei. Erster Haken in sechzehn Sekunden.“
„Ausgezeichnet XO, machen Sie weiter.“ Die Kommandantin des Zerstörers Drake gestattete sich ein grimmiges Lächeln. „Mr. Hirsch, Sie haben jetzt neunzig Minuten Zeit, die Drohnen vorzubereiten.“

Trotz des Alarms, den die beim Sprung freigesetzte Thetastrahlung bei den Akarii ausgelöst hatte, gelang es dem unter Stealth laufenden Zerstörer mithilfe von nicht weniger als 34 komplizierten Wendemanövern dem Sperrnetz der Vorpostenschiffe zu entgehen.
Die letzten zwanzig Minuten war die Drake im Raum getrieben.
Schließlich kam Lieutenant Commander Hirsch an den Kartentisch der Brücke: „Skipper, die Drohnen wären so weit, und ich glaube eine besser Position bekommen wir nicht.“
Auson blickte den jungen Operationsoffizier fragend an: „Sagen Sie Joachim, warum flüstern Sie?“
„Oh ...“ Hirsch räusperte sich verlegen. „Des Effekts wegen, Ma'am.“
„Na gut, dann wollen wir die Vögel mal aussetzen.“
„Aye, aye, Ma'am.“
Über den Oberdeck Raketenwerfer wurden vier Shadoweye Aufklärungsdrohnen ausgeschleust. Dann hieß es wieder warten.
Auson behielt dabei ständig die Sensormeldungen vom Sprungpunkt im Auge. Die Vorpostenschiffe der Akarii suchten immer noch nach ihnen.
„Uh-uh.“
Wie ein Habicht drehte Auson sind zur Quelle dieses Geräusches um.
„Die haben wohl die Drohnen entdeckt, Ma'am, soll ich den Datendownload beginnen, Ma'am?“ Joachim Hirsch kaute auf der Unterlippe.
„Dann mal los.“ Die Kommandantin der Drake wandte sich an ihren Stellvertreter. „XO, sagen Sie im Maschinenraum Bescheid, wir werden gleich hier weg müssen, und zwar mit äußerster Geschwindigkeit.“
„Aye, aye, Ma'am.“
Nur wenige Sekunden später meldete sich der Sensoroffizier: „Aktive Feindpeilung, Entfernung zwo-zwo-acht abnehmend, zeichne Bandit eins, Fregatte Sierra-Klasse.“
„Rudergänger: Hundertachtzig Grad. Beide Maschinen äußerste Kraft voraus.“ Ausons Stimme klang weder angespannt noch entspannt. Es war eine einfache emotionslose Befehlsstimme. „Waffen: Feuerleitlösung errechnen. Feuer auf maximale Entfernung nach eigenem Ermessen.“
Die Crew der Drake arbeitete wie das lang eingespielte Team, das sie waren. Kampferprobt und sicher.
Der Zerstörer wendete und beschleunigte auf den Sprungpunkt zu.
„Captain.“ Meldete sich der Sensoroffizier erneut. „Zeichne zweiten Banditen. Ebenfalls Sierra-Klasse. Kommt uns direkt entgegen und wird uns in acht Minuten abfangen.“
„Feuerkorrektur: Feuerleitlösung für Bandit zwei, Beschuss auf maximale Entfernung beginnen. Rudergänger Kurs beibehalten.“
Der Raumdienst bestand häufig darin, zu warten. Selbst im Gefecht war das so. Warten, bis man in Schussweite war. Warten, bis die abgefeuerten Raketen trafen, warten, bis die Raketenwerfer nachgeladen waren. Und warten, bis die hereinkommenden Raketen einen selbst trafen.
Melissa Auson benutzte die Wartezeit für zweierlei. Erstens, und momentan leider von untergeordneter Bedeutung, dachte sie nochmal an Lucas Cunningham zurück, ihren Ehemann und an die wenigen gemeinsamen Stunden. Zweitens, und gerade jetzt um vieles entscheidender, waren die Berechnungen, die sie an ihrer Station ausführte.
„Rudergänger, geben Sie für dreizehn Sekunden zwanzig Grad Backbord.“
Der Unteroffizier tat wie befohlen, blickte dann jedoch zu seiner Kommandantin: „Ma'am, Sierra zwo wird uns an Steuerbord passieren und Sierra eins wird die Möglichkeit erhalten aufzuschließen.“
„Ist mir bekannt, Chief.“
„Sierra zwo eröffnet das Feuer.“ Kam die Meldung.
Zur Bestätigung nickte Auson. In dreiundzwanzig Sekunden würde die Drake das Feuer eröffnen.
Und tatsächlich: „Ober- und Unterdeckwerfer feuern.“
Erneutes Warten. Mel ging nochmal den Kurs der drei Schiffe durch.
„Alle Feindraketen neutralisiert. Sieben eigene Vögel noch auf dem Weg, Einschlag in: .... sechs Vögel, .... drei, zwei, eins. Treffer an Bug- und Oberdeckschilden.
Beide Schiffe hatten inzwischen zwei weitere Salven auf den Weg geschickt.
„XO: Bei der fünften Salve für den Oberdeckwerfer, ab jetzt, jegliche Sicherheitssperren entfernen.“
„Aye, Skipper.“ Der Erste Offizier der Drake griff zum Mikrofon, als die erste Feindrakete am Schild des Zerstörers detonierte.
„Direkter Treffer am Frontschild. Kein Durchschlag. Nächster Einschlag in drei, zwo, eins.“ Erneut erzitterte das Kriegsschiff unter der Gewalt der Atomexplosion.
Auch die feindliche Fregatte wurde immer öfter getroffen und das kleinere Schiff zeigte deutlicher Wirkung.
„Bandit eins wird in achtunddreißig Sekunden in Feuerreichweite sein.“
Auson nahm die Meldung mit einem mechanischen Nicken zur Kenntnis.
„Rudergänger: Auf meinen Befehl führen Sie eine neunzig Grad Drehung auf der Z-Achse nach Steuerbord durch.“ Sie blickte auf den Timer auf ihrem Display.
Die abfangende Sierra-Fregatte und der Zerstörer stoben immer noch aufeinander zu.
„Bandit eins eröffnet das Feuer!“
„Täuschkörper nach Backbord abfeuern!“ Mel registrierte wie einige Brückenoffiziere immer wieder kurz zu ihr rüberblickten.
Der näher kommende Feind und die Drake würden bald viel zu nah sein, um noch Vektor-Raketenbeschuss austauschen zu können.
Der Raketenzähler meldete Bereitschaft. Es wurde nur noch mit der Energiebewaffnung geschossen. Die Raketen zur Flugkörperabwehr kümmerten sich jetzt ausschließlich um die verfolgende Fregatte.
Der Annäherungscounter sprang auf Null.
„Drehen Rudergänger! Drehen!“
Der Zerstörer legte sich auf die Steuerbordseite, so dass sein Oberdeck auf die Fregatte zeigte.
Drei ... zwei .... eins: „FEUER!“
Die volle Breitseite Exocett-Raketen sprang förmlich aus den Röhren, der Akarii-Fregatte entgegen.
Die meisten trafen auch.
Das kleinere Schiff wurde durchgeschüttelt. Blumen von Licht breiteten sich über den Rumpf aus. Das einst stolze Kriegsschiff begann zu schlingern.
„Zurückdrehen, Ruder hart Steuerbord, siebzig Grad fordere Neigung! Wir tauchen unter Ihr durch. Feuerleitung, nehmen Sie jetzt Bandit eins aufs Korn.“
Die Drake fuhr unter der brennenden Akarii-Fregatte durch und tauchte hinter ihr wieder auf. Die gesamte Langstreckenbewaffnung entlud ihre Wut auf die zweite Fregatte, die weiter abbremste und ihr Feuer, aus Angst das eigene Schiff treffen zu können, zurückhielt.
„Skipper: Sie drehen ab.“ Meldete der Erste Offizier.
„Ausgezeichnet.“ Mel befeuchtete ihre Lippen. „COM, stellen Sie mich auf Breitband, ich will mit dem Wrack reden.“
„Aye Ma'am, Sie sind drauf.“
„Akariische Fregatte! Akariische Fregatte! Hier ist die TRS Drake. Geben Sie augenblicklich das Schiff auf. Wir werden in drei Minuten das Feuer eröffnen.“
Sie erhielten keine Funkantwort, doch schon bevor die erste Minute um war, startete die ersten Rettungskapsel.
„Meldung über den Jumppoint XO?“
„Laut den Sensoren ist der Weg für uns jetzt frei. Die Akarii setzen zwar alles in Marsch, was geht, doch für uns dürfte keiner mehr gefährlich werden.“
„In Ordnung: Dann nehmen wir Kurs auf den Sprungpunkt, äußerste Kraft. Und schießen Sie bitte noch eine Raketensalve auf Maximalentfernung auf den Eimer da drüben.“
„Aye, aye, Skipper.“ Die Augen des ersten Offiziers leuchteten vergnügt.


TRS Columbia,
auf den Rückweg ins terranische besetzte Gebiet.

Lucas bemerkte Samantha Burrs Seitenblick: „Ich habe keine Ahnung, was sie von uns will.“
Seine neue XO strich sich nochmal die Uniform glatt, als die beiden das Vorzimmer von Bianca Wulffs Büro betraten.
Ein junger Flagglieutenant blickte auf: „Sie können gleich rein gehen, CAG.“
Die beiden Piloten betraten das Admiralsbüro und nahmen vor dem Schreibtisch Haltung an.
Schräg hinter Wulff stand Waco. Das Gesicht des Trägerkommandanten ließ nichts Gutes erhoffen.
Wulff wirkte erstaunt, Raven zu sehen.
„Stehen Sie bitte bequem.“ Sie musterte die beiden Angry Angels, dann wandte sie sich an Raven: „Sie sind nicht Cunninghams eigentliche Stellvertreterin.“
„Ich bin auf diesen Posten aufgerückt, Commander Parker fällt verletzungsbedingt wohl eine ganze Weile aus.“
„Nun, dann will ich gleich zum Kern kommen: Ihr CAG hat für den letzten Einsatz eine Art Sicherungsleine eingebaut, für den Fall, dass Prinz Jor in einer Rettungskapsel gestrandet wäre. Sie scheinen nicht überrascht, Commander.“
„Der CAG hat es uns Staffelführern gestanden, als er seinen Plan mit dem chirurgischen Angriff auf die Korax ma Rah entwarf.“
Wulff suchte auf Cunninghams Gesicht nach einer Regung, einem Zeichen von Reue oder Wut. Nichts. „Hat Sie das überrascht?“
„Nein, Ma'am“. Antwortete Raven rundheraus. „Commander Cunninghams moralische Flexibilität ist schon seit Jahren ein Reibungspunkt zwischen uns.“
Ein kleines Zucken in seinem linken Mundwinkel. Ein zynisches Schmunzeln?
„Moralische Flexibilität.“ Wulff ließ sich den Terminus auf der Zunge zergehen. „Nett. Wie dem auch sei, Commander Cunningham wird uns verlassen. Von daher, Lieutenant Commander, sind Sie in der Lage ein Geschwader zu führen?“
Raven stieß nachdenklich die Luft aus: „Ich diene jetzt seit fünf Jahren als Staffelkommandantin, ja, ich habe die nötige Erfahrung für ein Geschwaderkommando.“
Wulff nickte zufrieden.
„Es war aber nicht nach der Erfahrung gefragt worden.“ Mischte sich Waco ein. „Haben Sie auch das Zeug dazu, ein Geschwader zu führen?“
Die Pilotin blinzelte verwirrt.
Also wandte sich Waco an Cunningham: „Wie ist Ihre Einschätzung?“
Dafür fing er sich von Wulff einen bösen Blick ein.
„Commander Burr ist eine herausragende Pilotin. Sie kennt Ihre Leute, wird von Ihnen respektiert und geachtet. Sie hat einen scharfen taktischen Verstand und Sie hat die nötige Erfahrung, um den Posten zu übernehmen. Sie ist eine mustergültige Teamspielerin. Aber meiner Meinung nach fehlt Ihr der nötige Biss, um die Erfolge, die dieses Geschwader erlangt hat und zu denen dieses Geschwader aufgrund seiner Geschichte verpflichtet ist, im nötigen Fall auch durchzupeitschen.“ Lucas blickte Burr fest in die Augen. „Das fehlt Ihr in jedem Fall.“
Nun war Wulff gezwungen zu fragen: „Wer wäre denn Ihre Wahl, CAG.“
Es war der Admiralin deutlich anzumerken, dass sie ihm diese Frage sehr ungern stellte.
„Von den Personen, die zur Zeit den nötigen Rang innehaben um auf meine Stelle befördert zu werden, wäre Lieutenant Commander Pawlitschenko”, er verhaspelte sich etwas bei dem Namen, “meine erste Wahl, aber die hat eben erst eine Schwadron geerbt und müsste dort erst noch mindestens zehn Monate Erfahrung sammeln, besser wären anderthalb Jahre. Lieutenant Commander McGill hätte die nötige Erfahrung und das Durchsetzungsvermögen. Sie würde viel von dem mitbringen, was ich für diesen Job für nötige erachte. Sie ist jedoch schlicht und ergreifend zu alt. Ihre pilotischen Fähigkeiten werden bald nachlassen. Als nächster auf der Liste wäre ihr RIO Lieutenant Commander von Hauenstein. Dieser müsste aber erstmal die vollwertige Pilotenqualifikation ablegen. Darüber hinaus fehlen ihm der Ruf und die Erfolge, um ihn an McGill, Burr und Dupree vorbei zu befördern.”
Wulff schnaufte: “Sie wollen mir also sagen, Sie sind hier unersetzlich?”
“Sollen wir die ganze Liste meiner Staffelkommandeure durchgehen, Ma'am?”
“Ja bitte, fangen wir mit Dupree an.”
Lucas nickte: “Wie Commander Burr kann Razor mit Qualitäten aufwarten, die man bei mir sicherlich vergeblich sucht. Und meiner persönlichen Abneigung zum Trotz würde ich ihn sofort zu meinem Nachfolger vorschlagen. Wäre da nicht seine medizinische Vorgeschichte. Sind wir ehrlich, wenn morgen der Frieden ausbrechen würde, wäre Razor der erste, der aus medizinischen Gründen ausgemustert werden würde.”
Die Admiralin musste widerstrebend nicken.
“Lieutenant Commander Volkmer als Ziehkind von Commander Parker kann sich dahin arbeiten, dass sie eines Tages in der Lage sein wird, ein Geschwader zu führen. Dazu fehlen ihr aber immer noch die nötige Kaltblütigkeit und der Biss. Commander Jones, Skunk, wäre schon längst aus der Navy geworfen worden, wäre nicht Krieg. Er kommt für ein derartiges Kommando nicht in Frage. Seine Ernennung zum Staffelführer allein ist schon ein Akt der Verzweiflung.
Commander DeLaCruz: Dies ist der letzte Mann unter meinen Staffelführern, den ich mein Geschwader anvertrauen würde.”
Die Admiralin kräuselte die Stirn und blickte kurz auf ihr Comppad vor sich. „Ach wirklich? Seinem Lebenslauf zu Folge hatte er während Operation Magellan schon mal das Kommando über ein Geschwader auf der Guadalcanal, auch wenn es damals nur zwei statt sechs Staffeln gewesen sein mögen. Und erfahren genug wäre er wohl auch, oder?“
`Sie hatte sich also schlau gemacht` dachte Cunningham, und antwortete langsam und wohlbedacht. „Nun, Tigre hat gerade seine XO verloren – zu der er ein überaus enges Verhältnis…“ er betonte die letzten Worte ungewöhnlich lange, um es auch klar genug für eine Admirälin zu sagen „gehabt hat. Außerdem wäre ich besorgt, dass seine…“ wieder stockte Cunningham absichtlich, um den nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen „äußerst defensive Einstellung auf das gesamte Geschwader abfärben könnte.“
Ein Teil von ihm hasste sich dafür, vor allem, weil er das mit dem engen Verhältnis nur vermutete und gar nicht beweisen konnte, aber Tigre würde dieses Geschwader unter keinen Umständen bekommen. „Nochmal: Commander DeLaCruz wäre der letzte Mann, dem ich das Geschwader anvertrauen würde.“
“Soll das heißen, dass in diesem Geschwader, das als eines der besten unserer Navy gilt, keine geeigneten Senioroffiziere vorhanden sind? Nicht einer, den Sie wirklich für den Posten des CAG vorschlagen würden? Was haben Sie all die Jahre gemacht?” Wulff wirkte sichtlich erschüttert. “Hatten Sie etwa Angst vor Konkurrenz im eigenen Stall?”
“Commander Parker ist verletzt, wenn Sie Ihre Unterlagen durchgehen, dann werden Sie feststellen, dass ich Sie zur Beförderung und für ein Kommando vorgeschlagen habe. Lieutenant Commander Terrano ist in der letzten Schlacht gefallen. Er hatte zwar seine Macken und seine Schwierigkeiten, darüber hinaus war er ein hervorragender Offizier. Lieutenant Commander Pawlitschenko”, schon wieder dieser furchtbare Name, “wird eine ausgezeichnete Staffelführerin abgeben und bei entsprechender Förderung wird auch sie irgendwann die Reife zum Geschwaderchef erhalten.”
“Mit der Sie jetzt wohl das gleiche Gespräch führen würden, Ma'am.”, warf Raven ein.
“Halten Sie den Mund, Burr!”
Wulff blinzelte erstaunt: “Wie bitte?”
“Commander Burr wird den Mund halten. Hier wird jemand geschasst, gut, dass bin ich, aber das stand ja schon vorher fest. Aber der Commander.” Lucas warf Raven einen warnenden Blick zu. “wird es unterlassen, hier Verdächtigungen über Piloten auszusprechen, die ich in diese Geschichte hineingezogen haben könnte. Dieses Geschwader braucht jetzt jeden erfahrenen Mann. Ich trage hier die Verantwortung und niemand sonst.”
Die drei anderen Offiziere sahen aus, als hätten sie erstmal was zu verdauen.
Wulff hatte sich als erste gefangen: “Danke, Commander Cunningham. Ich werde von der Flotte einen neuen CAG anfordern. Lieutenant Commander Burr, Sie werden bis auf weiteres das Kommando über das Geschwader innehaben. Ich befördere Sie ebenfalls in den Rang eines Commander. Wie Sie wissen, ist es heutzutage nicht mehr ungewöhnlich, mehrere Commander in einem Geschwader zu haben. Meinen Glückwunsch.
Commander Cunningham: Sie sind von Ihrem Kommando entbunden. Sie können wegtreten.”
Lucas nahm Haltung an und salutierte.
Wulff ließ ihn fünf unangenehme Sekunden mit angelegter Hand stehen, ehe sie sich erhob und seinen Gruß erwiderte.
Kaum dass sich die Tür hinter Cunningham geschlossen hatte, bot sie Burr einen Stuhl an: “Wir haben noch etwas zu besprechen, CAG.”
Cattaneo
Tyr

T’rr-System

Für viele Akarii war der Krieg, oder vielmehr sein Verlauf in den letzten drei Jahren, eine nationale Tragödie. Für einige aber stellte er gleichzeitig eine Chance dar, die man entschlossen und kaltblütig nutzen musste.
Admiral Zweiten Ranges Mokas Taran hatte sich eine solche einmalige Chance geboten, und er war fest entschlossen, sie zu ergreifen. Als vor einigen Tagen die zusammengeschossenen Reste des Korax-Verbandes in das System gesprungen waren, da hatte er nicht sofort begriffen, welche Möglichkeiten sich ihm damit boten. Es war seine Pflicht gewesen, den vielfach beschädigten Kampfschiffen Werftplätze und Nachschub zur Verfügung zu stellen. Die zahlreichen Verwundeten waren aus den überfüllten und überlasteten Krankenstationen in die Lazarette der Orbitalstationen verlegt worden.
Dass die Korax vernichtet worden war, das war für Mokas Taran eine Tragödie gewesen, die den jungen Admiral weitaus mehr traf, als Jor Thelams Tod in der Schlacht. Immerhin verdankte er dem Kronprinzen indirekt seine Versetzung auf diese rebellenversuchte Dreckkugel. Hätte Jor nach der Doppelschlacht von Graxon und Corsfield wie ein Admiral der alten Schule seinen Rücktritt erklärt oder gleich den ehrenvollen Freitod gewählt, dann hätte Mokas Taran nicht die letzten Jahre damit verbringen müssen, Schmuggler und Freibeuter zu jagen und verschreckten Kolonialbeamten die Hand zu halten und ihnen zu versprechen, dass die bösen T’rr sie nicht einkesseln und niedermachen würden. Aber der Kronprinz hatte sich an das Oberkommando geklammert wie ein Liras-Blutschlürfer an seine Beute. Und der Imperator hatte bedauerlicherweise familiäre Bindungen über das Wohl des Reiches gestellt und Prinz Jor so die Möglichkeit gegeben, eine kritische Lage in eine verzweifelte zu verwandeln.
Doch jetzt war der Kronprinz tot, und Prinzessin Linai und ihr Ehemann hatten seine Stellung eingenommen. ‚Du warst schon immer sehr ehrgeizig, Cousine.’ Das war natürlich so nicht ganz richtig. Zwar floss in Mokas Tarans Adern kaiserliches Blut, aber er entstammte nur einer von mehreren Nebenlinien. Aber das war vielleicht auch ganz gut so. Andernfalls hätte es sein können, dass man ein Killerkommando auf ihn angesetzt hätte. In Krisensituationen waren zu viele Kronprätendenten genauso gefährlich wie gar keiner.
Die Nachricht von dem Machtwechsel auf Akar hatte mehrere Tage gebraucht, bis sie auf T’rr eingetroffen war. Denn ein Machtwechsel war es, auch wenn offiziell der Imperator weiter regierte. Der alte Mann war schon seit Jahren leidend, hatte Taran gehört. Abergläubische Akarii flüsterten insgeheim von einem Zusammenhang zwischen der Gesundheit des Herrschers und dem Bestehen seines Reiches. Imperator Eliak liege im Sterben, munkelte mancher. Genauso wie sein Reich.
Was an diesen Gerüchten wahr und was gelogen war, das war schwer zu sagen. Der T’rr-Raumsektor war durch die vorrückenden TSN-Verbände vom Rest des Imperiums abgeschnitten worden. Zahlreiche Relaisstationen und Transmitter waren ausgefallen, die Nachrichtenverbindung umständlich, langsam und unzuverlässig geworden.
Aber offenbar hatte der neue Kriegsminister Tobarii Jokham sie noch nicht vollständig abgeschrieben. Mokas Taran hatte den Mann noch nicht persönlich kennen gelernt, aber nach seiner Meinung war jeder Wechsel im Kriegsministerium eine Verbesserung. Und Lay Rian galt als mehr als fähig. Die Bündelung der Ämter des Flottenbefehlshabers und des Kriegsministers bei einer Person war sowieso ein Fehler gewesen, vor allem da diese Person Jor gewesen war.
Tobarii Jockhams Befehle an den abgeschnittenen T’rr-Raumsektor ließen jedenfalls nicht an Klarheit vermissen. Er nahm kein Blatt vor den Mund und gab offen zu, dass der isolierte Sektor in nächster Zeit nicht mit Verstärkungen und Nachschub aus den Kernregionen des Imperiums rechnen konnte. ‚Das sollte ich den Gouverneuren vielleicht besser vorenthalten. Die sind schon panisch genug.’
Immerhin war die Situation nicht so katastrophal, wie man meinen konnte. Waffen, Treibstoff, Verpflegung und andere Nachschubsgüter konnten zu einem Teil in dem abgeschnittenen Raumsektor produziert werden. Die Mannschaftsverluste der Flotte konnte man zur Not mit Matrosen der Handelsmarine ausgleichen. Vielleicht würden sie mit den zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln und durch eine Ausdünnung der Bodenstaffeln sogar den Nachschub an Raumkampffliegern sichern können. Auf den Werften des T’rr-Sektors konnten Schiffe bis zur Größe eines Kreuzers repariert und gewartet werden. Es bestand sogar die Möglichkeit, eine Anzahl Frachter als Hilfskreuzer auszurüsten.
Andererseits drohte der Nachschub mit SSM, schweren Raumminen, modernen Schiffsgeschützen und militärischem Spezialgerät zu einem Problem zu werden. Und im gesamten Raumsektor gab es keine einzige Werft, die groß genug war, um einen Flottenträger aufzunehmen. ‚Aber eins nach dem anderen.’
Der Kriegsminister hatte glücklicherweise davon abgesehen, den abgeschnittenen Kampfschiffen der Akarii-Flotte den Durchbruch Richtung Kernsektoren zu befehlen. Ein solches Unternehmen wäre riskant gewesen. Die Sprungpunkte befanden sich in der Hand der Menschen, waren vermint oder zumindest unsicher. Ein Abzug der Kriegsschiffe hätte außerdem die Gefahr in sich geborgen, dass Teile der Flotte den Befehl verweigerten, die zivilen Gouverneure vielleicht sogar auf eigene Verantwortung mit den Menschen Verhandlungen aufnahmen, und unter den Akarii-Siedlern Panik ausbrach. Außerdem hätten die unterworfenen Völker, vor allem die verdammten T’rr, ein solches Vorgehen vermutlich mit einem sektorweiten Aufstand quittiert. Wie sich dann die bisher loyal gebliebenen Kolonialtruppen nichtakariischer Herkunft verhalten hätten, das hätte in den Sternen gestanden.
Nein, der neue Kriegsminister war kein Narr. Auch wenn er nicht einmal genau wusste, wie viele Einheiten in den paar Dutzend Sonnensystemen des T’rr-Raumsektors übrig geblieben waren, er hatte befohlen, dass sie die Stellung halten sollten. So gebot es auch der Ehrenkodex der Akarii-Streitkräfte.
Tobarii Jokham wollte allerdings keine statische Verteidigung, kein ‚Halten-um-jeden-Preis’. Vielmehr forderte er „…aus den verbliebenen Verbänden eine starke, mobile Kampfgruppe zu bilden, fähig zu einer flexiblen, operativen Verteidigung.“
Als Admiral Taran diese Worte gelesen hatte, da hatte er seine Chance erkannt. Denn nach Prinz Jors Tod und der Vernichtung der Korax war er auf einmal zum ranghöchsten Flottenoffizier in diesem Raumsektor geworden. Er hatte das Kommando über die größte Garnisonsflotte und Raumwerften in diesem Bereich des Alls. Wenn er jetzt seine Karten geschickt ausspielte…
Den Oberbefehl über die Überreste der Korax-Flotte zu übernehmen war mit seinem Rang und gestützt auf die Befehle des neuen Kriegsministers relativ einfach gewesen. Der Gouverneur von T’rr hatte ihm ebenfalls keine Schwierigkeiten gemacht, da der Dummkopf wahrscheinlich ziemlich froh darüber war, ihn endlich loszuwerden. Sie hatten sich nicht besonders gut verstanden.
Taran hatte sich erkenntlich gezeigt, indem er eine ganze Reihe Großkampfschiffe aus der Garnisonsflotte herauslöste und sie durch beschädigte Schiffe des Korax-Verbandes ersetzte. Das hatte böses Blut mit der Verwaltung und der Armee gegeben, aber als er die Ablösung weiterer Schiffe und sogar den Abzug der Marineinfanterie androhte, hatten sie klein beigegeben. Nach Tarans Meinung verfügte die T’rr-Garnison außerdem immer noch über genug Schiffe, um wahlweise einen der Kontinente des Planeten zu nuklearer Schlacke zu verbrennen.
Aber das war erst der Anfang gewesen. Denn dann hatte er Kontakt mit den beiden anderen versprengten Träger-Verbänden aufgenommen, die sich in diesen Sektor zurückgezogen hatten.
Und nun...: „Was gibt es?“
Die Offizierin, die den Raum betrat, salutierte knapp: „Zwei weitere Transporter mit neu rekrutierten Schiffsmannschaften sind eingetroffen. Damit könnten die Schiffe wieder zum normalen Dienstbetrieb übergehen. Wir haben zwar noch nicht alle Verluste ausgeglichen, und es wird dauern, bis diese Handelsmatrosen sich an den militärischen Borddienst gewöhnt haben, aber es ist ein Anfang.“ Admiral Taran lächelte erleichtert. Die Offizierin erwiderte das Lächeln.
Nach Akarii-Maßstäben war sie eine Schönheit, auch wenn das kalte Glitzern in ihren Augen denjenigen warnte, der auch mit dem Kopf dachte. Thera Los hatte früher zu Jors Stab gehört. Angeblich hatte sie ihm sogar Avancen gemacht, war von Jor umgehend abgeschoben worden und schließlich als Dritte Offizierin auf einem Flottenträger gelandet. Aus derselben Quelle wurde verlautet, dass Thera Los den Rang eines Captains nicht unbedingt durch Leistungen auf dem Schlachtfeld erlangt hatte. Admiral Taran war das ziemlich egal. Er selber hatte seine noble Herkunft genutzt, um voran zu kommen. Und was Theras persönliche ‚Karrierepolitik’ betraf… Taran war auf Akar groß geworden, nahe genug am kaiserlichen Hof mit seinen zahllosen Intrigen und Affären, um nicht in diese Falle zu gehen. Außerdem verband sie etwas anderes – Ehrgeiz und eine ausgeprägte Antipathie gegenüber dem unbeweint verstorbenen Kronprinzen. Insgeheim vermutete Admiral Taran, dass Thera Los zum Dank an die Götter in ihrer Kabine Weihrauchkerzen entzündet hatte, als die Nachricht von Jors Tod sie erreicht hatte. Taran und Los hatten einen Pakt geschlossen. Er hatte sie aus dem Borddienst genommen und in seinen Befehlsstab überstellt. Sie hatte ihm dafür mit ihrem Wissen über die kommandierenden Offiziere des Kahal-Trägerverbandes geholfen. Es war nicht einfach gewesen, dem Kapitän der Kahal klar zu machen, dass er seinen Träger Tarans Oberbefehl zu unterstellen hatte, egal was der neue Kriegsminister befohlen hatte. Aber es war gelungen, und da der Admiral nun die Kahal, die Überreste des Korax-Verbandes und die T’rr-Garnisonsflotte hinter sich hatte, hatte letztendlich auch der Kommandeur des Trägers Cha’kal klein beigegeben.
Wenn in ein paar Tagen, vielleicht einer Woche, endlich alle Kriegsschiffe hier versammelt sein würden, dann würde ihm eine schlagkräftige Kampflotte unterstehen. Dreiundvierzig Korvetten, Fregatten und Zerstörer, aufgeteilt in sieben Geschwader, würden die Nahsicherung übernehmen. Bei den Kreuzern sah es schlechter aus, da diese Schiffe nach den Trägern zu den bevorzugten Zielen der Erdstreitkräfte zählten. Die verbliebenen sechs Schweren und acht Leichten Kreuzer waren in zwei Geschwader zusammengefasst worden. Doch auf ein Kreuzergefecht würde er sich lieber nicht einlassen, selbst der Columbia-Verband hatte vermutlich mehr Großkampfschiffe zur Verfügung.
Den Kern der Kampfgruppe bildeten die Flottenträger Cha’kal, benannt nach einem Ungeheuer der Akarii-Mythologie und den Elitekommandos des Imperators, und Kahal, was ‚Stern’ bedeutete. Dazu kam mit der Eliak VIII. einer der modernen Flugdeckkreuzer, die die Menschen ‚Golf’ nannten, und die Korax II. Dabei handelte es sich um einen zum Hilfsträger umgebauten Großfrachter. Die Korax II, deren Name jetzt wie ein ziemlich missglückter Scherz wirkte, war zwar relativ schnell, aber schlecht bewaffnet und kaum gepanzert. Die Schilde würden direkten Treffern mit Nuklearflugkörpern wohl kaum widerstehen können. Aber immerhin konnte die Korax II zwei Staffeln leichter Jäger tragen. ‚Und Bettler können nicht wählerisch sein.’
Wenn alles glatt ging, dann würden bald fast dreihundert Kampfflieger unter seinem Kommando stehen. Zwei Bomber-, vier Jagdbomber- und fünf Sturmjägerstaffeln stellten eine beachtliche Schlagkraft dar, und dreizehn Jägerstaffeln würden bereit stehen, um feindliche Kampfjäger abzufangen und den eigenen Bombern Jagdschutz zu geben. Wenn alles glatt ging…
„Wie sieht es mit dem Nachschub an Kampffliegern und Marschflugkörpern aus? Wenn ich noch mehr Maschinen von T’rr abziehe, dann würde die Armee wahrscheinlich einen T’rr-Attentäter in mein Quartier schmuggeln.“
„Die Gouverneure und Standortkommandeure zieren sich immer noch. Keiner will Maschinen und Lenkwaffen abgeben. Jeder fürchtet, dass in ein paar Tagen die Columbia in seinem System auftaucht.“
„Verdammte Narren. Als ob sie mit ihren paar bodengestützten Staffeln und Raketenbatterien die Menschen stoppen könnten. Begreifen sie denn nicht, dass ich auf lange Sicht ihre einzige Überlebenschance bin? Es nützt nichts, wenn man jeden einzelnen Planeten verteidigt. Am Ende verteidigt man so GARNICHTS. Die Menschen können uns dann ganz methodisch der Reihe nach vernichten. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, Schwerpunkte bilden! Nur dann haben wir eine Chance, die Menschen zu stoppen und zurückzuschlagen.“
Thera Los zuckte mit den Schultern. Sie war vielleicht keine begnadete Strategin, aber sie wusste wie die meisten Beamten und Verwaltungsoffiziere dachten: „Was später ist, das ist ihnen egal. Es geht ihnen um ihre EIGENE Haut. Und jetzt, da wir vom Imperium isoliert sind, sehen sie die Garnisonsverbände als ihre Lebensversicherung an. Keiner will, dass auf seine Kosten Raum aufgegeben wird.“
„Ich werde wohl noch jemanden erschießen lassen müssen.“ Das war nur ein halb scherzhaft gemeint. Aber natürlich wusste Admiral Taran, dass er dazu momentan noch nicht die nötige Autorität besaß. Dass sie hier vom Rest des Imperiums abgeschnitten waren, das lockerte die bisher unantastbar erscheinenden Kommandostrukturen. Und nicht nur Taran wusste diesen Umstand zu nutzen.
„Sie werden uns entkommen.“
„Sir?“
„Die Columbia. Ich hatte gehofft… Sie haben schwere Verluste erlitten. Mindestens drei Großkampfschiffe und bis zu fünfzig Prozent ihrer Kampfflieger.“
„Sie wissen, wie das mit den feindlichen Verlusten ist. Keines unserer Schiffe ist lange genug geblieben, um die Abschusszahlen zu verifizieren. Ich behaupte nicht, dass die Kapitäne des Korax-Verbandes gelogen haben, aber sie waren vielleicht etwas zu…optimistisch mit ihren Schätzungen.“ Thera Los Stimme klang zynisch.
„Einen Sieg hätten wir gut gebrauchen können.“ ‚Einen Sieg hätte ICH gut gebrauchen können. Vor allem DIESEN Sieg. Dann wäre meine Stellung gesichert, meine Beförderung beschlossene Sache…’
„Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Flotte schon bereit für diese Schlacht wäre. Selbst WENN wir unsere volle Einsatzstärke hätten. Für unsere Kampfflieger sind die Angry Angels inzwischen fast so etwas wie ein böser Geist. Sie haben Jollahran überlebt, waren bei Corsfield und Graxon dabei, und bei fast allen großen Schlachten danach. Und jetzt haben sie auch noch die Korax vernichtet. Die überlebenden Piloten der Korax sind in keiner guten Verfassung, und die Garnisonspiloten, die wir mobilisiert haben, sind im besten Fall Durchschnitt. Erfahren in Bodenangriffen und Piratenscharmützeln, aber sie haben noch nie gegen Menschen gekämpft. Also sind etwa ein Viertel unserer Piloten nur zweite Wahl.
Und unsere Kriegsschiffe sind immer noch teilweise unterbesetzt. Ein Teil der Mannschaften muss ebenfalls erst noch angelernt werden. Auch hier ist die Moral nicht die Beste, besonders bei den überlebenden Schiffen des Korax-Verbandes. Die Kapitäne der ehemaligen Garnisonsschiffe sind kombinierte Operationen nicht gewöhnt. Die Zusammenarbeit der Geschwader muss erst noch geübt werden. Uns fehlen momentan noch Schiff-Schiff-Raketen…“
„Schon gut. Ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen.“ Admiral Taran fuhr wütend mit seinen Krallen über die Tischplatte. Aber er wusste, dass Captain Los Recht hatte: „Ich werde nicht losschlagen, bevor nicht alle Schiffe der Kampfgruppe versammelt sind. Aber sobald das der Fall ist, wird die Flotte auslaufen. Und wenn die Columbia dann noch in Reichweite ist, dann greifen wir sie an. Wenn ich zugebe, dass ich meinen Soldaten nicht zutraue zu siegen, dann habe ich verloren.“
„Vielleicht wäre es besser, schwach zu wirken, als…“
„Nein. Das könnte ich weder vor den Mannschaften meiner Schiffe noch vor den Gouverneuren und Garnisonskommandeuren dieses Sektors rechtfertigen. Und auch nicht vor dem Kriegsministerium und der Admiralität. Die Rikata-Kampfgruppe wird sich nicht vor einem einzelnen TSN-Träger verstecken, egal wie er heißt.“
Der Name der Kampfgruppe war eine Idee Tarans gewesen. Er wusste, wie wichtig Namen waren. Die Flotte nach einem der beiden Flottenträger zu benennen, hätte die Mannschaften und Offiziere des anderen Trägers und seiner Begleitschiffe verärgert. Die Einheit ‚Kampfgruppe Taran’ zu nennen, hätte dem Admiral zwar geschmeichelt, aber für eine solche Geste fühlte er sich noch nicht stark genug. Also hatte er auf die Akarii-Geschichte zurückgegriffen. General Rikata war in grauer Vorzeit ein berühmter General gewesen, noch vor der Entwicklung von Feuerwaffen, als Drehh-Schwerter, Norik-Lanzen und Yabun-Bögen die Schlachten entschieden. General Rikata hatte eines der Reiche, aus denen später das Akarii-Imperium entstehen sollte, gegen die Angriffe wilder Barbarenstämme verteidigt. Er war so erfolgreich gewesen, dass er den Ehrentitel ‚General der beweglichen Kriegführung’ erhielt. Seine Werke über die Kriegskunst gehörten immer noch zur Wahllektüre an traditionellen Offiziersakademien.
Wie General Rikata würde Admiral Taran die Verteidigung beweglich führen, gemäß den Wünschen des neuen Kriegsministers. Während die verbliebenen Garnisonsverbände und Bodentruppen die unterworfenen Völker ruhig halten und eventuell auftauchende TSN-Verbände zumindest binden konnten, würde die Rikata-Kampfgruppe der Dolch sein, der die Feinde dann überraschend im Rücken treffen würde. Taran traute es sich zu mit so ziemlich jedem Angreifer fertig werden zu können, abgesehen von der kompletten Zweiten Flotte. Der Schlüssel zum Erfolg war die Konzentration der zur Verfügung stehenden Offensivwaffen an einem Punkt. Erringung der zeitweiligen zahlenmäßigen Überlegenheit durch Schwerpunktbildung, das war das Gebot der Stunde.
Damit diese Strategie allerdings funktionieren konnte, mussten einige Vorraussetzungen erfüllt werden. Die Rikata-Kampfgruppe brauchte die nötigen Waffen, Nachschubsgüter und Mannschaften. Sie mussten rechtzeitig erfahren können, wo der Feind vorrückte, sich selber aber der der gegnerischen Aufklärung so gut es ging entziehen. Und die einzelnen Akarii-Welten mussten bereit und fähig sein, solange auszuhalten, bis die Flotte heran war. Und das bedeutete...: „Rufen Sie meinen Stab zusammen. Und ich möchte eine Bildverbindung zu den Kapitänen der Flotte.“
„Auch zum Gouverneur von T’rr?“
Admiral Taran grinste raubtierhaft: „Auf keinen Fall.“

Eine Viertelstunde später musste sich Admiral Taran zusammenreißen, um seine Stimme ruhig und bestimmt zu halten. Er durfte sich jetzt keine Schwäche anmerken lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel: „Angesichts der unmittelbaren Invasionsbedrohung dieses Raumsektors, als oberster kommandierender Offizier und entsprechend der Wünschen des neuen Kriegsministers Tobarii Jockhams und Imperator Eliak IX., werde ich für den gesamten Raumsektor das Kriegsrecht und den Ausnahmezustand ausrufen.“
Der Kapitän der Cha’kal meldete sich zu Wort: „Ich nehme an es geht dabei vor allem um eine Geste? Immerhin herrscht auf fast einem Viertel der Planeten dieses Sektors bereits das Kriegsrecht. Teilweise schon seit Jahren.“
„Sagen Sie es doch gleich. Überall dort, wo es eine nennenswerte Population von T’rr gibt.“
Die kurze aufflackernde Heiterkeit war etwas bitter.
„Wir hätten diese Barbaren während der Eroberung in die Steinzeit zurückbomben oder gleich ausrotten sollen.“
Taran winkte ab: „Die T’rr sind nicht unser Hauptproblem. Ich will, dass auch der letzte Kolonialgouverneur endlich den Ernst der Lage begreift.“
„Das wird ihnen nicht gefallen.“
„Wahrscheinlich nicht. Aber es wird den Interessen der Militärkommandeure entgegenkommen und den Gouverneuren, die sich direkt bedroht fühlen. Und ich werde wohl auch eine Reihe von…Absprachen treffen müssen. Ich habe weder die Zeit noch die Lust, überall meine eigenen Leute zu installieren. Und wenn das alles nicht hilft…“, der Admiral presste die Lippen zusammen, „…werden wir durchgreifen müssen. Aber wir sind nun einmal Front geworden. Die Industrie muss auf Kriegsproduktion umgestellt werden. Für diesen Fall gibt es schließlich Richtlinien. Der Ausbau von Befestigungen und Luftschutzbunkern, die Mobilisierung von Milizen…
Außerdem müssen wir uns überlegen, wo wir unsere Flotte positionieren. Sie muss in der Lage sein, schnell zu allen möglichen Brennpunkten springen zu können. Und sie muss auf Werften und Versorgungseinrichtungen zurückgreifen können.“
„Warum nicht T’rr? Hier ist dies alles gegeben.“ Der Kapitän der Eliak VIII. war noch relativ jung, und dieser Raumsektor war für ihn fremd. Deshalb war er über die Reaktion auf seinen Vorschlag etwas überrascht.
Admiral Taran lachte jäh auf: „Das werden wir auf keinen Fall tun. T’rr hat vielleicht Werften und eine zentrale Lage. Aber der Planet hat auch einen entscheidenden Nachteil. Die T’rr. Wenn wir hier bleiben, dann könnten wir unsere Position, unsere Stärke, unsere Flottenbewegungen und Kommandostrukturen auch gleich unverschlüsselt den Menschen zufunken.“
Schließlich einigte man sich auf ein weitestgehend unbewohntes Nachbarsystem. Dort gab es nur ein paar automatische Minenanlagen: „So gibt es keine Probleme mit dem Nachschub und wir haben schnellen Zugang zu den Werften von T‘rr. Ohne dass die verdammten Rebellen uns permanent überwachen können. Und wir sind immer noch ziemlich zentral positioniert, können also nach allen Seiten hin aktiv werden.“
„Es wird sehr hart für die Mannschaften sein, die ganze Zeit an Bord bleiben zu müssen.“
„Wir haben Krieg.“ Das klang nicht zurechtweisend, sondern eher frustriert. Es gab momentan keine bessere Lösung: „Außerdem haben wir dort genug Möglichkeiten, unbeobachtet Manöver abhalten zu können und die Einsatzbereitschaft unserer Mannschaften zu erhöhen. Wir haben noch viel zu tun.“
„Es bleibt das Problem, dass wir von dort aus immer noch zwei bis drei Sprünge brauchen, um einige der peripheren Systeme zu erreichen. Die Menschen bevorzugen schnelle Angriffe.“
Dazu hatte sich auch Taran bereits Gedanken gemacht: „Wir müssen ein Frühwarnsystem aufbauen. Leider haben wir nicht genug leichte Kriegsschiffe, um Korvetten und Fregatten für Langstreckenpatrouillen einzusetzen. Aber es gibt eine Reihe von aufgegebenen Forschungs- und Überwachungsstationen, die in relativ kurzer Zeit wieder in Betrieb genommen werden können. Auch die automatischen Minenstationen können eine kleine Überwachungscrew aufnehmen. Und wir werden Frachter, Transporter und von mir aus auch Privatjachten als Hilfsschiffe einsetzen. Wenn möglich werden wir die Schiffe zu Hilfskreuzer umrüsten, aber das ist von zweitrangiger Bedeutung. Diese Schiffe sollen nicht kämpfen, sie sollen aufklären und melden.“
Die Beratung dauerte noch mehrere Stunden. Aber am Schluss hatte der Admiral die Zweifler unter den Offizieren überzeugen können.

Wenn Taran in die Zukunft sah, dann hielten sich Optimismus und Sorgen die Waage. Er glaubte nicht, dass die TSN in nächster Zeit eine Großoffensive in DIESE Richtung starten würden. Kriegsminister Tobarii Jockham und Großadmiralin Lay Rian würden wohl kaum in der Defensive bleiben. Auch sie brauchten eine neue militärische Strategie und am besten einen Sieg, um ihre Stellung zu festigen und die Streitkräfte auf sich einzuschwören. Die großen Entscheidungen würden wahrscheinlich woanders fallen. Bis dahin würde er hier die Stellung halten und etwaige Vorstöße von kleineren TSN-Verbänden abfangen. Wenn Jockham und Rian das Blatt wenden konnten, dann würde auch die Rikata-Kampfgruppe zum Angriff übergehen. Und wenn die neue Führung scheiterte… ‚Das darf nicht geschehen.’
Aber wenn es doch geschehen sollte, dann würde ein abwehrbereiter, militärisch hochgerüsteter T’rr-Sektor bessere Waffenstillstandsbedingungen aushandeln können, als zwei Dutzend einzelne Systeme die unkoordiniert statischen Widerstand leisteten.
‚Außerdem habe ich natürlich auch noch die T’rr, um die ich mir Sorgen machen muss. Die Menschen helfen ihnen bei ihrem Kampf. Vermutlich haben sie ihnen einen auch angeboten, von der Aufteilung des Imperiums zu profitieren. Irgendwie muss irgendwann einmal ein Weg gefunden werden, sie als Gefahr zu neutralisieren. Ausrotten können wir sie wohl nicht mehr. Gut möglich, dass wir sie eines Tages sogar als ebenbürtig akzeptieren oder aber sie ziehen lassen müssen. Aber so wie bisher geht es nicht ewig weiter. Es kostet zuviel.’
Aber das war eine Sorge für die Zukunft. Momentan gab es drängende Probleme. Bis dahin würden Armee, Marineinfanterie und loyale Kolonialtruppen hoffentlich ausreichen.
‚Und was die TSN angeht…Sie sollen ruhig kommen. Der T’rr-Sektor wird keine leichte Beute sein.’
Cattaneo
Ace

Impressionen

Als ich den Raum betrat, gellte ein lautes ,Achtung!’ auf. Zuerst hielt ich es für einen Scherz, einen schlechten Witz. Bis ich mir klar machte, dass der Rufende – oder vielmehr die Rufende, nämlich meine mehr als gute Freundin Huntress – nach Vorschrift gehandelt hatte.
Denn der kleinen aber feinen Truppe, zu der ich nun stoßen würde, war ich als Instruktor, als Lehrer angekündigt, und für die Dauer des „Seminars“ war ich ihr Vorgesetzter.
„Lassen Sie rühren, Huntress.“, sprach ich den ranghöchsten Offizier an. Huntress oder Juliane Volkmer war die einzige Staffelkommandeurin im Raum, die ihr Amt nicht wie ich und Lilja vorübergehend geerbt hatte.
Aber sie nahm die Aufgabe sichtbar ernst, wenngleich Schalk und die Neugier in ihren Augen glommen.
Mit absoluter Präzision trat ich zum Pult, ordnete ein paar Folien, aktivierte das Hologramm und machte das ernsteste Gesicht meines Lebens. Die Anwesenden wussten, dass es um eine Spezialausbildung ging, aber mehr war ihnen nicht bekannt. Mir oblag es, die Katze aus dem Sack zu lassen. Und nach Möglichkeit zu verhindern, dass mir meine Schäfchen desertierten.
Mein Blick ging von Chip zu Lilja, von dort zu ihrem alten Kameraden Sokol, den ich nur widerstrebend ausgewählt hatte, aber Bettler konnten man nicht wählerisch sein. Dann ging mein Blick zu Huntress, die ihn spöttisch erwiderte. Ich als Lehrer, das ging etwas über ihr Vorstellungsvermögen hinaus.
Dann sah ich die stark vertretene Schwarze Staffel an. La Reine war meiner Meinung nach zu hitzköpfig, zu unaufmerksam, aber sie war das Beste, was ich mir hatte aussuchen können, nachdem meine Wahl bereits auf Ohka und Crusader gefallen war und der NIC mir die Teilnahme von Cartmell wegen einer „Lernschwäche“ verweigert hatte. Pah, dabei hatte sich Noname in meinen Augen bereits hundertfach rehabilitiert. Es hieß sogar, dass sich Cunningham für seine Beförderung zum First Lieutenant stark gemacht hatte, und das wollte was heißen.
Mit mir zusammen waren das also acht Piloten. Alle erstklassige Könner auf ihrem Gebiet und die Besten, die zur Verfügung standen.
„Ihr alle seid aus einem einzigen Grund hier“, begann ich anstelle einer ordentlichen Begrüßung, „ihr seid die besten verfügbaren Piloten, abgesehen von Commander Cunningham.“ Der alte einsame Wolf hatte natürlich gerochen, dass ich ihn auf eine Teilnahme des Kurses ansprechen würde – aber er hatte mich mit dem deutlichen Hinweis auf seine Versetzung abgefertigt. Dafür aber hatte er mir erlaubt, seine Schwarze Staffel auszuweiden. Ein fairer Tausch, fand ich. Ausweiden würde ich natürlich auch noch Bronze, Silber und Gold, sobald genügend Akarii-Schlitten für Bomber-Besatzungen verfügbar waren. Aber mit jenen hier würde ich beginnen.
„Hört, hört.“, kam es von Huntress. Ein amüsiertes Raunen ging durch den Raum, an dem nur Lilja sich nicht beteiligt.
Ich wartete diesen Moment der Heiterkeit ab und fuhr fort. „Dieser Lehrgang ist vom NIC angesetzt worden und wurde vom Commander genehmigt. Niemand ist zur Teilnahme verpflichtet, aber ihr seid meine erste Wahl.“ Zeigte sich erster Unwillen? Nun, noch nicht.
„Dieser Kurs findet täglich statt. Ich bitte also darum, die Einsatzzeiten auf die Kurszeiten abzustimmen. Er nimmt täglich zwei Stunden in Beschlag und geht so lange, bis alle Teilnehmer promoviert haben.“
„Zwei Stunden? Ace, spinnst du? Wir kommen doch so schon kaum mit der Arbeit hinterher“, sagte La Reine entrüstet.
„Lass ihn doch erst mal erzählen was wir hier überhaupt lernen sollen, bevor du ihn zerfleischst.“, mahnte Ohka ernst. Danach nickte er mir zu.
Für einen Moment kam ich mir vor wie der Mann, der vom Hochhaus sprang und bei jedem Stockwerk, das er passierte, sagte: ,Bis hierher ging es gut.’
Ich aktivierte das Hologramm. „Kann mir jemand sagen, was das hier ist?“
„Ein Cockpit, Ace.“, kam es sofort von Huntress. „Um genau zu sein das Cockpit einer Bloodhawk.“
„Sehr gut, Commander Volkmer.“ Ich erlaubte mir ein diabolisches Grinsen. „Da Sie sich augenscheinlich bereits etwas auskennen, lassen Sie mich Sie dieser Bloodhawk zuteilen.“
Für einen Moment herrschte atemlose Stille, dann klang Liljas entrüstete Stimme auf: „Ace, du spinnst!“
Ein erstaunliches Statement für die steife Russin.
„Nein, ich spinne nicht. Ihr, Herrschaften, und mich eingeschlossen, werden die nächsten Tage, die nächsten Wochen auf zwei Bloodhawk, einer Deathhawk und einem Deltavogel trainieren.“
Nun redeten alle wild durcheinander.
„Herrschaften! Es dürfte ja wohl keinem entgangen sein, dass wir empfindliche Verluste hatten!“, fuhr ich dazwischen. „Nachdem wir Jor gestellt haben und nachdem ein paar Noobs ihn ins Vakuum gepustet haben, war unsere Verlustquote geradezu gnädig, wenn man bedenkt, dass wir gegen einen Uniform UND sein Begleitgeschwader angetreten sind. Dennoch haben wir zuwenig Maschinen und zuwenig Piloten. Besonders schlimm an dieser Tatsache ist, dass wir gerade ein paar Piloten mehr als Maschinen haben. Commander Cunningham hat mich nun beauftragt, für den schlimmsten aller Fälle die besten Piloten zu trainieren, um auf diesen hübschen Modellen zu fliegen, wenn wir wirklich mal wieder alles raus schicken müssen, was wir haben. Und ihr wisst alle, wir sind weit davon entfernt, Zuhause zu sein.“
Dies schien in ihre Köpfe zu gelangen. Lediglich Lilja sah mich wütend an. „Wenn du denkst ich steige in ein Ding, das ein stinkender Akarii geflogen hat, dann…“
„Bedenke doch die wundervolle Ironie, Mädchen.“, säuselte ich. „Du kannst Akarii mit ihrer eigenen Mordmaschine töten.“
„Das überzeugt mich nicht.“, fauchte sie. Aber zumindest blieb sie im Raum.
„Wie einige von euch mittlerweile festgestellt haben werden, wurden vier Maschinen freigegeben. Aber wir sind acht Piloten. Weitere Maschinen werden repariert, aber erst einmal hat jeder von euch eine eins zu eins-Chance, mit einem Akarii-Schlitten da raus geschickt zu werden. Falls ihr den Lehrgang besteht.“
„Und woraus besteht der Lehrgang genau, Ace?“, fragte Ohka. „Du bist nicht gerade als Fluglehrer bekannt.“
„Mein Job ist es nicht, euch das Fliegen beizubringen. Das könnt ihr alle wahrlich schon gut genug. Ich bin dazu da euch beizubringen, die Sekurr-Beschriftung auf den Armaturen zu lesen.“
„Du willst uns verdammtes Akarii-Kauderwelsch beibringen?“, fragte Sokol ernst. Wenigstens flippte er nicht aus wie Lilja. Wenigstens.
„Es gibt seit mehreren Jahren Akarii-Maschinen im Besitz der Flotte. Nicht zuletzt dank Lilja, die eine unbeschädigte Maschine erobern konnte. Seither gibt es auch Schulungsprogramme für diese Maschinen. Das heißt, dass wir Simulatoren entsprechend umrüsten können, um das Fliegen auf Akarii-Mühlen zu erlernen. Wichtig für uns dabei ist, dass wir keine Zeit und auch keine Möglichkeit haben, eine neue Software zu entwickeln und einzuspielen. Wir sind schneller, wenn wir einfach etwas Sekurr lernen. Und zwar nur genauso viel wie wir brauchen, um diese Maschinen so gut zu verstehen wie unsere eigenen Vögel.
Wem das nicht passt, da ist die Tür. Wer aber einsieht, dass diese Maschinen vielleicht einmal das Zünglein an der Waage sein werden, bitte, der möge bleiben.“
Ich verschränkte die Hände vor der Brust und sah auffordernd ins Rund. „Na?“
„Du hast auch ’nen Vogel, Ace.“, meinte La Reine, blieb aber wo sie war.
Ich grinste schief. „Gut, dann wollen wir mal zur Aufteilung kommen. Lilja, Sokol, ihr beide teilt euch erst einmal Bloodhawk eins. Chip, Huntress, Bloodhawk zwei. La Reine, Crusader, Deltavogel. Das lässt die Deathhawk für uns zwei, Ohka.“
„Die älteste Maschine?“, murmelte er.
„Die größere Herausforderung“, erwiderte ich grinsend.
Der Japaner ersparte sich eine Antwort. Dafür zeigte er eine seltene Gefühlsregung: Er schmunzelte.
„Also gut. Wer hat Lust, ein wenig Sekurr lesen und schreiben zu lernen?“
„Schreiben auch noch? Herrgott, hol mich gleich.“ Leider tat Gott Lilja diesen Gefallen nicht…

***

Ein letztes Mal überprüfte der Mann vom Ereudyke-Nebel den Sitz seiner Uniform. Sein Erster Offizier stand neben ihm und überprüfte seine. Beide sahen tadellos aus, geradezu wie geleckt. Und das, obwohl sie zwei Wochen Doppelschichten während der frustrierenden und langwierigen Reparaturphase hinter sich hatten.
Justus Schneider grunzte schließlich zufrieden und setzte seine Mütze auf. Haruka Ishihiro tat es ihm gleich. Seine Miene wirkte, als hätte sie jemand aus Schiffsstahl mit einem Schneidbrenner heraus geschnitten.
„Commodore Schneider, Commander Ishihiro, sie können jetzt eintreten“, klang die Stimme von Mithels Vorzimmerbullen auf.
Die beiden Männer wandten sich dem Eingang zu. Zuerst betrat Schneider das Büro, danach Ishihiro. Sie stellten sich nebeneinander und salutierten. „Ich melde mich wie befohlen mit meinem Ersten Offizier, Captain.“ Für einen Moment hatte es ihm in den Fingern gejuckt, den Mann Admiral zu nennen, denn seine Feldbeförderung stand außer Frage. Aber Mithel war Traditionalist. Und solange er sein Schiff nicht an seinen IO abgegeben hatte, war er hier der Captain, egal worauf sein Rang lautete. Und damit bestand er auf die Anrede Captain, wie die Tradition es verlangte.
Mithel sah auf. „Bitte setzen sie sich, meine Herren.“
Auch die Miene des Commodore wirkte ernst und hart. Er hatte wahrlich genug gesehen in den letzten Tagen. Einem eigenen Kreuzer den Fangschuss geben zu müssen, war auch nicht besonders leicht zu ertragen gewesen. „Ihren Bericht bitte, meine Herren.“
Haruka Ishihiro erhob sich und zog eine Pappmappe unter seinem Arm hervor. „Der Zustand der KAMI nach erfolgten Notreparaturen: Geschütze zu achtzig Prozent einsatzbereit. Schutzschilde zu siebzig Prozent einsatzbereit. Antrieb voll einsatzbereit. Korrektursystem zu neunzig Prozent einsatzbereit. Normalpanzerung zu sechzig Prozent einsatzbereit, Tendenz steigend. Mannschaft zu neunundachtzig Prozent einsatzbereit.“ Ishihiro legte das Dokument vor Mithel auf den Tisch. „Die KAMI ist jederzeit abflugbereit, Sir.“ Das war der einzige Punkt, der nicht geschönt war, wenn Ishihiro ehrlich war. Aber das durfte er nicht. Nicht vor dem Schwadron-Chef.
„So, so.“ Mithel zog das Dokument zu sich heran und blätterte lieblos darin. „Wenn ich mich recht erinnere, war Ihr Schiff vor zwei Wochen noch ein besseres Wrack, Commodore Schneider.“
„Sir!“ Der Deutsche räusperte sich. „Meine Crew und meine Offiziere haben sehr hart gearbeitet, um die KAMI in einem annehmbaren Zeitraum wieder gefechtsklar zu kriegen.“
„Das sehe ich. Was ich mich frage ist: Wie haben Sie das geschafft, Schneider?“ Mithel lehnte sich vor. „Wissen Sie, ich bin nicht dumm. Und blind und taub noch lange nicht. Ich kriege immer noch alles mit, was auf den Schiffen meiner Schwadron gesprochen wird. Und es halten sich hartnäckig die Gerüchte darüber, dass Shuttles der KAMI überzählige Einsätze geflogen sind, viele davon zwischen den Schiffen der Flotte und rüber zu den nicht strahlenden Akarii-Wracks. Was haben Ihre Einheiten dort gemacht, Commodore?“
„Sir, wie jeder gute Kapitän war es stets mein Bestreben, mein Schiff schnell kampfbereit zu bekommen.“
„Sie wollen mir also damit sagen, Sie haben für Ihren Bastard-Antrieb in den Akarii-Wracks nach Ersatzteilen gesucht?“
„Für den Antrieb, für Teile des Computerkerns, für die Waffen und für die Panzerung.“, gestand Schneider schonungslos.
„So, so. Sie haben also die Leben Ihrer Techniker und Shuttle-Piloten vorsätzlich in Gefahr gebracht.“
„Daran ist nichts zu beschönigen, Sir.“
„Und nun, nach zwei Wochen, sind Sie wieder gefechtsklar.“
„Jawohl, Sir.“
„Gut gemacht. Sie können beide wegtreten.“
„Ja, Sir. Ach, Captain, ist es erlaubt, eine Frage zu stellen?“
„Schießen Sie los, Schneider. Ich habe heute meinen freigiebigen Tag, wenn ich Ihnen schon eine Untersuchung erspare.“
„Haben Sie schon einen Commodore für das Geschwader ausgesucht?“
Mithel runzelte die Stirn. „Machen Sie sich etwa Hoffnungen, Schneider?“
„Natürlich, Sir. Ich wäre kein guter Kapitän, wenn ich nicht nach dem nächsthöheren Rang streben würde.“
„Das ehrt Sie, Schneider. Aber ehrlich gesagt sind Sie nicht in meiner engeren Wahl.“
„Natürlich, Sir. Entschuldigen Sie meine Impertinenz.“
Die beiden Offiziere salutierten und verließen die Flaggkabine wieder.
„Sag mal, Justus, du hast doch nicht etwa ernsthaft nach Beförderung gebettelt? Wir kommen doch so schon kaum mit der Arbeit nach.“
„Reg dich ab, Haruka. Ich wollte nur sichergehen, dass er mir nicht den Schwarzen Peter aufhalst. Los, wir fliegen zurück. Die Normalpanzerung braucht noch ein wenig, bevor sie wirklich auch sechzig Prozent ist, vom Rest ganz zu schweigen.“
„Aye, Aye, Sir.“
Cattaneo
Ironheart

Lieutenant Commander Santiago DeLaCruz, genannt Tigre, saß in seiner Kabine vor seinem kleinen Schreibtisch, der vorbildlich aufgeräumt war. Überhaupt war Tigres Unterkunft, wenn auch spartanisch eingerichtet, in einem blitzblanken Zustand. Tigre hatte vor sich – fein säuberlich – vier Stapel Papier bzw. Briefe nebeneinander aufgereiht.
Sein Blick glitt auf den ersten Brief, den er gerade erst vor ein paar Stunden nach einem offiziellen Gespräch mit Admiral Wulff, Captain Waco und der neuen CAG Burr erhalten hatte.

An Lieutenant Commander Santiago DeLaCruz
127th Fighter Wing, 2.Flotte

Aufgrund seiner Fähigkeiten und Erfahrungen wird Lt. Cmdr. DeLaCruz mit sofortiger Wirkung zum stellvertretenden Geschwaderkommandanten des 127ten Fighter Wing an Bord der TRS Columbia ernannt.

Mit herzlichen Glückwünschen

Gez. Admiral Wulff,
CO Trägerkampfgruppe Columbia, 2. Flotte

Tigre legte den ersten Brief beiseite. `Sie wollen, dass Du noch mehr Lämmer zur Schlachtbank treibst` schoss es ihm durch den Kopf. `Sie haben noch nicht genug und Sie werden auch nie genug haben…` Seine Gedanken wanderten weg von dem ersten Brief und sein Blick glitt weiter zu dem zweiten von insgesamt vier Stapeln. Er betrachtete eingehend das oberste Blatt auf dem Stoß Papier, den er in den letzten Tagen in einem Schleier der Trauer, Wut und Enttäuschung erarbeitet und aktualisiert hatte. Der Stapel beinhaltete den derzeitigen Status der Staffel Gelb der Angry Angels. Obwohl er die Daten mittlerweile auswendig kannte, so häufig hatte er sich die Daten in den letzten Tagen angeschaut, las er sich das oberste Blatt noch einmal durch.

Aufstellung Staffel Gelb
127th Fighter Wing, Columbia-Trägergruppe

1. Sektion, 1. Wing
Lt. Cmdr Santiago DeLaCruz, Callsign “Tigre”
2nd Lt. Elisabeth Lisiewicz, Callsign “Fox”
1. Sektion, 2. Wing
2nd Lt. Elrieka Mabru, Callsign “Springbok”
2nd Lt. John Hamilton, Callsign “Tex” – GEFALLEN

2.Sektion, 1. Wing
1st Lt. Diane Balestier, Callsign “Lady Death” – GEFALLEN
2nd Lt. Esteban Pallardo, Callsign “Tiburon”
2.Sektion, 2. Wing
2nd Lt. Jennifer Esposito, Callsign “Octo”
2nd Lt. Bahar Shihab, Callsign “Bunny”

3.Sektion, 1. Wing
1st Lt. Matthew Thornton, Callsign “Grizzly”
2nd Lt. Sylvie Rocheteau, Callsign “Madcat”– GEFALLEN
3.Sektion, 2. Wing
2nd Lt. Shawn Abrahams, Callsign “Hellboy” – GEFALLEN
2nd Lt. Aiko Fujimori, Callsign “Shoto”

Vier tote Piloten! Keine andere der Jägerstaffeln hatte so viele gefallene Kameraden zu beklagen wie die gelbe Staffel. Santiago wusste nicht, ob es sein eigenes Versagen war oder ob es doch die relative Unerfahrenheit seiner Staffel gewesen war, die für die extrem hohe Quote an toten Piloten verantwortlich war. Als Reserve- und Sicherungsstaffel der Columbia hatte die gelbe Staffel deutlich weniger Kampferfahrung als die übrigen Staffeln und wahrscheinlich hatte diesen Piloten am ehesten das Gefühl dafür gefehlt, wann es Zeit wurde auszusteigen.
Mit bitteren Gedanken erinnerte sich Tigre daran, wie seine Staffel am lautesten gejubelt hatte, als Cunningham den Einsatzbefehl für alle Kampfstaffeln der Columbia verkündet hatte.
ER hatte nicht gejubelt. Er hatte geahnt, wie schlimm es werden würde. Schließlich hatte er so etwas schon während Operation Magellan erlebt, als er schon einmal den größten Teil der ihm anvertrauten Piloten verloren hatte. Dieses grauenhafte Gefühl hatte sich nun wiederholt und Tigre hatte insgesamt vier Briefe verfassen müssen. Diese lagen nun auf dem dritten Stapel und Tigres Blick blieb – wie so häufig in den letzten Tagen – auf dem obersten Brief hängen.

An Claude & Emanuelle Balestier
Lyon, Terra

Sehr geehrte Monsieur und Madame Balestier,

ich wünschte mein erster persönlicher Kontakt zu Ihnen wäre ein anderer Anlass als Ihnen den Tod Ihrer Tochter mitteilen zu müssen. Sie ist bei der Vernichtung der Korax ma Rah im Tukama-System in Erfüllung Ihrer Pflicht getötet worden.
Lassen Sie mich bitte sagen, dass Lieutenant Commander Diane Balestier für mich mehr als nur eine langjährige Untergebene, Kameradin und Freundin gewesen ist. Wenn ich sage, dass ich Ihren Schmerz teile, bitte sich Sie, dies nicht als eine Floskel anzusehen.


Der Rest dieses jämmerlichen, kümmerlichen Beileidsbriefes – den zu schreiben er mehrere Stunden gebraucht hatte – verschwamm vor seinen Augen und Tränen liefen ihm die Wangen herab.
Alles an diesem Brief kam ihm so hohl vor, so, so…
Er konnte es nicht mal in Worte fassen. Er trauerte, er trauerte um eine gute Kameradin und Freundin, er trauerte um eine Frau, die hätte seine Geliebte werden sollen, die seine Frau hätte werden sollen. Er trauerte verpassten Gelegenheiten nach. Er erinnerte sich jetzt an ihren Abschied voneinander. Daran, wie er es ihr hatte sagen wollen, sich aber dennoch nicht getraut hatte. Daran, dass er sie in den Arm hatte nehmen wollen, daran, dass er sie hatte küssen wollen – und dennoch nichts von dem getan hatte.
Er erinnerte sich an die Schlacht, an den Augenblick als die Jägerstaffeln aufeinander trafen und ihre Raketen auf den Weg geschickt hatten.
Er erinnerte sich an das wilde Gekurbel und an die ersten Ausfälle. Tex, Madcat, Hellboy… In schneller Reihenfolge waren sie getötet worden. Tex und Hellboy waren sofort tot gewesen, Madcat hatte man nur noch tot bergen können.
Und dann war Jor aufgetaucht, urplötzlich, wie aus dem Nichts. Tigre verkrampfte sich, als vor seinem geistigen Auge auftauchte, wie er noch eine Warnung an Diane geschrieen hatte. Ihr Jäger war bereits angeschlagen gewesen und er hatte ihr befohlen zurück zu fliegen. `STEIG AUS` hatte er geschrieen, doch die Sensoren hatten angezeigt, dass sie nicht den Hauch einer Chance gehabt hatte. Und er war zu weit weg gewesen um ihr zu helfen. Sie war gestorben, weg für immer, einfach so…
Nicht, dass dieses Gefühl neu gewesen wäre für ihn, es hatte ihn immer mitgenommen, aber das hier war anders gewesen.

Ein, zwei Minuten war er stur geradeaus geflogen und es war ein Wunder gewesen, dass ihn niemand beachtet und aus dem Cockpit geschossen hatte. Matthew “Grizzly” Thornton hatte ihn auf der staffelinternen Frequenz förmlich aus seiner Lethargie geschrieen. Santiago war förmlich aufgewacht und hatte dann erst gemerkt, dass sein Gesicht tränenüberströmt gewesen war. Diane Balestier war gestorben und mit ihr ein Teil von ihm.
Das Prinz Jor, ihr Mörder, ebenfalls kurz darauf getötet worden war, war nur ein schwacher Trost für Santiago.
Das brachte sie auch nicht wieder zurück.

Santiago schüttelte die Gedanken an die Schlacht um die Korax ma Rah ab und betrachtete den letzten Brief, der einsam und alleine an vierter Stelle war. Er las ihn mehrmals und schließlich befand er ihn für gut. Zumindest für gut genug um seinen Zweck zu erfüllen…
Dann stand Tigre abrupt auf, strich sich seine makellose, weiße Ausgehuniform der Navy glatt, die er für diesen Anlass angezogen hatte. Als er an sich herunterblickte, fiel sein Blick auf seine Orden und Auszeichnungen, doch er konzentrierte seine Gedanken auf Diane Balestier, die zu lieben er nicht genug Mut gehabt hatte.
Also nahm er all den Mut zusammen, den er bislang in seinem Leben nicht hatte aufbringen können, schob die 45er H&K in seinen Mund und drückte ab.

Die vier Stapel auf seinem Schreibtisch wurden mit seinem Blut gesprenkelt genauso wie seine weiße Galauniform.

Santiago „Tigre“ DeLaCruz wurde erst acht Stunden später gefunden, da er seine erste Stabsbesprechung mit der neuen CAG versäumt hatte.

Als der NIC an Bord seinen Tod kurz darauf untersuchte, wurde auch sein Abschiedsbrief archiviert, noch mal abgetippt und an den Empfänger geschickt. Selbst das NIC besaß genug Feingefühl, um den Abschiedsbrief eines Sohnes nicht besudelt mit dessen Blut an seine Mutter zu schicken.

An Consuela DeLaCruz
Buenos Aires, Terra

Liebste Mama,

auch wenn ich weiß, dass ich dich mit meinem heutigen Entschluss, meinem Leben ein Ende zu setzen – vor allem nach Vaters Ableben – sehr traurig machen werde, bleibt mir einfach kein Ausweg. Mein Leben ist die reinste Hölle geworden und ich kann und will die in mich gesetzten Erwartungen nicht mehr erfüllen.
Jedes Mal wenn einer meiner Untergebenen fällt, stirbt auch ein Teil von mir. Und nach Dianes Tod, denn ich nicht habe verhindern können, ist auch meine Seele gestorben. Ich kann diesen Krieg, dieses stetige Kämpfen und Sterben nicht mehr ertragen und sehe keine andere Möglichkeit mehr.

Ich habe immer versucht, das zu tun, was Vater und Du mir beigebracht haben und dir ein guter Sohn zu sein und meinem Vaterland so gut es geht zu dienen.
Wie es scheint, bin ich daran gescheitert.

Grüße meine Schwestern und die übrigen Familienmitglieder, ich sehe euch auf der anderen Seite.

Te amo mucho
Santiago
Cattaneo
Cunningham

Relath Gor saß auf der breiten Veranda seines Palastes. Der heiße Tee wärmte seinen Gaumen und den Magen. Er fühlte die weit über hundert Umläufe, die er nun schon am Leben sein durfte.
Relath war müde. Er war müde des Lebens, müde der Sorge und müde der Pflicht.
Doch hielt ihn genau letztere am Leben.
Was geschah hier nur? Sein alter Freund, sein Gebieter, sein Imperator war nun schon seit acht Rotationen im Koma. Der imperiale Leibarzt glaubte nicht mehr daran, dass Eliak je wieder ein Auge öffnen würde.
Der Kanzler nippte erneut an seinem Tee. Wärme, ein leicht bitterer Beigeschmack, heute wollte auch der Tee nicht so richtig munden.
Aber was geschah da hinter seinem Rücken? Linai hatte ihren Ehemann ins Kriegsministerium berufen. War das eine Art Annäherung? Die Verbindung zwischen den beiden war seinerzeit eine rein politische Hochzeit gewesen. Dass in den letzten zehn Jahren keine Nachkommen entstanden waren, war Beweis genug.
Versuchte sich Linai dadurch nun bei ihrem Schwiegervater Einfluss zu erkaufen?
Oder arbeitete die Prinzessin auf einmal auf einen Erben hin? Ein Sohn von ihr wäre jetzt der stärkste Kandidat für das Monarchenamt. Selbst im ungeborenen Zustand.
Linai konnte dann darauf hoffen, zusammen mit Tobarii die Regentschaft zu übernehmen und das Reich die nächsten zwanzig Jahre zu lenken.
Relath war sich sicher, dass die Prinzessin ihren Ehemann dann sogar irgendwie beschäftigt halten könnte oder gar eine Abfindung finden könnte.
In den Jahren der Ehe hatten die beiden nicht regelmäßig das Bett geteilt. So waren Liebschaften und Affären aufgeflammt.
Beide waren dabei sehr diskret vorgegangen, das wusste Relath. Seine Agenten hatten lange stochern müssen, um überhaupt Hinweise dafür zu bekommen.
Es gab keine Indiskretionen, und vor allem hatte man dafür gesorgt, dass man den anderen nicht durch einen Bastard demütigte.
Nein, mit Tobarii würde die Prinzessin fertig werden. Das Problem eines solchen Plans wäre dessen machthungriger Vater.
Außerdem, wenn dies der Plan gewesen wäre, hätte Linai zu Beginn des Krieges dafür gesorgt, dass sie einen Sohn zur Welt brächte. Die Gefahr, dass Jor fallen würde, war von Anfang an gegeben.
Er nahm erneut einen Schluck von seinem Tee. Es war als würde das Getränk mit abnehmender Wärme immer bitterer.
Ein Gähnen unterbrach seine Gedankengänge.
Wer von der weit verzweigten Sippe des Imperators käme als Nachfolger in Frage?
Navarr Thelam wäre Relaths erste Wahl, wenn er sicher sein könnte, selbst noch zehn Zyklen zu leben. Der aufgeweckte junge Mann brauchte Führung, musste geformt werden. Aber er würde ihn trotzdem in der Rechnung behalten müssen, er war – ist – Eliaks Lieblingsneffe.
Rallis Thelam wäre ein starker Imperator. Unabhängig, selbstbewusst und charismatisch. Jedoch fehlte auch ihm noch etwas Führung, und im Gegensatz zu seinem Cousin würde er niemals Führung akzeptieren. Ebenso keinen Ratschlag. Keine Stütze.
Rallis würde sich in jedes Ministerium einmischen. Sein Kabinett wäre eine Bande von Marionetten. Er würde sich mit seinem Tatendrang innerhalb weniger Jahre verschleißen.
Lisson, der Gelehrte Lisson, er verspürte keinerlei Ehrgeiz, seine Bibliothek und seine Klassenzimmer an der Universität gegen Macht einzutauschen.
Karrek war ein Ebenbild Jors. Hochintelligent, mutig und entscheidungsfreudig, leider jedoch wie der verstorbene Kronprinz von einer Schar von Speichelleckern verdorben.
Wohl eher noch schlimmer. Eitel, versnobt, ganz und gar eine verkümmerte Existenz.
Er blinzelte schläfrig. Immer noch hing ihm der bittere Beigeschmack des Tees im Mund, als ob er auf fauliges Obst gebissen hätte.
Die Hände fingen an zu krampfen und die Beine wurden kalt.
Ein leichter Tränenschleier verschlechterte seine Sicht. Kälte umklammerte seine Beine.
Angst.
Gift.
Gift im Tee.
Die nächste Welt.


Eric Dodson zog genüsslich an seiner Zigarette. Er hatte gerade eine achtzehnstündige Schicht hinter sich. Gottverfluchtes Akariigesöff. Als ob ihm seine Maschinen nicht schon genug Arbeit bereiteten. Der Akariispritt machte immer wieder auf sich aufmerksam.
Er hatte schon so seine Worte beisammen, die er dem Kerl in der Etappe um die Ohren hauen könnte, der für die Zuteilung dieses Scheißzeugs verantwortlich war.
„He, Deckaffe, hast Du auch ’nen Stängel für mich?“
Der Neandertaler war wieder aus der Krankenstation entlassen worden. Eingeschränkt dienstfähig. Dodson schob Skunk die Zigarettenschachtel über den Tisch zu. Dieser ließ sich gerade von Ace auf den neuesten Stand bringen.
Mehrere der Staffelführer sahen alles andere als begeistert aus, als Skunk sich ebenfalls eine ansteckte. Aber da der CAG ebenfalls beliebte zu rauchen, hatte es wenig Sinn hier ein Rauchverbot zu erteilen. Zumal Skunk sich um sowas einen Dreck scherte und nun ja, selbst Monti war zu Lebzeiten nicht doof genug gewesen sich Dodsons Unmut zuzuziehen, wenn der Boss in fünf Minuten eh wieder die Luft verräucherte.
Der Boss, tja, der fehlte immer noch zur Besprechung, doch der Chef kann ja nicht zu spät kommen, nicht wahr. Aber neben Lone Wolf fehlten noch Raven Burr und ganz gegen seine Gewohnheit und das allgemeine Bild, was man von ihm hatte, Tigre DeLaCruz.
Dodson zündete sich eine weitere Zigarette an, kurz nachdem er die erste ausgedrückt hatte. Ahhh, Nikotin, eine Dusche und dann noch etwa fünf Stunden Schlaf. Nur um dann wieder achtzehn Stunden an irgendwelchen Maschinen herumzubasteln. Das Leben konnte so erfüllend sein.
„Machen Sie die Kippe aus, Dodson.“ Befahl Raven, als sie durch die Tür schritt.
„Bei allen Respekt, Ma'am, aber dass kann mir vielleicht der CAG sagen.“ Der Chief versuchte gar nicht erst sein freches Grinsen zu unterdrücken.
Um den Tisch herum wurde geschnauft. Teils resigniert, aber auch die eine oder andere Belustigung wehte durch den Raum.
Raven nickte ernst: „Gut, Herrschaften, ohne lange Umwege: Auf Befehl von Viceadmiral Wulff übernehme bis auf weiteres ich das Kommando über das Geschwader, bis Commander Cunninghams Ablösung an Bord eingetroffen ist.“
Ungläubiges Schweigen.
Eric Dodson drückte mit offen stehendem Mund seine Zigarette aus. Nein, kein Scherz, kein Flachs und sicher auch keine Fehlinformation. Was hatte der Alte wohl verbockt?
„Ma'am“, es war Lilja, die das Schweigen brach, „darf ich fragen, warum Commander Cunningham abgelöst wurde?“
Samantha Burr war eine gute Beobachterin, doch da sie bei ihren nächsten Worten Lilja so sehr fixierte, dass die Russin sogar schon schrumpfte, bevor die ältere Pilotin ein Wort sagte, bekam sie weder Skunks noch Kanos weitaus geringere Reaktion mit: „Gerade SIE, Lieutenant Commander, sollten wissen, warum Lone Wolf hier nicht mehr den Ton angibt.“
Kanos Augen weiteten sich leicht. Verstehen.
Skunk, der irgendwie gehofft hatte, dass Kano als Cunninghams Stellvertreter in der Schwarzen Staffel etwas wusste, sah das. Und auch er verstand und erbleichte. ,Gottverfluchte Scheiße.'
„Aber zum Tages ....“ Raven stockte. „Wo ist Tigre?“
Vielsagendes Schweigen.
Die frischgebackene CAG trat an die Bordsprechanlange und versuchte mehrfach DeLaCruz in seinem Quartier anzurufen. Als das nicht gelang, rief sie ihn schiffsweit aus.
Stirnrunzelnd setzte sie sich an die Stirnseite des Tisches. Cunninghams Platz eigentlich. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.
Wahrscheinlich passte dieser Kommandowechsel keinem der Offiziere. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
Huntress und Razor blickten am ehesten erwartungsvoll. Irons war direkte Ablehnung anzusehen. Was aber unterschiedlich auszulegen war: entweder Loyalität zu Cunningham, oder sie fühlte sich übergangen.
Skunk wirkte ungewöhnlich grüblerisch. Von ihm hätte sie gedacht, dass ihm die Entscheidung so ziemlich egal wäre.
Die Feindseligkeit, die ihr von Lilja entgegenschlug, hatte sie erwartet. Dass aber auch Ace verärgert drein schaute, überraschte sie. Andererseits war Ace ein Angry Angel der ersten Stunde. Der einzige hier im Raum neben ihr. Und er hatte im Gegensatz zu ihr nicht Cunninghams Art voll zu spüren bekommen. Zumindest nicht, dass sie sich erinnerte.
Kano hingegen war für sie beinahe so unergründlich wie immer. Nur beinahe. Leichte Sorgenfalten hatten sie um seine Augen gebildet. War da auch ein leichtes Flackern?
Schwimmer und Dodson sahen unglücklich drein.
Ihr Blick wanderte zu Kano zurück: „Lieutenant Nakakura: Bis auf weiteres übernehmen Sie das Kommando über die Schwarze Staffel. Für wie lange, kann ich Ihnen noch nicht sagen.“
Als Antwort erhielt sie ein steifes Nicken.
„Die Planung für die nahe Zukunft sieht wie folgt aus: In zwei Wochen etwa werden wir das Akariiterritorium verlassen. Wir werden uns bei Bantam mit dem Flottenversorger Aurelius treffen. Wir erhalten neue Maschinen, Munition und Treibstoff. Unser Standartkerosin. Es ist geplant, dass das Tankmanöver vom leichten Träger Wasp gedeckt wird. Ebenso die Umrüstungsphase unserer Maschinen.
Die Aurelius hat auch Ersatzpiloten an Bord. Frischlinge. Blutjunge Piloten, deren Lack auf den Pilotenschwingen wohl noch am Trocknen ist.“
Die Staffelkommandeure stöhnten auf.
„Ich habe durchgedrückt, dass wir zwölf erfahrene Piloten von der Wasp erhalten. Da die Wasp dann ebenfalls ihren Anteil an Frischfleisch bekommt, werden wir dann auf etwa achtzig Prozent Sollstärke sein. Razor, Irons: Wir drei müssen mal sehen, welche unserer RIO's gut genug sind, um auf den Pilotensessel vorzurücken. Wir werden dann noch zehn, vielleicht zwölf Tage Zeit haben, die Neuen zu trainieren, ehe wir zur 2. Flotte aufschließen.“
Dodson räusperte sich.
„Ja, Chief?“
„Wer hat diese Schätzungen aufgestellt?“
Raven blinzelte: „Ich nehme an Admiral Wulffs Stabsastrogator.“
Der Chefmechaniker des Geschwaders schnaufte: „Die ganze Operation wird um einiges länger dauern. Unter günstigen Umständen, das heißt wir kriegen unsere drei leeren Tank gereinigt und dekontaminiert, bis wir mit der Aurelius zusammentreffen.“
Dodson saugte an seiner Unterlippe, ganz unbewusst wanderte sein Blick zu seiner Zigarette. Schmacht! „Wir werden auf jeden Fall eine Stunde pro neuen Jäger brauchen, um ihn aus seiner Transportschale zu befreien, ihn durchzuchecken und für den Flugbetrieb bereit zu machen. Für unsere verbleibenden Vögel schätze ich mal eine bis zwei Stunden pro Maschine, um sie wieder auf normalen Sprit umzustellen.“
„Warum so lange? Die erste Umrüstung lag doch bei unter einer Stunde.“
„Tja,“ Meinte Dodson gedehnt. „nun hat der Akariisaft aber die Spritzuführung verklebt. Wahrscheinlich ist die Hälfte der Ventile in jedem Vogel hin.“
Raven nickte: „In Ordnung, nehmen Sie die Silberne Staffel aus Ihrer Rechnung raus.“ An Razor gewandt fügte sie hinzu: „Ihre Mirage werden durch Thunderbolts ersetzt. Wir können also Ihre Maschinen bis zum Schluss im Einsatz lassen.“
Auf den Zügen des anderen Jagdbomberpiloten erschien ein kurzes Grinsen.
Ravens Blick wanderte nochmal zu DeLaCruz immer noch leeren Sessel: „Tja, im Grunde war es das. Commander Schwimmer, sehen Sie bitte, ob Sie Tigre auftreiben können und Skunk: Schicken Sie mir Cartmell her.“
Sie legte eine kleine schwarze Box auf den Tisch. Eine schwarze Box, die nur eine Sache enthalten konnte: Rangabzeichen.
„Sind das die, für die ich sie halte?“ Wollte der grobschlächtige Pilot wissen.
„Ja, Cartmells Beförderung ist durch.“
„Wurde aber auch Zeit.“
„Dann können Sie alle jetzt wegtreten.“ Raven schloss die Besprechung.
Zögerlich erhoben sich die Staffelführer, Dupree ergriff das Wort: „Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung Raven.“
Die amtierende CAG blickte auf: „Ob das so ein Glück ist, weiß ich noch nicht.“