Cattaneo
Ankunft
Im Konferenzraum war reichlich Platz, obwohl augenblicklich mehr als die Hälfte der Mechkrieger Bryants hier versammelt waren. Freilich war diese „mehr als die Hälfte“ nicht sonderlich viel, und wie so vieles war auch dieser Raum einst für ganz anders dimensionierte Aufgaben bestimmt gewesen. Vermutlich hatten in Sternenbundzeiten die Angehörigen der planetaren Miliz hier ihre Briefings abgehalten. Aber diese Zeiten waren vorbei. Heute brachte es selbst Dvenskys stark ausgebauter Militärapparat gerade mal auf ein verstärktes Regiment. Das würde genügen müssen.
Dennoch wäre es töricht von jedem Gegner gewesen, wenn er die Männer und Frauen gering geachtet hätte. Sie alle hatten in den letzten Jahren reichlich Kampferfahrung gesammelt, sie wußten, worum es ging und was ihre Aufgabe war. Sie kannten einander, vertrauten sich weitestgehend, und vor allem hatten sie ihre Loyalität zu ihrer Welt und ihrem Herrscher mehrfach bewiesen. Darauf kam es letzten Endes an.
Der Vicomte von Byrant unterschied sich in seiner Felduniform nicht von seinen Untergebenen. Er wußte sehr genau, wann er der Fürst, und wann er der Milizionär sein mußte. Herrscher, die dies nicht vermochten, entfremdeten sich von der Truppe, oder sie übersahen über den rein militärischen Belangen die mindestens ebenso wichtigen politischen. Beides endete in diesen Zeiten schnell tödlich – und in der Freien Inneren Sphäre herrschten „diese Zeiten“ eigentlich seit dem Zerfall des Sternenbundes. Patriotische Ansprachen waren hier nicht vonnöten – hier war er zum Gutteil der Bataillonschef, der sich mit eiserner Entschlossenheit an die Spitze gesetzt hatte. Seine Stimme klang beinahe gelangweilt, nüchtern – aber die Soldaten lauschten ihr, auch Colonel Thomsen. War er auch sonst Oberbefehlshaber der Bryant Regulars, wenn wie heute der „Schatun“ persönlich an einer Aktion teilnahm, dann ordnete er sich unter. Schließlich verdankte auch er seinen Aufstieg Dvensky.
„Ich fasse noch einmal zusammen: die Sensorenaufklärung unserer Späher haben nichts ergeben, was darauf hindeutet, daß an Bord der Landungsschiffe der Söldner weitere, getarnte Truppen waren. Auch die Bewaffnung ist nicht hochgerüstet. Die aufgetretenen Mechs und Panzer entsprachen den Profilen, die wir bereits vorher ermittelt hatten.“ Dvensky lächelte sarkastisch, als er die Söldner erwähnte, die in seinem Auftrag die Chevaliers überfallen hatten. Dantons Truppe hatte kein gutes Bild geboten. Dann wurde er wieder ernst: „Wir können natürlich nicht völlig ausschließen, daß die Chevaliers auf New Home noch Verstärkung erhalten haben. Wir haben sie zwar nach Möglichkeit überwacht, aber angesichts der angespannten Lage ist eine lückenlose Überwachung natürlich nicht möglich. Wir können auch nicht restlos ausschließen, daß sie nicht während des Fluges zum Sprungpunkt weitere Einheiten aufgenommen haben. Dies ist zwar unplausibel, doch es hat dergleichen schon gegeben.“ Wieder ein leicht ironisches Lächeln: „Nur glaube ich nicht, daß wir unseren Feinden einen solchen Aufwand wert sind.“
Die anderen Soldaten lachten ebenfalls. Viele waren Kinder Bryants, aber sie wußten genau so wie Dvensky, daß ihre Welt wie auch ihre Gegenspieler über den Rang von „local players“ nicht hinauskam. Zumindest im Augenblick. Der Diktator wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war: „Sie alle haben das Bildmaterial studiert. Es scheint so, als ob sowohl eines der Landungsschiffe als auch einige der Mechs leichte und mittelschwere Schäden davongetragen haben. Der Kampftitan ist mit etwas Glück dauerhaft kampfunfähig. Die Bewegungsmuster der Söldnermechs lassen darauf schließen, daß die Chevaliers immer noch erhebliche Probleme mit der Koordination haben – bei der Erfahrung ihrer Piloten und den verschiedenen Herkunftsplaneten eigentlich kein Wunder. Wenn ihr Anführer kein vollkommener Idiot ist, wird er das auch erkannt haben. Dennoch rechne ich nicht damit, daß er alle Probleme so schnell abbauen kann. Besonders in Sachen Koordination verschiedener Waffengattungen können ein paar Wochen Übung einfach nicht ausreichen. Bisher deutet nichts, ich wiederhole nichts, darauf hin, daß die Söldner ein geheimes Abkommen mit unseren Feinden auf New Home haben. Weder wurden die Chevaliers bei unserem letzten Besuch aktiv, noch behinderten die New Home-Truppen die Crusaders. Aber das kann auch nur bedeuten, daß sie es ernst meinen mit ihrer Konspiration, oder die Chevaliers arbeiten für eine dritte Macht. Oder Com Star will sie benutzen, um hier die Macht zu übernehmen.“
Im Krieg galt, wie so oft im Gericht, der Grundsatz: „Schuldig bis zum Beweis der Unschuld.“ Und oft noch darüber hinaus. Es stand einfach zuviel auf dem Spiel, und Verrat ein zu übliches Mittel, um irgendein Risiko einzugehen.
Er wußte, seine Soldaten hatten sich nach Möglichkeit mit den Verhaltensweisen des potentiellen Gegners vertraut gemacht – so weit die Informationen dies zuließen. Er selber hatte alle verfügbaren Aufnahmen mindestens ein halbes Dutzend mal gesehen. Und er rechnete damit, daß zum Beispiel seine Innenministerin bereits an einem Psychoprofil der wichtigsten Offiziere bastelte. Es war nützlich, wenn man zumindest vage Vorstellungen hatte, wie ein bestimmter Mech, ein bestimmter Offizier reagieren würde. Schwachstellen beim Feind, etwa unerfahrene Piloten, vermochte ein erfahrener Soldat stets zu seinem Vorteil auszunutzen. Zum Beispiel die beiden leichten Omnis des Gegners – die waren nicht sehr professionell geführt worden. Auch der Kampftitan hatte Fehler gemacht. Nun, er kannte die Psychogramme der feindlichen Piloten und Offiziere. Dieser Danton schien auch höchst instabile Rekruten zweifelhafter Qualität aufzunehmen. Dvensky jedenfalls hätte sich mit derartigen Mitstreitern recht unwohl gefühlt. Sicher, im Krieg wurde man schnell erwachsen, aber dennoch... Nun, das war nicht sein Problem, sondern Sache dieses Söldlingsführers. So lange er selber sich nicht zu sehr auf die feindlichen Schwächen verließ. Denn im Krieg, wie man so treffend sagte, war nur der Tod eine Konstante – alles andere hingegen Variablen.
Der Vicomte musterte seine Piloten noch einmal kurz. Seine Stimme klang jetzt ernst: „Sie alle wissen, daß dies keine Übung ist. Es könnte sein, daß es nur Routine wird – oder es wird die größte Bedrohung für uns seit Jahren. Seien Sie auf alles vorbereitet. Sie kennen den Plan, aber im Notfall müssen Sie sich einer neuen Situation anpassen können. Das war es – aufgesessen!“
Schweigend salutierten die Männer und Frauen. Dann marschierten sie in grimmigem Schweigen zum Lift, der sie in die Hangars bringen würde. Dieses Schweigen lag freilich nicht nur an der Entschlossenheit. Auf sie alle warteten endlose Stunden der Warterei in abgeschalteten Mechs.
Dvensky klomm die Leiter empor. Er versagte es sich, zu zittern, trotzdem es in der unterirdischen Halle mörderisch kalt war. Tja, wenn er seinen Leuten und sich Mechkrieger-Kampfanzüge verschaffen könnte... Aber bei seinen Finanzen war das einfach nicht drin. Krachend schlug die Luke der 75-Tonnen-Maschine zu. Der Kampfkoloß erwachte zum Leben, als Dvensky den Neurohelm aufsetzte und den Codesatz eingab. Die Heizung des Cockpits lief auf voller Leistung, aber es dauerte lange, ehe es halbwegs erträglich wurde. Und bald mußte die Heizung wieder ausgeschaltet werden – sobald die Mechs heruntergefahren wurden.
Nur so konnte man halbwegs sichergehen, daß der Feind sie nicht würde orten können. Den Piloten blieb nur ein tragbares Heizset, daß die Cockpittemperatur wohl auf gerade noch erträgliche 10 Grad über Null halten würde. Und endlose Stunden des Wartens.
Der Wetterbericht hatte dabei den Ausschlag gegeben. Für die Nacht vor der Landung war, wie eigentlich immer, Neuschnee vorausgesagt worden. Wollte man es dem Gegner nicht zu leicht machen, so mußten die Mechs der Bryanter zu diesem Zeitpunkt bereits in ihren Deckungslöchern stehen, mit Tarnplanen abgedeckt. Die Verbindung nach außen bestand dann aus einem auf passiven Empfang gestellten Funkgerät – Senden war streng verboten – und einer simplen Sensorenleitung, die jeden Mech mit ein paar primitiven Kameras außerhalb des Verstecks verbanden. Nicht unbedingt optimal, aber dafür kaum aufzuspüren. Bei der Wahl zwischen Tarnung und Bereitschaft gab es selten etwas anderes als einen faulen Kompromiß. So auch hier.
Der Schnee würde die Mechs zusätzlich tarnen und die Spuren verwischen. Bryants Mechs, die den Raumhafen absichern sollten, mußten dann zwar etliche Stunden warten, doch Schlafen war immerhin in Schichten nach vorher festgelegtem Turnus erlaubt. Die Infanterie hatte es besser, sie konnte sich in ihren MTW’s aufhalten. Natürlich hatten die bedauernswerten „Frontniki“ vorher nicht nur ihre eigenen Stellungen sondern auch die „Deckungslöcher“ für die Mechs in den gefrorenen Boden hacken und sprengen müssen. Und auf sie warteten dann ja Schützenlöcher und Schützengräben. Da war ein Panzer oder ein Mechcockpit schon besser. Noch bequemer hatten es nur die Jagdflieger und Raummatrosen. Die Panzersoldaten, die sowieso in der Stadt blieben, hatten es auch leichter – ihre Maschinen mußten nicht abgeschaltet werden, denn eine Ortung war selbst in einer Stadt wie Brein sehr schwierig. Die Luftüberwachung würde Alarm schlagen, wenn die Söldner zu früh kamen, oder an anderer Stelle als angekündigt. Bloß mit der Kälte mußte man fertig werden. Aber so würden es eventuelle Angreifer sehr schwer haben, daß genaue Ausmaß des Aufmarsches zu erkennen. Wenn die Söldner Com Stars ein vergifteter Apfel waren, den man Dvensky offerierte – nun, dann würde er sie eben mit einem Rachen aus Stahl schlucken.
Ihm war durchaus die Ironie der Situation klar. Hier, in seinem Mech, WAR er der Schatun. Der schlaflose Bär, der durch die winterliche Taiga streifte, ruhelos, hungrig, gefährlich. Und wenn dieser Danton und seine Herren ihn jagen wollten...
Es gab viele Geschichten von Jägern, die versucht hatten, den Winterbären zur Strecke zu bringen. Einigen war auch der schlaflose Wanderer nicht gewachsen gewesen – den besten, denen, die das Glück begünstigte. Die meisten Erzählungen aber endeten tragisch.
Cattaneo
Der Morgen begann wie immer. Irgendwo hämmerte jemand gegen ein Stück Eisen – der Laut klang sehr dünn in der frostig kalten Luft. Normalerweise hätte niemand so einer geringfügigen Störung Beachtung geschenkt. Aber die Männer in den Baracken kannten und haßten den Laut, und sie hatten gelernt, ihn nicht zu ignorieren. Schon wenige Minuten später strömten die vermummten Gestalten hinaus in die Kälte. In den wattierten Anzügen wirkten sie unförmig, und hoben sich in ihrem Dunkelgrau von der Schneefläche ab wie Rußflecken auf einem weißen Tischtuch. Was ja auch, wie sie sehr wohl wußten, der Sinn bei der Sache war. Kaum einer warf einen Blick auf die Stacheldrahtzäune und Wachtürme, die das Lager unüberwindlich von der „Freiheit“ abgrenzten. Jenseits der Absperrung lag nichts als eine endlose eisige Wildnis, Kilometer für Kilometer. Selbst im kurzen „Sommer“ gab es hier kein Versteck und keine Nahrung, keinen Unterschlupf vor Regen und anderen Gefahren. Und die Gefahren der örtlichen Fauna kamen hinzu, angefangen von Mücken bis zu wesentlich selteneren „Kostgängern“. Kein Flüchtling, der zu Fuß entkam, würde weit kommen. Dazu kam, daß es sowieso keinen Ort gab, zu dem man hätte flüchten können. In der Wildnis überlebte ein abgemagerter und schlecht ausgerüsteter Häftling nicht lange, in den Siedlungen konnte er nicht untertauchen. Hilfe wurde streng bestraft, und keiner „saß“ in der Nähe seiner Heimat, meistens schaffte man ihn auf die andere Seite des Planeten. Denunziation drohte, und die Angst vor „SMERSCH“ war allgegenwärtig – mehr noch als die Geheimpolizei selber es wirklich war.
Aber in den meisten Köpfen war der Gedanke an Flucht längst erstorben. Sie alle hatten erlebt, wie man Ausbrecher zurückgebracht hatte. Die meisten waren brutal zusammengeschlagen worden, ehe man sie wieder den Gefangenenscharen einverleibte – die gefrorenen oder blutgetränkten Leiber derer, die ihr Leben auf der Flucht verloren hatten, ließ man oft Tagelang zur Abschreckung auf dem Appellplatz liegen. Diese Lektion hatten sie alle gelernt. Dazu überwachten sie sich gegenseitig, denn jeder Brigade, aus der Gefangene flohen, drohten Strafen. Wer aber einen Fluchtversuch verriet, der wurde belohnt, und diese Prämien wurden auch pünktlich „ausgezahlt“. Bei der Vergabe von Aufträgen konnte er auf einen besseren Einsatzort hoffen. Auf Bryant diente man Dvensky. Als Wächter auf den Türmen, als Arbeiter in der Fabrik, als Sträfling – und selbst als Leiche diente man ihm noch, als abschreckendes Beispiel.
Dies hier war ein „Dorf“ der geheimen Bevölkerung Bryants – der etwa 2.000 Strafgefangenen. Sie wurden bei Volkszählungen gesondert geführt, denn sie hatten alle Rechte verloren, auf lange Jahre oder für immer. Gut 70 Prozent der Gefangenen waren normale Kriminelle, denn schon für vergleichsweise geringe Verbrechen konnte man ein Jahr Zwangsarbeit erhalten. Dazu kamen etwa 400 „Ausländer“ – Plünderer und dergleichen, die von den Streitkräften gefaßt wurden. Wer kein Lösegeld zahlen konnte, landete hier, verurteilt wegen Piraterie und schweren Raubes. Denn so definierte das Regime die Suche nach Lostech auf den Sturmkontinenten, wenn man dabei mehr als eine Jagdflinte bei sich hatte. Die kleinste Gruppe der Gefangenen machten die politischen Häftlinge aus. Sie waren zum größten Teil zwar nach normalen Paragraphen verurteilt worden, doch wußten sowohl sie als auch die Richter, daß dies nur Fassade war. Einige von ihnen hatten versucht, geplant, davon geträumt, Bryant zu befreien, andere hatten eher vorgehabt, sich an Dvenskys Stelle zu setzen. Sie alle waren gescheitert, und jetzt dienten sie ihm.
Hastig schlangen sie ihre Nahrung in der Speisebaracke herunter. Wie die harten, kalten Stimmen der Wachsoldaten war der Hunger ständiger Begleiter. Man ließ sie nicht verhungern, aber viel zu essen bekamen sie nicht. Nur so viel, daß sie arbeiten konnten. Außerdem diente der Wunsch nach einer Extraportion als nützliches Mittel zur Disziplinierung. Wie jeden Morgen verlief der Appell reibungslos. Da das Lager mit etwa 500 Insassen noch überschaubar war, gab es keine Probleme. Die Brigaden meldeten den Bestand, dann erfolgte die Aufteilung in Arbeitskommandos. Obwohl es auch im Komplex selber Fertigungsanlagen gab – einfache Arbeiten zumeist – wurden viele auch außerhalb eingesetzt. Die Lastenschweber, die das menschliche Arbeitsvieh transportierten, warteten bereits. Vorher kam nur das übliche „Gebet“: „Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts gilt als Fluchtversuch – es wird sofort geschossen!“ Und alle wußten, das dies die Wahrheit war. Sie nahmen es hin, wie den Hunger und die Kälte – es war Teil ihrer Welt.
Nur schnell zu den Transportern, die wenigstens etwas Schutz vor dem eisigen Wind boten! Zusammengepfercht wie das Vieh teilten sie die schlechte Luft, aber auch das bißchen Wärme. Für die meisten zählte nur noch, über den heutigen Tag hinwegzukommen. Wenn man 5, 10, oder 25 Jahre abzusitzen hatte in dieser Eishölle, dann blieb für langfristiges Planen kein Platz.
Zwei Transporter – im zivilen Leben für vielleicht ein Dutzend Passagiere ausgelegt – steuerten Brein an. In ihnen warteten die Männer der Brigaden 13, 17, 19 und 20 apathisch auf die Ankunft. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wären, das Fahrzeug zu übernehmen – ein Sprung in die Freiheit wäre Selbstmord gewesen – so hätte sie das nicht weit gebracht. Der leichte Hoover-MTW, der die Transporter eskortierte, hatte an Stelle der üblichen MG’s einen KSR-2-Werfer eingebaut bekommen, und war mit Infernoraketen bestückt. Und keiner der Gefangenen machte sich Illusionen darüber, ob die Soldaten zögern würden zu schießen. In die Wachtruppen kamen altgediente und bewährte Polizisten und Milizionäre, Männer und Frauen, die ihre Loyalität bewiesen hatten.
Sch-23 war einer der Gefangenen, einer von 20 Mann der Brigade 17. Wie die meisten seiner Leidensgenossen hatte er den Gedanken an Flucht schon lange aufgegeben. Zu perfekt schien das Überwachungssystem. Ihn interessierte eher, wo man eine zusätzliche Ration, eine Zigarette oder ähnliches organisieren konnte. Das waren Dinge, um die sich die Gedanken der Häftlinge drehten. Freiheit von Dvensky gab es auf Bryant nicht, ob im oder außerhalb des Kerkers – sinnlos, sich gegen Dinge aufzulehnen, die man nicht ändern konnte. Drei Jahre Haft hatten aus ihm einen alten „Lagerfuchs“ gemacht.
Er hatte bei der Raumhafenkontrolle gearbeitet, damals, in einem anderen Leben. Als Kind regimetreuer Eltern und mit einem ordentlichen technischen Abschluß hatte ihm dieser gute Posten offengestanden. Hätte er es bloß richtig zu würdigen gewußt – so sagte er sich jetzt. Sein einziger Fehler war gewesen, daß er sich zu etwas hatte überreden lassen. Einfach für ein paar Bekannte etwas Sonderfracht bei den Freihändlern abholen – mehr nicht. Was tat man nicht, wenn man jung war? Dafür hatte er einige Dinge bekommen, die es hier nur streng rationiert oder gar nicht gab, und er war davon ausgegangen, daß es nur um Luxuswaren von anderen Planeten, Musik, Filme und dergleichen ging.
Was er nicht hatte wissen können, vielleicht auch nicht hatte wissen wollen – diese Narren hatten tatsächlich den Plan gehabt, Dvensky zu stürzen. Eine Organisation, die gerade mal aus vier Studenten, einem Professor – dem Kopf der Truppe – und zwei jungen Milizionären bestanden hätte. In dem Glauben, wenn Dvensky erst tot sei, würde sein System zusammenbrechen und das Volk sich erheben, hatten sie ein Attentat vorbereitet.
Er war dabei der Beschaffer gewesen. Immerhin waren sie nicht so dumm, gleich einen Schmuggler um Sprengstoff in genügender Menge zu bitten – sie hätten ihn auch nicht bezahlen können. Sie hatten erst einen kleinen illegalen Handel aufgezogen, um Schwarzgeld zu horten und einen sicheren Kontakt zu etablieren. Dann erst hatten sie die Sendung in Auftrag gegeben.
Freilich – bei der Verhandlung kam später heraus, daß die „Spinne“ schon das erste feine Vibrieren im Netz gespürt hatte. Sie hatte ihre Beute beobachtet, und als diese sich sicher wähnte – in Wahrheit aber schon vollends verstrickt war – hatte sie zugeschlagen. Der Schmuggler hatte von Anfang an auf ihrer Liste gestanden, mit der sie den Schwarzmarkt kontrollierte, ihn im akzeptablen und überwachbarem Rahmen hielt.
Der Schatun hatte keine Gnade gekannt. Um so weniger, da bei dem Attentat auch die Chefin der Luftwaffe – daß sie Dvenskys Geliebte und Vertraute war, war kein Geheimnis – ebenso wie die „Spinne“ auf der Opferliste gestanden hätte. Die Milizionäre und der Rädelsführer hatte man vor laufender Kamera exekutiert, zwei der Studenten hatten zunächst auch die Todesstrafe erhalten, bevor man sie „begnadigt“ hatte – sie hatten wie ihre Kameraden das Viertelmaß erhalten. Volle 25 Jahre – beinahe Lebenslänglich.
Und der unwissende Dumme – nun, der hatte immerhin 10 Jahre Arbeitslager bekommen.
Jetzt erschien ihm die Freiheit nur noch wie ein Traum. Er hatte in den drei Jahren viel gelernt, weit mehr als in seinem bisherigen Leben. Dinge, die keiner lernen sollte – aber er hatte keine Wahl gehabt.
Vor allem hatte er gelernt, daß Auflehnung nichts nutzte. Versteife den Rücken, und man wird ihn dir brechen, beuge dich, und das Joch wird vielleicht ein wenig leichter zu tragen sein, eine andere Wahrheit gab es hier nicht. Ungebrochener Widerstand – noch etwas, daß es nicht gab.
Inzwischen existierte für ihn nur noch das Heute. Arbeitete man gut, wurde man besser behandelt, bekam mehr zu essen – am Ende sogar „Rabat“. Wer seine Normen übererfüllte, konnte einen Teil der Haftstrafe abarbeiten. Wer schlecht arbeitete, kürzte die Rationen der ganzen Brigade – deshalb sorgte die schon dafür, daß es keine Drückeberger gab, rücksichtsloser als der Knüppel der Soldaten. Ein „Faulenzer“ konnte auch in den Arrest kommen, das hieß Kälte und noch mehr Hunger als sonst.
Und wer Widerstand zeigte – nun, es war durchaus möglich, in einem Schnellverfahren im Lager die Haftstrafe beliebig hochzusetzen. Bis hin zum Todesurteil, das freilich von Brein aus bestätigt werden mußte. Soweit ließ es keiner kommen. Ein Fluchtversuch bedeutete stets mindestens ein zusätzliches Jahr, und zwar in einem schlechten Kommando.
Auch die Gespräche in den Transportern drehten sich um elementare Dinge. Ob man ihnen diesen Sonntag den üblichen Ruhetag streichen würde etwa. Sechs Tage in der Woche elf Stunden Arbeit täglich, zwei Stunden An- und Abmarsch, drei Stunden für Appelle, Essen, Pause – jeder Tag, an dem ihnen etwas mehr Zeit blieb, war sehnlich erwartet. Arbeitete eine Brigade schlecht, konnte man ihr ohne weiteres den freien Tag streichen. Und dann sollte man sich mal beschweren...
Andere diskutierten darüber, ob es bald wieder ein „Geschenk“ gäbe. Geschenke nannte man die Gnadenerlasse aus Brein – zu Feiertagen, die willkürlich festgelegt wurden. Anläßlich eines Sieges, eines offiziellen Feiertages oder bei herausragenden Leistungen wurden Sonderrationen ausgegeben. Sch-23 registrierte sehr wohl, daß einige der Häftlinge auf solche Gnade wie auf richtige Geschenke warteten, gar Dankbarkeit gegenüber Dvensky empfanden – und Wut auf Mitgefangene, die solche Geschenke gefährdeten. So leicht konnte man einen Menschen ködern, wenn er nicht durch einen eisenharten Panzer aus Überzeugungen oder Zynismus geschützt war. Und den hatte nicht jeder. Solidarität, den Willen zum Widerstand – Fehlanzeige. Wie auch, bei einem Konglomerat aus Kriminellen verschiedenster Kategorien, politischen Gefangenen und Ausländern...
Ihr Ziel war eine der großen Baustellen am Rande von Brein. Eine der massiven Wohnkasernen, die in wachsender Zahl entstanden. Wuchtige, massive Bauten – gedacht für die eisigen Temperaturen und Schneestürme, die im Winter oft tobten. Einzelhäuser wären im Bau und der Heizung viel aufwendiger gewesen. Die Menschen waren es zumeist sowieso nicht viel besser gewohnt, viele der Neusiedler kamen von Bürgerkriegswelten. Der Fortgang der Arbeiten wurde streng kontrolliert – wehe, die Häftlinge leisteten schlechte Arbeit.
Einweisung brauchten sie keine, sie waren die Arbeit gewöhnt und kannten sich aus. Die Zivilarbeiter kümmerten sich nicht um die Gefangenen – die waren ein gewohnter Anblick. Unter den wachsamen Augen der Milizionäre machten sich die Häftlinge an die Arbeit. Sie hatten sich gerade warm gearbeitet, als die Sirenen ertönten.
Cattaneo
Natalija Sergejewna Dvenskya war definitiv nervös, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Der „diplomatische Dienst“ für ihren Bruder war ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden, und dabei hatte sie auch mit durchaus unangenehmen Zeitgenossen zu tun gehabt. Allerdings hatte man sie bisher nicht quasi „vorneweg geschickt“ um mit einer Söldnertruppe zu verhandeln, die an Feuerkraft immerhin gut die Hälfte der gesamten Bryanter Streitkräfte aufzubieten hatten, an einem Punkt konzentriert. Und deren Absichten darüber hinaus als potentiell feindliche eingestuft wurden.
Sie hatte die Beurteilungen des GKVD gelesen. Dieser Denton, oder wie er auch immer hieß, sollte ja angeblich ein Gentleman sein und würde möglicherweise auf eine Geiselnahme verzichten. Ihr Leben wollte sie aber eigentlich nicht darauf verwetten. Immerhin war er ein Mann, der für genug Geld seine Heimat verriet – dem war alles zuzutrauen. Und sie wußte sehr gut, was speziell weibliche Gefangene oft zu befürchten hatten.
Dennoch hatte sie auf den Leibwächter verzichtet, den ihr ihr Bruder – vielleicht in einem Anfall schlechten Gewissens – angeboten hatte. Der würde zur Not auch keinen Unterschied machen, und es kam auf die Botschaft an. Was nicht hieß, daß sie jedes Risiko eingehen würde. Ihr Hold-Out-Laser war bereit, an einer Stelle verborgen die... nun, wenn man dort nachsuchte, dann stand es sowieso zum schlimmsten für sie, wie sie mit mehr als einer Prise Galgenhumor dachte. Sie hatte auch, übrigens nicht zum ersten Mal, „für alle Fälle“ auch eine Zyankalikapsel bekommen, aber sie wußte nicht, ob sie genug Entschlossenheit haben würde, diesen letzten Ausweg zu wählen, auch wenn es zum Schlimmsten kam. Manchmal jagte ihr die kaltblütige Entschlossenheit ihres Bruders sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber beinahe Angst ein, und sie fragte sich, wie gut sie ihn eigentlich kannte. So etwas war jedenfalls nicht ihre Sache, auch nicht für ihren Bruder, aber andererseits – vor manchen Dingen hatte sie mehr Angst als vor dem Tod...
Dennoch – sie konnte ja wohl schwerlich kneifen. Sie hätte vor ihrem Bruder das Gesicht verloren, immerhin ermöglichte er ihr ein recht gutes Leben. Und vor dieser..., vor der Chefin der Luftwaffe, wollte sie erst recht nicht eine Blöße zeigen. Die riskierte schließlich immer wieder ihr Leben – wie etwa in diesem Augenblick. Wollte sie zeigen, daß sie nicht weniger verläßlich war, mußte sie das Wagnis eingehen.
Am liebsten hätte sie die Wartezeit kettenrauchend verbracht, aber schließlich hatte sie einen „Auftritt“ vor sich. Sie hätte sich eher auf die Zunge gebissen, als es einzugestehen, aber sie vermißte die beruhigende Präsenz ihres Bruders. Mit seiner kalten Gelassenheit und unerbittlichen Entschlossenheit konnte er oft, nun, ein Gefühl der Sicherheit vermitteln – wenn man auf der richtigen Seite stand.
Oder wenn wenigstens Alexeij an ihrer Seite gewesen wäre – aber der war auf der anderen Seite des Planten, vermutlich gerade in seinem verdammten Panzer, für den Fall, daß die Gegner Bryants die Söldner als Ablenkungsmanöver nutzten. Aus anderen Gründen bedeutete er ihr soviel wie ihr Bruder. Er war ein guter Kamerad, und sie hatte stets mit ihm gut zusammengearbeitet. Zudem fehlte ihm etwas die Aura, die viele Angehörige des „Inneren Zirkels“ geradezu kultivierten. Was das andere anging, was ihr Bruder vielleicht in Bezug auf sie beide plante – nun, da hatte sie sich noch nicht entschieden. Aber sie schloß es auch nicht aus.
Nun, was nicht war, war nicht. Wenn nicht bald etwas passierte, würde sie noch bei ihrem ruhelosen Auf- und Abwandern Löcher im Boden hinterlassen!
Noch einmal rief sie sich die beruhigenden Fakten ins Gedächtnis. Gegen die Söldner war aufgeboten, was Bryant zur Verfügung hatte. Um den Flughafen selber nicht weniger als anderthalb Dutzend Mechs – heruntergefahren und gut getarnt. Dazu Teile eines Infanteriebataillons, ebenfalls getarnt. NICHT so gut getarnt waren zwei Dutzend Haufen Eisenschrott, in einigen waren Feuer vorbereitet worden – auf MAD und IR-Sensoren würden sie dürftig getarnte Panzer und Artillerie vortäuschen. Die Reste des Bataillons, ein komplettes zweites und eine Panzerkompanie waren in Brein selber in Stellung gegangen. Sobald die Lander – sie mußte sich Mühe geben, sie nicht als „feindlich“ zu bezeichnen, angesichts dieses „Theaters“ – in die Atmosphäre eintraten, würde in der Hauptstadt überdies Invasionsalarm gegeben werden. Ihr Bruder hatte das mit seinem typischen Sinn für Humor als Übung bezeichnet, für die es wenigstens einen guten Anlaß gab. In Tscheljabinsk würde es ähnlich aussehen.
Sie wußte, ihr Bruder war da draußen. Perfekt vor feindlichen Blicken verborgen, in 75 Tonnen Stahl und Tod. Sie wünschte sich das erste Mal, sie hätte doch wie er den Umgang mit einem Mech gelernt... Ein solcher Schutz mochte manchmal nützlich sein, obwohl sie den „Zirkus“, den manche um die Kampfmaschinen machten, nie hatte nachvollziehen können. Aber manche brauchten eben GROßES Spielzeug...
In dem Augenblick drehte sich in der Flugkontrollzentrale einer der Techniker halb zu ihr um – auch dies eine Bestätigung ihrer eigenen Position: „Meldung – Landungsschiffe im Anflug. Kein Unregelmäßigkeiten, keine unangemeldeten Sprungschiffe.“
Sie entspannte sich ein wenig – vielleicht um den Bruchteil eines Millimeters.
In ihrer Nervosität überprüfte sie noch einmal ihr Äußeres. Der Pelz und die Mütze waren aus gutem, einheimischen Pelz – außerhalb Bryants konnten nur sehr reiche Männer und Frauen sich dergleichen leisten. Nicht aller Reichtum der Welt lag unter dem Erdboden. Sie waren nicht protzig, aber gediegen.
Keine auffällige Schminke – alles dezent, um ihre Gesichtszüge und die grünen Augen zu betonen. Nichts, was aufdringlich wirkte, natürlich. Ein „Flittchen-Image“ wollte sie bestimmt nicht kultivieren.
Das lange dunkelblonde Haar trug sie offen – auf Schmuck hatte sie verzichtet.
Sie fühlte sich etwas unwohl, ihre Schönheit so zur Schau zu stellen, so dezent es auch immer war. Sie hatte genug glaubhafte Geschichten über Söldner gehört – und mit einigen zu tun gehabt, doch damals aus einer Position der Stärke. Sollte etwas schiefgehen, würde ihr Bruder sie gewiß rächen – daran hegte sie keinen Zweifel – doch nicht retten können.
Und in ihrer unmittelbaren Nähe waren nur je zwei Züge Miliz und Fallschirmjäger. Erstere als allgemeines Sicherheitspersonal auf dem Flughafen – letztere als Begrüßungskommando und Konvoieskorte. Die Fallschirmjäger gehörten zu den besten Soldaten Bryants, aber hier würden sie nur Handfeuerwaffen tragen – und natürlich ein paar Handgranaten. Viel zu wenig, das war klar. Doch wer nicht wagte...
Sie machte ein paar lautlose Atemübungen, um sich zu beruhigen. Diese Meditationsübungen hatten ihr in ihrer diplomatischen Karriere oft gute Dienste geleistet. Ihrem Gesicht war nichts anzumerken – keine Unsicherheit, keine Angst. Wenn man um hohen Einsatz spielte, durfte man sich keine Fehler erlauben.
Aufmerksam verfolgte sie, wie die Bahn der Landungsschiffe überwacht wurde. Die Maschinen hatten offenbar vor, im Äquatorialgebiet in die Atmosphäre einzutauchen, und dann in der Stratosphäre – außerhalb der Reichweite der schweren Stürme in diesen Breiten – nach Brein weiterzufliegen. Was bedeutete, sie durfte sich noch eine ganze Weile gedulden. Zeit, in der sie die Söldner nur beobachten konnte. Sie hätte am liebsten geflucht, aber das paßte nicht zu ihrem Image, also versagte sie es sich.
Sie wußte, überall in Brein wurden jetzt Bunker besetzt, Flakgeschütze nach oben gekurbelt, gingen Panzer und Pak auf Selbstfahrlafetten in Stellung. Ein Reißwolf aus Stahl und Feuer wartete auf etwaige Angreifer. Und sie war gewissermaßen der Köder, um das Wild anzulocken. SEHR beruhigend...
Jetzt begannen die Lander mit dem Eintritt in den Blind Spot. Vom Boden aus waren sie nicht zu überwachen – für die Raumstreitkräfte Bryants mochte das freilich etwas anders aussehen. Die Phase der Blindheit irritierte und verärgerte die junge Frau zusätzlich, denn einen potentiellen Gegner, den man nicht sehen konnte… Sie rief sich zur Ordnung. In der kurzen Zeit und an diesem Punkt – immer noch über den fast menschenleeren Äquatorialkontinenten – konnten die Söldner wirklich wenig Unheil anrichten. Dennoch zählte sie nervös die Sekunden. Gleich mussten sie wieder auf den Bildschirmen erscheinen…
Sie merkte es sofort, daß etwas nicht stimmte. Der Anflug war bisher, soweit sie das beurteilen konnte, problemlos verlaufen – inklusive der Mitteilung an die Söldner, eine Abweichung von der vorgegebenen Flugschneise würde man als „unfreundlichen Akt“ interpretieren. Bei einer Regierung wie der Dvenskys war dies definitiv nicht nur die Androhung einer schriftlichen Beschwerde. Und bei einem Abwurf von Mechs, das wußte sie, würden die Streitkräfte sofort das Feuer eröffnen. Das sagte man den Söldnern wohl nicht – aber wenn diese klug waren, wußten sie es ohnehin.
Bisher war also nichts passiert, aber jetzt schien etwas nicht zu stimmen – schien ganz gewaltig schief zu laufen. „Eines der Schiffe zeigt Anomalien – es trudelt! Steuerdüsen unregelmäßig!“ Dvensky würde dies alles mithören – es gab eine direkte Leitung von der Kontrollzentrale zu seinem Mech, da Funk zu gefährlich war.
Natalija unterdrückte einen wütenden Fluch – einfach großartig! Etwas hatte ja schiefgehen MÜSSEN!
„Abteilung – Deeeeeckuuung!“ brüllte der Truppführer. Die raue Stimme schnitt durch die kalte Luft. Überrascht blickten die Häftlinge auf. So etwas war bisher noch nie passiert. Die blauuniformierten Wachen schienen in Aufregung, der MTW rollte in die Deckung einer Häuserwand.
Gesten trieben die Gefangenen an: „Deckung, ihr verdammten Hurensöhne! Invasionsalarm!“ Die drohenden Gewehrläufe trieben das Arbeitsvieh zu einer Baugrube – dürftiger Schutz, aber wenigstens würde er sie vor Splittern bewahren. Die Wachen gingen in einem Graben in Stellung. Das MG, das die Baustelle überwacht hatte, wurde dort in Stellung gebracht, ebenfalls an einer Wand – um etwas Deckung zu haben. Die zum Schutz vor der Kälte maskierten Gesichter – Häftlinge hatten darauf keinen Anspruch, obwohl man sie sowieso nur mit ihren Nummern anredete – waren unlesbar, aber die Bewegungen zeugten von Erregung. Einige Soldaten überprüften ihre Waffen. Hart und metallisch knirschten die Verschlüsse der Sturmgewehre.
Sch-23 war befehlsgemäß in Deckung gegangen. Gehorsam war ihm zur Gewohnheit, ja Selbstverständlichkeit geworden – zumindest, wenn ein Milizionär mit Waffe oder ein Mithäftling mit Augen und Mund in der Nähe war. Das Häftlingshirn arbeitete freilich fieberhaft – es beschäftige sich mit der alles entscheidenden Frage: „Wie komme ich am besten dabei weg?“ Flucht? Das war keine Option. Wenn es wirklich ein Angriff war – Probealarme für Luftschutz hatte Sch-23 schon erlebt, aber keine Invasionsübung – nun, nur ein Narr hätte gedacht, die Feinde Bryants hätten ein Interesse an Dvenskys menschlichem Arbeitsvieh. Vielleicht würden sie es eher selber verwenden wollen. Und bei einer Flucht war man definitiv in der Schußlinie. Also abwarten und Augen offen halten – das war vermutlich das beste...
Zumindest schienen die Wachposten die Sache nicht minder ernst zu nehmen als die Häftlinge. In ihrem Verhalten war kein Anzeichen, daß sie nur simulierten – Sch-23 war nie Soldat gewesen, aber er hatte einige Dokumentationen über Gefechte gesehen, denn das war eine Unterhaltung, die Dvensky seinen Untertanen bereitwillig bot. Da konnte man zeigen, wie effektiv die eigenen Leute waren – und wie mörderisch die Kämpfe auf anderen Planeten. Nein, die Milizionäre verhielten sich genau so wie Männer, die einen feindlichen Angriff erwarteten. Was sie mit dem MTW und ihrem leichten MG ausrichten wollten war unklar – aber sie schienen bereit, sich zur Not teuer zu verkaufen.
Cattaneo
In der Flugkontrollzentrale herrschte keine Panik – dazu waren die Techniker zu routiniert. Die Hauptperson war schon viel eher mit den Nerven am Ende, ließ sich aber nichts anmerken. Augenblicklich konnte sie nichts tun. Im Sekundentakt kamen neue alarmierende Nachrichten. Offenbar hatte die Luftwaffe Probleme, mit dem Maultier Funkkontakt herzustellen – aber weisungsgemäß verboten sie den anderen Schiffen der Söldner von ihrem Kurs abzuweichen. Zwei Jäger schienen sich Mühe zu geben, das Landungsschiff im Auge zu behalten. Vermutlich war die Kommunikation mit den Söldnern momentan nicht eben von Harmonie geprägt...
Noch ehe die Lage eskalieren konnte, oder die anderen Söldner landeten, kam das Ende. Das Maultier kam sehr steil herunter, und es sah keineswegs nach einem kontrollierten Anflug aus. Da es von der Bahn abgewichen war, gab es natürlich keinen Sichtkontakt, aber die Meldungen der Bryanter Luftstreitkräfte gaben ein gutes Bild von der Lage. Offenbar würde das Schiff nicht mal auf Zephyrim landen, sondern auf einem der beiden äquatorialen Kontinente, auf Tomainisia. Das hörte sich nach einer ausgewachsenen Katastrophe an, denn selbst wenn sie in einem Stück herunterkamen – und danach sah es nicht gerade aus – würden die Söldner unter den dortigen Umständen möglicherweise nicht lange überleben. Ebenso wie sein Bruder Voltanasia war Tomainisia quasi unbewohnt, mit Hilfe war dort nicht zu rechnen. Geschweige denn ein Funkfeuer für eine Landung oder ordentliche Landebahnen. Die beiden Begleitjäger waren inzwischen wieder abgezogen worden, denn dort braute sich eine ausgewachsene Sturmfront zusammen – es fehlte ihnen überdies einfach an Treibstoff, und sie mussten ja gefechtsbereit bleiben. Es rächte sich, daß man anstatt Zusatztanks Einweg-Raketenwerfer installiert hatte. Andererseits – DAS hatte ja keiner ahnen können...
Sollte das Söldnerschiff allerdings nicht sehr viel Glück haben, dann würde man von ihm nicht mehr als ein Trümmerfeld von mehreren hundert Quadratkilometern Ausdehnung finden. Die Stürme auf Bryants Äquatorialkontinenten waren mörderisch. Deshalb lebten dort auch nur wenige Menschen, nur an den Küsten existierten kleine, meist unterirdische Siedlungen, die den Reichtum von Land und Meer ausbeuteten. Manchmal brachen von dort auch Explorerteams auf. Aber wenn ein Sturm aufkam, konnte man sich nur so tief wie möglich eingraben – und beten…
Natalija fühlte kein besonderes Mitleid mit den Männern und Frauen an Bord des Schiffes. Es waren vielleicht – ein sehr großes Vielleicht – nicht ihre Feinde, aber die Erleichterung überwog. Ihre Freunde waren sie nämlich auch nicht, noch jemand, der für Bryant oder für sie selbst irgendwie von Nutzen war. Das mochte egoistisch klingen, aber man lebte in den Chaosmarken, und hier galt: „Stirb du heute, ich aber erste morgen!“
Der Unfall würde sicherstellen, daß die Söldner keine Dummheiten machen würden. So hoffte sie zumindest. Das war sicherlich sehr selbstsüchtig, geradezu hartherzig, aber andererseits, wenigstens sich selbst brauchte sie ja nicht zu belügen...
Sorgsam tilgte sie jede Spur von Freude, Unsicherheit und anderen unpassenden Emotionen aus ihrem Gesicht und setzte eine Miene voll mitfühlender Besorgnis auf. Die letzten Jahre hatten ihr in dieser Hinsicht einiges an Übung verschafft, und inzwischen hatten ihr schon mehrere Mitglieder der Junta versichert, sie schauspielere erheblich besser als die Besetzung der „Immortal Warrior“ und „Die Steinherzen“-Serien. Was freilich kein SO weit gehendes Kompliment war...
Ja, alles perfekt. Kein übertriebenes Mitleid, das hätte verdächtig gewirkt. Wenn dieser Denton, oder nein, er hieß ja Danton – ein blödsinniger Name, fast so schlimm wie sein Vorname – in ihr zumindest keine Feindin sah, sondern jemanden, der im Rahmen seiner Verpflichtung für Bryant mit den Söldnern mitfühlte, dann hatte sie ihr Ziel erreicht.
Es war Showtime...
Sch-23 war dankbar dafür, daß man sie in diese Grube getrieben hatte. Nicht, weil sie ihnen bei einem Angriff sonderlich viel Schutz bot – aber sie hielt zumindest den kalten Wind etwas ab. Ohne die Bewegung, welche die Arbeit brachte, biß die Kälte empfindlich in Hände und Gesichter. Die Wächter waren ja mit anderem beschäftigt, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen, und unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Die Gefangenen lagen zusammengekauert – viele hatten wohl mit dem Leben abgeschlossen oder versuchten, aus der Lage das Beste zu machen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung – vorsichtig und verstohlen, beinahe unsichtbar für einen unaufmerksamen Beobachter. Aber nach drei Jahren Lager waren seine Sinne geschärft – so lange es um sein eigenes Überleben ging. Fremdes Leid konnte er hingegen wie jeder Häftling hervorragend ignorieren und übersehen. Langsam drehte der Strafgefangene seinen Kopf um einige Grad zur Seite, damit es niemand bemerkte. Sehen ohne gesehen zu werden, das war immer nützlich.
Aha – natürlich. Ein paar Dumme gab es immer. Offenbar hatten drei der Gefangenen den Entschluß gefaßt, die scheinbar günstige Gelegenheit zur Flucht zu nutzen. Sie gehörten nicht zu seiner Brigade – wenigstens etwas – und wenn er sich recht entsann, dann handelte es sich bei Ka-49 und And-95 um „Ausländer“. Natürlich – die hatten auch am meisten Illusionen über Rettung von außen. Sch-34, der dritte im Bunde, war wie Sch-23 ein „Politischer“. Aber er war noch „neu“, keine acht Monate im Lager, und hatte noch über neun Jahre vor sich. Kein Wunder, daß er auf Flucht sann.
Der Lagerveteran überlegte fieberhaft. Schreien? Das brachte ein paar Sonderrationen ein, aber man stand bei einigen auf der Schwarzen Liste. Mitmachen? Er kannte die drei kaum, und auf der Flucht erhielt man am ehesten eine Kugel. Nein, am besten war hier – nichts sehen. Und irgendwie schien ihm sowieso, als ob einige andere Häftlinge ebenfalls mit wachsendem Enthusiasmus ihre Gesichter in den Grund der Baugrube preßten – sie „sahen nichts“...
Das Donnern in der Ferne war Sch-23 durchaus vertraut. Er hatte es früher, in seinem anderen Leben, oft gehört – Landungsschiffe, die sich dem Raumhafen näherten. Sollten etwa doch...?
Aber eine Invasion Bryants war unwahrscheinlich – die Großmächte kümmerte die Welt nicht, und die Nachbarn hatten genug eigene Probleme. Jeder Versuch einer Eroberung würde vermutlich ihre Kräfte in kaum wiedergutzumachendem Ausmaß verschleißen. Auf eine Erhebung war nicht zu rechnen, eher würden Teile der Bevölkerung mit Dvensky gemeinsame Sache machen – angesichts der Alternativen. In der Chaosmark lauerten die Geier nur darauf, daß ein Planet, ein Herrscher, eine Fraktion Schwäche zeigten. Dann warteten sie nicht einmal mehr, bis er tot war. Wenn Angriff, dann ein Piratenüberfall oder dergleichen. Nein, das bot keinen Ausweg. Aber andere sahen das wohl anders...
In diesem Augenblick – als die Aufmerksamkeit der Posten abgelenkt schien – handelten die drei. Wie auf Kommando sprangen sie auf und rannten los. Sch-23 blickte nicht einmal auf.
Der Alarmruf kam spät – aber nicht spät genug. Vielleicht hatte sich einer der Wachsoldaten zu früh umgedreht, oder er hatte halb im Unterbewußtsein etwas bemerkt. Wie die Häftlinge entwickelten ihre Aufpasser im Laufe der Zeit gewisse Fähigkeiten. Einige der Wächter waren schlimmer als Wachhunde. Jedenfalls drehte sich einer der Milizionäre – das Wachpersonal unterstand dem Innenministerium – um. Das Sturmgewehr kam in einer flüssigen Bewegung hoch: „Stoj!“
Die drei hörten nicht darauf. Zu lockend war die scheinbar nahe Freiheit – nur noch wenige Meter, bis sie hinter einer halbfertigen Mauer in Deckung gehen konnten. Und dann würde man sie kaum verfolgen können, immerhin waren hier ja noch weitere 80 Häftlinge, den drohenden Angriff nicht zu vergessen. Und wenn sie es bis zu den landenden Angreifern schafften – Rettung, Freiheit, ein Ende des Alptraums. Es war nicht mehr weit...
Sie schafften es nicht.
Die Waffe des Postens gab einen bellenden Feuerstoß ab. Keine Warnschüsse – hier wurde sofort scharf geschossen, genau so, wie man es den Häftlingen jeden Morgen versicherte. Keine leeren Drohungen – das hatten sie lernen müssen. Schießen, das konnten die Wachen – sie übten eifrig, und Praxis hatten die meisten auch. And-95 erhielt drei Kugeln in den Ober-, Sch-34 zwei in den Unterschenkel. Ka-49 hatte weniger Glück – er hatte sich beim ersten Schuß hingeworfen, und drei Kugeln verwandelten seinen Hinterkopf in eine blutige Masse – die einzige Freiheit, die seinesgleichen jederzeit finden konnte, auf Bryant wie auf allen Welten der Inneren Sphäre und des Clanraumes. Wer immer sich gegen die Systeme auflehnte – Kugel und Kerker warteten auf ihn.
Keiner der Gefangenen hatte den Kopf gehoben. Sie preßten sich nur tiefer in die Erde, als der Wachposten eine zweite Salve über ihre Köpfe abgab, um jeden Gedanken an Flucht zu ersticken. Auch das Schreien der Verwundeten änderte daran nichts. Brutale Kolbenhiebe zwangen die Flüchtlinge zum Schweigen – und die einzige medizinische Versorgung die sie erhielten war ein notdürftiger Verband, den ein Häftling anlegte, auch das von Schlägen für die Verletzten begleitet. Vermutlich hätten ihre eigenen Kameraden sie in diesem Augenblick auch nicht besser behandelt, denn für Brigade 19 bedeutete der Fluchtversuch den Verlust des freien Tages und eventueller Sonderrationen – und solche geringfügigen Erleichterungen waren auf dieser Welt fast unbezahlbar. Mitleid und Solidarität – das hatte Seltenheitswert, erst recht in der Öffentlichkeit...
Die MTW’s warteten auf sie. In den weißem Tarnanstrich wirkten sie beinahe harmlos. Doch waren sie alles andere, nur nicht das. Sie akzeptierte die helfend entgegengestreckte Hand des Fallschirmjägeroffiziers und kletterte in den Mannschaftsraum. Für die Soldaten war der Empfang von Gesandten nichts ungewohntes – bloß normalerweise bestand dabei nicht die Gefahr, daß das Ganze zu einem Kampfeinsatz ausartete. Die Anspannung war den Gesichtern nur zu deutlich anzumerken – obwohl alle hier in zahlreichen Raids der Bryant Regulars Kampferfahrung gesammelt hatten. Es gefiel ihnen nicht, auf dem Präsentierteller zu stehen. Allerdings – vor der Schwester Dvenskys, offiziell die First Lady des Planeten und eine mögliche Nachfolgerin, die dazu noch eine recht hübsche junge Frau war, konnte man sich natürlich keine Blöße geben. Also blieben die Gesichter steinern, nur die Augen huschten unruhig hin und her. Ein geringer Trost für die Hauptdarstellerin bei diesem Theater, aber dennoch ein Trost. Immerhin war sie nicht die Einzige, die sich Sorgen machte... Wie viele der Soldaten wünschte sie sich beinahe, die Fahrt zur Rollbahn würde noch etwas länger dauern, doch dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Doch jetzt gab es kein zurück mehr, das war sicher.
Natalija sprang mit einer eleganten Bewegung aus dem MTW, der sie vom Gebäude der Kommandozentrale zur Rollbahn gebracht hatte. Hinter ihr schwärmten die Soldaten aus. Mit ihren dunkelgrünen Mänteln und den Pelzmützen, dazu den aufgepflanzten Bajonetten, boten sie zwar einen eher rituellen Anblick – eben wie eine Wachkompanie bei der Begrüßung eines Staatsgastes, eine Ehrenwache oder dergleichen.
Aber die Magazine waren aufgefüllt und die Waffen entsichert. Die Kompaktgranatwerfer unter den Läufen der Sturmgewehre waren ebenfalls geladen, und das nicht mit Feuerwerkskörpern. Und unter den Mänteln waren die Gürtel gut bestückt mit Handgranaten. Panzerbrechende, Brandgranten, hochexplosive Sprengkörper aber auch Rauch und Gasgranaten – die ganze Palette. Sie würden gegen einen Mech nicht viel ausrichten können, aber bei feindlichen Soldaten, selbst Elementaren, sah die Sache ganz anders aus...
Vorerst aber bezogen sie wie bei einem normalen Empfang Aufstellung – die MTW’s hielten sich im Hintergrund. Die Flagge Bryants entfaltete sich, gebauscht durch die Luftwirbel, die von den landenden Schiffe verursacht wurden. Die Schwester des Bryanter Herrschers straffte sich und schritt die Reihen der Soldaten entlang. Die perfekte Kulisse – hoffentlich wußte das Publikum das auch entsprechend zu würdigen. Die junge Frau beobachtete die Entladerampe der beiden „überlebenden“ Söldnerschiffe, registrierte, wie sie sich senkten. Wie dem auch sei, was auch passieren würde, das war ihr großer Auftritt. Jetzt war sie dran...
Cattaneo
Doppeltes Spiel
Die Mechs der Regulars hatten schnell ihre neuen Positionen erreicht. Dvensky hatte befohlen, vorerst noch in Bereitschaft zu bleiben. Aber er hatte auch dafür gesorgt, daß man den Piloten warmes Essen und Getränke brachte. Auch die anderen Truppen waren Schichtweise versorgt worden. Die Ankunft der Söldner war glatt über die Bühne gegangen, doch bevor er sich nicht selber ein Bild vom Anführer der Söldner machen konnte, wollte er keine Entwarnung geben.
Nun, selbst danach würde er wohl mißtrauisch bleiben.
Fürs erste war er also der einzige, der die wenig kleidsame Kampfmontur hatte ausziehen können. Er trug jetzt die Uniform ohne Rangabzeichen, die eine seiner Standardkostüme darstellte. Um ihn waren die Teile seines Führungsstabes versammelt, die momentan entbehrlich waren. Der Colonel und der Chef der Infanterie waren weiterhin bei den Truppen, die Kommandeurin der Luftwaffe ließ gerade ihre Jäger neu bestücken. Die geringe Mannstärke der Streitkräfte Byrants erforderte es, daß die Offiziere unablässig im Einsatz waren.
Nun, zumindest hatte er von seiner „Bärenhöhle“ aus ständigen Kontakt mit ihnen, und mit den Beobachtern, die diese Chevaliers und Com Stars unterbezahlte Helden im Auge behielten. Sollten sie es doch noch darauf ankommen lassen, wollte Dvensky vorbereitet sein.
Also waren bei ihm nur seine Schwester und die „Spinne“. Aber das genügte eigentlich auch, da es schon nicht anders ging. Er selber verkörperte ja die höchste administrative und militärische Macht, seine Schwester war hier als diplomatische Kraft und Vertreterin des Nordkontinents, und Jegorowa als Geheimdienstchefin stand für die zweite wichtige Stütze seiner Herrschaft.
Dvensky musterte die beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Aber beide brauchte er sie, und auf beide verließ er sich wie nur auf wenige Menschen.
„Also, Natalija, was hältst du von diesem Danton?“
Das Gesicht der jungen Frau zeigte nichts von der Koketterie, mit der sie sonst glänzen konnte. Die Augen waren grübelnd verschleiert, ihr Mund leicht verzogen. Sie hatte viele Masken, wie ihr Bruder auch. Und einen scharfen Verstand, wenn auch nicht ganz seine rücksichtslose Entschlossenheit.
„Ich weiß nicht recht. Ich halte ihn eigentlich für einen ziemlich schlechten Schauspieler. Sein Gebalze mir gegenüber – also ehrlich gesagt wirkte das ein wenig aufgesetzt. Er schien mir zu sehr von einem Extrem zum anderen zu schwanken. So etwas machen eigentlich nur wenige Menschen, und es widerspricht dem, was wir bisher von ihm wissen. Es hieß, er sei mit dieser Ärztin liiert, und wir wissen, daß sie irgend etwas auf New Home abbekommen hat. Glücklicherweise nicht durch uns. Würde so jemand mit mir flirten?“
Dvensky grinste amüsiert: „Wenn du es darauf anlegt, Schwesterchen…“ Dann wurde er abrupt wieder ernst: „Da hast du vermutlich Recht. Entweder er hat uns gegenüber Besorgnis für seine Männer geheuchelt – immerhin möglich. Wenn dieser ganze Absturz nur inszeniertes Theater war. Oder er war wirklich wütend, der Absturz ein glücklicher Unfall für uns, und er hat sein Interesse für dich geheuchelt, damit du vielleicht ein gutes Wort einlegst. Oder alles zusammen. Aber geschauspielert hat er wohl auf jeden Fall.“
Der Diktator machte sich keine Sorgen darüber, daß seine Schwester der „billigen Imitation französischen Charmes“, wie sie es genannt hatte, erliegen würde. Ob sie nun ihr Herz bereits vergeben hatte oder nicht, sie war jedenfalls eine zu ausgefuchste Unterhändlerin, um auf so eine durchsichtige Taktik hereinzufallen. Aber wenn der Söldnerführer glaubte, damit etwas zu erreichen, dann ließ sich das eventuell gegen ihn verwenden.
Dvensky schob diese Gedanken für den Moment zur Seite. Er würde jedenfalls Sorge tragen, daß bei dem Empfang, den er Danton früher oder später geben würde, entsprechend zur Geltung kam. Mochte der Söldling doch weiter sein Süßholz raspeln, ob nun aus ehrlicher Überzeugung oder Hinterlist. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, das galt auch hier...
„Was ist übrigens mit seinem ,Geschenk‘, Major?“ wandte er sich unvermittelt an die Geheimdienstchefin. Doch wie eigentlich immer ließ sie sich nicht überraschen. Manchmal schien es, als habe sie Eiswasser aus Bryants endlosen Gletschern in den Adern.
„Wird gerade verhört. Gründlich, aber nicht auf Dringlichkeitslevel.“ Mit diesem Euphemismus umschrieb die „Spinne“, daß man auf den Einsatz von Folter vorläufig verzichtete. Jegorowa war eigentlich keine Sadistin, sie war nur entschlossen und hatte jegliche Skrupel schon lange der Zweckmäßigkeit geopfert.
„Wenn wir mit ihr fertig sind, wird sie auf einen nachrangigen Posten bei Smersch versetzt. Sie weiß selber, daß sie draußen ,verbrannt‘ ist. Und hat genug Gewissensbisse, um die Maßnahme zu akzeptieren. Schließlich hat sie sich erwischen lassen.“
Dvensky wirkte unsicher: „Denken Sie, man hat sie umgedreht?“ Die Geheimdienstchefin schnaubte verächtlich: „Die Söldner? Sicher nicht! ROM? Ohne Probleme. Aber ich glaube nicht, daß die sich für eine nachrangige Kundschafterin des GKVD interessieren. Selbst wenn wir nicht automatisch mißtrauisch wären, und damit müssen sie eigentlich rechnen, war sie nicht in einer Position, in der sie ihnen viel hätte verraten können. Außer dem, was sie schon auf New Home aus ihr herausbekommen könnten.“
Dvensky nickte: „Machen Sie es so. Und setzen Sie ein Analyseteam auf sie an. Die sollen jede ihrer Beobachtungen unter die Lupe nehmen. Vielleicht haben sie ihr zum Gutteil was vorgespielt, aber man kann selten eine komplette Maskerade entwickeln. Sie muß auch einen Blick auf das wahre Gesicht der Söldner geworfen haben.“ Der Major nickte nur leicht. Sie unterließ es, Dvensky zu sagen, er brauche seiner Großmutter nicht zu erzählen, wie man Eier kocht. Statt dessen ging sie zum nächsten Thema über.
„Haben Sie etwas über das Landungsschiff erfahren?“
Dvensky schüttelte nur den Kopf: „Unsere Jäger haben nur ein ungefähres Areal – und das ist verdammt groß. Sie können wegen dem Wetter auch noch nicht anfangen zu suchen. Das wird einiges an Arbeit geben. Nun, das überlasse ich der Luftwaffe.“
Major Jegorowa schien zu überlegen: „Wenn Danton einen Umsturz geplant hätte, wäre dieser Schachzug unsinnig. Er verzettelt so seine Truppen nur. Und auf Tomainisia nützen ihm die Soldaten nichts. Auch sein Suchtrupp ist für ihn verloren, die sitzen dann erst mal dort fest. Ich habe mir überlegt, daß er vielleicht hofft, dort Lostech zu finden, oder dort eine Basis sucht – aber ich glaube nicht, daß Com Star es gerne sähe, wenn einer seiner bezahlten Hunde auf eigene Faust auf die Jagd geht. Auch wäre es wesentlich klüger gewesen, dann an einem Piratensprungpunkt aufzutauchen und sich ins Zielgebiet zu ,schleichen‘. Das machen sie ja öfter.“ Sie wußte, wovon sie sprach. Ihr oblag ja stets der Verhör gefaßter Plünderer. Es waren mehr als einmal Gruppen durchgekommen. Allerdings nahm die Zahl der Sprungpunkte, deren genauen Position die Bryanter nicht kannten, rapide ab. Mancher, der einmal Glück gehabt hatte, war beim zweiten oder dritten Mal ins Netz gegangen. Ganz ließen sich die Plünderungen aber nie unterbinden.
Auch ihr Vorgesetzter machte nicht den Eindruck, als könne er sich eine Reim aus der Sache machen. Dvensky stellte sich nie dümmer als er war, aber er spielte seinen Leuten auch nicht den Allwissenden vor, hier, im Innersten Zirkel. Seine Augen funkelten kalt – er witterte Verrat, und dann war er am gefährlichsten.
„Ich will, daß diese Söldner gründlich überwacht werden. Sobald einer von ihnen den Stützpunkt verläßt, muß man ihn im Auge behalten. Stellen Sie ein paar gute Observationsteams ab. Und der Stützpunkt wird passiv rund um die Uhr abgehört. Schrägbildaufnahmen von der Luftwaffe – ich werde bei der Luftwaffe anfragen lassen. Und die Lander und Jäger auf dem Flugfeld sollen überwacht werden. Zur Not müssen wir die Rollbahn sofort blockieren, und ihre Maschinen unter Feuer nehmen können!“
Er wußte, daß Jegorowa seine Anordnungen problemlos im Kopf behalten und umsetzen würde, falls sie nicht schon in weiser Voraussicht die nötigen Schritte eingeleitet hatte. Sie war eine gute Geheimdienstlerin, und als solche verabscheute sie es, über sensible Dinge nicht ausreichend Bescheid zu wissen.
Dvensky drehte sich zu seiner Schwester um: „Du bereitest mir den Empfang für diesen Danton vor. Nichts übertrieben protziges, aber er soll merken, daß er mit einem Herrscher spricht. Spiel sein dummes Spiel weiter – vielleicht fällt er selber rein.“ Die junge Frau grinste nur zynisch – was so gar nicht zu ihrem üblichen Auftreten in der Öffentlichkeit paßte. Dann wurde sie ernst: „Bleibt das Problem mit den Abgestürzten und dem Suchtrupp. Wie ist ihr Status, was machen sie, und wie gehen wir dabei vor?“
Dvensky schürzte die Lippen leicht. Milder Tadel lag in seinen Worten: „Es war eigentlich die Aufgabe des GKVD, dies herauszubekommen.“ Jegorowa schluckte es, aber sie schien kein sonderlich schlechtes Gewissen zu haben: „Nun, nicht jede Operation geht glatt. Ich werde mir aber die entsprechenden Agenten mal vorknöpfen. Sie sind momentan in Tscheljabinsk, bei dieser Söldnereinheit. Ich lasse sie mit dem nächsten Flugzeug herbringen. Sowieso möchte ich mich mit ihnen persönlich unterhalten, dabei entdeckt man mitunter Dinge, die unserem Analyseteam in Tscheljabinsk entgangen sind. Dann sehen wir weiter.“ Der Diktator nickte knapp: „Tun Sie das. Und machen Sie dem ,Freelancer‘ klar, daß wir für Geld Ergebnisse erwarten – und zwar in vollem Umfang.“ Er überlegte kurz: „Nun, sie müssen natürlich warten, bis wir ihnen mitteilen, daß Wetter auf Tomainisia habe sich gebessert. Vielleicht können wir den Aufbruch des Suchtrupps noch etwas herauszögern – natürlich nur aus Sorge um ihre Sicherheit. Vielleicht bekommen wir in der Zwischenzeit etwas raus oder finden das Landungsschiff.“ Seine Schwester blickte ihn fragend an: „Soll ich mich bei der Gelegenheit nach Tscheljabinsk begeben? Immerhin hast du mir die Verwaltung dort zugeteilt.“
Dvensky zögerte, vielleicht auch, weil er sich nach den Motiven seiner Schwester fragte. Ihre Beziehung zum Kommandanten des Nordkontinents hatte er nach Möglichkeit gefördert, aber nicht einmal er wußte, ob nun wirklich etwas dran war. Nun, alles zu seiner Zeit...
„Ich brauche dich vorerst hier. Du mußt die ,First Lady‘ spielen. Major Jegorowa ist dafür nicht geeignet,“ die Geheimdienstlerin reagierte mit trockenem Lächeln und einer ironische Verbeugung, „...und Luftwaffe muß vorerst ständig einsatzbereit sein.“ Wenn Natalija verstimmt war, so zeigte sie es nicht. Immerhin hatte sie ja einen Trostpreis bekommen – sie, und nicht die Luftwaffenchefin würde in den kommenden Tagen an erster Stelle stehen. Nicht, daß die beiden einander haßten, aber sie mochten sich auch nicht.
Also nickte sie knapp, fügte aber spöttisch hinzu: „Aber erwarte mal nicht zuviel von mir.“ Dvensky lachte: „Wenn Danton auch nur glaubt, ich würde versuchen, ihn durch dich zu beeinflussen, wenn er uns für so dumm hält, auf ihn hereinzufallen – dann wäre das schon ein gutes Ergebnis. Aber wenn Com Star wie gewöhnlich ein doppeltes Spiel treibt, werden sie keinen Vollidioten genommen haben..."
Und so gingen noch am Tag der Ankunft die nötigen Befehle hinaus. Smersch begann mit der Überwachung, Jegorowa gab ihren Agenten in Tscheljabinsk den Marschbefehl nach Brein, Natalija Dvenskya bereitete sich auf ihren nächsten „Auftritt“ vor, und die Kommandantin der Luftwaffe gab allen verfügbaren Maschinen, auch denen des Explorercorps – die ihr eigentlich nicht voll und ganz unterstanden, aber sie spielte nun einmal die erste Geige vor Ort – den Befehl, mit der Suche zu beginnen. Sobald das Wetter es erlaubte. Bryants gut geölte Überwachungs- und Militärmaschinerie lief an...
Cattaneo
Eine neue Aufgabe
Das Fahrzeug suchte sich seinen Weg. Es fiel ihm nicht schwer, denn auf den verschneiten Straßen Breins war wenig Verkehr. Nur einmal mußte der mit weißem Tarnanstrich versehene MTW stoppen, als vor ihm vier wuchtige Kolosse um eine Ecke bogen. Bryants Panzer waren auf dem Weg zu neuen Bereitstellungen. Zwei leichtere Fahrzeuge, Zwillingsbrüders des Schützenpanzerwagens, folgten der Lanze Tanks.
Povlsen hing seinen eigenen Gedanken nach, die nicht unbedingt optimistisch waren. Seit der Ankunft auf Bryant war bei weitem nicht alles so gelaufen wie erhofft. Daß es seinem Kollegen nicht anders ging – auch wenn sie keine direkten Freunde waren, so hatten sie in den letzten Wochen einiges gemeinsam durchgemacht, und das verband – war da kein Trost. Im Gegenteil. Wenn schon Raducanu, der immerhin im GKVD einen vergleichsweise hohen Rang bekleidete, nicht wußte, was auf sie zukam…
Die anderen Fahrgäste waren auch keine Quelle der Inspiration und Kurzweil. Drei Männer in schlechtsitzender Gefängniskluft mit verbundenen Augen, dazu zwei Milizionäre mit der Statur von Schrankwänden, die ihre schweren Schrotflinten auf eine Art und Weise handhabten, die darauf hindeutete, daß Schusswaffeneinsatz für sie weder ein Novum noch ein psychologisches Problem war. Die Gefangenen schwiegen, was wohl auch klüger so war, und die „Polizisten“ betrachteten die Agenten mit einer Mischung aus Mißtrauen und Berechnung, die alles andere als beruhigend war.
In Gedanken ließ der Lyraner die letzen Wochen Revue passieren. Bei der Ankunft auf Bryant – nicht in Brein, wo man die Chevaliers erwartete, sondern im Zentrum des Nordkontinents, Tscheljabinsk – war nicht gerade der rote Teppich ausgerollt worden. Man hatte die Agenten ein wenig von oben herab behandelt, und eiligst in die Zentrale des GKVD, in der auch Smersch, die politische Polizei, ihr Quartier hatte, geschafft. Dort hatten die Befragungen begonnen. Nicht direkt als Verhöre – jedenfalls keine höherer Dringlichkeitsstufe. Aber es waren doch teilweise ausgedehnte Sitzungen geworden, und man hatte weder ihn noch Raducanu sonderlich freundlich behandelt. Irgendwie schien die Zentrale mit ihnen unzufrieden zu sein.
Man hatte jede Einzelheit ihres Aufenthalts auf Outreach und New Home rekapituliert. Alles, was die Zustände vor Ort und das Verhalten der Crusaders oder Chevaliers erhellte, jede noch so kleine Einzelheit war nachgefragt worden. Nun – Povlsen wußte nur zu gut, daß Geheimdienstarbeit etwas von einem Puzzlespiel an sich hatte, und die damit beauftragten Menschen manchmal zu Pedanterie neigten.
Die Art und Weise, wie man ihn behandelte, war ihm gewiß gegen den Strich gegangen. Aber er wusste, im Moment hatte er nicht viele Möglichkeiten. Hier war er auf dem Spielfeld der Bryanter, und sie bestimmten die Regeln. Mochten sie auch nur eine Hinterwälderwelt sein, mit einem Geheimdienst, der nicht einmal annähernd mit den „Großen“ mithalten konnte, hier auf Bryant gaben sie den Ton an, und er war ihnen ebenso ausgeliefert, wie es ein Bryanter in der Hand eines LNC-Teams gewesen wäre. Also machte er gute Miene zum undurchschaubaren Spiel.
Heute Morgen hatte sich alles geändert. Mitten in einer der üblichen Besprechungen war ein Smersch-Offizier geplatzt, der ihnen knapp den Befehl erteilt hatte, sich für einen Transfer nach Brein bereitzumachen. Er hatte angedeutet, daß die „Majorin“ sie sehen wollte. In dem Kontext war klar, wer damit gemeint war.
Man hatte ihnen keine Stunde Zeit gegeben, sich vorzubereiten. Ein MTW der Miliz hatte sie direkt aus dem ummauerten Komplex abgeholt – ohne, daß jemand von außen hätte beobachten können, wie sie einstiegen. Mitsamt ihrer jetzigen Begleiter hatte man sie zum Flughafen von Tscheljabinsk gefahren. Die Maschine, die sie dort erwartete, war ein alter Planetlifter, zum Großteil mit unterschiedlichster Fracht beladen. Auch hier war das Fahrzeug erst im INNEREN entladen worden, auch hier achtete man darauf, daß keiner die beiden Agenten zu Gesicht bekommen konnte. Nach einem ereignislosen, langen Flug hatte sich das Schauspiel in Brein wiederholt – auch hier war ein Miliz-MTW die Rampe des Flugzeugs hinaufgefahren und hatte seine Last aufgenommen, ohne daß jemand von außen das hätte beobachten können. Povlsen fragte sich, ob es nur wieder die normale Paranoia von Geheimdienstlern und Politpolizisten war, oder mehr dahinter steckte.
Auf dem Flughafen waren die Lander und Kampfflieger der Chevaliers gut zu erkennen gewesen – besser gesagt, ein Teil von ihnen, denn einer, das Maultier, fehlte. Aber darüber hatte man ihnen natürlich keine Auskunft gegeben.
Wie willkommen die Söldner waren, verdeutlichte wohl das rege Treiben auf dem Flugfeld. Die Luftabwehr-Geschütze waren alle irgendwie in Richtung der Lander und Jäger der Söldner gedreht, und in Erdstellungen waren Raketenwerfer aufgefahren. Die Bryanter Jäger glänzten durch Abwesenheit, aber Povlsen hätte darauf gewettet, daß sie irgendwo außer Sicht kampfklar gemachten wurden – um zu starten, sollte es nötig sein. Die Bryanter wollten den Chevaliers wohl keine Chance auf einen Glückstreffer lassen.
Aber all das gab Povlsen keine Aufklärung darüber, was man genau nun von ihm wollte. Er hatte die Umgebung eher aus Gewohnheit beobachtet – ein guter Agent konnte sich Unachtsamkeit nicht leisten. Argwöhnte man in Brein, daß er und sein Partner ein doppeltes Spiel trieben? Dafür gab es keinen richtigen Grund, und man hätte sie dann wohl auch härter angefaßt. Allerdings – für solche Anschuldigungen mußte es bei weitem nicht immer eine plausible Begründung geben.
Nun, bald würde er es erfahren – eine Tatsache, die ihn nicht eben mit Erleichterung erfüllte.
Schließlich passierte der MTW die Tore des Bryanter Regierungskomplexes. Es gab keine Kontrolle, offenbar erwartete man sie. Die Maschine fuhr in eine Tiefgarage eines der Seitenflügel. Povlsen hatte von Raducanu genug gehört um zu wissen, daß sich die unterirdischen Anlagen unterhalb des ganzen gewaltigen Areals erstreckten, oft über mehrere Etagen. Ein Erbe des Sternenbundes, aber heute noch in ständigem Gebrauch. Wenn auch vermutlich teilweise mit anderer Bestimmung als einst.
In einer gigantischen unterirdischen Halle hielt das Fahrzeug. Einer der Milizionäre deute auf die Tür: „Aussteigen.“ Sein schiefes Grinsen war nicht ermutigend. Es war eher das Lächeln eines Mannes, der andere in eine ungewisse Zukunft gehen sah und dabei froh war, daß es ihn nicht selbst traf. Aber das Mitleid ging wohl nicht so weit, daß er seine Waffe auch nur einen Augenblick aus der Hand gelegt hätte. Im Grunde war er ein Symbol für die Behandlung, die Povlsen und Raducanu hier genossen hatten: argwöhnisch, wachsam und undurchschaubar bezüglich dessen, was auf sie zukommen mochte.
Als die beiden Geheimdienstler ausstiegen, wurde sie bereits erwartet. Zwei Soldaten und ein Offizier in Milizuniformen, mit den Abzeichen von Smersch. Die Waffen waren nicht direkt auf die Ankömmlinge gerichtet, aber einsatzbereit. Der MTW fuhr an, während der Smersch-Offizier die Agenten musterte: „Haben Sie Waffen?“ Beide verneinten. Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Polizisten – vermutlich hatte er die Antwort schon vorher gewußt: „Kommen Sie mit.“ Er ging voran, aber seine Soldaten postierten sich hinter Povlsen und Raducanu. Der Lyraner fing einen Blick seines Kollegen aus – der Bryanter wirkte zunehmend nervös. Offenbar konnte er sich einfach keinen Reim auf die Lage machen.
Ihr Weg führte sie über zahlreiche Treppen, ein verschlungener Pfad, den ein Uneingeweihter wohl kaum gefunden hätte. Auch das mochte wieder ein psychologischer Kunstgriff sein, sie zu verunsichern. Aber schließlich erreichten sie doch ihr Ziel – eine massive Tür. Der Smersch’ler nickte ihnen zu: „Gehen Sie `rein.“
Povlsen straffte sich, und auch Raducanu strich seine Uniform glatt. Jetzt kam es drauf an…
Povlsen war sich keiner richtigen „Sünde“ bewusst, doch in der paranoiden Welt der Geheimdienste, in den Systemen der Inneren Sphäre, die alle unter einem starken Sicherheitsdilemma litten, konnten selbst geringfügige Verdächtigungen fatale Folgen haben. Besonders in solchen Regimen wie dem von Bryant.
Das Zimmer war nüchtern eingerichtet – zweckmäßig, sonst nichts. Die Frau hinter dem massiven Schreibtisch passte genau ins Bild. Eher unauffällig, jedoch mit Augen, die von Intelligenz und Wachsamkeit kündeten – nicht jedoch von Gnade. Sie trug keine offen sichtbare Waffe – doch vermutlich hatte sie eine in Reichweite, und die Wachen vor der Tür waren sicher in Bereitschaft. Zudem waren „Heldentaten“ in so einer Situation mit die dümmsten Dinge, die ein Mensch machen konnte.
Major Jegorowa nahm die Ehrenbezeigung ihrer „Gäste“ schweigend zur Kenntnis. Da sowieso keine Sitzplätze vorhanden waren, erübrigte sich die Frage, ob sie sie zum setzen auffordern würde. Allerdings mochte dies auch ein Hinweis sein – sonderlich hoch im Kurs standen sie nicht.
„Sie fragen sich sicher, warum Sie hier sind.“ Ihre Stimme klang kalt und gelassen – emotionslos. „Ich will Sie nun nicht länger im Unklaren lassen. In meinen Augen haben Sie schandhaft schlecht Arbeit geleistet, und ich frage mich, wie der Schaden wieder gutgemacht werden kann – und was ich mit Ihnen anfangen soll.“ Sie schnitt jeden eventuellen Einwurf mit einer Handbewegung ab: „Ja, schlechte Arbeit. Ihre Infiltration auf Outreach war gut vorbereitet, ohne Zweifel. Aber die von Ihnen erbeuteten Informationen sind NICHT die gewünschten. Dabei hatten Sie nun wirklich alle Vorteile auf Ihrer Seite. Sie hatten beste Ausrüstung, die Kasernen waren kaum belegt. Dennoch haben Sie nichts Genaueres über die Absichten der Chevaliers herausfinden können.“ Sie musterte die beiden eindringlich: „Ich will es nicht übertreiben – in unserem Geschäft gibt es keine Erfolgsgarantie. So gesehen könnte man auch von einer Verkettung unglücklicher Umstände sprechen, denen vorzubeugen Sie freilich versäumten. Aber Ihr Abgang macht aus einer Unterlassung eine handfeste Dummheit.“ Immer noch war ihre Stimme kalt und gelassen.
„Was denken Sie eigentlich, wo Sie sind? Bei einem Agentenfilm? Ihre unsinnigen Aktionen haben einen Aufruhr veranlasst, der dem letzten Dragoner klargemacht haben dürfte, daß auf ihrer Welt Leute unbekannter Herkunft geheimdienstlich tätig sind. Selbst wenn nicht – nach SO etwas müssen die Dragoner einfach die Sicherheit erhöhen. Die Folgen für weitere Operationen unsererseits brauche ich Ihnen wohl nicht auszumalen. Und sollten sie dahinter kommen, daß wir dafür verantwortlich sind, wird es uns schwer fallen, auf Outreach weiter unsere Geschäfte abzuwickeln. Dazu haben Sie den Chevaliers klargemacht, daß sich jemand brennend für sie interessiert. Wer könnte das wohl sein?“
Die Geheimdienstchefin schüttelte den Kopf: „Ihre Aktion war unüberlegt und hätte leicht schief gehen können. Sie war spektakulär und reine Effekthascherei und hat uns nur geschadet. Und zusätzlich hat sie nicht einmal die gewünschten Ergebnisse gebracht. Jetzt sind die Chevaliers hier, sie sind sicher mißtrauisch, gerade, wo wir es am wenigsten gebrauchen können. Wenn sie ein falsches Spiel treiben, werden sie sowieso auf der Hut sein – aber umso mehr wenn sie argwöhnen, wir würden sie schon seit Outreach überwachen.
Eines ihrer Landungsschiffe ist aus ungeklärten Gründen abgestürzt, und wir wissen nicht, was sie planen und ob der Absturz nicht eine Finte ist. Dies ist nicht allein Ihr Fehler, aber Sie tragen erheblichen Anteil an unserem Dilemma. Der Count ist mehr als verärgert. Ich hoffe, Sie können mir einen guten Grund nennen, warum Ich Sie, Evander, nicht ohne eine C-Note zum Teufel schicken sollte, und Sie, Dorinel, auf einen Büroposten als Hilfskraft abschiebe.“
Die Stimme der Majorin war das eindrucksvollste bei ihrer kleinen Ansprache. Sie wurde nicht einmal lauter, zählte nur kalt Fakten und Einschätzungen auf. Das war kein spontaner Wutausbruch, sondern vielmehr alles wohlkalkuliert. Und kaum ein Schlupfloch für die beiden Agenten. Povlsen war einerseits erleichtert – man hatte ihn, zumindest bisher, nicht irgendwelcher abstrusen Dinge angeklagt. Er sah seine Arbeit bei weitem nicht so schlecht, aber er verstand auch teilweise, warum Jegorowa so reagierte. Andererseits aber wollte er keineswegs mittellos abgeschoben werden. Fieberhaft überlegte er, denn es ging zwar nicht um seinen Kopf, aber doch um nicht wenig Geld und seinen „guten“ Ruf. Mit der Majorin zu diskutieren war nicht unbedingt ratsam – das war beim Geheimdienst wie beim Militär. Glücklicherweise hatte er noch etwas in der Hinterhand.
„Entschuldigen Sie, Major, aber es gibt da einen Umstand, der die Lage grundlegend ändern konnte.“ Die Geheimdienstlerin kniff leicht die Augen zusammen. Vermutlich haßte sie Überraschungen, in ihrem Beruf kein Wunder. Doch sie nickte dem Lyraner zu.
„Ich habe einen Peilsender bei einem der Chevaliers einschleusen können. Vielleicht können wir damit ihr Landungsschiff aufstöbern und so herausfinden, was sie treiben. Oder wir geben die Information an Danton weiter und lullen ihn so über unsere Kooperation ein.“
Jegorowa verzog den Mund: „WAS wir tun überlassen Sie mir, Agent. Und ich hoffe Ihnen ist klar, daß dieses Kuckucksei auch bei den Chevaliers in Brein seien kann – wo die sind, wissen wir ohnehin. Zudem vermisse ich den Umstand in Ihren Berichten.“
Povlsen hätte sich auf die Zunge beißen können. Natürlich, der Kontrollfetischismus der höheren Geheimdienstchargen. Man ließ den eigenen Leuten zwar etwas Spielraum, aber wehe sie maßten sich mehr an, als man ihnen eingeräumt hatte. Deshalb erklärte er hastig: „Zu dem Zeitpunkt schien es mir unwichtig. Vergessen Sie nicht, wir konnten von der Entwicklung nichts wissen. Es sollte nur eine Versicherung meinerseits sein gegenüber diesem Ducic.“
Die „Spinne“ schien zu überlegen. Dann akzeptierte sie die Erklärung offenbar: „Dann haben Sie ja Glück gehabt. Besagter Mechkrieger ist anscheinend unter den Vernissten. Sein Mech ist nicht aufgetaucht, wir gehen also davon aus, daß er an Bord des Maultiers war.“ Sie lächelte dünn: „Das ist ein Grund, wegen dem ich es mir überlegen kann, mein Urteil über Ihre Arbeit abzumildern. Ein Anfang.“ Der Unterton war klar – sie verlangte mehr.
Für einen Augenblick sammelte die Frau, der man ihr Amt kaum angesehen hätte, ihre Gedanken: „Also gut. Sie werden das mit der Luftwaffe abklären. Ich will, daß die Chevaliers geortet werden. Aber mit aller Vorsicht, wir wollen nicht, daß sie wissen, daß wir ihnen auf der Fährte sind. Sollten sie ein falsches Spiel spielen – die Chancen sind immer noch sehr gut, daß von ihnen nichts blieb als ein paar hundert Quadratkilometer Metallschrott – dürfen wir sie um keinen Preis vorwarnen. Sobald sie geortet werden, schauen wir uns das an. Am besten mit den Crusadern – dann können wir hinterher immer noch sagen, das wären Plünderer oder Piraten, die offenbar nach Lostech suchten und mit den Chevaliers zusammenstießen. Falls uns die Chevaliers betrügen ist Diplomatie sowieso überflüssig.“
Sie nickte den beiden Agenten zu: „Sie gehen zurück nach Tscheljabinsk. Vorher sprechen Sie mit den Leuten der Luftwaffe. In Tscheljabinsk werden Sie sich mit den Crusadern anfreunden, denn wenn wir sie in den Einsatz schicken, gehen Sie als Verbindungsoffizier mit, mit ein paar unserer Infanteristen. Seien Sie wachsam, ich traue diesen Söldnern auch nicht ganz über den Weg. Ihr Chef war bei Com Star. Es ist unwahrscheinlich, daß beide Truppen Teil eines Planes gegen uns sind, doch bei den Kuttenträgern weiß man nie.“
Damit waren sie, wenn auch nicht gerade huldvoll, so doch in Gnade, entlassen. Povlsen fragte sich indes langsam, ob seine Entschluß, für die Bryanter zu arbeiten, wirklich so klug gewesen war. Sicher, es lag zum Gutteil auch am verdammten Pech beim Einbruch. Diese dämlichen Söldner!
Nun, er hatte eine Aufgabe, und für sein Konto sah es momentan wieder etwas besser aus – nur darauf kam es an.
Cattaneo
Der Zorn des Bären
Erst als sich die Türen des Fahrstuhls endgültig und unwiederbringlich geschlossen hatten, gestattete sich Dvenskys Schwester einen tiefen Atemzug. Knapp, so verdammt knapp. Um ein Haar hätte das alles in einem Blutbad enden können.
Selbst wenn sie jemals wirklich vorgehabt hätte, mit dem Söldneroffizier etwas anzufangen – die letzten Minuten hätten wohl jede Frau von derart närrischen Gefühlen kuriert. Sie für ihren Teil hätte Gemaine Danton für die Verlagerung in eine psychiatrische Anstalt empfohlen, wenn sie in der Sache etwas zu sagen gehabt hätte. Der Dummkopf hatte beinahe einen Krieg heraufbeschworen – zusätzlich zu seinem eigenen Tod. Er hatte wohl nicht vermutet, daß jedes Wort aus dem Konferenzzimmer an die Wachen weitergegeben wurde. Dvensky sparte sich auf diese Art und Weise die Zeitverzögerung, selbst Alarm auszulösen, wenn etwas schief ging.
Sie hatte schon gefürchtet, nach dieser idiotischen Drohung würden die beiden Wachposten mit gezogenen Pistolen den Raum stürmen. Vermutlich hatte auch nicht viel gefehlt. Ihr Bruder hätte wohl um ein Haar das Codewort erwähnt – und dann wäre eine Eskalation unvermeidlich gewesen. Mit den Söldnern, vermutlich auch mit Com Star. Sie kannte die Männer und Frauen der Eliteeinheit – wenn sie nicht so gut ausgebildet gewesen wären, Danton wäre mit einer Kugel im Hinterkopf bei seinem Wagen angekommen. Sie mochten es nicht, wenn man ihre Heimat bedrohte. Und wenn man sie für dumm verkaufte, schätzten sie das auch nicht.
Aber die Soldaten konnten ihr relativ egal sein. Es ging augenblicklich um erheblich wichtigere Dinge. Und die standen vermutlich deutlich auf der Kippe. Also schritt sie energisch aus, bis sie das Büro ihres Bruders erreicht hatte. Sie ahnte schon, welcher Anblick sich ihr bieten würde. Sie täuschte sich nicht.
Das Gesicht des Diktators war wachsbleich. Er saß an seinem Schreibtisch, die Fäuste waren geballt, verkrampft. Die Augen funkelten wütend. In Augenblicken wie diesem war er am gefährlichsten. Wenn er sich nicht so unter Kontrolle gehabt hätte... Sein Ausbruch vor wenigen Minuten war reines Theater gewesen. Der Herrscher von Bryant gefiel sich nur selten in der Rolle des tobenden Despoten. Seine augenblickliche Haltung aber, die war echt – und weitaus bedrohlicher als jeder donnernde Wutausbruch.
Dvensky war es gewohnt, von den großen Mächten von oben herab behandelt oder ganz übersehen zu werden. Es gefiel Natalijas Bruder nicht, aber er wußte, daß seine Position nun einmal nicht besser war. Doch hier, in seinem Palast, auf seiner Welt, herausgefordert zu werden, dazu noch von einem ordinären Söldnerhauptmann, das war etwas anderes. Mehr als er bereit war, im Normalfall zu akzeptieren.
Die junge Frau schwieg zunächst einmal. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er sich schnell wieder unter Kontrolle haben würde. Außerdem – im Grunde ging es ihr nicht viel anders. Die Erinnerung, wie selbstgerecht und arrogant dieses Stück Dreck sich aufgeführt hatte, ließ auch in ihr Wut aufkommen. Für wen hielt sich denn dieser Danton? Er war hier Gast, und hatte sich als solcher zu benehmen. Seine Zirkusnummer war ein Schlag ins Gesicht der Souveränität Bryants, ob er seine Drohung nun ernst gemeint hatte oder nicht. Sicher, wenn seine Leute wirklich abgestürzt waren, dann war Sorge gerechtfertigt. Aber keineswegs solche Drohungen. Er hätte Dvensky auf Knien anflehen können - aber das hatte er nicht getan. Ein solcher Versuch hätte vielleicht sogar etwas gebracht. Dvensky hätte vermutlich einer Rettungsmission zugestimmt. Allerdings einer unter Aufsicht der Regulars. Er war ja an einem offenen Bruch mit den Söldnern nicht wirklich interessiert gewesen. Er hätte versucht, möglichst viel aus der Situation herauszuholen.
Außerdem, wenn dieser Danton seine Bande nicht besser unter Kontrolle zu haben glaubte, dann war dies seine Schuld. Als Kommandeur war man für die Taten der Untergebenen in vollem Umfang zuständig, ob man sie nun anordnete oder nicht verhindern konnte, weil man unfähig war, die Disziplin zu wahren.
Langsam entkrampfte sich der Diktator wieder. Er blickte seine Schwester kurz an – fast entschuldigend. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, gegenüber denen er hin und wieder Nerven zeigte. Er hatte seinen Zorn zwar nicht abgelegt, aber die Kontrolle über ihn zurückgewonnen.
„Ich denke, die Implikationen sind klar.“ meinte er kalt. „Com Star kooperiert ganz klar mit den Chevaliers. Als ihre Kontraktgeber hätten sie etwas wie das eben mit schärfstem Protest unterbinden müssen. Schon die Drohung müßte ausreichen, den Kontrakt zu kündigen. Der Adept war hingegen nicht einmal ernstlich überrascht. Ich gehe davon aus, daß er von der Sache wußte. Nun gut...“
Natalija räusperte sich: „Möglicherweise betrachtet sich Com Star wegen der Ausweisung nicht mehr als zuständig." gab sie zu bedenken. Ihr Bruder winkte ab: "Die Chevaliers sind dennoch ihre Leute. Sie haben sie ausgewählt und hierhergeschaft. Was würde das wohl über ihre Kompetenz und ihre Kontrolle über ihre Schlägerbanden sagen?" Die junge Frau nickte, freilich nicht ganz überzeugt. Dann, etwas zögernd, da sie sich der Reaktion nicht sicher war, fügte sie hinzu: ,,Danton erwähnte mir gegenüber, er habe seine Drohung nicht ernst gemeint.“ Ihr Bruder starrte sie an. Sein Gesicht verzog sich wieder zu einer Grimasse: „Dieser verdammte Hurensohn! Ernst oder nicht ernst, ich werde nicht zulassen, daß so ein Schwein denkt, es könne mit allem durchkommen. Wenn es ein Bluff war, dann ist dieser Danton entweder extrem verzweifelt oder von einer Dummheit, die schon gemeingefährlich ist. Meinte er es ernst – und auch das würde ich nicht ausschließen wollen – dann ist er eindeutig psychopathisch. In jedem Fall ist er eine Gefahr für Bryant. Und wir wissen hier, wie man mit Gefahren umgehen muß...“
Die junge Frau holte tief Luft: „Bitte, Leonid. Ich würde ihn am liebsten auch von hier bis Tscheljabinsk treten. Aber wir können es uns nicht leisten, ihn jetzt schon zu unserem Feind zu machen – bloß weil er anscheinend nicht ganz zurechnungsfähig ist. Er mag irrational handeln. Aber seine Truppen sind ernst zu nehmen. Und ein Konflikt mit Com Star noch mehr.“
Dvenskys Augen funkelten – doch dann lächelte er: „Kluges Schwesterchen. Du hast Recht. Ich darf mich nicht von meinen Gefühlen lenken lassen. Ja, vielleicht ist er einfach nur verzweifelt, oder auch nur dumm. Aber wenn ich könnte...“ Bei diesen Worten nahm seine Stimme beinahe einen knurrenden Klang an. Wenn er könnte, er hätte vermutlich Danton mit Freuden erdrosselt.
„Ich kann die Chevaliers jedoch nicht als Gäste betrachten – nicht DANACH. Auch wenn ich es ihnen vielleicht vorspielen muß, an den Tatsachen ändert sich nichts. Sie haben deutlich gemacht – ob Täuschung oder nicht – daß ihnen an guten Beziehungen zu uns nichts liegt. Nun, wie sie wollen. Dann werden wir mal sehen, ob wir ihnen nicht einige Überraschungen bereiten können.“ Natalija atmete auf. Angesichts der Lage war nicht ganz auszuschließen gewesen, daß ihr Bruder eine Entscheidung getroffen hätte, die er später bereute. Wenn er etwas als Gefahr für „seinen“ Planeten ansah, dann handelte er stets schnell, entschlossen – und brutal. Aber dazu würde es hier nicht kommen. Noch nicht.
Sie nahm den Ball auf: „Ich nehme an, Major Jegorowa wird ohnehin schon mit der Beobachtung begonnen haben. Vielleicht sollten wir das noch etwas intensivieren.“ Dvensky nickte: „Nicht nur das. Ich werde auch unsere Truppen einen Angriff zumindest vorbereiten lassen. Und wir lassen zudem einige Einheiten aus Tscheljabinsk kommen. Nicht zuviel – es darf weder Aufsehen erregen, noch unsere Stellungen dort zu sehr schwächen. Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein.“ Natalija verzog leicht die Lippen. Das würde in Tscheljabinsk nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen werden. Und sie war ja selber für die Stadt mitverantwortlich. Allerdings – das Gros der Chevaliers war hier. „Hätten sie wirklich eine Chance gehabt, solche Schäden anzurichten?“
Ihr Bruder zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht. Große Schäden auf jeden Fall. Ich glaube nicht, daß sie wirklich alle Panzer hätten ausschalten können. Ich weiß nicht, ob sie es wußten, aber unsere Mechs waren ebenfalls in Bereitschaft, abzüglich meines eigenen. Die hätten die Chevaliers sicher gestoppt. Aber Mechwaffen tragen weit, und ein Kampf mitten in der Stadt... Außerdem, der Söldnerdreck hat genug Werfer, um schwere Schäden anzurichten. Wir konnten es einfach nicht riskieren. Nicht dafür, und nicht jetzt.“ Es fiel ihm offenbar schwer, dies einzugestehen, und für einen Augenblick kehrte die Wut in seine Augen zurück.
Natalija wußte, daß Dvensky die Drohung, seine Stadt zu zerstören, nie verzeihen würde. Dazu hatte er zu lange, zu hart daran gearbeitet, die Welt aufzubauen. Abgesehen von eventuellen paternalistischen Anwandlungen - immerhin waren die Leute hier nicht nur seine Untertanen, er stammte auch von hier - war all dies der Stoff, aus dem er seinen Lebenstraum gezimmert hatte. Und wie jeder Mensch würde er nicht hinnehmen, daß jemand diesen Traum zerstörte. Er konnte dies gewiß weit weniger vergessen als jede etwaige Beleidigung der eigenen Person. Danton hatte sich ihren Bruder zum Feind gemacht – vermutlich ohne dies zu ahnen. Ein weiterer Beweis, wie wenig gesunden Menschenverstand dieser Söldner hatte. Oder wie sehr er die eigenen Bedürfnisse - seinen Traum von der eigenen Einheit - den Wünschen anderer Menschen überordnete und nicht wahrnahm, wann er eine Grenze überschritt, die metaphorisch gesehen ein Todesstreifen war.
„Nun, genug davon.“ meinte der Schatun. Er schüttelte den Kopf: „Das ist etwas für die große Lage. Ich denke, die anderen werden mir zustimmen.“ Auch Natalija zweifelte daran nicht. Was immer sie von den anderen Mitgliedern der Junta auch persönlich hielt – auf Bedrohungen reagierten sie in der Regel alle einmütig. Dvensky hielt sie selber zum Gutteil aus diesen Besprechungen heraus. Sie nahm es ihm nicht einmal übel – sie war kein Militär, und ihr Ehrgeiz ging auch nicht in diese Richtung. Mit Diplomatie und Verwaltung hatte sie nun wirkliche genug Arbeit, die dazu noch nicht minder wichtig war.
„Er wollte übrigens mit mir Essen gehen.“ meinte sie. Dvenskys Gesicht verzog sich ungläubig: „DANACH? Selbst wenn der Mann es nicht ernst meinte, für wen hält der sich denn eigentlich? Er muß wirklich nicht ganz bei Verstand sein! Oder droht man heutzutage als Einleitung eines Abendessens der Dame an, ihr Haus anzuzünden und ihre Angehörigen abzuschlachten – und sei es im ,Spaß‘? Und überhaupt, wer ist er denn? Nichts als ein Söldner, Chef einer Bande halbausgebildeter Schläger!“ Dann legte der Diktator den Kopf schief: „Moment einmal. Hieß es nicht, er sei dauerhaft mit ihrer Fleischerin, dieser Ärztin, liiert? Und da lädt er dich einfach so ein? Was verspricht er sich denn davon?“
Natalijas Stimme klang zynisch: „Möglicherweise ist er die eigenen Dauerrationen satt und will mal heimische Kost probieren. Abwechslung, du verstehst? Oder er hat sich mit ihr überworfen. Wiewohl – bei seinem Charakter ist das natürlich undenkbar.“ Dvensky lachte bellend, wurde dann aber wieder ernst: „Oder...“ führte er ihre Gedanken zu Ende: „Er verspricht sich was davon. Einfluß, nehme ich an. Vielleicht Informationen.“ Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch: „Kein Treffen in der Com Star Basis. Nicht nach DEM hier. Das wäre zu gefährlich, und man würde vielleicht mißtrauisch werden, wenn du zu entgegenkommend bist. Ein Restaurant in der Stadt – wir werden wohl auch ein ordentliches haben.“ Leichter Spott schwang in seinen Worte mit. Der Gastronomiebetrieb war nicht eben hochentwickelt. Dennoch, es gab auch einige gute Speiselokale, in die diejenigen gingen, deren Arbeit ihnen genug Geld für diesen Luxus einbrachten. Zumeist gab es dort einheimische Spezialitäten aus allen vier Kontinenten und den Meeren Bryants, doch zu hohen Preisen auch importierte Waren. „Aber sei nicht zu entgegenkommend. Sonst wird er mißtrauisch.“
Die Diplomatin kicherte: „Weiter als bis nach Hause lasse ich mich bestimmt nicht bringen. Jedenfalls nicht ins Bett. Und auch nichts im Auto – aber ich glaube sowieso nicht, daß er DARAUF aus ist.“ Der Diktator grinste nur verächtlich: „Bei dem Mann wäre ich mir bei gar nichts sicher. Nun, meinen Segen hast du – inklusive einem Tritt dorthin, wo es richtig weh tut, sollte er sich zuviel herausnehmen.“ Seine Schwester seufzte leise: „Und wen wirst du hinter mir her hetzen?“ Sie wußte automatisch, daß ihr Dvensky ein paar Aufpasser mitschicken würde.
Der Count überlegte nicht lange: „Vier in Zivil. Und ein Team Sondermiliz etwas im Hinterfeld. Die Chevaliers haben auch eigene Kommandos. Nicht, daß sie etwas versuchen. Du als Geisel...“
Natalija fröstelte leicht. Der Unterton Dvenskys war für sie nicht schwer zu deuten. Ihr Bruder liebte sie, daran hatte sie keine Zweifel. Aber wenn er würde wählen müssen zwischen ihr und Bryant...
Dann würde er sich entscheiden – und jeden zu Tode hetzten, der Hand an sie legte.
Sie mochte solche aufregenden Spiele nicht. Andere junge Frauen mochten nach „Abenteuern“ gieren, aber ihr hätte ein Leben in dem bescheidenen Luxus, der ihr als Schwester des Herrschers auf dieser Zustand, vollauf genügt. Nun, ein paar andere Dinge gehörten natürlich auch dazu – aber nicht das. Dennoch – es war nicht die erste Maskerade, die sie spielte. Und Danton – wie wenig sie von ihm hielt – war nicht einmal der schlimmste. Sie mußte bloß aufpassen, daß sie nicht eine Variable übersah und auf einmal eine Rechnung präsentiert bekam, die sie weder einlösen konnte noch wollte. Aber im Grunde war sie zuversichtlich. Wenn Danton sie für manipulierbar hielt – nun, dann würde er erkennen müssen, daß sie im Grunde auf ihrem eigenem Gebiet keine leichtere Gegnerin war als ihr Bruder...
Cattaneo
Verstärkung
In der Einsatzzentrale des Raumhafens von Brein herrschte eine Atmosphäre angespannter Erwartung. Die Belegschaft ging ihren Pflichten nach, doch die Bewegungen hätten auf einen Beobachter noch konzentrierter gewirkt, als sie es sonst waren. Immer wieder huschten die Augenpaare zu den Monitoren, immer wieder gingen Anfragen hinaus und wurden Meldungen entgegengenommen. Jeder in der Zentrale wußte, auf dem weitläufigen Flugfeld selber herrschte eine ähnliche Anspannung. Und das war möglicherweise noch gefährlicher, denn die Leute dort spielten an den Reißleinen von 85-Milimeter Luftabwehrgeschützen und reaktiven Salvenwerfern. Eine falsche Meldung, ein mißverstandener Befehl konnten eine Katastrophe auslösen. Zwar in erster Linie nicht für die eigenen Leute, doch die Folgen konnten fatal sein. Dvensky hatte glasklare Befehle gegeben, und der Schatun galt nicht als Mann, der Versager sonderlich schätzte. Vor allem in so wichtigen Angelegenheiten.
„Achtung Potemkin, Landefreigabe Alpha. Aufsatzpunkt A-3-3. Lage?“
Die antwortende Stimme war in ihrem ruhigem Tonfall ein auffälliger Kontrast zu der Situation im ,Tower‘ des Raumhafens. Der Sprecher war allerdings über die prekäre Lage auch nicht ganz so gut informiert: „Alles in Ordnung, setzten jetzt auf. Und paßt auf, daß eure Dinger nicht zur Unzeit losgehen!“
Der Kommunikationsoffizier überging die flapsige Antwort – er war sogar zu nervös, um sich aufzuregen. Statt dessen blickte er wieder auf eine Außenkamera. Sie zeigte zwei Kugelförmige Raumer. Ein Beobachter, der sich die Szenerie aus der Luft betrachtet hätte, hätte bemerkt, daß diese Raumschiffe voll im Schußbereich der Werfer und Flak lagen – und jedes Geschütz war in ihre Richtung gekurbelt. Während die Bryanter Infanterie weitestgehend in Deckung gegangen war, zielten ihre Mörser und Salvenwerfer aus gedeckten Stellungen auf die „Gäste“. Und die Soldaten meinten es ernst. Sie hatten eindeutige Befehle. Jede potentiell feindselige Handlung der Chevaliers – und das fing bei einem nicht genehmigten Jägerstart an – konnte eine fatale Kettenreaktion auslösen.
An Bord des Landungsschiffes, wegen dem zum Gutteil eine solche Nervosität herrschte, machten sich die Offiziere und Soldaten vermutlich weniger Gedanken – mit einer Ausnahme. Der Kommandeur der Einheit, Major der Panzertruppen Alexej Nikolajewitsch Tereschkow, hatte seine Order vom Staatschef persönlich bekommen. Und die waren nicht geeignet, ihn in Sicherheit zu wiegen. Ihm behagte schon die Aussicht nicht, einen beträchtlichen Teil der Truppen von Tscheljabinsk abzuziehen. Immerhin hatte er vorher schon eine Mechlanze abgegeben. Aber Dvensky war in der Hinsicht eindeutig gewesen. Dazu hatte er, und dies tat er nur gegenüber seinen engsten Vertrauten, seinen Entschluß begründet. Bedauerlicherweise in einer Art und Weise, die Tereschkow dazu zwang, dem Herrscher Bryants zuzustimmen. Die möglichen Konsequenzen waren äußerst beunruhigend.
Da der Anführer der feindlichen Söldner entweder auf offene Konfrontation setzte oder seine Bande von Marodeuren nicht einmal annähernd unter Kontrolle hatte, war es leider unumgänglich, daß die Garnison von Brein gestärkt wurde. Auch wenn dies bedeutete, daß in Tscheljabinsk nur noch ein Teil der alten Streitmacht verblieb. Und er selber, eigentlich militärischer Kommandeur des Nordkontinents, war zusätzlich nach Brein befohlen wurden. Nun, zumindest war auf die Ablösung Verlaß. Major Tereschkow wußte, daß sein Kollege Netschajew ein mehr als kompetenter Offizier war. Und er hatte ihm einen ausgearbeiteten Notfallplan hinterlassen, um Tscheljabinsk gegen einen eventuellen feindlichen Raid abzusichern. In diesem Augenblick, während er auf dem Weg nach Brein war, legten die Infanteristen des 2. Infanteriebataillons der Bryanter Regulars vermutlich immer noch Sprengfallen an den Rändern der Straßen ,seiner‘ Stadt aus. Die Kanalisation der Stadt war längst in die Verteidigungsplanungen integriert worden, und wer einen Gullideckel überfuhr, auf den wartete mitunter eine böse Überraschung...
Zudem waren ja noch mehr als 20 Panzerfahrzeuge und ein Dutzend Mechs zurückgeblieben, dazu eine Staffel Hubschrauber. Ein Teil der Mechs würde freilich unter Umständen nicht ewig bleiben. Nicht zum letzten Mal verfluchte Tereschkow die begrenzten Mittel, die ihm zur Verfügung standen.
Netschajew ging auch nach Tscheljabinsk, um von dort die Suche nach den abgestürzten Söldnern zu organisieren. Er war der Experte in der Regierung und Armee, wenn es um die äquatorialen Kontinente ging, auf die Dvenskys Anspruch eher Absichtserklärung als echte Realität war. Um die Söldner aufzuspüren, und gegebenenfalls ihre Leichen den unersättlichen Aasfressern zu überantworten, war er der geeignete Mann. Und er stellte offenbar ein Team von Jägern für alle Fälle zusammen. Männer und Frauen, die so manchen Sturm überlebt hatten – fast jeder von ihnen hatte einen Kameraden an die Wildnis oder die Plünderer verloren. Er würde es schaffen, wenn überhaupt jemand auf diesen gewaltigen Landmassen sein Ziel finden und es gegebenenfalls vernichten konnte.
Die Erschütterungen, die ein Landungsschiff beim Aufsetzen durchliefen, waren ihm schon seit langem vertraut. Er hatte manche Gefechtslandung mitgemacht, wenn man über die Rampe herab rollte, und noch den Geruch von verbrannter Erde – und Schlimmerem – riechen konnte, nachdem Jäger und Landungsschiffe mit Bomben, Geschützen und Napalm die Landungszone gesäubert hatten. Er wußte wie es war, fast sofort im Kampf zu stehen, und dies war im Augenblick eigentlich nicht zu erwarten. Dennoch – er war nervös, nervöser als bei all den früheren Gefechtslandungen. Früher war die Einheit sein Zuhause gewesen. Die Männer neben ihm im Panzer, die oftmals unrasierten, verdreckten Gesichter, sie hatten so etwas wie eine Familie gebildet. Er hatte sich immer um sie zuerst gekümmert, damit sie überlebten. Die Welten, auf denen er kämpfte, waren ihm gleichgültig gewesen, wie auch die Menschen. Er hatte mit unbewegtem Herzen zugesehen, wie manches Mal die Panzer seiner Einheit sich blutige Bahn durch Dörfer und Städte gebrochen hatten, wenn Häuser von Granaten zerfetzt wurden, oder das MG am Turmluk eine Salve abfeuerte, um eine Demonstration zu zerstreuen. Zuerst über die Köpfe weg – doch manchmal auch mitten hinein.
Manches hatte sich in den letzten Jahren geändert. Gewiß, noch immer waren die Panzerfahrer ,seine Jungs‘. Aber an die Stelle der Einheit war diese Welt getreten. Er hatte gelernt, was es hieß, eine Welt, eine Stadt Heimat zu nennen. Wurzeln zu haben, die man nicht einfach mit sich nehmen konnte. Das war anders als das, was er früher gekannt hatte, und gewisser Weise war es auch mehr. Er durfte nicht zulassen, daß dieser Heimat Gefahr drohte. Wie er früher jede Bedrohung seiner ,alten‘ Heimat eliminiert hatte, so war es heute nicht anders. Es stand zuviel auf dem Spiel. Er war noch ein junger Rekrut gewesen, als er das erste Mal aus einem brennenden Tank hatte ausbooten müssen. Er hatte es als einziger geschafft. Als er dann zurückkehrte, und die verkohlten Leichen seiner Kameraden sah – Menschen, die ihm nahestanden wie Bruder und Schwester – hatte er das erste Mal wirklich begriffen was Verlust bedeutete. Und glaubte er Dvensky, dann drohte dieser Verlust wieder – diesmal seiner neuen Heimat. Er würde dies nicht zulassen.
Der gewaltige Hangar reichte aus für ganze Kompanien an Kampfkolossen – doch das halbe Dutzend Fahrzeuge sah bedrohlich genug aus. Hier war genug Feuerkraft vereint, um fast jeden beliebige Mechlanze zu zerschmettern, vor allem im Straßenkampf. Zu dem es vielleicht kommen würde.
Tereschkow musterte seine Soldaten. In ihrem Kombinationen, mit den Autopistolen am Holster und den schweren Helmen, die zur Gefechtsmontur gehörten, boten sie einen durchaus bedrohlichen Anblick. Sie waren Kinder dieser Welt, oder wie er Menschen, die hier eine Heimat gefunden hatten. Er konnte sich auf sie verlassen.
Eine letzte Erschütterung kündete von Aufsetzen. Aus den Lautsprechern erklang die Freigabe: „Landung erfolgt, Schott klar.“
Der Major nickte seinen Untergebenen zu: „An die Maschinen!“
Über die Rampe des Seeker – das Landungsschiff war eine leicht modifizierte Variante für den Transport auch von schweren Panzern – ratterten die Kampfkolosse. Das Fahrzeug des Mechpiloten galt als König des Schlachtfeld, doch jeder dieser Publikumslieblinge hatte vor Fahrzeugen wie denen Tererschkows mehr als Respekt. Sie konnten selbst den schwersten Sturmklasse-Battlemechs Paroli bieten.
Nacheinander rückten sie aus. Zwei Shukov, zwei Zerstörer, und am Schluß zwei Raketenwerfer der Konjew-S III-Klasse. Nicht weniger als 440 Tonnen Stahl und Tod. Der Major, der im Führungspanzer saß, grinste schief. Das würde die Söldner doch ein wenig durcheinanderwirbeln. Wenn ihr Anführer kein kompletter Idiot war.
Ihnen entgegen kamen nur drei MTW’s. Auf einem, ungeachtet des Schnees, saß eine Gestalt in Tarnuniform. Major Netschajew grüßte seinen Kameraden, den er in Tscheljabinsk ersetzen würde.
Für einen „Einheimischen“ war nicht zu übersehen, daß in Brein Alarmbereitschaft herrschte. Es war mehr Miliz auf der Straße als sonst, und die Gesichter der Passanten verrieten ihre Beunruhigung. In mehr als einem Augenpaar leuchtete sogar Freude, als die Kampfkolosse sich ihren Weg bahnten. Tereschkow setzte sich aus wohlkalkulierter Berechnung dem eisigen Wind aus, und grüßte lässig, aber nicht herablassend, vom Turm seines Shukov. Es galt auch, den Untertanen Sicherheit vermitteln und dabei nicht zu sehr die Nähe zum Volk aus dem Auge verlieren. Auch wenn es teilweise eine rein imaginäre Nähe war. Aber das war Teil jeder Herrschaft. Gewalt und Furcht vor der Gewalt allein konnten schlecht regieren. Man mußte den Menschen etwas bieten. Das zumindest hatte er vom Schatun und dessen Schwester gelernt.
Die Befehle an seine Truppen waren schnell gegeben. Sie würden sich in Bereitstellung halten. Sollte sie Lage sich verschärfen oder gar eskalieren, würden sie schnell im Einsatz stehen können. Es gab genug gedeckte Unterstände in Brein. Einige mochten früher ganz anderen Zwecken gedient haben, doch Dvensky war Opportunist. Was er gebrauchen konnte, setzte er ein.
Der Major meldete sich selber sofort bei seinem Herrscher. Viel Neues über das hinaus, was ihm verschlüsselt bereits mitgeteilt worden war, gab es nicht. Zumindest in militärischer Hinsicht. In anderer hingegen...
Dvenskys Stimme klang ruhig, ohne eine deutbare Emotion: „Falls Sie sich fragen sollten, Major, wo meine Schwester ist, so muß ich Ihnen da etwas mitteilen. Es haben sich einige Veränderungen und Entwicklungen ergeben, die der Klärung bedürfen.“ Der Panzeroffizier verkniff sich nur mühsam eine überraschte Äußerung. Bisher hatte Dvensky niemals etwas über die Zusammenarbeit – oder mehr – zwischen seiner Schwester und Tereschkow gesagt. Jedenfalls nicht in dessen Gegenwart. Warum hatte der Herrscher es sich anders überlegt?
Gab es etwas, daß er mißbilligte, oder wollte er Klarheit schaffen?
Dvensky lächelte nun, kaum merklich: „Doch setzen Sie sich doch, Major. Das könnte etwas schwieriger zu erklären werden. Und ich will, daß Sie es verstehen, denn ein Fehler könnte für uns alle unangenehme Folgen haben.“ Ohne sich um die nun unverkennbar sichtbare Irritation seines Untergebenen angesichts dieser düsteren und kryptischen Worte zu kümmern, nahm der Diktator Platz und nickte seinem Gegenüber fast freundlich zu. „Es handelt sich um folgendes...“
Cattaneo
Botschaften
Der Hoover-MTW näherte sich vollkommen offen dem Tor der HPG-Anlage. Angesichts seines heulenden Triebwerks wäre Heimlichkeit auch wenig sinnvoll gewesen. Die Maschine trug, wie alle Fahrzeuge Bryants zu dieser Jahreszeit, einen weißen Tarnanstrich. Der Turm mit den Bordwaffen wirkte alles andere als harmlos. Aber heute hatte das Fahrzeug einen friedlichen Auftrag – so sollte es zumindest sein.
Direkt am Eingang des Geländes der Com Star Einrichtung stoppte der Transporter. Eine Seitenluke wurde aufgestoßen, und mehrere Gestalten kletterten hinaus. In ihren dunkelgrünen langen Mänteln wirkten sie nicht sehr gefährlich, doch handhabten sie ihre leichten Waffen mit einer Routine, die von einiger Erfahrung kündete. Schweigend bezogen sie Stellung. Der Anführer, ein Leutnant, überprüfte rasch die Formation seiner Soldaten. Seine einzige Waffe war eine wuchtige Pistole im Hüftholster. Er war einen raschen Blick auf seine Uhr, dann straffte er sich. Die Stunde des Sonnenuntergangs, die in dieser Jahreszeit sehr früh kam, war noch nicht angebrochen, doch sie war nicht mehr fern.
Er war erfahren genug, um keinerlei Unsicherheit zu zeigen. Auch wenn er den Menschen in der Anlage nicht über den Weg trauen mochte, unterließ er es, die Mauern auf Verteidigungsstellungen zu mustern und so sein Mißtrauen zu verraten. Er wußte, andere, bessere Augen beobachteten die Anlage Tag und Nacht, bei jedem Wetter und aus allen Richtungen. Ihnen entging kaum etwas. Seine Aufgabe war eine andere.
Auf die Minute genau wurde das schwere Tor geöffnet. Die sieben Gestalten, die man durch das – für die Jahreszeit fast obligatorische – Schneegestöber erkennen konnte, waren in Kälteanzüge gehüllt. Eine zwingende Notwendigkeit für Aussenweltler. Die Soldaten straften sich.
Als sich die Neuankömmlinge näherten, salutierte der Leutnant. Es war eher ein routinierter Gruß, keiner, der von einer sehr großen Ehrerbietung zeugte. Der junge Offizier war weder instruiert worden, noch war er willens, es mit dem Respekt zu übertreiben. ,Höflich, korrekt – aber auf gleicher Augenhöhe.‘, so hatte man ihm gesagt. Seine Stimme hatte den leicht rauhen Klang eines Menschen, für den Standard-Englisch nicht die Muttersprache war: „Major Danton?“ Auf das Nicken des offenkundigen Anführers neigte der Bryanter leicht den Kopf: „Ich bin Leutnant Pikalew. Es ist meine Aufgabe, Ihnen und Ihren Männer das Geleit zu geben.“ Er wies mit einer Handbewegung auf den MTW: „Nach Ihnen.“
Dies alles war im Grunde nur die Fortsetzung der Politik der letzten Tage. Dvensky schien jedenfalls darauf zu verzichten, einen Versuch zu wagen sich anzubiedern. Der Ton, falls es überhaupt Kommunikation gab, war sowohl von seiner Seite wie generell im bryantischen Staatsapparat korrekt aber kühl. Die Aufforderung, an einem Manöver der bryantischen Verteidigungsstreitkräfte – die bei weiten micht nur der Verteidigung dienten – teilzunehmen war in ähnlich trockener Art erfolgt. Wie auch das Empfangskomitee jegliche Wärme vermissen ließ. Und der MTW war zwar beheizt und geräumig – die vierzehn Personen hatten hier reichlich Platz, normalerweise drängte sich hier ein Vielfaches an Soldaten – aber eben nur eine schmucklose Kriegsmaschine. Andererseits, Bryant war nicht Tharkad oder New Avalon.
Der Grund, warum man eine so wenig repräsentative Art der Beförderung gewählt hatte, wurde bald sichtbar. Das Fahrzeug verließ die Stadt, und steuerte dann sein Ziel an – ohne sich um den Untergrund zu kümmern. Ein Bodenfahrzeug wäre in diesem Gelände verloren gewesen, aber der Hovercraft fand seinen Weg mühelos. Gefolgt von einer langen Schneewolke, die vom Triebwerk aufgewirbelt wurde, raste die Maschine durch die winterliche Landschaft, die durch die Sichtluken und einen internen Monitor gut zu betrachten war. Bryant hätte den besten Wintersportorten der Erde Konkurrenz machen können, aber Tourismus schien das Letzte zu sein, das die Regierung interessierte. Die Schönheiten der Umgebung konnten viele der Bewohner wohl kaum genießen. Vor allem jene nicht, die gezwungen war, her draußen zu leben. Kurz nur, aber dennoch unverkennbar, war in der Ferne ein Komplex von niedrigen Gebäuden zu sehen. Die meisten schienen niedrige Baracken zu sein, umgeben von mehreren Reihen Stacheldraht. In regelmäßigen Abständen ragten Wachtürme auf, wie Schilfrohre in einem winterlichen See. Er wußte, was das war. Das Gesichts des Leutnants, der ihm seitlich gegenüber saß, war zu gelassen, als daß die Route nicht mit Bedacht gewählt worden war. Das Gelände war weitläufig genug, daß man ohne Probleme einen anderen Weg hätte nehmen können. Eine Warnung und eine Mahnung sollte dies vermutlich sein – Dvenskys Art, sich zu revanchieren. Und natürlich wahrte der Söldner Gelassenheit, doch dies schien den Soldaten nicht zu überraschen. Der Leutnant zeigte vielmehr überhaupt keine Emotionen,
Als sie schließlich ihr Ziel erreichten, mochte eine Dreiviertel Stunde vergangen sein. Inzwischen herrschte schon Dämmerlicht, und es wurde rasch dunkler. Das Fahrzeug hielt in einer Schneewolke an einer niedrigen Hügelkette. In der Ferne, ein paar Kilometer entfernt, und durch den inzwischen nachlassenden Schneefall ganz gut zu erkennen, ragten etliche Gebäude auf. Ansonsten war hier nichts zu sehen, was einer Beachtung wert schien. Der Leutnant sprang auf und riß die Luke auf. Draußen nahmen er und seine Leute wieder Haltung an. Sie schienen darauf zu warten, daß ihre „Gäste“ ausstiegen.
Für einen Moment zögerte Danton. Vermutlich fragte er sich, was dies zu bedeuten hätte, ob es am Ende nicht doch eine Falle für ihn und seine Männer war.
Er hatte anscheinend dagegen entschieden, seine Leute mit schwerer Bewaffnung antreten zu lassen. Im Ernstfall hätte das wohl auch nichts genützt, und er wollte Dvensky vermutlich weder provozieren, indem seine Soldaten wie Besatzer auftraten, noch wollte er den Eindruck zulassen, er fürchte sich. Möglicherweise war dies ein Fehler gewesen.
Aber er wußte sicher auch, daß dies wohl ebenfalls ein Test war. Also stieg er aus, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Bei seinen Untergebenen war die Unruhe freilich durchaus bemerkbar. Der Bryanter Leutnant ließ nicht erkennen was er dachte, aber für einen Augenblick zeigte einer der einheimischen Soldaten ein schmales Lächeln.
Der Führer der Eskorte ging in die Hocke. Er fegte mit seinen Handschuhen Schnee beiseite. Darunter kam eine Luke zum Vorschein. Wenige Handgriffe enthüllten einen gut getarnten Eingang direkt in den Hügel hinein. Der Offizier gab einen Zahlencode ein, und langsam öffnete sich die Luke. Er salutierte: „Bitte hier entlang.“
Der Gang, den man die Chevaliers hinab führte, war nicht beheizt. Kahle Betonwände, abgetreten Stufen – aber die Lichter funktionierten. Die Treppe verlief nicht gradlinig, vermutlich um eine Verteidigung zu erleichtern. Danton war sicher unangenehm bewußt, daß die Prozession – seine Leute umgeben von besser bewaffneten und ortskundigen Bryantern – fatal an eine Gefangennahme oder den Weg zur Erschießung erinnerte. Nach etwa 30 Metern verharrte der Leutnant vor einer massiven Panzertür. Ohne daß er etwas getan hätte, schwang sie lautlos auf. Dahinter lag ein kleiner Raum mit einer zweiten Tür – offenbar eine Art Schleuse, gebaut gegen chemische Angriffe oder gegen die allgegenwärtige Kälte. Diese Anlage war vermutlich auch gegen Elementare zu halten, denn die gepanzerten Infanteristen würden sich in den engen Gängen nur sehr schwer bewegen können. Wie es aussah war dies eine weitere Hinterlassenschaft aus Sternenbundzeiten.
Hinter der zweiten Panzertür aber tat sich ein größerer Raum auf – offenbar ihr Ziel. Der Kontrast war durchaus beeindruckend und zweifelsohne gewollt. Der Raum verfügte über eine ganze Kette von Monitoren, dazu einen geräumigen Kartentisch. Trotzdem eine Anzahl Menschen anwesend war, wirkte er geradezu verwaist. Die Einrichtung war nüchtern, aber die Temperaturen angenehm war.
Danton erkannte sofort Dvensky wieder. Der Schatun trug eine Uniform ohne Rangabzeichen, als einzige Waffe – wie Danton selber – eine Pistole. Neben ihm waren seine Schwester, ein älterer Colonel und ein junger Mann im Majorsrang anwesend. Die ganze Leibgarde bestand aus sechs Mann, die ebenfalls nicht mehr als Seitenwaffen trugen. Sie wirkten allerdings durch und wie Profis.
Dvensky lächelte nicht, als er Danton und seine Soldaten begrüßte. Was bei der Eskorte schon sichtbar geworden war, wurde hier noch einmal betont. Wo Leutnant Pikalew sich eher von gleich zu gleich benommen hatte, da trat Dvensky auf wie jemand, der höheren Ranges war. Was ja so gesehen auch stimmte. Auch Natalija wirkte diesmal distanziert, auch wenn sie Danton ein kurzes Lächeln schenkte. Die beiden anderen...
Colonel Hunt Thomsen Verhalten, der als Kommandeur der Regulars vorgestellt wurde, war ein Ebenbild von Dvenskys Auftreten. Der Major hingegen, der als Alexej Tereschkow von den Panzertruppen vorgestellt wurde, schenkte den Soldaten der Chevaliers sogar ein schiefes Grinsen. Doch als er Danton die Hand gab, drückte er einiges kräftiger zu, als eigentlich notwendig war – und dies bestimmt nicht in freundlicher Absicht. Sein Gesicht blieb dabei neutral, doch für einen Augenblick war in seinen Augen ein kaltes Funkeln, daß Dvenskys Gesichtsausdruck nachgerade freundlich erscheinen ließ.
Der Diktator schien all dies nicht bemerkt zu haben – anders als seine Schwester, die den Blick leicht abwandte. Er kam ungerührt zur Sache: „Ich grüße Sie, Major Danton. Ich freue mich“, doch dabei drückte seine Stimme nicht die geringste Freude aus, „daß Ihre Truppe sich inzwischen auf Bryant eingerichtet hat. Ich bin sicher, wir werden auch weiterhin gut miteinander auskommen. Ich habe Sie heute eingeladen, damit Sie Zeuge eines Manövers der Verteidigungsstreitkräfte von Bryant werden. Immerhin werden Ihre und meine Männer Seite an Seite kämpfen, sollte jemand so wahnsinnig sein, und einen Angriff auf Stadt und HPG-Anlage zugleich zu versuchen.“ Danton nickte nur bestätigend, obwohl er genau wußte, daß Dvensky seine Worte kaum ernst meinen konnte – und vermutlich auch nicht glaubte, daß der Söldner sie für bahre Münze nahm. Der Herrscher Bryants lächelte kaum merklich: „Überdies sind Sie und ich vor allem eines – Soldaten. Und ich denke, es schadet dem gegenseitigen Kennenlernen nicht, wenn wir die Männer in Aktion sehen, die wir ausgebildet haben. Sie haben mir ja bereits einen Eindruck von Ihrer Einheit gegeben.“ Bei diesen Worten strafften sich die einheimischen Offiziere. Der kaum verhüllte Hinweis auf Dantons Drohung am Tage seiner Ankunft schien ihre freundschaftlichen Gefühle für die Söldner nicht eben zu steigern. Doch Dvensky überging auch dies. „Wenn wir uns nun zu den Beobachtungsposten begeben wollen – Major Danton, würden Sie bitte mit Major Tereschkow gehen? Er kann Ihnen das Manöver sicher besser erläutern. Sie haben von seinem Posten die beste Übersicht, und Ihre Soldaten können andere Positionen wählen. Ihr Captain wird meiner Schwester und mir Gesellschaft leisten.“ Der jüngere Offizier neigte leicht den Kopf, dann machte er eine Handbewegung: „Wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Danton hatte – wie so oft in der letzten Stunde – eigentlich keine Wahl. Ablehnen hieß Dvensky brüskieren und war zudem Zeichen von Schwäche. Allerdings war er die Spielchen vermutlich langsam leid.
Cattaneo
Auf dem Weg zum Aussichtsposten – ein kleiner verbunkerter Raum mit Sichtscharten, ausgestattet mit etwas veralteten aber gut gepflegten Sichtgeräten – schwieg der Panzerfahrer. Obwohl er Danton geradezu mit Feindseligkeit begrüßt hatte, wahrte er jetzt eine strikt neutrale Haltung. Oben angekommen erklärte er knapp das Manöver. Seine Ausführungen klangen allerdings wenig nach einer Demonstration von Verteidigungsstärke. Simuliert werden sollte ein Luftangriff und Landung auf ein befestigtes Ziel. Danton wußte – ohne daß er dies natürlich zugegeben hätte – daß man Bryant Ambitionen auf die Herrschaft über seine Nachbarplaneten nachsagte. Entweder Dvensky wollte ihm die bryantische Schlagkraft demonstrieren, oder er wollte seine Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung lenken. Der Söldner gab sich ganz den Anschein, das „Schlachtfeld“ zu studieren. Es handelte sich um eine Reihe Bunkeranlagen und Gebäude, bestückt mit Attrappen. Tereschkow gab allerdings zu, daß die eigenen Attrappen mit den hochwertigen Trainingsstätten großer Armeen nicht mithalten konnten. Man behalf sich mit automatisch gelenkten Scheinwerfern – die waren billig und leicht zu ersetzen, wenn sie wie oft üblich bei derartigen Übungen zu Bruch gingen. Daneben hatte man vermutlich einige Stahlplatten als Panzer- und Mechattrappen verwendet, möglicherweise auch beweglich auf Schienen montiert.
Die Vorstellung begann pünktlich, kaum zehn Minuten, nachdem sie oben angekommen waren. Mit ohrenbetäubendem Donnern jagten die Kampfflieger Bryants heran – direkt über die Hügelkette hinweg, im extremen Tiefflug. Die Tragflächen der Maschinen strotzten nur so von Einwegwerfern und Bomben. Schlagartig erwachte die Abwehr zum Leben und schickte Leuchtstrahlen in den Himmel. Offenbar gab es aber, wie im wirklichen Leben, Schwierigkeiten, die Angreifer im Tiefflug zu erfassen. Von den Tragflächen der Jäger lösten sich, Sternschnuppen gleich, die Raketen. Wo sie auftrafen, da wurde die winterliche Landschaft in Feuer gehüllt. Das Feuer schien akkurat zu liegen, und selbst ein Beinahetreffer erfüllte seinen Zweck. Infernoraketen gehörten zu den tödlichsten Waffen, die Jäger einsetzen konnten.
Auch wenn Danton ein erfahrener Soldat war – der Anblick war durchaus sehenswert. In der hereinbrechenden Dunkelheit bot das Gefecht einen Anblick, dem man eine gewisse grausige Schönheit nicht absprechen konnte. Bei einem echten Gefecht war es unmöglich, dies richtig zu realisieren, aber hier entfaltete die geballte Vernichtungskraft ein atemberaubendes Schauspiel. Umso mehr, als die Kampfflieger Infernobomben folgen ließen. Unablässig feuerten die Bordgeschütze, schalteten eine Geschützstellung nach der anderen aus. Selbst wenn das Gefecht geschönt seien mochte, die Piloten verstanden ohne Zweifel ihr Handwerk. Erst als alle Gegenwehr gebrochen war, ebbte der Angriff ab. Tereschkow, der das Schauspiel ebenfalls aufmerksam verfolgt hatte und anscheinend zufrieden war, lauschte einen Augenblick: „Die zweite Welle kommt.“
Und tatsächlich – das Donnern schwererer Triebwerke, das zunächst kaum zu hören gewesen war, schwoll rasch an. Bald schon übertönte es die Motoren der Jäger. Die Neuankömmlinge kamen aus einer anderen Richtung als die Jäger, und Danton konnte ihren Flug gut verfolgen. Es waren die Leoparden Bryants. Er hatte sie schon einmal in Aktion gesehen – an dem Tag, an dem seine Geliebte so schwer verletzt worden war. Es war kein Angriff Bryants gewesen, der sie getroffen hatte, aber dennoch...
Doch er konnte sich hier, unter den Augen seines „Kollegen“ keine Blöße geben. Also verfolgte er die Bahn der Landungsschiffe. Sie stießen herab mit flammenden Geschützen – wie damals. Was an möglicher Gegenwehr übrig war, das vernichteten ihre Bordwaffen. Und aus den Bordluken – ohne daß die Schiffe ihr Feuer unterbrachen – fielen zwei komplette Kampflanzen Mechs, schweres Gerät. Ohne eine Sekunde zu verlieren formierten sie sich und bildeten einen Angriffskeil. Jetzt erwachte wieder Abwehr – einzelne „Geschütze“, die bisher geschwiegen hatten. Doch die Maschinen konzentrierten ihr Feuer, oder lenkten die Angriffe der Kampfflieger oder Leoparden auf etwaige Ziele. Währenddessen wendeten die Landungsschiffe und kamen zurück.
Beim zweiten Überflug der Lander wurden erneut die Seitenluken geöffnet, und diesmal schwärmte Infanterie aus. Sprungtruppen, abgesetzt direkt in die Gefechtszone. Tereschkow machte Germaine Danton darauf aufmerksam, daß auch auf die Fußtruppen – wenn man sie denn so nennen konnte – Attrappen warteten. Durch die Sichtgeräte konnte man das Vorgehen der Truppen leicht verfolgen. Sie setzten ein buntes Sammelsurium von Waffen ein, dies aber durchaus effizient. Raketen und Flammenwerfer räucherten feindliche Stellungen aus, Scharfschützen gaben dem Vorstoß Feuerschutz. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Ziele besetzt hatten. Das Hissen der bryantischen Staatsflagge, roter Bär auf weißem Grund, signalisierte das Ende des Manövers. Zum Abschluß donnerten die Kampfflieger und Landungsschiffe noch einmal in Formation über den verborgenen Beobachtungsstand.
Die Botschaft war natürlich nur zu leicht zu entziffern. Es war eine eindeutige Warnung Dvenskys. Offenbar war er nicht bereit, sich noch einmal vorführen zu lassen und drohte indirekt mit Konsequenzen. Und bei der Feuerkraft, die seine Luftwaffe aufzubieten hatte, waren diese Drohungen alles andere als substanzlos. Natürlich konnte das Manöver zugunsten Bryants manipuliert sein – wie es eigentlich Manöver immer waren. Aber die Regulars hatten durchaus den Ruf, nicht nur mit Bluffs zu glänzen. Es war nicht allein die kurzsichtigen Kleinkriege seiner Nachbarn, die Dvensky eine eigenständige und aggressive Politik ermöglichten. Er hatte auch die nötigen Werkzeuge, und ließ sie offenbar nicht einrosten.
Eine Weile schwiegen beide Offiziere. Dann, mit kühler, gelassener Stimme, meinte der Panzermajor: „Man wird uns unten erwarten.“ Danton nickte nur. Er war aus seinem Gegenüber wohl nicht recht klug geworden. Der Söldner wollte sich schon umdrehen, aber etwas im Gesicht des Bryanters ließ ihn zögern. Auf einmal war da wieder diese Feindseligkeit. Der jüngere Offizier musterte Danton kurz: „Noch etwas – und das werde ich nur einmal sagen.“ Seine Stimme klang eiskalt. Nicht einmal drohend, aber voll grimmiger Entschlossenheit.
„Man hat mir zu verstehen gegeben, daß Sie irgendwelche Interessen an der Schwester unseres Souveräns haben. Ich gebe Ihnen den Ratschlag – vergessen Sie es, was auch immer Sie vorhaben.“ Der Panzerfahrer schnitt mit einer Handbewegung jede Entgegnung ab: „Ich will nichts von Ihnen hören. Es interessiert mich nicht. Nehmen Sie es als Warnung. Natalija und ich – wir sind nicht gerade verlobt, zumindest noch nicht. Aber Dvensky hat angedeutet, daß er einer Verbindung zwischen ihr und mir alles andere als ablehnend gegenübersteht. Ich weiß nicht, wie sie über mich denkt, aber das geht Sie nichts an. Ich für meinen Teil werde nicht zulassen, daß Sie irgendwie mit ihr anbandeln. Sie haben ihr nichts zu bieten als einen Haufen zerlumpter Halsabschneider, die nicht mal Ihrem Wort gehorchen. Sie sind, nach allem was ich weiß, doch nichts als eine Landsknechtsseele. Ich will nicht behaupten daß ich Natalijas Traumpartner bin, aber sollte es zum Schlimmsten kommen, was immer geschehen kann, dann können sie und ich diese Welt zusammenhalten. Ich kann ihr die Stärke geben, die Welt ihres Bruders zu halten, sollte es nötig sein. Und ich lasse nicht zu daß Sie dies ruinieren mit Ihrem gespielten Charme, um sich vielleicht bessere Bedingungen zu erhandeln. Sie sollten sich überlegen, ob Sie sich noch mehr Feinde machen wollen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.
Danton wusste, daß die Adelshäuser Ehen und Partnerschaften oft nach dem Gebot der Nützlichkeit arrangierten. Sollte Dvensky diese Lektion auch auf sich angewandt haben?
Das Treffen unten im Hauptraum war kurz. Auch diesmal verhielt sich Natalija zurückhaltend. Allerdings huschten ihre Augen fragend zwischen Danton und Tereschkow hin und her. Offenbar war die ganze Situation ihr unangenehm. Aber sie sagte kein Wort in diese Richtung.
Dvensky war die Zufriedenheit anzumerken. Er – und seine Schwester – schienen auf Peterson einigen Eindruck gemacht zu haben. Nun, vermutlich konnte der Herrscher durchaus auch anders auftreten. Selbst gegenüber Danton unterließ er weitere indirekte Drohungen. Ein paar vage Worte deuteten an, daß er hoffte, den Söldner vielleicht in einigen Tagen ein weiteres Mal zu treffen. Aber genaueres behielt der bryantische Diktator für sich. Als die Manövergäste, diesmal gemeinsam, aus dem Bunker traten, bot sich ein völlig veränderter Anblick. Neben dem MTW, der die Chevaliers gebracht hatte, waren vier weitere, kleinere, Maschinen aufgefahren. Sie transportierten vermutlich den Herrscher und seine Begleitung und hatten ein Stück abseits gewartet.
Dvensky sagte noch ein paar lobende Worte zu einem gedrungenen Offizier in Luftwaffenuniform – die Vorstellung hatte ihm zugesagt. Dann drehte er sich zu Danton um: „Da Sie als einer der Ersten an einem unserer Manöver teilnehmen durften, möchte ich Ihnen ein Andenken mitgeben. Wir haben hier auf Bryant die Angewohnheit, unseren Gästen kleine Geschenke zu machen, damit sie die Welt in guter Erinnerung behalten.“ Auf eine Handbewegung hin trat einer der Soldaten an seine Seite und reichte ihm einen kompakten Koffer. Der Herrscher ließ ihn aufschnappen. Dann drehte er ihn, so daß Danton hineinsehen konnte. In dem Koffer war eine Handfeuerwaffe eingebettet – eine schwere Automatikpistole. Zwei Magazine lagen daneben. In den Griff war das Wappen Bryants eingelassen. Der Herrscher lächelte, und dies keineswegs angenehm: „Eine Eigenfertigung. Infanteriewaffen stellen wir zunehmend selber her. Ich denke, sie wird Ihnen gute Dienste leisten. Waffen dieses Modells haben sich bei unseren Truppen bewährt.“ Dann übergab er sein Geschenk. Seine Schwester begnügte sich mit einem leichten Händedruck. Ähnliches galt auch für die Offiziere, wobei in Tereschkows Augen – nur für den Söldner sichtbar – die deutliche Warnung stand, die gesagten Worte nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Dann übernahm wieder der Leutnant der Eskorte und führte die Gäste durch die inzwischen vollkommen eingebrochene Dunkelheit zu ihrem Transporter. Der Rückweg verlief ruhig. Die Landschaft war den Blicken weitestgehend entzogen und lag in eisigem Schweigen da. Nur für einen Augenblick, wie schon Stunden zuvor, war in der Ferne die Drohung zu verspüren, die allen galt, die sich gegen Dvensky stellten. Scheinwerfer wanderten langsam über den Schnee und tauchten die nächtliche Landschaft in gnadenloses Licht. Die Fahrgäste hatten über einiges nachzudenken.
Auf Germaine Danton wartete nach seiner Rückkehr ein Anruf der Schwester Dvenskys. Es waren nur einige wenige Worte: „Ich hoffe, Leonid fühlt sich jetzt quitt mit dir. Deshalb wollte ich, daß du teilnimmst. Es war seine Botschaft. Und bitte, reize ihn nicht noch einmal.“ Das war alles. Wie sie über alles andere dachte, das sagte sie nicht. Er mußte selber herausfinden, was sich hinter dem Augenscheinlichen verbarg. Es gab viele Unterströmungen, und eine falsche Bewegung konnte leicht tödlich enden.
Ironheart
Platzhalter bleibt bis auf weiteres leer wegen falscher Reihenfolge
Cattaneo
Reaktionen
Die Meldung, daß die Söldner geortet worden waren, hatte eine ganze Weile auf sich warten lassen. Eigentlich war das noch untertrieben. Die Hoffnung, sie vor dem Aufbrechen des Suchtrupps der Söldner aufzuspüren, hatte sich nicht erfüllt. Und das hatte die Suche noch ein wenig zusätzlich erschwert – man wollte nicht, daß die Chevaliers mitbekamen, wie sehr Dvensky daran interessiert war zu erfahren, was sie so trieben. Außerdem wollte er sich die Option offen halten, mit den „Schiffbrüchigen“ nach Belieben zu verfahren. Nun, glücklicherweise war das Suchgebiet groß, und der Hubschrauber der Söldner war nicht sehr schnell – weitaus langsamer jedenfalls als die Suchflieger Bryants. Und die Bryanter wurden von jedem Start ihrer „Gäste“ informiert, denn immerhin operierte die Maschine von einem kleinen Dorf aus.
Man hatte nicht mit einem schnellen Erfolg gerechnet – schließlich standen die Chancen nicht schlecht, daß von dem Maultier und Inhalt nichts geblieben war, was größer als ein Handteller wäre. Und das zu überwachende Gebiet war sehr umfangreich, die Maschinen hatten einen langen Anflugweg vor sich – zumindest wenn sie wie die Luft-/ Raumjäger von einem anderen Kontinent aus operierten. Deshalb hatte die Luftwaffenchefin auch die halbzivilen Explorer hinzugezogen. Zudem war das Terrain nicht unbedingt das beste für eine Nachsuche. Auch wenn ein abstürzendes oder landendes Schiff zumeist einiges an Spuren hinterließ – so sehr unterschied sich das nicht von einer Sturmschneise. Und davon gab es auf Bryant mehr als genug.
Selbst mit vollen Zusatztanks konnten die Aufklärer nicht sehr lange patrouillieren. Jedes Anzeichen eines der berüchtigten Stürme führte zum Abbruch der Suche und eiligem Rückzug – denn so wichtig der Auftrag auch war, den Verlust einer seiner Jäger konnte sich Bryant einfach nicht leisten. Und ein Tropensturm Marke Tomainisia und Voltanasia war mehr, als selbst ein Jäger ohne weiteres verkraften konnte. Immerhin konnte er ihm davonfliegen. Also hatte man sich auf eine längere Wartezeit eingestellt.
Als dann doch die Meldung kam, daß Signale des eingeschleusten Senders aufgefangen worden waren, herrschte in der Einsatzzentrale sofort erhöhte Alarmbereitschaft. Denn der Umstand, daß es etwas gab, das senden konnte, ließ einen richtigen Absturz unwahrscheinlich erscheinen. Die Nachsuche hatte von Dvensky eine erhöhte Dringlichkeitsstufe verordnet bekommen, und die Soldaten wären nicht Soldaten gewesen, hätten sie nicht gespürt, daß ihr Kommandeur eine Eskalation für wahrscheinlich hielt.
Natürlich konnte den Söldlingen auch eine Notlandung gelungen sein – doch die Bryanter gingen lieber vom Schlimmsten aus. Also folgte der wachhabende Offizier in der Einsatzzentrale schweren Herzens seinen Befehlen und alarmierte dreißig Sekunden später sowohl die Chefin der Luftwaffe und den Regimentskommandeur. Eine weitere Eilmeldung ging nach Tscheljabinsk, von wo ebenfalls nach den Söldnern gesucht wurde. Es war genau halb zwei in der Nacht. Schweren Herzens deshalb, weil er wußte, daß die Pilotin mit Dvensky liiert war. Sollte sie es übel nehmen…
Aber als beide Offiziere wiederum wenige Minuten darauf eiligst den Kontrollraum betraten, der wie so viele wichtige Einrichtungen im zentralen Regierungskomplex von Brein lag, zeigte keiner von beiden Zeichen von Gereiztheit. Der Colonel war sogar mustergültig gekleidet – nun, man sagte ihm auch nach, daß er niemals wirklich außer Dienst war. Major Prokofjewna war etwas nachlässiger angezogen – sie hatte sich offenbar eilig etwas übergeworfen. Aber die schwere Handfeuerwaffe war an ihrem Platz, vermutlich auch aufgeladen und entsichert.
Der Offizier salutierte vor seinen Vorgesetzten, dann machte er Meldung: „Wir haben die Signale im Raum Leipzig geortet. Einer der Explorer ist vor Ort, inzwischen auch einer unserer Kampfflieger. Es besteht aber noch kein Sichtkontakt. Es gab einen kurzen Kontakt, dann brach die Ortung ab. Die Flieger suchen inzwischen.“ Er zögerte: „Das Wetter hat sich etwas verschlechtert, aber ich habe vorerst weitersuchen lassen – angesichts der Dinglichkeit…“ Die Majorin nickte knapp, während die Fingernägel ihrer Rechten auf den Kolben der Sunbeam trommelten. Sie schien nicht sehr glücklich, akzeptierte aber die Entscheidung des Flugleitoffiziers: „Sie sollen aber verschwinden, wenn es kritisch wird. Schrotthaufen am Boden nützen uns auch nichts. Was wissen wir über das Areal?“ Der Offizier zuckte leicht mit den Schultern, ehe er sich zusammenriß, er sprach immerhin mit dem Armeeoberbefehlshaber und der Geliebten des Staatschefs, die dazu noch die Luftwaffe befehligte. Reflexartig nahm er wieder Haltung an: „Nichts Genaues. Es handelt sich dabei um Leipzig, eine alte planetare Großstadt. Wir haben dort vor Jahren mal Nachforschungen angestellt, kurz nach der Unabhängigkeit. Es war aber nicht viel zu finden. Major Netschajew müßte mehr wissen. Die Stadt war stark beschädigt, und offenbar früher bereits mal untersucht worden.“
Er registrierte, wie sich Thomsen angespannt vorbeugte, und erstarrte geradezu zur Salzsäule – ein mustergültiger Soldat. Der Colonel verzog den Mund: „Was machen die Söldner dort? Ein wenig viel des Zufalls, daß sie ausgerechnet in der Nähe eines Ballungszentrums notlanden – ohne dabei mitten IN der Stadt herunterzukommen.“ Was er sagen wollte, war klar. Natürlich konnte dies Zufall sein, aber es war schon recht viel beisammen. Die Chevaliers hatten im Landeanflug Probleme bekommen, aber sie hatten es trotz Sturm geschafft, heil auf den Boden zu kommen – zumindest konnte man das vermuten, denn der Sender galt als nicht sehr robust. Und dann waren sie – trotz der Weite des Landes – genau neben einer Stadt aufgesetzt. Wohlgemerkt nicht innerhalb des Areals, was für sie hätte fatal enden können. Und jetzt trieben sie sich dort rum, anstatt wie eigentlich üblich an einer Stelle zu bleiben und auf Rettung zu warten…
Natürlich mochte es sein, daß sie versuchten, sich zur Küste durchzuschlagen. Aber angesichts der Wetterbedingungen wäre es klüger gewesen, sich einzuigeln und auf Rettung zu hoffen. Würde eine Reisegruppe – bei der ja nicht alle in Mechs saßen – auf offener Fläche von einem Sturm überrascht, dann half nicht einmal mehr beten. Und die Bryanter unterstellten sicherheitshalber sowieso ihren „Gästen“ ein doppeltes Spiel. Aber es mochte immer noch eine Erklärung geben – oder auch nicht.
Ein halblauter Ruf unterbrach das einmütig halb misstrauische, halb nachdenkliche Schweigen: „Flieger melden erneuten Kontakt. Wolkendecke verhindert aber Sichtung.“ Die Majorin nickte: „Sie sollen höher gehen. Wir wollen doch nicht, daß die was mitbekommen. Auf IR-Signaturen und MAD-Abtaster achten.“ Die Befehle wurden weitergegeben.
Aber die Ergebnisse waren nicht ganz die gewünschten.
Minute um Minute verging, dehnte sich zur Ewigkeit. Schließlich war schon eine Stunde verstrichen, während der die Maschinen ihre Kreise zogen. Doch es kam immer wieder nur sporadisch Kontakt zustande. Und das Wetter verschlechterte sich zunehmend, die Nervosität in der Zentrale stieg. Schließlich traf die Kommandeurin der Luftwaffe eine Entscheidung: „Einsatz abbrechen – es wird zu gefährlich. Außerdem werden die sich auch abducken müssen, also dürften sie sowieso nicht mehr zu orten sein. Es lohnt sich nicht, unsere Maschinen zu riskieren.“ Sie war offenbar mehr als nur gelinde verärgert.
Doch vielleicht war dies zu spät geschehen, oder der Pilot hatte einen Fehler gemacht – denn der Explorer unterließ die Standartgemäße Meldung. Zumindest war das, was man von ihm hörte, verstümmelt. Das war nichts ungewöhnliches, denn Funkstörungen kamen immer wieder vor. Doch dann meldete er sich schließlich gar nicht mehr. Und trotz Nachfrage konnte man keinen erneuten Kontakt herstellen.
Das mochte daran liegen, daß es atmosphärische Interferenzen gab. Oder das Funkgerät war defekt. Vielleicht war er auch abgestürzt – oder die Chevaliers hatten etwas gemerkt. Und in diesem Fall war klar, daß sie nicht wollten, daß jemand von ihrem Aufenthaltsort erfuhr. Was nahe legte, daß sie eine Menge zu verbergen hatten.
Die Stimmung war auf einem ziemlichen Tiefpunkt angelangt, als nach einer weiteren Stunde klar wurde, daß der Explorer überfällig war. Die Maschine gehörte Bryant nicht direkt, aber die Majorin nahm jeden Verlust an Material persönlich. Sie hatte einfach zu wenig, um sich so etwas leisten zu können. Mit harter Stimme gab sie den Befehl, alle Maschinen kampfklar zu machen. Für Nachsuche – und für Angriffe. Sollten die Chevaliers hinter dem Verlust stecken, würde sie ihnen die Rechnung präsentieren.
Der Colonel teilte ihre Meinung offenbar: „Ich werde den Vicomte informieren – und unsere Truppen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen.“ Seine Untergebene schüttelte nur kurz den Kopf: „Über die Ortung weiß er ohnehin schon Bescheid. Den Rest kann ich ihm auch gleich sagen. Wie ich das sehe gibt es in spätestens einer Stunde sowieso eine große Lagebesprechung. Bis dahin sollten wir die ersten Schritte in die Wege geleitet haben.“ Thomsen unterließ eine Entgegnung – dergleichen war sowieso nicht sein Stil – und auch der Luftüberwachungsoffizier wußte es besser als zu kommentieren, daß der Regierungschef den Anruf aus der Zentrale offenbar mitbekommen hatte. Gewisse Dinge gingen niemanden etwas an.
Und in der Tat war eine Stunde später versammelt, was von den Kommandeuren anwesend war. Mit Tscheljabinsk war eine Verbindung etabliert worden, denn dort würden vermutlich die ersten Maßnahmen getroffen werden. So, daß die Chevaliers nichts davon mitbekamen. Dvensky hörte sich die Vollzugsmeldungen an, und traf dann seine Entscheidung: „Die Option, den Chevaliers zu erzählen, wir hätten ihre Leute zufällig gefunden, existiert meiner Ansicht nach nicht mehr. Die Umstände machen es immer wahrscheinlicher, daß sie mit der Absicht gelandet sind, uns zu hintergehen. Wir werden also die notwendigen Schritte in die Wege leiten. Dennoch – wir müssen behutsam vorgehen. Wir haben noch keine Sicherheit, und wenn wir übereilt handeln, riskieren wir eine Eskalation.“ Was er freilich nicht auszusprechen brauchte war der Umstand, daß es besser war, eine Eskalation zu riskieren, als auf dem falschen Bein erwischt zu werden. Dieser Schluß war zwar recht rasch gefällt – die Einzelheiten kannten sie ja noch nicht, und noch mochte es vielleicht eine harmlose Erklärung geben. Aber auf Grund des Sicherheitsdilemmas, in dem Dvensky lebte, konnte er sich übertriebenen Langmut nicht leisten. Er mußte handeln.
Die Straßen um das HPG-Zentrum waren sofort mit Signalzünderminen zu sperren – möglichst so, daß die Chevaliers nichts mitbekamen. Die Überwachung sollte verstärkt werden, und man würde Sorgen treffen, daß Scharfschützen und Panzernahkämpfer im Notfall fast sofort in Stellung gehen konnten. Erste Trupps sollten bereits in Bereitstellungen verlegt werden, das Gros konnte innerhalb kürzester Zeit folgen. Die Überwachungsposten sollten in regelmäßigen Abständen überprüft werden, damit sie nicht eventuell ausgehoben wurden. Beim geringsten Anzeichen, daß die Söldner etwas vorbereiteten, war Großalarm zu geben. Die Mechs und Panzer der Bryanter sollten sich noch im Hintergrund halten, aber nicht mehr in ihren regulären Kasernen, sondern an verschiedenen Punkten innerhalb der Stadt – aber es mußte stets mindestens die Hälfte sofort kampfbereit sein. Gleichzeitig sollten gedeckt Mörser und Raketenwerfer postiert werden – diese konnte man im Notfall nicht so schnell nach vorne bringen, also mußte dies bereits jetzt geschehen. Die Vorbereitungen für diese Maßnahmen waren schon Wochen zuvor getroffen worden, noch ehe die Chevaliers überhaupt das System erreicht hatten. Die Flak und Garnisonstruppen waren ohnehin in Bereitschaft, seitdem sich die Lander der Söldner auf den Flugfeld aufhielten. Sollten die Lander versuchen abzuheben oder ihre Jäger auszuschleusen, war in jedem Fall sofort zu schießen – in der Hinsicht war Dvensky bereit, einen offenen Konflikt hinzunehmen. Er konnte den Söldnern einfach keinen Überraschungsvorteil geben. Zuletzt freilich stellte der Diktator noch einmal klar, daß er – noch – keinen Angriff wünschte: „Dennoch will ich nicht gleich mit aller Macht zuschlagen. Wir brauchen Beweise, um Com Star gegenüber unsere Schritte nötigenfalls rechtfertigen zu können. Bisher könnten sie noch alles abstreiten. Wir müssen also herausbekommen, was die Söldner wirklich dort treiben. Und eine Vereinigung so lange wie möglich hinauszögern. Also würde ich sagen, wir schicken die Crusaders nach Leipzig, unterstützt von etwas Infanterie – wie bereits besprochen. Natürlich ohne Abzeichen oder dergleichen. Zur Not können wir immer noch behaupten, daß es sich dabei um Banditen und Plünderer handelte. Sobald sie Bescheid wissen, sollen sie handeln, aber wir müssen vorher informiert werden. Also kein automatischer Angriff – es kann immer noch sein, daß die Söldner nur notgelandet sind. Sollten sie es jedoch nicht sein, wenn da mehr dahinter steckt… Ich würde es vorziehen, wenn die Landungstruppen neutralisiert werden, ohne daß es zum Eklat kommt.“
Natürlich war klar – sollte die Situation eskalieren, so würde Dvensky ohne Rücksicht auf Com Star die Chevaliers zerschlagen lassen. Wenn es erst hart auf hart kam, war für Rücksichten keine Zeit mehr. Aber er wollte dies vermeiden, so lange es möglich war. Es war frustrierend, wenn man sich mit größeren Mächten mit unklaren Zielen herumschlagen mußte.
Seine Untergebenen schienen ihm zuzustimmen. Major Prokofjewna wandte allerdings ein, so lange man versuchte die Sache „diplomatisch“, also ohne offenes Vorgehen, zu lösen, wären ihre Jäger stark eingeschränkt. Zudem gab sie zu bedenken, daß der mögliche Abschuß des Aufklärers als Grund ausreichte, mit gutem Gewissen jeden Chevalier zu füsilieren. Dvensky nickte: „Sollten wir darüber Gewißheit erlangen, dann schlagen wir zu. Sofort, und mit allen Mitteln. Bis dahin, halten Sie die Kampfflieger in Bereitschaft – und jede Bewegung der Söldner hier unter Beobachtung.“ Abschließend wurde nur noch festgelegt, daß einige Angehörige der Smersch die Infanterie begleiten würden. Sollte man Gefangene machen, war es wichtig, sich ihrer „Kooperation zu versichern“. Der Aufbruch der Crusaders hatte Priorität – so bald als möglich sollten sie bei Leipzig mit den Nachforschungen beginnen.
Dvensky rechnete fest damit, daß sich die Krise binnen der nächsten Tage entweder lösen oder vollends eskalieren würde. So lange konnte er seine Truppen in Bereitschaft halten, ohne ein Nachlassen ihrer Effizienz zu riskieren. Die Crusaders würden die Söldner bei Leipzig sicher relativ schnell aufspüren, er rechnete innerhalb der nächsten 24 Stunden mit ihrer Ankunft vor Ort, und dann würde es nicht mehr lange dauern. Selbst die Handvoll Mechs und Panzer, die die Chevaliers aufzubieten hatten, würden ausreichend Spuren hinterlassen. Ihr Landungsschiff würde erst Recht nicht zu verbergen sein. Man würde sie aufspüren. Dann würde man wissen, woran man war. Damit entließ er seine Leute. Sie alle hatten zu tun. Und wenn es zum Kampf kommen würde, dann würden die meisten ihn in der vordersten Linie mitmachen – schließlich ging es um ihren Staat.
Auch nachdem seine Untergebenen gegangen waren, blieb Dvensky noch eine Weile im Konferenzraum sitzen. Es gab da noch eine andere Option. Er schätzte sie nicht sehr, denn für seinen Geschmack war auf seiner Welt mittlerweile viel zuviel fremdes Militär, dessen Verläßlichkeit im besten Fall fragwürdig war. Aber wenn er sie gegeneinander ausspielen konnte, dann schwächten sie sich vielleicht, ohne daß er seine eigenen Mittel opfern mußte. Natürlich war das gefährlich. Die Lage konnte leicht jeder Kontrolle entgleiten, und wenn die andere mitbekamen, daß er sie nur ausnutzte...
Zudem wollte er nicht zu viele seiner Leute nach Leipzig verlagern. Größere Operationen auf den Sturmkontinenten waren riskant, und er würde seine Zentren entblößen müssen. In Brein würde er sowieso alle seine Leute brauchen, wollte er die Chevaliers nötigenfalls schnell und brutal überwältigen. Ein Abrücken wäre auffällig geworden und hätte den Söldnerhauptmann gewarnt. Und so sehr Dvensky diesen Danton für einen geistig labilen Egomanen hielt, so dumm war dieses Großmaul nun wieder auch nicht. Aus diesem Gründ würde die weitere Suche und gegebenenfalls die Vernichtung von Tscheljabinsk aus dirigiert werden.
Er war sich ziemlich sicher, daß sowohl Com Star als auch Blake Wort genau das versuchen würden, was er von ihnen befürchtete – ihn und Danton gegeneinander auszuspielen, während sich die großen Mächte um ihre privaten Interessen kümmerten. Und die waren keineswegs deckungsgleich mit denen Bryants, oder seinen eigenen.
Aber eine andere Wahl blieb ihm nicht. Echte, offene Souveränität war einfach unmöglich für einen Mann mit seinen Mitteln. Zumindest im Augenblick. Er mußte sich anpassen, und im Schatten der großen Konflikte darauf hoffen, seine eigenen Ziele umsetzen zu können. Wenn nicht auf geradem Wege, dann eben um einige Ecken.
Er betätigte die Funkanlage. Die Frequenz, die er einstellte, war nur ihm und einigen wenigen anderen Bryantern bekannt, und zu den Verschlüsselungsalgorithmen, die er aktivierte, hatte nur seine Geheimdienstchefin Zugang. Er schaute direkt in den Bildschirm, und als die Verbindung stand, neigte er leicht den Kopf. Nicht ehrerbietig, aber mit Respekt vor dem Gegenüber: „Der Frieden Blakes sei mit Euch, Adept Delaware. Ich denke, ich habe Informationen, die Sie interessieren dürften.“ Er sah, daß sein Gesprächspartner ihm aufmerksam lauschte. Dvensky gab sich ganz den Anschein eines Mannes, der mit einem geschätzten Verbündeten unterhandelte, obwohl er dem Mann nur unwesentlich mehr traute als Danton. „Wir haben sie gefunden.“
Ironheart
Vorbereitungen für Leipzig
In Tscheljabinsk standen die Zeichen auf Sturm. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Während draussen der Wind den Schnee durch die Strassen der kleinen Stadt fegte, bereiteten drinnen in den zumindest etwas wärmeren Unterkünften drei Männer einen anderen Sturm vor. Einen, der den Chevaliers in Leipzig blühen würde.
Evander Povlsen hatte auf einem altmodischen Holoprojekter, der ab und an flackerte als ob er jeden Augenblick den Geist aufgeben würde, die Gegend eingespielt in der das Chevaliers Landungsschiff abgestürzt war. Carter, der Chef der Crusaders und sein stellverteter Allan Smithee waren tief darüber gebeugt und hatten Povlsen´s Äußerungen aufmerksam gelauscht
„Und die Daten von Ihren Luftraumjägern sind korrekt?“ fragte Carter an Povlsen gerichtet.
Polvsen deutete auf die drei rot leuchtenden Punkte. „Ja, dies sind die Positionen an denen wir den kleinen Sender in Mr. Dukics Ausrüstung geortet haben. Wie sie erkennen bewegt er sich, langsam, aber er bewegt sich. Er ist also nicht mehr an Bord der SKULLCRUSHER, wenn diese denn überhaupt noch existiert. Leider konnten Dvensky´s Flieger aufgrund der Stürme keine genaueren Aufzeichnungen bekommen. Der Einsatz musste sogar abgebrochen werden und einer der Aufklärer wird mittlerweile ebenfalls vermisst. Wir haben das Gebiet mittlerweile erneut überflogen, aber wir können weder den Aufklärer noch Dukic orten."
"Dukic´s Signal ist verschwunden? Hat er den Sender entdeckt?"
"Unwahrscheinlich. Die Chevaliers wissen nicht, dass sie einen versteckten Peilsender mit sich herum tragen. D.h. solange sie nicht spezifisch danach suchen, werden Sie den Sender nicht finden."
"Und warum gibt es dann kein Signal mehr?" Carter fixierte den Geheimdienstler aus strengen Augen, doch dieser antwortete in kühl sachlichem Tonfall.
"Es könnte natürlich sein, dass der neuerliche Sturm den Chevaliers dort den Rest gegeben hat. Aber ich persönlich vermute viel eher, dass Dukic und eventuell andere Überlebende sich in die weitläufigen Tunnelsysteme von Leipzig geflüchtet haben und wir sie daher nicht mehr orten können."
Carter nickte langsam. Diese Erklärung erschien ihm auch als die glaubhafteste. Wobei er weiterhin bezweifelte, dass es sich um einen Absturz hielt, doch dass behielt er noch für sich. Eine andere Frage beschäftigte Ihn viel stärker. „Leipzig!?“ Was wollen die Chevaliers in Leipzig? Wenn wir ihre bisherige Route abgestecken und dann eine Prognose über den weiteren Verlauf erstellen und dabei die spezifischen Geländemerkmale mit einfliessen lassen, dann scheinen Sie sich auf diese Hügelkette hier zuzubewegen, richtig? Was wollen Sie da?“
Povlsen nickte bestätigend. „Ja, sie könnten Recht haben. Ich werde ihre Erkenntnisse mit meinen Auftraggebern erörtern. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass wir das auch nicht wissen. Es wäre schön, wenn wir das irgendwie herausfinden könnten.“
Povlsen machte eine kurze Pause und schaute von Carter zu Allen und dann wieder zu Carter und wartete auf dessen Reaktion.
„Mr. Povlsen, richten Sie ihren Auftraggebern aus, dass ich meine Crusaders gerne dazu anbiete, um das herauszufinden. Egal wohin die Chevaliers unterwegs sein sollten, selbst bei äußerster Anstrengung werden sie noch einige Stunden in Leipzig brauchen, das Gelände ist äußert schwierig und gefährlich. Mehr als genug Zeit für mich, meine Leute mit der Hammer rüberzufliegen und in Position zu bringen. Wir werden Dukic finden, ihm einen Hinterhalt stellen und uns von Ihm - entweder mit Hilfe des Peilsenders oder durch andere Methoden - zum Aufenthaltsort oder zum Wrack der SKULLCRUSHER bringen lassen."
Povlsen nickte und ihm schien durchaus klar zu sein, von welchen anderen Methoden Carter geredet hatte.
„Ich glaube das lässt sich machen" fuhr Povlsen dann fort "es dürfte schon jetzt fast ausgeschlossen sein, dass dieser Absturz tatsächlich ein Absturz war. Dafür entfernt sich das Ortungssignal zu schnell von der Aufschlagsstelle. Trotzdem brauchen wir eine finale Bestätigung ehe wir die Chevaliers zur Rechenschaft ziehen. Meine Auftraggeber können es sich nicht leisten, Einheiten die formal unter dem ComStar-Banner stehen ohne triftigen Grund anzugreifen. Aber Sie haben auch nicht die Absicht den Chevaliers einfach zu erlauben auf Ihrem Hoheitsgebiet herumzustromern. Halten sie sich bereit Carter, ich denke es wird für uns alle bald losgehen.“
Und mit diesen Worten wandte sich Povlsen mit einem korrekten militärischen Gruß um und ging.
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Major Jurij Iwanowitsch Netschajew, momentaner Kommandeur der Verteidigungskräfte von Tscheljabinsk, knirschte unwillkürlich mit den Zähnen während er sich den Bericht durchsah, den ihm sein Gegenüber vor ein paar Minuten auf den Tisch gelegt hatte.
„Leipzig, hah?! Ich hätte es mir denken können. Diese Hunde wollen tatsächlich an LosTech heran!!!“ Netschajew´s Stimme erhob sich und seine Wut auf diesen Söldnerabschaum nahm stetig zu.
„Was können Sie dort suchen?“ fragte ihn Kommandant Dorinel Raducanu, der ihm den Bericht ausgehändigt hatte und ihm nun ruhig gegenüber sass.
„Alles Mögliche“ antwortete Netschajew, der wie kaum ein anderer Bryanter Offizier mit der Situation auf den anderen Kontinenten ihres Heimatplaneten vertraut war und nun selbst zu überlegen schien. „Hm, alles an Wert müßte eigentlich bereits geborgen sein. Nun, zumindest alles, was noch zu gebrauchen und leicht zu finden war.“ Während der wortkage Infanteriemajor sprach, aktivierte er den Holoprojekter auf seinem Schreibtisch, rief eine topgraphische 3D-Karte des hügeligen Leipzig auf und fuhr dann fort. „Raumhafen, ehemalige Fabriken“ er zeigte auf ein paar entsprechende Punkte auf der Karte „der Flusshafen dürften nur noch nackte Ruinen sein...“
Netschajew versank in Schweigsamkeit und schien zu überlegen, worauf es die Chevaliers abgesehen haben könnten. Doch dann gab er anscheinend auf und lehnte sich kopfschüttelnd zurück. „Nun, Leipzig ist eine der früheren Großstädte Bryants und lockt seit jeher Plünderer und LosTech-Jäger an. Ich glaube sogar, dass die Snords Irregulars vor langer Zeit mal hier gewesen sind…“
Netschajew blickte hinüber zu Raducanu. „Und sie wissen, wo das Landungsschiff der Chevaliers runter gegangen ist?“
„Nicht ganz“ korrigierte Raducanu, und fuhr den missbilligenden Gesichtsausdruck des Majors ignorierend fort „aber unsere Aufklärer haben zumindest einen Peilsender orten können, den wir den Chevaliers auf Outreach unterjubeln konnten. Beim zweiten Überflug hat unser Aufklärer das Signal wieder verloren, aber wir gehen davon aus, dass wir es wiederfinden werden.“
„Und warum konnten die Aufklärer das Landungsschiff nicht finden? Immerhin ist das doch ein Maultier, oder? Sind die nicht auf dem Raumhafen runtergegangen?“
„Nein, den haben unsere Leute überprüft. Die schlechten Wetterbedingungen machen eine Sichtortung einfach so gut wie unmöglich. Und eine Sensorortung bei all den Hügeln, Ruinen usw. ist ebenfalls nicht möglich.“
„Ich verstehe, die Söldnerhunde haben sich also geschickt versteckt.“
„Oder, Sie sind abgestürzt…“ setzte Raducanu hinzu, doch Major Netschajew zeigte mit einem lauten „Bah!!!“ und einer wegwischenden Handbewegung, was er von dieser Theorie hielt. Dann verfiel er wieder in Überlegungen in denen er ein, zwei Minuten regungslos aus dem Fenster starrte.
Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen als es klopfte und nach dem knapp gebellten „Herein“ zwei Männer eintraten. Der erste von den beiden trug die Leutnantsuniform der Bryanter Infanterie, war tadellos gekleidet und frisiert und machte alles in allem eine gute wenn auch jugendlich wirkende, Figur. Er trat seitlich an den Tisch heran, salutierte förmlich und blieb dann in starrer Habachtstellung stehen.
Der zweite Mann schien genau das Gegenteil des jungen Leutnant zu sein. Er hatte einen dichten, ungepflegten Vollbart, verfilzte, lange Haare, die den Eindruck machten seit einiger Zeit nicht gewaschen worden zu sein und eine abgewetzte wenn auch wetterfeste Kleidung. Über der rechten Schulter hatte er einen dicken, wattierten Winterparka gehängt und um seinen Hals herum baumelte eine Kette die mit allerlei Zähnen, Knochen und getrockneten Klauen bespickt war. Sein einziger Gruß bestand in einem gequälten Grinsen und einem kurzen Nicken.
„Kommandant Raducanu, darf ich Ihnen Leutnant Theodoros Gavripoulos und Jäger Guy Olivier vorstellen? Leutnant Gavripoulos kommandiert den dritten leichten Zug des zweiten Battalions und Jäger Olivier ist der Anführer von drei Jägern, die Sie begleiten werden. Sie kennen sich allesamt exzellent in Leipzig aus und werden Ihre Scouts und Führer sein.“
Raducanu nickte den beiden kurz zu, dann setzten sich die beiden Männer, nachdem Sie von Netschajew dazu aufgefordert wurden.
„Gut, jetzt da alle da sind, kommen wir zu Ihrem Einsatz“ begann Netschajew und wandte sich an alle drei Anwesenden. „Count Dvensky hat eine Erkundungsmission befohlen. Die Crusaders werden damit beauftragt nach Leipzig überzusetzen, die Skullcrusher zu lokalisieren und zu prüfen, ob sie unbeschädigt ist, d.h. ob der Absturz nur vorgetäuscht wurde. Dann werden Sie sich die Chevaliers vorknöpfen und Ihnen eine Lektion erteilen.“ Netschajew grinste breit, während er fortfuhr. „Wie wir wissen, haben die Crusaders eine persönliche Vendetta gegen die Chevaliers laufen. Ich persönlich würde bevorzugen eigene Truppen gegen diese Verräter zu schicken, aber uns allen ist bekannt, das wir uns nicht so ohne weiteres in einen unnützen Krieg mit den feigen Söldnern der Chevaliers einlassen können. Aber wenn eine andere Söldnereinheit einen eigenen Rachefeldzug ausfechten will, wenn also Abschaum Abschaum prügelt, kann uns das doch nur Recht sein, oder?“
„Major,“ unterbrach Ihn Raducanu „wir haben die sechs Mechs der Crusaders und diesen einen leichten Schützenzug. Auf der anderen Seite vier leichte Mechs und vier schwere Panzer und einen verstärkten Zug Infanterie. Falls das Landungsschiff der Söldner noch intakt sein sollte, und davon sollten wir im Moment ja wohl noch ausgehen, dann haben wir zwar leichte Vorteile auf unserer Seite, aber nicht genug um die Chevaliers in Leipzig zu zerschlagen. Zumindest nicht ohne erhebliche eigene Verluste.“
Leutnant Gavripoulos meldete sich entrüstet zu Wort. „Sir, ich und meine Männer sind voll und ganz in der Lage diesen Auftrag zu erfüllen und…“
Major Netschajew stoppte seinen Zugführer mit einer Handbewegung und bedeutete sich zu setzen.
„Nun, Kommandant. So leid es mir tut, Ihre Aufgabe wird es nicht sein, die Chevaliers in Leipzig zu zerstören. Im Gegenteil, Sie werden nur eine beobachtende Funktion übernehmen und nicht aktiv in das Kampfgeschehen eingreifen. Es sei denn, sie werden angegriffen. Alle anderen offensiven Mittel gegen die Chevaliers sind zunächst ausgeschlossen.“ Netschajew zeigte deutlich, dass er das mehr als bedauerlich fand. „Für einen entscheidenden Schlag gegen diese Bande von Halsabschneidern fehlen uns leider die Mittel und ohne stichhaltige Beweise können wir nicht einfach eine Einheit unter der Flagge ComStar´s zerschlagen. Doch wir können es Ihnen zumindest teuer zu stehen kommen lassen…“
„Was ist der Preis der Crusaders?“ fragte Gavripoulos.
„Volle Bergerechte, Ersatz aller verbrauchter Munition und adäquater Ersatz für 60% Panzerungsschäden. Der Rest ist Risiko der Crusaders. Aber ehrlich gesagt, was kümmern mich die Verluste auf Seiten der Crusaders? Wenn diese ihre Vendetta haben wollen, so müssen sie auch mit den Konsequenzen leben. Sie, meine Herren, haben klare Order unsere Leute aus dem Kampfgeschehen heraus zu halten, es sei denn Sie werden zuerst angegriffen. Lassen Sie die Crusaders die Drecksarbeit machen, klar?“
„Aber Sir, wenn wir gezwungen werden sollten einzugreifen und diesen Chevaliers eine Lektion zu erteilen, dann müssen wir schlagkräftiger…“
„Falls Sie gezwungen werden sollten, gegen diese Söldner“ Netschajew spie das Wort förmlich heraus „vorgehen zu müssen, dann besteht ihre erste Aufgabe darin aufzuzeichnen, dass Sie angegriffen worden sind. Und nichts weiter! Die stärkeren Verbände der Chevaliers sind in Brein und in Tscheljabinsk und hier sind auch die wichtigeren zu verteidigenden Ziele. Ich kann es mir nicht leisten Ihnen mehr Männer mitzugeben und damit die Verteidigung von Tscheljabinsk oder von Brein zu offenbaren. Haben wir uns verstanden?“
„Ja, Sir“ antworteten Raducanu und Gavripoulus zackig, Olivier nickte nur trocken.
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Der eisige Wind fegte durch die Strassen von Tscheljabinsk und der Schnee schien fast waagerecht vom Himmel zu fallen. Evander Povlsen hatte seinen wärmenden Winterparka fest geschlossen und seine Sichtbrille aufgesetzt, welche Ihn zwar automatisch zum Ausländer stempelte – denn echte Bryanter würden so etwas niemals tragen – was ihm aber bei der Kälte vollkommen egal war. Er war sich ohnehin sicher, dass die Hälfte der Tscheljabinsker wusste, dass er nicht zu Ihnen gehörte, so klein wie dieses Kaff hier war.
Evander stapfte durch den Schnee und als er sein Ziel erreicht hatte, öffnete er die Tür zu dem kleinen Lokal „Zum eisernen Bären“. Schon der Name des Lokals zeigte ihm eindeutig, wem gegenüber der Besitzer seine Loyalität bekundete.
Als er eintrat und den schweren Umhang beiseite schob, der die kalte Tscheljabinsker Luft von der warmen, verrauchten und stickigen Luft der Kneipe trennte, empfing ihn der Anblick einer gut besetzten, altmodischen Gaststätte. Linker Hand war ein einfacher Tresen mit knapp zehn Barhockern, von denen nur zwei unbesetzt waren, rechts waren knapp zwanzig fast voll besetzte Tische. An der rechten Stirnwand gab es darüber hinaus noch vier Tische, die in Nischen aus dunklem, einheimischen Holz eingehauen waren. Überhaupt war die gesamte Spelunke in dunklem, schwerem Holz gearbeitet und ein Hauch von Melancholie schwebte in der Luft. Dieser Eindruck wurde von einer alten, leicht leiernden Holovid-Jukebox unterstrichen, die momentan alte Bryanter Folkloremusik zu spielen schien.
Während Povlsen sich langsam seiner Sachen entledigte und auf einen dafür vorgesehenen breiten Gardorobenständer aufhängte, hielt er Ausschau nach seiner Verabredung. Er entdeckte sie dann schliesslich – er hätte es auch nicht anders gemacht – in einer der rustikalen Tischnischen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, ging er die Bar entlang und registrierte sofort, dass er von mindestens drei oder vier Augenpaaren auf seinem Weg dorthin verfolgt wurde, die sich auffällig unauffällig nach ihm umdrehten und ihn musterten. Evander fragte sich, in wie vielen verschiedenen Berichten er morgen auftauchen würde. Sicher war keiner der Geheimpolizisten hier, um ihn zu beschatten. Wahrscheinlich war der Barbesitzer angehalten alle Auffälligkeiten allgemeiner Art zu protokollieren und die restlichen Spitzel verfolgten wahrscheinlich jeder unabhängig voneinander andere als Risikopersonen eingestufte Individuen, die sich in diesem Moment in der Bar aufhielten. Der paranoide Geheimdienstapparat der Spinne hatte damit mehrere parallele Beobachtungen, die sicher fast lückenlos aufzeigen konnten, wer sich wann mit wem getroffen hatte.
Und Evander brauchte sich auch nicht zur Tür umzudrehen, die sich in diesem Augenblick erneut öffnete, um zu wissen, dass sein eigener Schatten gerade die Bar betreten hatte und sich wohl gleich an den Tresen begeben würde. Als ehemaliger Geheimdienstler des LNC hatte er ein Auge für so etwas, zumal der Bryanter Geheimdienst – soviel Wert Sie auch auf Professionalität legten – letztlich doch nur Provinzniveau hatten. In diesem Falle konnte es aber auch sein, dass sie sich auch deshalb nicht sonderlich Mühe gaben, zu verbergen, dass Sie ihn beobachteten, da Sie eh wussten, dass es ihm auffallen würde. Also warum es nicht deutlich zeigen, als Signal sozusagen. Innerlich grinste Evander über die gewohnte schizophrene Geheimdienstlogik und setzte sich grusslos seiner Verabredung gegenüber.
Dieser hatte den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen und war noch tiefer über einem dicken Buch gebeugt, welches er voller Inbrunst zu lesen schien. Einem echten Buch, wie Evander zu seiner Verblüffung feststellte.
Ohne aufzublicken richtete er das Wort an Evander und die krächzende, einem automatisch die Nackenhaare zum Aufrichten zwingende Stimme klang fast schon belustigend. „Und, sind wirchrr jetzt alle anwesend?“
Evander musste ebenfalls lächeln, blickte zur Bar und sah gerade wie sich ein bartloser Jüngling auf einen der freien Hocker platzierte und aus den Augenwinkeln zu Ihnen hinüberstarrte. „Ja, mein Schatten setzt sich gerade. Wo ist Ihrer?“
„Irchrronisch, aberchrr erchrr sitzt dirchrrekt neben dem Ihrchrren!“ Das kehlige Lachen klang eher bedrohlich denn amüsiert, aber brachte die Belustigung des Krächzers gut rüber. Er schien sich ebenso wenig Sorgen um seinen Schatten zu machen wie Evander. Beide waren Profis genug um zu wissen, dass derlei Dinge dazu gehörten.
Dann blickte der Krächzer auf und lächelte Evander aus kalten Augen an, die Narben durch den Hut und einen um den Hals geschlungenen Schal relativ gut verdeckt. Sie beide hatten sich seit Outreach nicht mehr gesehen. Der Krächzer hatte zwar für ihre reibungslose Landung in den Skirmish-Kupferminen auf New Home gesorgt, aber er hatte eine andere Passage zurück nach Bryant gewählt. Warum wußte Evander nicht.
Dann hatte er sich der Krächzer ohne große Geheimhaltung bei ihm gemeldet und um dieses persönliche Gespräch gebeten. Während sich Evander immer noch fragte, was der Krächzer eigentlich von ihm wollte, deutete dieser auf die dick in Leder eingebundene Karte, die vor Povlsen lag und krächzte „Den Inhalt auf Seite Drchrrei kann ich nurchrr empfehlen…“
Evander öffnete Seite Drei der Karte, doch neben den Spezialitäten des Lokals fiel ihm sofort etwas anderes in die Augen. Ein kleines, knapp fingerkuppengroßes, hautfarbenes Kästchen, welches durch zwei hauchdünne Drähte mit einem kleinen Knopfhöhrer und einer hauchdünnen, durchsichtigen Folienmembran verbunden war.
Leicht überrascht blickte Evander kurz zum immer noch schräg grinsenden Krächzer auf. Dann verstand er und stöpselte sich so unauffällig wie möglich den Knopfhöhrer ein und klebte mit einer schnellen Bewegung die Folienmembran auf seinen Kehlkopf. Als er fertig war, sah er, dass auch der Krächzer mit einer solchen Apparatur versehen war. Kaum hatte er den Knopf im Ohr, hörte er auch schon die Stimme seines Gegenübers, ohne dass dieser seine Lippen bewegte. „So, Misterchrr Povlsen, ich hoffe Sie können mich gut empfangen?“ fragte ihn der Krächzer ohne seine Lippen zu bewegen und mittlerweile wieder scheinbar in sein Buch vertieft.
„Warum diese Geheimhaltung?“ fragte Evander, ebenfalls ohne seine Lippen zu bewegen und während er so tat, als ob er weiterhin die Karte las. Dann fiel ihm ihre beiden Beobachter ein, die sicherlich irritiert an der Bar sassen und von Ihrer Position wahrscheinlich nicht sehen konnten, dass Sie beide miteinander verkabelt waren. Für die Beobachter mußte es im Moment so aussehen, als ob sich die beiden nur gegenüber sassen und anschwiegen.
Evander musste vor Anerkennung fast grinsen. Selbst wenn es in dieser lauten Umgebung Wanzen gab, so konnten Sie keine Gespräche aufzeichnen. Ihre Beobachter konnten noch nicht einmal von Ihren Lippen lesen, wenn Sie denn überhaupt über diese Fähigkeiten verfügen sollten. Und Evander war sich sicher, dass das kleine Funkset über einen Scrambler verfügte, der es ohne den entsprechenden Code niemandem gestattete, dass Gepräch zu verfolgen, selbst wenn sich die Spinne die Mühe gemacht haben sollte, alle Funksignale aufzunehmen. Es war also die perfekte Umgebung, um ein Gespräch zu führen, dass ihrer beider Auftraggeber nicht hören sollten. Nur fragte sich Evander, warum?
„Sagen wirchrr einfach, dass ich mich einmal ungestörchrrt mit Ihnen unterchrrhalten wollte…“
„Das hätten wir sicher auch mit etwas weniger Brimborium hinbekommen, oder?“ fragte Evander etwas schnippisch. Wollte sich der Krächzer etwa wie auf Outreach profilieren und ihm zeigen, dass er besser war? Doch sein Gegenüber ging auf die Frage nicht ein. „Ihrchrr Peilsenderchrr leistet Ihnen gute Dienste, nicht wahrchrr?“
„Danke, ich kann nicht klagen.“
„Und jetzt machen Sie sich auf den Weg, um sich um die abgestürchrrzten Chevalierchrrs zu kümmerchrrn…? Wohin genau sind sie unterchrrwegs?“
Evander irritierten die Fragen des Krächzers und seine Augen verengten sich für einen Augenblick. Doch konnte er nicht sogleich antworten, da die Bedienung an den Tisch herangetreten war und nach der Bestellung fragte. Nachdem sie wieder gegangen war, nahm Evander den Faden wieder auf, wobei er das kleine Spielchen weiter mitspielte und vorgab in der Karte zu lesen. „Was soll dieses Fragespiel? Sie sind doch sicher genau so gut eingeweiht wie ich…“ Und augenblicklich schoss ihm dass dazugehörige „Oder?“ in den Kopf, welches er aber nicht aussprach.
Der Krächzer blätterte die Buchseite um und antwortete nicht. Fast dachte Evander, er hätte ihn womöglich nicht gehört.
„Wem gegenüberchrr gilt Ihrchrre Loyalität, Misterchrr Povlsen?“ wechselte er scheinbar das Thema.
„Meine Loyalität gilt meinem Auftraggeber,“ gab Evander vorsichtig zurück.
Ein Lächeln huschte über das vernarbte Gesicht des Krächzers. „Wenn die Spinne dieses Gesprchrräch würchrrde mithörchrrren können, so wärchrre Sie über Ihrchrre Antworchrrt sicherchrr erchrrfrchrreut gewesen. Aberchrr wirchrr beide wissen doch genau, wem gegenüberchrr wirchrr eigentlich verchrrpflichtet sind, nicht wahrchrr Misterchrr Povlsen?“
„Count Dvensky“ nickte Povlsen stirnrunzelnd, weiterhin irritiert darüber, was genau der Krächzer meinte. Wollte er ihn testen und herausbekommen, ob er ein Doppelagent war? Wenn ja, dann war das hier ein äußerst plumpes Vorgehen, mal abgesehen davon, dass Povlsen kein doppeltes Spiel spielte.
Doch der Krächzer schüttelte nur langsam den Kopf. „Nein, Misterchrr Povlsen! Unserchrr beiderchrr eigentlicherchrr Herrchrr ist das Geld, hab ich nicht rchrrecht?“
Povlsen wollte sofort widersprechen, doch er zögerte einen Augenblick und wartete stattdessen mit seiner Antwort. Worauf wollte der Krächzer hinaus?
Die Bedienung kam mit Ihren Getränken, Povlsen und sein „Gesprächspartner“ stiessen an und der Krächzer fuhr über sein Kehlkopfmikro fort. „Wirchrr beide archrrbeiten als Frchrrelancerchrr, also sind wirchrr keinerchrr Rchrregierchrrung, Ideologie, Rchrrelegion, Weltanschauung oderchrr einem derchrr Häuserchrr derchrr Innerchrren Sphärchrre gegenüberchrr bis zum Letzten verchrrpflichtet, oderchrr?“
„Worauf wollen Sie hinaus?“ fragte Evander mittlerweile etwas unruhig. Dieses Reden um den heissen Brei gefiel ihm nicht sonderlich.
„Nun, Misterchrr Povlsen, die Dantons Chevalierchrrs spielen ein doppeltes Spiel, das wissen wirchrr beide nurchrr zu gut. Dvensky´s Interrchrresse darchrran mehrchrr überchrr dieses doppelte Spiel zu ehrchrrfahrchrren ist nur legitim. Aberchrr seine Interrchrressen sind nicht die einzigen auf diesem Planeten…“
Und noch bevor der Krächzer ausgesprochen hatte, fielen die letzten fehlenden Puzzlestücke in Evanders Kopf an die richtigen Stellen. Die exzellente Ausrüstung auf Outreach, die über die Maßen guten Connections auf New Home und jetzt dieses Gebahren…
Evanders Augen weiteten sich ein klein wenig und sein Gesichtsausdruck schien Bände gesprochen zu haben, so dass der Krächzer nicht zu Ende sprach und stattdessen an seinem Getränk nippte.
„Ich sehe, sie verchrrstehen mich, Misterchrr Povlsen. Aberchrr kommen wirchrr jetzt zum Geschäftlichen. Die Spinne trchrraut mirchrr nicht, und das zurchrrecht wie Sie jetzt sicherchrr denken mögen. Ich bin also, wie Sie jetzt wissen, nicht in Ihrchrre neuerchrrliche Operchrration eingebunden. Daherchrr währchrre Ich Ihnen sehrchrr verchrrbunden, wenn Sie mirchrr Ihrchrr neues Ziel mitteilen würchrrden.“
Povlsen war immer noch wie paralysiert und antwortete nicht. Mit einem Mal hatte dieses Gespräch eine vollkommen andere Wendung genommen, als er es gedacht hatte. Fieberhaft überlegte er, das Ganze konnte immer noch ein Test sein, ein Test seiner Loyalität.
„Wie ich berchrreits sagte, bin ich mirchrr bewußt, dass diese Inforchrrmation ihrchrren Preis hat. Und Sie werchrrden sicherchrr erchrrffchrreut überchrr die 50.000 Crchrredits sein, die sie in dem Umschlag Rchrrechts von Ihrchrrem Sitz finden werchrrden.“
Evander hob die Augenbrauen und schaute langsam rechts an sich vorbei. Und tatsächlich konnte er jetzt einen Umschlag erkennen, der in exakt derselben Farbe des Holzes gehalten war, aus dem die Sitzplätze beschaffen waren. Somit hatte man zweimal hinschauen müssen um überhaupt etwas erkennen zu können.
Doch er zögerte und liess stattdessen seinen Blick im Raum schweifen. Die beiden Schatten sassen immer noch stumm am Tresen und bemühten sich entweder nicht weiter ihre eigentliche Aufgabe zu verbergen. Oder Sie waren tatsächlich so auffällig unauffällig für die Augen eines wahren Profis.
„Ich verchrrstehe, dass Sie zögerchrrn, Misterchrr Povlsen. Aberchrr Sie wissen, dass ich Mittel und Wege finden werchrrde, es auch ohne Ihrchrre Hilfe herchrrauszufinden.“
„Warum bemühen Sie diese dann nicht gleich, sondern kommen damit zu mir? Sie riskieren, dass ich zur Spinne laufe und Sie verrate…“
Der Krächzer schaute aus seinem Buch auf und lächelte kurz. Dann beugte er sich wieder über sein Buch. „Zum einen würchrrden die anderchrren Wege eventuell zu lange dauerchrrn. Und zum zweiten: Warchrrum wollen Sie derchrr Spinne etwas verrchrraten, was Sie eh schon weiss? Sie glauben doch wohl nicht, dass das Ihrchrre Position in derchrren Augen auch nurchrr einen Deut` verchrrbesserchrrt, oderchrr? Fürchrr diese arrchrrogante, Möchtegerchrrn-Diktaturchrr sind Sie nichts weiterchrr als ein drchrreckigerchrr Söldnerchrr. Im Grchrrunde nicht besserchrr als die Crchrrusaderchrrs und auch nicht besserchrr als die Chevaliercrrs. Man benutzt Sie und wenn man Ihrchrrer überchrrdrchrrüssig ist…“ Der Krächzer schaute erneut aus seinem Buch hervor und seine kalten Augen sagten aus, was er nicht aussprach.
Er hatte Recht, Povlsen war ein Niemand in den Augen seiner Auftraggeber. Aber er war Profi genug um das zu akzeptieren.
„Wenn ich mich doch in Ihnen getäuscht haben sollte, tut es mirchrr Leid Ihrchrre und meine Zeit verchrrgeudet zu haben.“ Der Krächzer klappte sein Buch zu, legte es vor sich hin und bedeutete der Kellnerin, dass er zahlen wollte.
Evander´s Gedanken überschlugen sich. Auch wenn der Krächzer Recht hatte, so hatte er doch Skrupel seine Auftraggeber zu hintergehen. Er wusste ja noch nicht einmal, was der Krächzer vorhatte.
Die Kellnerin kam und der Krächzer bezahlte, dann blickte er – als Sie wieder gegangen war – noch einmal hinüber zu Povlsen. Dieser wusste, dass er sich jetzt entscheiden musste. Was zählte mehr für Ihn? Geld oder Loyalität?
Der Krächzer entschied, dass ihm die Antwort zu lange dauerte und er beugte sich vornüber um den Umschlag Rechts neben Povlsen an sich zu nehmen. Doch in diesem Augenblick entschied sich Povlsen.
„Warten Sie! Es ist Leipzig! Wir setzen über nach Leipzig, Dukic´s Signal haben wir zuletzt kurz vor den Bloomingdale Heights aufgefangen.“
„Danke, Misterrchrr Povlsen!“ Der Krächzer stand auf, wickelte sich seinen Schal tiefer ins Gesicht, zog grüssend an seinem Hut und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung Ausgang.
Povlsen blieb zurück und versank in Gedanken. Er nahm nur am Rande mit, wie einer der beiden Schatten dem Krächzer folgte. Dann nahm Povlsen mit einer ruhigen Handbewegung den Umschlag an sich und öffnete ihn an seiner Rechten – dem übrigen Lokal abgewandten – Seite. Nachdem er überprüft hatte, dass das Geld tatsächlich dort war, steckte er ihn ein und nahm noch einen Schluck von seinem Getränk ehe er ging.
Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hinterliess das Gebräu bei Ihm einen faden Nachgeschmack.
Cattaneo
Von Ironheart
Östlich der Bloomingdale Heights
Leipzig, Bryant, Chaosmarken
28. April 3065
Der Sturm war losgebrochen, in zweierlei Hinsicht.
Während die Crusaders ausgeschwärmt waren um das verloren gegangene Peilzeichen von Dukic oder die Skullcrusher – ob nun intakt oder als Wrack – zu finden, näherten sich Povlsen und der Rest der Bryanter in ihrem MTW der alten Sternenbundstadt von Nordosten her. Der Anflug war rau gewesen, sie waren ordentlich durchgeschüttelt worden aber letztlich sicher gelandet. Langsam rumpelnd bahnte sich das relativ schwerfällige, kettengetriebene Fahrzeug einen Weg durch die subtropische Vegetation Tomasianias, wobei Povlsen die einheimische Flora und Fauna nicht kannte und wenn er ehrlich zugeben wollte, auch nicht wirklich kennen lernen wollte.
Stattdessen war er in seinen Gedanken versunken in das gestrige Treffen mit dem Krächzer. Er hatte keine Ahnung, was dieser mit den gestern erhaltenen Informationen anfangen wollte, aber irgendwie hatte er den Eindruck, dass das noch für Probleme sorgen würde.
Mit einem kurzen Seitenblick schaute er hinüber zu Raducanu, der in dem Mannschaftswagen vorne im Fond neben ihm saß und das Empfangsgerät begutachtete. Dieser grinste komplett in Kampfmontur mit einer entschlossenen Miene zu ihm zurück, was Povlsen mit einem matten Lächeln erwiderte. War das ein schlechtes Gewissen, das sich bei ihm regte?
Er wischte den Gedanken beiseite, er war Söldner und Profi und das gestrige Geschäft war lukrativ gewesen. Hätte die Spinne ihn nicht so herablassend behandelt oder ihm von Anfang an mehr Geld gezahlt, wäre seine Loyalität klarer gewesen. Aber so war es einfach ein lukratives Geschäft gewesen, nicht mehr, nicht weniger.
Dann durchbrachen Sie den östlich von Leipzig gelegenen Wald, indem Sie auf eine Lichtung fuhren, die Ihnen einen kollossalen Ausblick auf die ehemalige Sternenbundstadt bot und Povlsen verdrängte seine dunklen Gedanken. Jäger Olivier und seine Leute hatten Ihnen den Weg gewiesen und sie hatten sich dazu entschlossen hier auf dieser Lichtung inmitten einer Schonung dieser merkwürdig anmutenden blauen Bäume auf Entdeckung der Chevaliers zu warten.
Ihr Auftrag war klar als reine Beobachtung definiert worden, mit ihrem nur leicht gepanzerten MTW hatte es keinen Sinn tiefer in die Stadt vorzudringen und sich unnötig allen möglichen Gefahren áuszusetzen. Sie hatten zwar mit dem Peilsender eine gewisse Frühwarnung, aber dies galt schließlich nur für Dukic, und sie konnten ja noch ungewollt in die Arme anderer Teileinheiten der Chevaliers rennen. Für die Crusaders waren Sie nur ein lästiges Anhängsel und im Notfall würde man sich einen Dreck um das kleine Infanteriekontingent scheren.
Als der Blick auf die wolkenbehangene Stadt frei wurde, hielt der Wagen inne. Starker Regen prasselte auf die Frontscheibe und Jäger Olivier stieg aus dem Wagen aus, kletterte auf das stabile, gepanzerte Dach des Fahrerhäuschens und zückte ein Fernrohr. Povlsen und Raducanu folgten ihm direkt, Leutnant Gavripoulos ließ seine Leute ausschwärmen und die momentane Umgebung nach allen Richtungen sichern, dann kletterte er ebenfalls auf das Dach.
„Schon was entdeckt, Sir?“ fragte er an Kommandant Raducanu gerichtet.
„Nein, wir werden warten müssen“ gab dieser zurück.
„Hier werden wir nicht allzu lange bleiben können“ warf Jäger Olivier ein und zeigte ohne weiteren Kommentar auf eine dunkle Wetterfront, die in einiger Entfernung ihre Blitze gen Boden jagte und bedrohlich näher kam.
Die starken, einigermaßen wetterfesten „Bäume“ in ihrer unmittelbaren Umgebung würden Ihnen zwar ein wenig Schutz vor den Gewittern geben, doch Blitze und umstürzende Bäume waren immer eine Gefahr, der man sich nicht unnötig stellen musste. Der nächste Mechtunneleingang nördlich des Harbour-District lag nicht weit, in den würden Sie notfalls flüchten können. Doch Povlsen hatte eher das Gefühl, dass die Chevaliers sich etwas weiter südlich befanden. Warum nur waren Sie nicht auf der Ordnung. Hatte Dukic den Braten doch noch gerochen?
Und in diesem Augenblick rief der Fahrer des Wagens Ihnen zu, dass Sie einen Kontakt auf dem Radar hatten, dass Sie in Form eines kleinen Köfferchens bei sich führten. Alle auf dem Dach befindlichen Soldaten hechteten hinunter und betrachteten die Anzeige. Das Signal war nur schwach und flackerte häufig auf der dreidimensionalen Anzeige, wahrscheinlich eine Nebenwirkung der Stürme und des nahen Gewitters und doch konnten Sie es gut genug empfangen um Dukics Position auszumachen. Sie waren anscheinend nahe am Liquorice-River und bewegten sich langsam aber stetig in südöstlicher Richtung. So lange konnten sie noch nicht an der Oberfläche sein, der nächste Tunneleingang war keine 500 Meter entfernt.
So weit so gut. Problematisch war nur, dass die Crusaders gerade das Gebiet auch genau in diesem Moment durchkämmten. Daher gabe Raducanu sofort Meldung an Carter, der aber sicher die Chevs auch schon auf seinem Schirm haben dürfte.
„Ich weiss, Ich weiss“ bestätigte dieser auch prompt „wir sind fast in Sie hinein gerannt. Bestätige gegenseitige Ortung. Der Tanz beginnt.“ Fast schon konnte Povlsen das zähnefletschende Grinsen von Carter auf seinem Gesicht sehen und tatscählich, Dukics Signal hatte seinen südöstlichen Weg abgebrochen und bewegte sich nun schnell Richtung Norden, direkt auf die Crusaders zu.
„Carter, verflucht“ Raducanu war sichtlich erbost „Sie sollten beobachten und nicht direkt angreifen. Wie sollen wir jetzt die Skullcrusher ausmachen.“
„Keine Sorge, Jungchen! Dukic wird uns direkt hinführen, ob er nun will oder nicht. Und jetzt lasst mich meinen Job machen, Carter Over and Out.“
Ob es nun das herablassende „Jungchen“ gewesen war, oder die gesamte Antwort gewesen war, jedenfalls schnauzte Raducanu „Carter…, Carter…“ in den Funk aber ohne eine Reaktion zu erhalten. Wütend hämmerte er mit der Faust gegen die Armaturen des MTWs. „Verflucht noch eins, was bildet der sich ein? Wie sollen wir so herausfinden, was die Chevaliers vorhatten?“
„Naja, soviel zum Thema Überraschungsmoment“ kommentierte Povlsen lakonisch. „Aber warts ab, die Crusaders sind den Scoutmechs der Chevaliers immer noch haushoch überlegen. Sie werden Sie zu ihrem Landungsschiff zurückdrängen und sicher den einen oder anderen in ihre Hand bringen, der uns dann schon näheres verraten wird.“ Das fiese Grinsen auf Povlsens Gesicht gab einen kurzen Hinweis darauf, dass er zur Not nicht zimperlich sein würde, um an die Informationen heran zukommen.
„Und wenn ihr Landungsschiff gar nicht mehr existiert.“
Povlsen Grinsen wurde noch einen kleinen Tick fieser. „Dann werden sie zerquetscht werden…“
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Provisorische Vertretung Blakes Wort, Industriegebiet Wolga, Brein
Bryant, Chaosmarken
28. April 3065
Akoluth Delaware saß überlegend in seinem kleinen, miefigen und äußerst provisorisch eingerichteten Büro. Es war zumindest warm, warm genug um den derzeitigen Kälteeinbruch draussen zu halten. Blakes Wort hatte schon vor ein paar Monaten vier kleine Büroräume im relativ neuen Industriegebiet Wolga im Süden der Stadt bezogen. Seitdem offiziell geworden war, dass Blakes Wort die HPG-Anlage Bryants von ComStar übernehmen und betreiben durfte, war Delaware mit einer Handvoll von Verwaltungspersonal bereits gelandet um diese Übernahme vorzubereiten.
Hatte sich Delaware zu Beginn dieser Mission diebisch darüber gefreut, dass Sie es schafften ComStar auch von diesem Planeten zu verdrängen und damit noch einen Teil der Inneren Sphäre in die Nähe des wahren Glaubens zu rücken, so war diese Freude mittlerweile getrübt worden. Getrübt durch den immer gleichen Trott und das ungeduldige Warten auf den Tag X, wenn Sie endlich glorreich die Anlage übernehmen durften.
Erst die Tatsache, dass vor nicht allzu langer Zeit Count Dvensky ihn darüber informiert hatte, dass die über dem Kontinent Tomasiania abgestürzten Chevaliers offensichtlich tatsächlich ein doppeltes Spiel spielten, hatte sich seine Laune wieder ein kleines Stück gehoben, barg das doch zumindest die Möglichkeit auf ein wenig Abwechslung. Seitdem versuchte er zu ergründen, welche Implikationen diese Information für Ihn und für seinen Orden hatte.
Dvensky hatte darauf hingedeutet, dass er gewisse Dinge in Gang gebracht hatte, um die Chevaliers in Leipzig hart zu treffen, ungeachtet der pro-forma Lizenz zur Suche nach LosTech, die dieser jämmerliche Danton als Ablenkungsmanöver, auf das natürlich niemand hereingefallen war, erworben hatte. Delawares Informanten hatten ihm von einer kleinen Mecheinheit von gerade einmal der Größe einer Sektion berichtet, die in Tscheljabinsk stationiert worden war. Um wen es sich genau handelte, wusste der Akoluth noch nicht, aber das würde er bald herausfinden.
Aus dem was Dvensky indirekt angedeutet hatte, vermutete Delaware, dass er diese Söldner gegen die Chevaliers in Bewegung setzen würde. Ob das reichen würde, bezweifelte er allerdings stark.
Natürlich war ihm auch nicht entgangen, dass Dvensky ihn ebenfalls indirekt aufgefordert hatte, eigene Truppen nach Leipzig zu schicken. Er hatte es nicht direkt gesagt und rein offiziell waren ja auch noch keine Truppen von Blakes Wort auf Bryant. Doch Dvensky wäre nicht der Schatun, wenn er nicht schon längst in Erfahrung gebracht hätte oder es zumindest vermuten würde, dass seine Organisation schon einen Teil der Truppen auf Bryant stationiert hatte, um bei eventuellen „Problemen“ schnellstmöglich eingreifen zu können. Zumal diese Truppen auch gelegentliche Ausflüge auf den verlassenen Kontinenten durchgeführt hatten, was den Truppen Bryants sicher nicht vollkommen entgangen war. Dabei hatten Delawares Truppen auch unter anderem Leipzig mehrere Besuche abgestattet, aber ausser einer kleinen Gruppe von LosTech-Plünderern, die sie auch prompt zerschlagen hatten, hatten Sie bisher nichts finden können.
Dvensky hatte die Aktivitäten seines Ordens sicher aus zwei Gründen bislang gewissermassen gebilligt. Zum einen um es sich mit dem großen Orden, der in Zukunft auch ein Partner für Bryant werden würde, nicht unnötig zu verscherzen. Und zum zweiten aus dem wichtigeren Grund, dass Blakes Wort gegenüber dem Schatun den Einsatz dieser Einheiten bei einem möglichen Vergeltungsschlag aus New Home oder Epsilon Indi zugesichert hatte, was die Verteidigungskraft Bryants um ein erhebliches steigern würde.
Doch so ein Verteidigungsfall lag im Moment nicht vor. Delaware konnte den Count zwar gut verstehen, eine solche Brüskierung durch diesen Söldnerabschaum hätte er ebenfalls nicht gerne gesehen. Aber er fragte sich, was es ihm bringen würde seine ohnehin schon relativ bescheidenen Mittel gegen die Chevaliers ins Feld zu führen. Immerhin gehörten diese offiziell zu ComStar. Und auch wenn Sie sich mit diesen irregeleiteten Fanatikern ohnehin schon im quasi Kriegszustand befanden, würde sich Delaware in Teufels Küche begeben, wenn er jetzt den momentanen Waffenstillstand brechen würde nur um sich beim derzeitigen Souverän dieses unbedeutenden Planeten anzubiedern.
Die Gefahr unauthorisiert in ein Hornissennest zu stechen und damit seine Karriere zu gefährden war ihm viel zu hoch.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken und mit einem knappen „Herein“ sah er die Tür aufgehen und einen seiner Adepten den Raum betreten.
„Akoluth Delaware, entschuldigt vielmals, ich weiss ihr wolltet nicht gestört werden, aber man wünscht Sie zu sprechen.“ Der Adept, der die Nachricht überbrachte schien sich fast das Kreuz zu brechen, so sehr bemühte er sich sich vor seinem Vorgesetzten zu verbeugen.
„Wer ist es und was will er?“ Delaware war ungehalten über das stümperhafte Auftreten dieses elenden Arschkriechers.
„Verzeiht mir, Herr, aber das wollte er nicht sagen.“
„Und deswegen störst Du mich? Schick ihn weg, er soll wieder kommen, wenn es ihm wieder einfällt!“
„Herr, er bat mich euch dies hier zu geben.“ Der Adept trat näher heran und übergab seinem Vorgesetzten mit leicht zitternden Händen einen Gegenstand, der in einem weichen Tuch eingewickelt war. Stirnrunzelnd öffnete der Akoluth das weisse Samttuch und förderte ein flaches rautenförmiges Siegel hervor, welches vollkommen unscheinbar wirkte. Auf der rechten Seite war ein numerisches Eingabefeld, ein kleiner Knopf daneben schien in einem satten Grünton zu vibrieren. Daneben blinkte ein zweiter kleiner orangener Knopf und schien sagen zu wollen, dass er gedrückt werden wollte. Akoluth Delaware blickte kurz hoch zu dem Adepten der nur hektisch nickte und mit seinem Finger auf eben diesen Knopf zeigte, den Delaware daraufhin drückte. Ein dreidimensionales Bild baute sich kurz flackernd auf und der Akoluth zuckte kurz zusammen, als er das strenge Gesicht von Alexander Kernoff, dem jetzigen Präzentor ROM, erkannnte.
Kaum hatte er sich an den Anblick gewöhnt, begann das Bild mit einer unverwechselbaren Stimme zu sprechen. „Gegrüßt seist Du ím Namen Blakes! Der Träger dieses Wappens ist von allen Mitgliedern und Einheiten des einzig Wahren Ordens ungeachtet seines Rangs, seiner Position oder seines Namens bevorzugt zu behandeln. Seine Wünsche sind als meine Befehle zu verstehen!
Gesegnet sei der heilige Blake!“
Die dreidimensionale Darstellung von Alexander Kernoff verblasste und Delaware musste unwillkürlich schlucken. Kernoff war als Leiter des Blakes Wort Geheimdienstes ein überaus mächtiger Mann. Einen seiner Leute grundlos abzuweisen, wäre daher alles andere als ratsam.
„Ähmm, bitte meinen Gast doch unverzüglich herein und lass ihn nicht länger warten“ sagte er daher zu seinem Adepten, der sich unterwürfig verbeugte und aus dem Zimmer verschwand. Dann richtete Delaware sich unwillkürlich seine Robe und hielt Ausschau nach eventueller Unordnung in seinem Büro.
Die ersten Gedanken, die ihm in den Sinn kamen, als er den grossgewachsenen Mann mit sicheren Schritten durch die Tür von dem Adepten geöffneten Tür auf ihn zutreten sah, waren Geheimnis, Bedrohung und Gefahr. Das Aussehen des Mitte Dreissigjährigen war grauenhaft und furchteinflössend zugleich. Von der Halskrause aufwärts zog sich eine tiefe Brandnarbe über die gesamte rechte Gesichtshälfte und endete kurz unterhalb des rechten Auges, so dass der dadurch entstandene starrende Blick den Eindruck von etwas fanatischem vermittelte. Die Narbe zog sich weiter über die rechte Gesichtshälfte nach hinten Richtung Nacken und umwölbte ein künstliches rechtes Ohr bevor es wieder im Rücken des Mannes verschwand. Der kahle Kopf verstärkte zusätzlich das bedrohliche Äußere.
Er trug keine Uniform und keinerlei Rang- oder sonstige Abzeichen, die etwas über ihn verrieten. Delaware war sich sogar sicher, dass das Siegel nur durch ihn persönlich aktiviert werden konnte und er somit nicht mit Blakes Wort ROM in Verbindung gebracht werden konnte, sollte er wider erwarten in feindliche Hände fallen.
Der Mann stoppte kurz vor dem Schreibtisch und verneigte sich leicht. „Akoluth Delawarchrre, der Segen Blakes sei mit dirchrr. Ich frchrreue, mich deine Bekanntschaft zu machen.“
Die raue Stimme des Mannes ließ Delaware einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er wollte der Höflichkeit halber erwidern, dass er sich auch freute, aber er brachte es nicht über die Lippen. Stattdessen nickte er nur, deutete auf den Stuhl vor sich und bot seinem Gast einen Platz an.
„Woher weiß ich, dass Sie dieses Siegel nicht gestohlen haben?“
Das war unorthodox, aber er hatte das Gefühl, dass dieser Mann vor ihm nicht auf Geplänkel aus war und dass das hier kein Freundschaftsbesuch war. Der Krächzer lächelte raubtiergleich, bevor er antwortete. „Derchrr Trchrraum ist stets derchrr Anfang…“
Delaware nickte, dieser Codesatz verriet gemeinsam mit dem Siegel, der sich nur mit der richtigen Codesequenz aktivieren liess, dass er es hier mit einem Mitglied einer Geheimeinheit innerhalb Blakes Wort zu tun hatte. Er wusste zwar immer noch nicht welcher, aber er wusste er würde es nicht herausfinden wenn es ihm der Krächzer nicht verriet, also fragte er erst gar nicht.
„Also, was kann ich für ein so wichtiges Mitglied unseres Ordens tun, Mister…?“
Auch auf die verdeckte Frage nach seinem Namen ging der mysteriöse Fremde nicht ein, sondern kam auch gleich zum Kern der Dinge, so als ob ihm das gelegen kam, keine Zeit mit Geplänkel zu vergeuden. „Ich bin hierchrr wegen derchrr Dantons Chevalierchrrs.“
Delawares Augen weiteten sich augenblicklich, der Fremde hatte mehr als seine Aufmerksamkeit und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er den Fremden befragte „Was wissen sie von den Chevaliers?“
Ein grausames Lächeln umspielte den Mund des Krächzers und er entnahm eine kleine Datendiskette aus seiner Jackeninnentasche. Diese legte er dem verdutzten Akoluthen mitten auf den Schreibtisch und antwortete dann. „So gut wie alles! Aufstellung, Ausrchrrüstung, Materchrrial…“
„Warum habe ich das nicht vorher erhalten?“ fragte Delaware, obwohl er die Antwort bereits kannte. Blakes Wort-ROM arbeitete unabhängig von den normalen Streitkräften und das auch mit voller Absicht. Man munkelte, dass die Geheimdienstorganisation nicht nur die Feinde des Ordens, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil den Orden selbst beobachteten.
Und dementsprechend fiel auch die Antwort aus: „Weil es bisher nicht notwendig warchrr.“
„Und warum ist es jetzt notwendig geworden?“
Der Krächzer stand wieder auf und ging hinüber zu einem kleinen Holoprojekter, der ein dreidimensionales Bild in die Mitte des Raumes werfen konnte. „Darchrrf ich?“ fragte er fast schon rhetorisch, da er bereits eine weitere Datendisk in dem Gerät platzierte.
Delaware nickte nur und war schon äußerst gespannt, was jetzt kommen würde.
Das 3D-Bild eines Planeten baute sich in der Mitte des Büros auf und Delaware erkannte ihn als den Planeten Bryant. Während sich das Bild komplett aufbaute, begann der Krächzer mit seinen Ausführungen.
„Wirchrr wissen aus urchrralten Unterchrrlagen, die unserchrr Orchrrden in weiser Vorchrraussicht vorchrr derchrr Verchrrnichtung geschützt hat, dass es auf Brchrryant eine Anlage gegeben hat, die eine überchrraus interchrressante Hochtechnologie herchrrgestellt hat. Dieses Lostech hat es zurchhr Glanzzeit dieses Planeten erchrrmöglicht mit den hierchrr tobenden Stürchrrmen ferchrrtig zu werchrrden: Die Sturchrrminhibitorchrren.“ Der Krächzer aktivierte eine Taste des Holoprojektors und die Darstellung eines Satelliten, der in einer Umlaufbahn um einen Planeten kreiste, kam zum Vorschein. Das Bild war nicht mehr ganz einwandfrei und die dreimensionale Darstellung flackerte mehrfach, klares Indiz dafür, dass die Daten uralt und mehrfach restauriert worden sein mussten.
Dann fuhr der Krächzer fort: „Im Laufe der unsäglichen Nachfolgekrchrriege gingen nicht nurchrr die Satelliten und die dazugehörchrrigen Prchrroduktionsanlagen verchrrlorchrren, sonderchrrn auch die Bauzeichnungen und sämtliche Prchrrototypen. Aberchrr wirchrr wissen, dass in derchrr geheimen Forschrrschungsanlage, in derchrr die Satelliten auch entwickelt worchrrden sind, sich noch Kopien derchrr Blaupausen und vielleicht noch ein intakterchrr Prchrrotoryp befindet. Leiderchrr ist aberchrr das Wissen um den Standorchrrt dieserchrr geheimen Forchrrschungsanlage ebenfalls verchrrlorchrren gegangen. Es gibt aberchrr Indizien, die darchrrauf hindeuten, dass ComStarchrr kürchrrzlich wiederchrr auf diese Koorchrrdinaten gestossen sind.“
„Leipzig“ hauchte Delaware auf, indem instinktiv die von Dvensky verratene Absturzstelle mit der Geschichte des Krächzers verband. Diesmal war es an dem Krächzer ein wenig verdutzt zu schauen, hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass Delaware wissen konnte, welcher der Orte gemeint war. Doch er fing sich schnell wieder, nickte kurz und fuhr dann fort.
„Da derchrr Abzug derchrr Ketzerchrrtrrchrruppen von Brchrryant kurchrrz bevorchrr stand und sie sich nicht auf die Suche nach diesem Satelliten machen konnten, ohne in einen Krchrrieg mit Dvensky und vielleicht auch mit uns zu gerchrraten, haben Sie die Chevalierchrrs nach Leipzig geschickt und es als Absturchrrz getarchrrnt, womit Sie aberchrr gescheiterchrrt sind. Die Chevs sind also angeheuerchrrt worchrrden, um diesen drchrreckigen Job möglichst heimlich durchrrchzuführchrren.“
Delaware nickte, jetzt machte alles für ihn einen Sinn. Das war also der Grund für die Chevaliers, den Absturz vorzutäuschen. Und bei dem was Sie zu finden erhofften, war es jetzt auch verständlich warum die Chevaliers und damit diese verfluchten Ketzer ein so großes Risikon eingingen.
Der Krächzer fuhr in seinen Ausführungen fort. „Sollten die Chevalierchrrs erchrrwischt werchrrden, würchrrde ComStarchrr jegliche Kenntnis abstrchrreiten, sonderchrrn im Gegenteil die Chevalierchrrs ächten.“
„Dann sollten wir das publik machen und Dvensky sich auf sie stürzen lassen wie einen Falken auf die Maus…“ Delawares Augen leuchteten vor Vorfreude, aber der Krächzer stoppte ihn sofort und energisch.
„NEIN, unterchrr keinen Umständen. Wirchrr müssen den Satelliten selbst in die Hand bekommen, und das letzte was wirchrr dabei wollen, ist publicity.“
„Warum sollte dieser Satellit für uns von solchem Nutzen sein?“ fragte Delaware mit einem etwas verwirrten Gesichtsausdruck. „Selbst wenn wir die Technologie nutzen und neue Inhibitoren bauen und sie an Dvensky verkaufen, soviel ist bei dem gar nicht zu holen. Und es gibt ansonsten nicht so viele Planeten, die unter demselben Problem wie Bryant leiden, daher ist die weitere Absatzmöglichkeit für solch einen Satelliten wohl doch eher begrenzt. Und selbst wenn wir Bryant von Dvensky übernehmen sollten, würde es Jahrzehnte dauern, bis unser Orden davon profitieren würde, oder? Also was wollen wir mit dem Satelliten?“
Der Krächzer betätigte erneut einen Knopf auf dem Holoprojektor und das Bild zoomte noch etwas weiter an den dreidimensionalen Satelliten heran. Die Darstellung wechselte auf die einer technischen Querschnittszeichnung und etwas in der Mitte des Satelliten leuchte rötlich auf.
„Derchrr Satellit ist nurchrr zweitrchrrangig. Es geht uns vielmehrchrr um den leistungsstarken Laserchrr. Die Wissenschaftlerchrr unserchrres Orchrrdens sind sich sicherchrr, das man diesen Laserchrr so modifizierchrren könnte, dass er bei gleichen Ausmassen das zehnfache Leistungspotenzial eines herchrrkömmlichen Schiffslaserchrrs hätte…“
„Das ZEHNfache?“ Delaware schluckte geschockt. Das wäre eine furchterregende Waffe wenn er daran dachte, was die heutigen Schiffslaser bereits in der Lage waren auszuteilen. Sollte Blakes Wort aber sogar noch zehnmal stärkere Laser mit in die Schlacht führen können, dann würde das die Schlagfähigkeit der Raummarine erheblich steigern.
Und umgekehrt bedeutete dies, dass wenn diese Daten in die Hände der Feinde von Blakes Wort fielen… Delaware mochte sich das nicht weiter ausmalen und verstand nun das Interesse von Blakes Wort an den Chevaliers.
„Und wie kann ich Ihnen nun helfen?“
„Sie haben Trchrruppen auf Brchrryant, ich nicht…“
Das war es also, was der Krächzer wollte, Delawares bislang versteckt gehaltenen Truppen. Einen kurzen Augenblick dachte Delaware daran, dem Krächzer vorzuschlagen, vielleicht doch den Count einzuweihen. Sein Zorn über diesen Frevel der Chevaliers zusammen mit all den bisherigen Geschehnissen würde bestimmt unerbittlich sein, und vielleicht würden ihnen die Bryanter dann die Arbeit abnehmen, ohne dass Sie ihre eigenen Truppen würden riskieren müssen.
Mit ein wenig Glück würden die Chevaliers vielleicht sogar in der Lage sein den Bryanter Truppen mehr als nur Paroli bieten zu können, und während sich die beiden Parteien gegenseitig zerfleischen würden, könnten die Blakes Wort-Truppen wie die Kavallerie auf der Bildfläche erscheinen und die Situation retten. Natürlich würden nach einem solchen heftigen Kampf auch zivile Opfer zu beklagen sein müssen und die anstehende Versorgungsnot würde den Widerstand gegen Dvensky, der nicht wie der Diktator sich einbildete vollkommen erloschen war, erneut entflammen.
Notfalls würde Delaware schon selbst dafür sorgen, entsprechende Pläne und Kontakte hatte er bereits in der Schublade.
Und natürlich würde wiederum Blakes Wort großzügig Truppen entsenden um die Situation wieder unter Kontrolle zu kriegen und vorübergehend für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dass diese Unruhen allerdings eine permanente Übernahme der Kontrolle durch Blakes Wort nach sich ziehen würde, wäre aber auch nicht verwunderlich.
Doch andererseits konnte es natürlich auch sein, dass Dvensky, wenn er von Delaware eingeweiht werden würde, die Bauzeichnungen für den Satelliten auch für sich beanspruchen würde, in der Hoffnung eines Tages wieder in der Lage zu sein, diese wieder herstellen zu können und damit Bryants Stürme zu bändigen. Und dann würde er sich vielleicht weigern, die Entwürfe dem einzig wahren Orden zu überlassen.
Nein, das durfte nicht passieren, diese Entdeckung war zu wertvoll um sie einem Provinzler wie Dvensky zu überlassen. Delaware spürte, wie die Erregung ihn langsam packte. Sollte er in der Lage sein, dieses LosTech zu bergen, war ihm Ruhm und Ehre sicher. Und das bedeutete einen raschen Aufstieg innerhalb Blakes Wort. Und wenn er darüber hinaus noch in der Lage sein sollte, die Bryanter gegen die Chevaliers auszuspielen um dann im Anschluss die komplette Kontrolle über Bryant zu übernehmen, wäre ihm sogar ein kometenhafter Aufstieg sicher.
„Gut“ antwortete er dem Geheimdienstler, der geduldig und ohne mit der übrig gebliebenen Wimper zu zucken auf die Antwort gewartet hatte, während Delaware vor sich hinbrütete. „Ich schicke Ihnen eine meine Sektionen I mit.“
Der Krächzer schüttelte den Kopf. „Das ist zu wenig, um die Chevalierchrrs in Leipzig zu verchrrnichten. Schicken sie die zwei anderchrren Sektionen auch gleich mit.“
Delaware brauchte einen Augenblick zu verdauen, dass der Krächzer von allen drei Sektionen wusste, die er heimlich und mit der größtmöglichen Geheimhaltung hatte nach Bryant bringen lassen. Doch dann antwortete er mit sicherem Gesichtsausdruck. „Nein, die beiden anderen Sektionen werde ich hier noch brauchen, nachdem sie den Satelliten in Leipzig erobert haben. Aber seien Sie versichert, ich werde dafür sorgen, dass ihnen genug Truppen zur Verfügung stehen werden, um die Chevaliers zu vernichten. Sowohl in Leipzeig als auch in Brein.“
„Dvensky…?“ fragte der ROM-Agent.
Delaware nickte. „Sie kennen doch das Sprichwort: Wenn zwei sich vernichten, freut sich der Dritte.“
Cattaneo
Die Anspannung war förmlich mit Händen zu greifen. Dvensky schrie nicht, er tobte auch nicht. Der Diktator hatte sich gut genug in der Hand, um seinen Gefühlen nicht freien Lauf zu lassen. Allerdings – hätte er Carter vor sich gehabt, oder auch nur direkten Funkkontakt mit dem Söldnerführer, es hätte leicht anders aussehen können. Doch Dvensky war klar, daß es vollkommen sinnlos war, Major Netschajew anzuschnauzen, mit dem er gerade Verbindung hatte. Der Kirgise befand sich nicht nur auf der anderen „Seite“ Bryants. Er konnte auch einen eventuellen Zornausbruch Dvenskys nicht einmal direkt an die Söldner weiterreichen, denn mit denen bestand im Augenblick kein Funkkontakt. Wieder einmal spielte das Wetter auf Tomainisia verrückt. Und eine solche Stafette von Beschimpfungen wäre denn doch zu lächerlich gewesen. Also begnügte sich der Herrscher Bryants mit eisiger Mißbilligung: „Major, Sie wissen, was zu tun ist. Geben Sie folgendes an unsere Leute vor Ort. Sie sollen äußerste Zurückhaltung wahren. Kein Eingreifen in die Kämpfe, außer zum Selbstschutz. Aber sie sollen alles im Auge behalten. Gründlich. Und BEIDE Seiten. Wenn es Überreste gibt, nachdem sich diese Banditen gegenseitig abgeschlachtet haben, will ich das wissen. Wenn es nur ein paar Mann zu Fuß sind, festnehmen oder neutralisieren. Wenn es Probleme gibt – Kugel ins Genick. Sind es mehr, dann werden wir sehen.“ Netschajews Augen verengten sich. Was bedeutete, daß sie in seinem breiten „asiatischen“ Gesicht fast verschwanden: „Gilt das auch für unsere Verbündeten, wenn sie von den Chevaliers aufs Haupt geschlagen werden?“
Dvensky schnaubte: „Mit solchen Freunden... Nein, VORERST nicht. Aber wir brauchen Koordinaten für einen Luftangriff. Die offenen Gefechte sind zu früh ausgebrochen. Wenn jetzt Crusaders in Gefangenschaft geraten sollten, dann bekommen die Chevaliers sicher schnell aus ihnen alles nötige heraus, wenn die so gut schweigen wie sie kämpfen. Dieser verdammte Idiot! Ich weiß immer noch nicht, ob ich gegen Danton losschlagen kann, und dabei genug in der Hand habe, damit ich Com Star beruhigen kann. Das hat mir dieser Schwachkopf verdorben. Gehen eigentlich nur Psychopathen zu Com Star?“ Er erwartete offenbar keine Antwort.
„Unseren lieben ,Verbündeten‘ werden Sie folgendes sagen, Major! Ich bin äußerst unzufrieden darüber, wie die Aktion abgelaufen ist! Das verstößt gegen unsere Abmachung. Sagen Sie Carter, er habe nicht nur losgeschlagen, bevor wir heraus hatten, was die Chevaliers eigentlich treiben, sondern auch noch sein Überraschungsvorteil leichtfertig verspielt – und nicht einmal substantielle Erfolge erzielt! Es muß ihm klar sein, daß in seinem Geschäft viel von persönlicher Vertragstreue UND Effizienz abhängt, und in beiden Bereichen hat er ein mehr als schwaches Schauspiel geboten! De jure bin ich jetzt berechtigt, die Konditionen betreffs weiterer Versorgung mit Munition, Geld und Bergegut neu zu verhandeln! Ich werde aber vorerst davon absehen, wenn er endlich Erfolge erzielt! Die Chevaliers müssen nach Möglichkeit vernichtet werden, inklusive des Landungsschiffes! Vielleicht kann er dabei ja etwas von der Effektivität zeigen, mit der sich seine Einheit so brüstet! Keine Spuren, keine Gefangenen – außer ein paar, die Smersch übernimmt! Wie er mit diesen Leistungen gegen die Clans überlebt hat, ist mir wirklich schleierhaft! Sagen Sie ihm das!“
Sein Untergebener zeigte keine sichtbare Reaktion: „Das wird ihm nicht gefallen.“ Die Augen Dvenskys funkelten: „Wissen Sie, wie egal mir das ist? Um sich die Allüren einer Primadonna leisten zu können, muß man auch was fertigbringen. Und das hat er hier offenbar nicht.“
Jetzt zeigte der Schatun, der sich sonst durchaus auch einmal umgänglich oder volksnah gab, daß er nicht umsonst diesen Decknamen, den des schlaflosen und raubgierigen Winterbären, erhalten hatte. Carter und Danton hatten ihn – vermutlich unwissentlich – zu sehr unter Druck gesetzt. Jetzt schlug er erbarmungslos zu. Er konnte es sich nicht leisten, daß die Verbindungen zu den Crusaders offenbar wurden. Denn bisher stand nicht fest, ob er etwas vorzuweisen hatte, daß es Com Star unmöglich machen würde, zugunsten der Chevaliers aktiv zu werden.
„Und noch etwas, Netschajew! Machen Sie den Leuten vor Ort Feuer unter dem Hintern. Raducanu speziell. Wenn noch mehr solche Mißgeschicke passieren, darf er die nächsten 10 Jahre auf einem Wachturm des schlimmsten Straflagers verbringen, und das in Sommeruniform! Und sein Kollege darf dann betteln gehen. Wir brauchen Informationen, mit denen wir die Chevaliers bei Com Star anschwärzen können. Daß sie den ,Absturz‘ überlebt haben...“ offenbar glaubte Dvensky inzwischen überhaupt nicht mehr an die offizielle Geschichte, oder er hatte sich endgültig dafür entschieden, sie zu ignorieren: „...reicht da nicht aus. Und, Netschajew, Ihre Helikopter sollen sich startklar machen – zur Not werden wir sie einsetzen müssen, wenn die Crusaders weiterhin versagen.“
„Das hieße...“ „Ich weiß, was das heißt, Major! Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, daß die Vermeidung eines offenen Konflikts mit den Söldnern zunehmend unwahrscheinlich wird. Jetzt müssen wir zuschlagen. Die ,abgestürzten‘ Chevaliers müssen einfach verschwunden bleiben. Ich kann mir nicht leisten, daß irgendjemand zu viele Fragen stellt, sei es Danton oder seine Geldgeber. Was ihren Suchtrupp angeht...“ Dvensky drehte leicht den Kopf: „Die dürfen uns auf keinen Fall dazwischenkommen, während sich diese Idioten in Leipzig herumschießen! Eine Möglichkeit wäre die folgende... Aufenthaltsort herausfinden. Transporthelikopter in Tscheljabinks und bei uns zwei Kampfflieger vorbereiten. Jegorowa, Sie stellen ein Einsatzteam aus Ihren besten Leuten dort zusammen. Smersch und Miliz – wenn wir Fallschirmjäger schicken, fällt das vielleicht jemanden hier auf. Sobald der Ripper das nächste Mal in seiner Basis landet, übernehmen wir ihn. Unser Begleitoffizier wird nach Tscheljabinsk gehen. Keine Überlebenden, die Maschine wird einen Unfall haben...“ Die Geheimdienstchefin schien, oh Wunder, mit den Anweisungen keinerlei moralische Probleme zu haben. Sie gab allerdings zu bedenken: „Die könnten aber Funkkontakt mit ihrer Basis haben. Es bleibt die Frage ob wir alle ausschalten können, ohne daß jemand Alarm gibt. Zumal ich wette, die Chevaliers versuchen unsere Jäger im Auge zu behalten. Und so viele haben wir ja nicht, daß ihnen das so schwer fiele. Außerdem könnte die Meldung von einem Unfall Danton zum Handeln bewegen.“
Dvensky nickte nur düster: „Exakt. Aber bereiten Sie es dennoch vor. Aber dann besser ohne die Jäger, die brauche ich noch. Geben Sie ihren Leuten ein paar SAM mit. Wenn die Sache glatt ginge, würden sie ja das Feuer eröffnen, wenn die Zielpersonen nichts ahnen.“
Er wandte sich wieder an Netschajew: „Nun, Ihre Befehle haben Sie. Ausführung vorbereiten. Und wenn Carter sich aufregt, machen Sie ihm klar daß er von hier nur wegkommt, wenn ICH es will. Ich bin durchaus an einer guten Geschäftsbeziehung interessiert, aber dafür braucht es zwei – er sollte sich also endlich wie ein erwachsener Mensch benehmen. Brein Ende!“
Damit überließ es der Diktator seinem Untergebenen im fernen Tscheljabinsk, mit der Lage dort fertig zu werden. Er tat dies nur ungern – am liebsten wäre er umgehend dorthin geeilt, um die Operationen zu leiten. Aber das ging nicht. Er hatte genug Probleme vor Ort.
„Vorschläge für uns?“ Er blickte in die Runde.
Die Kommandeurin der Luftwaffe zuckte nur mit den Schultern: „Meine Maschinen und Piloten sind bereit. Ein Wort, und wir knöpfen uns den Gegner vor. Wäre mir aber lieber, wenn er vorher ein wenig aufgeweicht wird. Und seine Jäger sollten nicht alle starten können. Mit zwei – auch den Stukas – werden wir fertig, vermutlich ohne ernsthafte Verluste. Kriegen sie alle hoch, wird es schwieriger.“
Der Kommandeur der Panzer und Oberst Thomsen waren einer Meinung: „Erhöhte Bereitschaft für die Truppe. Vermutlich entscheidet es sich innerhalb der nächsten 48 Stunden, ob wir die Sache wirklich ausfechten müssen. Die Leute sind sowieso bereit.“
Dvenskys Schwester blieb still. Sie haßte gewaltsame Auseinandersetzungen, denn die fielen so gar nicht in ihr Ressort. Außerdem konnte sie in solchen Fällen nicht viel tun als zuschauen, und das war nie ein beruhigender Gedanke. Sie hatte in einiger Hinsicht mehr Skrupel als ihr Bruder, aber ihre Erfahrungen als Verhandlungsführerin in den Chaosmarken hatten sie abgehärtet. Nur die Geheimdienstchefin schien noch einen Vorschlag zu haben: „Wir könnten versuchen, uns ein paar Faustpfänder zu verschaffen.“ Der Diktator schaute auf – er hatte sinnend seine schwere Handfeuerwaffe betrachtet, die er schon manches Mal benutzt hatte.
„Was genau meinen Sie?“
„Nun, wenn wir unter einem Vorwand einige Offiziere der Chevaliers, vielleicht auch Danton selber festsetzen könnten, würde das unsere Verhandlungsoptionen verbessern. Ich glaube nicht, daß er vom Ausbruch der Gefechte weiß. Wir überwachen JEDEN Funkspruch, der rein- oder rausgeht. Bisher nichts Verdächtiges. Das wird nicht ewig so bleiben, aber vermutlich wissen wir im Augenblick mehr als er. Wir könnten einige Söldner, die auf Freigang sind – wenn wir genug Zeit haben – einlochen. Dann sagen wir Danton, seine Leute haben sich eine Schlägerei geliefert und er solle gefälligst kommen und sie abholen. Gegen Bußgeld, natürlich – wenn sie nicht wegen Körperverletzung und Rowdytum für vier Monate die Gastfreundschaft unserer Lager genießen wollen. Oder wir bitten ihn unter einem anderen Vorwand her.“ Das Gesicht Dvenskys verzog sich zu einem grimmigen Lächeln: „Das klingt nicht schlecht, könnte man direkt versuchen. So machen wir es. Aber in jedem Fall Feuerbereitschaft bei den Truppen.“ Seine Offiziere salutierten.
„Und noch etwas – ich denke, es ist an der Zeit...“
Dvensky richtete sich auf. Er überprüfte ob seine schmucklose Uniform korrekt saß. Dann drückte er eine Aufnahmetaste.
„Meine lieben Mitbürger.
Ich sehe mich gezwungen, für unsere Welt den Ausnahmezustand zu verhängen. Die Söldnertruppe der ,Danton Chevaliers‘, die unter dem Schutz der Neutralität Com Stars als Gäste zu uns gekommen ist, hat einen hinterhältigen Angriff auf die Souveränität Bryants ausgeführt. Während sie vorgaben, die HPG-Anlage zu schützen, haben Angehörige dieser Truppe einen Versuch unternommen, sich wie gewöhnliche Piraten die Reichtümer unserer Welt anzueignen. Zugleich haben Abgesandte dieser Söldnerbande entweder im Auftrag Com Stars oder im Solde der Offiziersclique von New Home damit begonnen, Untergrundstrukturen für einen Umsturz zu schaffen. Es ist nur der Wachsamkeit unserer Sicherheitsorgane zu verdanken, daß diese Verschwörung ans Licht kam. Auf die bewaffneten Kräfte Bryants wurde das Feuer eröffnet.
Ich habe unsere Streitkräfte dazu ermächtigt, mit allen Kräften zurückzuschlagen. Wir werden jede Bedrohung unserer teuer erkauften Unabhängigkeit auszuschalten wissen. Jeder Feind, egal woher er kommt, hat auf Bryant nichts zu erhoffen als Tod und Gefangenschaft.
Ich verlasse mich auf euch, meine Mitbürger. Ich weiß, ihr alle liebt eure Heimat. Einmal mehr sammeln sich dunkle Wolken am Horizont. Einmal mehr droht ein Sturm der Gewalt zu zerstören, was wir uns in langen Jahren aufgebaut haben, für uns und vor allem für unsere Kinder. Doch wie wir den Stürmen unserer Heimat getrotzt haben, wie wir uns nicht einschüchtern ließen durch die Unbilden dieser Welt, so haben wir bisher jeden Angriff abgewehrt und werden dies auch weiterhin tun. Ich rufe euch alle auf, nach Kräften zu helfen, die Feinde zu vernichten. Wer unsere Gastfreundschaft für Verrat mißbraucht, hat weder Anrecht noch Hoffnung auf Großmut. Im Glauben an euch, und an unsere Zukunft, bin ich mir gewiß, daß wir siegen werden.“
Er schaltete die Anlage aus: „Aufzeichnung abspeichern. Sicherheitskopie an die Sendeanlagen. Abspielen bei Codewort ,Bagration‘ – Radio wie Audio.“ Er stand auf: „Und lassen Sie meinen Mech vorbereiten.“
Cattaneo
Für die Heimat, für Dvensky
Der ungekennzeichnete Transporter bremste abrupt. Eine Gestalt in grauweißer Tarnmontur sprang von der Ladefläche. Sie trug ein schweres Gewehr – vermutlich einen Zeus-Klon – geschultert. Mit dem Mündungsfeuer-/ Schalldämpfer und dem IR-Zielfernrohr sah die Waffe durchaus martialisch aus. Der Mann drehte sich zu den anderen Insassen um: „Absitzen! Los, los, wir haben nicht viel Zeit!“ Einer nach dem anderen saßen sie ab, in der Mischung aus Eifer und Unsicherheit, die für unerfahrene Truppen typisch war. Sie sahen zwar alle gleich aus in den identischen Uniformen, und die Stahlhelme und Kinnriemen gaben ihnen ein markiges Aussehen, aber in vielen der Monturen steckten halbe Kinder.
Den Truppführer wiesen die Schulterklappen als Sondermilizionär des Innenministeriums aus – ein „Smerschniki“. Es schien ihn wenig zu stören, daß seine „Truppe“ fast ausschließlich aus halbwüchsigen Angehörigen der paramilitärischen Bereitschaft und normalen Polizisten bestand, und daß sie nicht mehr als 30 Mann umfaßte. Er kannte seine Aufgabe, und glaubte sich durchaus in der Lage, sie zu erfüllen.
„Karabinerschützen – ihr besetzt die Häuser. Paarweise abzählen. Erst schießen, wenn ihr ein sicheres Ziel habt, und immer sofort die Stellung wechseln. Raketenwerfer...“ er deutete auf einige Eingänge: „Da, da und da. Sprengladungen und Minen hier ablegen. Und immer dran denken – seht ihr noch Zivilisten, dann macht ihnen Beine.“ Dvensky wollte nach Möglichkeit vermeiden, daß seine Untertanen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Sie folgten ihm, weil er ihnen Schutz versprach, und er hatte nicht vor, seine eigenen Versprechen Lügen zu strafen. Nur so funktionierte Herrschaft verläßlich – als Geschäft zu beiderseitigem Nutzen.
Die ,Soldaten‘ entledigten sich der Bündelladungen und Panzerminen, von denen jeder eine bei sich trug. Dann wurden die Sprengsätze scharf gemacht und jeweils paarweise plaziert. P-Minen verschwanden unter dem Schnee, der die Straße bedeckte. Sonst ein Verkehrshindernis, wurde er jetzt zum Verbündeten. Das leichte Schneetreiben war im Augenblick keine echte Sichtbehinderung. Ein richtiger Schneesturm hätte es schwer gemacht, die eigene Hand zu erkennen. Nun, besser als nichts. Vor allem, wenn die Angreifer von einer Welt kamen, auf der sie selten unter diesen Bedingungen zu kämpfen hatten.
Wie bei vielem hatte man hier nichts dem Zufall überlassen – die Ladungen trugen ebenfalls einen Tarnanstrich und waren damit für die Angreifer nur schwer auszumachen. Auch im MAD-Bereich konnte sie natürlich nicht wissen, ob es eine Mine oder sonst etwas war. Auch hatten die Bryanter nicht vor, die Sprengsätze in der üblichen selbstmörderischen Manier per Hand am Ziel anzubringen. Wenn man die Ladungen per Fernsteuerung auslöste, oder wartete bis jemand auf eine Mine trat, waren diese Waffen immer noch recht effizient. Der Kommandeur nickte, während er immer wieder auf die Uhr schaute. Noch etwa eine halbe Stunde...
Man hatte ihm nur drei KSR-Werfer mit je zwei Spreng- und zwei Infernoraketen übergeben, und die Gewehre der meisten seiner Soldaten waren simple Repetierkarabiner, allerdings mit Zielfernrohren, die auch bei diesem Wetter eine nützliche Hilfe waren. Es war nicht seine Aufgabe, den anrückenden Truppen, wenn sie hier durchkamen, einen heroischen Kampf bis zum letzten Mann zu liefern. Dvensky war bestimmt kein sentimentaler Mensch, doch er scheute sich aus logischen Gründen, daß Leben seiner Soldaten zu vergeuden. Deshalb würden die Vernichtungskommandos – gebildet aus paramilitärisch ausgebildeten Jugendlichen und Erwachsenen sowie normalen Polizisten mit Smersch-Angehörigen als Anführern – den Gegner vor allem verlangsamen. Ihre Aufgabe war es, Mechs und Panzern mit Minen und Raketen bei günstiger Gelegenheit Schläge zu verpassen, und die gegnerische Infanterie in Deckung zu zwingen. Wenn der Feind erst einmal unter Feuer geriet, wirkte sich das fast immer nachteilig auf seine Geschwindigkeit aus, zumal Mechs oft nicht gerne allein in einer fremden Stadt unterwegs waren. Dann würde die reguläre Infanterie und die bryantischen Kampffahrzeuge vorstoßen. Dvensky mußte warten, bis die Stoßrichtung des Gegners feststand, ehe er losschlug – alle Richtungen konnte er gar nicht mit seinen regulären Truppen abdecken.
Der Truppführer nickte. Alles nach Plan, oder zumindest im Rahmen akzeptabler Parameter. Zusammen mit seinem Beobachter, einem Kollegen, machte er sich auf den Weg zu seinem eigenen Gefechtsposten.
Bei Dvensky liefen alle Fäden zusammen. Die Überwachung der gegnerischen Flugbahn wie die Meldungen der bryantischen Verteidigungskräfte, die jetzt ihre Positionen bezogen. Ein weiterer Grund, warum er den Söldnerführer wohlweislich nicht neben sich haben wollte. Er hatte so schon genug zu berücksichtigen. Einen schweren Mech, dem er nicht mal so weit traute wie er ihn werfen konnte, konnte er nun wahrlich nicht in seiner Nähe gebrauchen. Stattdessen hatte er den Söldner zu Tereschkows überschwerer Panzerlanze geschickt. Der Panzermajor würde den Söldner im Auge behalten. Nur der Umstand, daß Dvensky es sich nicht leisten konnte, den Söldling zusätzlich zu verprellen, war es zu verdanken, daß der Diktator überhaupt auf das Angebot eingegangen war. Wenn Danton es ernst gemeint hätte, hätte er sich wohl außerhalb seines Mechs zur Verfügung gestellt. Dvensky traute der mentalen Stabilität Danton seit dem ersten Tag nicht mehr, mochte der Fremdwelter auch durchblicken lassen, es sei nicht ernst gemeint gewesen. So etwas überhaupt zu versuchen war schon verrückt genug. Also mußte Dvensky sich in Acht nehmen. Aber da ließ sich auch etwas machen...
Die Luftwaffe der Söldner war ebenfalls ein ernsthaftes Ärgernis. Er hatte sie auf einen extrem engen Korridor begrenzt mit dem eindeutigen Hinweis, sollten sie ihn auch nur um einen Meter verlassen könne er nicht für ihre Sicherheit garantieren. Aber das war natürlich keine Lösung des Problems. Wenn die auf einmal gegen ihn losschlugen, sah es nicht gut aus. Ihre überschweren Jäger waren mehr als ernst zu nehmende Gegner. Und er hatte nur ein paar Männer mit tragbaren Luftabwehrraketen einteilen können, die die Söldnermaschinen im Auge behalten sollten. Sollten sie freilich ihren Korridor verlassen würde die Flak auch auf sie draufhalten. Aber ob das genügen würde, stand in den Sternen.
Der Chef der Söldner hatte jetzt jedenfalls zusätzlich eine dritte Person mit schwerer Pistole im Cockpit, die nur darauf wartete, daß er etwas Falsches machte. Zudem bestand ständig Funkverbindung, und die Panzer warteten nur auf den Feuerbefehl. Der Söldner mochte oft nicht ganz rational handeln, aber Todessehnsucht hatte er wohl nicht. Also würden seine Leute kaum losschlagen, während er hier war. Danton würde wohl nie erfahren, wie leicht die Sache von Anfang hätte schiefgehen können für ihn und seine Bande von Mietlingen. Als die Meldung kam, daß die feindlichen Schiffe im Anflug waren, und daß bei den Chevaliers offenbar Gefechts- und Startbereitschaft befohlen wurde, hatte Dvensky daran gedacht, Codewort ,Bagration‘ auszugeben. Vor allem, als man ihm Funkkontakt zwischen den Söldnern und der zweiten feindlichen Truppe gemeldet hatte. Ein vernichtender Schlag, so war seine Überlegung gewesen, mitten unter die sich gerade formierenden Landsknechte. Sie kampfunfähig schlagen, mit aller Macht, ehe noch ihre – Verbündeten? – eintrafen. Er hatte sich dagegen entschieden. Die Chevaliers waren immer noch kein leichter Gegner, zumal mit ihren Clanmaschinen. Wenn sie gegen ihn waren, dann würde der Schlag nur begrenzte Wirkung haben, da sie dann wohl vorsichtig seien würden. Zwischen zwei, oder sogar drei, Gegnern eingekeilt, würden die bryantischen Truppen wenig Chancen haben, den Feinden wirksam zu begegnen. Also hatte er erst einmal abgewartet, und seine Truppen kampfbereit gemacht. Eine andere Möglichkeit blieb ihm kaum. Der Schatun lächelte grimmig, obwohl in der Lage nichts Erheiterndes zu finden war. Seine lieben Nachbarn hatten sich also gegen ihn zusammengetan. Erstaunlich, da mußte er sie härter getroffen haben, als angenommen. Andererseits hieß das vielleicht, daß sie sich gezwungen sahen, ihn ernst zu nehmen. Das konnte er vielleicht auch zu seinem eigenen Vorteil nutzen – möglicherweise würden sie es sich künftig überlegen, ihn auch als Bündnispartner in Betracht zu ziehen. Wenn er ihnen erst einmal bewies, WIE ernst er zu nehmen war. Und wenn er ihnen jetzt eine gute Schlacht lieferte, würden sie es sich zweimal überlegen, je noch mal wiederzukommen. Er hatte diesen Schlag nicht kommen sehen. Das Aufklärungsnetzwerk hatte zwar feindliche Truppenbewegungen gemeldet, doch hatten die Annalisten angenommen, es ginge um Umstrukturierungen oder um eine neue Offensive auf New Home. Die Geheimdienstchefin hatte eine Zusammenarbeit beider Bürgerkriegsparteien für unwahrscheinlich gehalten, und Dvensky hatte nie daran gezweifelt, daß sie damit Recht hatte. Es war eigentlich auch widersinnig, was hier passierte. Bekam einer der beiden Angreifer einen Schlag aufs Haupt – und angesichts der Stärke Bryants war dies nicht auszuschließen – dann riskierte die jeweilige Partei für diesen Angriff ihre Stellung auf New Home. Was zum Teufel konnte das wert sein? Man warf sieben Jahre Kampf doch nicht für so eine Schnapsidee weg. Immerhin kämpften die New Home Regulars und die 30. Lyranische Garde seit Jahren um New Home, und das keineswegs immer mit Gentlemenmethoden.
Diese Einschätzung war ein Irrtum gewesen, und Dvensky hatte der Major Jegorowa schwere Vorwürfe gemacht, ehe er in die Schlacht gezogen war. Er sah ein, daß sie mit ihrem Mitteln nicht alles erfahren konnte, aber Dinge wie diesen Angriff MUßTE sie herausbekommen, das war ihre oberste Aufgabe. Wie er sie kannte würden dafür Köpfe rollen. Einige Feindnachrichtenexperten würden in Zukunft als bessere Hilfssekretäre arbeiten dürfen, und auch im Agentennetz in New Home würde es Bewegungen geben. Er mußte allerdings zugeben, daß er nicht zuviel von ihr erwarten durfte. Das Projekt, an dem sie seit sechs Monaten arbeitete, und das für Dvenskys Zukunftspläne von entscheidender Bedeutung war, hatte zusammen mit diesen verdammten Söldnern einiges an Aufmerksamkeit und Mitteln gebunden, die eben anderswo fehlten. Er würde sie natürlich nicht ablösen. Dazu war sie zu nützlich, und dazu eine Weggefährtin quasi von Anfang an. Ohne sie wäre er vermutlich schon vor Jahren einem Umsturz oder Anschlag zum Opfer gefallen, oder bei einem fehlgeschlagenen Beutezug getötet oder gefaßt worden.
Der Diktator traute Dantons Beteuerungen natürlich immer noch nicht. Aber es war unwahrscheinlich, daß Danton – oder wer auch immer hinter ihm steckte – einen umfassenden Plan mit allen DREI Parteien ausgeklügelt hatte. Vor allem, der Söldnerführer hatte sich viel zu dumm für jemanden angestellt, der eine wichtige Rolle in einem derart komplexen Verwirrspiel zu übernehmen hatte. Es war klar, daß er Bryant zu schaden trachtete – daran ließen die gemeldeten Aktivitäten seiner Untergebenen auf Tomainisia wenig Zweifel. Außer man nahm an, er sei einfach nur inkompetent und wüßte nicht, daß seine Untergebenen auf eigene Rechnung agierten. Auf jeden Fall aber war es unwahrscheinlich, daß er Teil eines groß angelegten Eroberungsplans mit Hilfe der Bürgerkriegsparteien von New Home war. Vermutlich hatte er eher in irgendeiner Spelunke von einem Plünderer, der Bryants Netzen entkommen war, Flausen in den Kopf gesetzt bekommen. In den Gerüchten erschien der Reichtum Bryants wohl noch größer, und vor allem leichter erreichbar, als er wirklich war. Und jetzt suchten seine Leute wohl auf Gutglück in einer der Städte.
Zumindest redete Dvensky sich das ein. Überzeugt war er nicht davon, aber er konnte einen Kampf gegen alle drei Gegner auf einmal kaum gewinnen. Einen nach den anderen, mit diesem verräterischen Söldner würde er sich auch noch beschäftigen. Oder sollte Blakes Wort das für ihn übernehmen...
Es blieb ihm nur, sich auf das Augenblickliche zu konzentrieren. Auf seinem Taktikbildschirm wurde angezeigt, wie seine Truppen in Stellung gingen.
„Luftwaffe – verhindert um jeden Preis, daß ihre Jäger uns in den Rücken fallen.“ Feindliche Luftherrschaft war etwas, das Dvensky beim Kampf besonders fürchtete. Der Gegner würde in diesem Fall die Möglichkeit haben, die schweren Einheiten Bryants problemlos zu orten und zu bekämpfen. Deshalb hoffte er auf die eigenen Maschinen und auf die Flak. Brein war seit Jahren auf einen möglichen Ernstfall vorbereitet worden, und der Luftabwehr war dabei eine wichtige Rolle zugekommen. Im Nachhinein bedauerte es Dvensky, daß er nicht noch mehr unternommen hatte. Nun, das Vorhandene mußte reichen. Die sechs mittelschweren Jäger Bryants waren im Verbund mit den zwei Leoparden vermutlich in der Lage, eine feindliche Luftherrschaft zu verhindern. Solange sich die verdammten Söldner ruhig verhielten. Sollten die die Fronten wechseln, würden die Bryanter es selbst mit ihrer Flak schwer haben. Netschajew, der im Augenblick die Verteidigung Tscheljabinsks organisierte, war da wesentlich schlechter dran. Aber Dvensky konnte ihm nicht helfen – er mußte sich darauf verlassen, daß der altgediente Infanterist alleine klarkam. Der Diktator verfluchte sich innerlich, daß er Mechs und Panzer nach Brein hatte verlagern lassen. Seine Schwester wie Tereschkow waren dagegen gewesen, und sie hatten offenbar Recht gehabt.
Cattaneo
Überall in der Stadt gingen die bryantischen Kampfgruppen in Stellung. Luftabwehrgeschütze wurden nach oben gekurbelt, die Bataillonswerfer und Selbstfahrpak bezogen Stellung. Dvensky war froh, daß seine Truppe in der Hinsicht gut ausgerüstet war. Anders als viele ,Amtskollegen‘ hatte er nie nur auf die Mechs in ihrer grandiosen Unbezwingbarkeit gesetzt. Es war immer verführerisch, auf eine so machtvolle Waffe zu vertrauen, die zudem in den Händen weniger lag, so daß dort Verrat weniger wahrscheinlich war. Aber wer nur ein Standbein hatte, war leicht zu stürzen. Jetzt würde es dem bryantischen Diktator zu Gute kommen, daß er auch in die Infanterie und Panzer investiert hatte.
Die mobilen Streitkräfte waren in Kampfgruppen unterteilt, meistens aus je zwei Lanzen bestehend, wobei Panzer und Mechs oft gemischt zum Einsatz kamen. Da sich der Kampf in den Straßen abspielen würde, war es nicht eben ratsam, eine ganze Kompanie hintereinander vorrücken zu lassen. Dazu kamen Nahkampfkommandos der Infanterie. Das Netz mußte nur noch ausgelegt werden, und sobald feststand, wo der Gegner vorrückte, würde es sich zuziehen. Der Plan ging natürlich davon aus, daß der Feind mehr vorhatte, als einfach ein paar Gehöfte und Dörfer im Umland zu verheeren. Für diesen Zweck war die feindliche Kampfgruppe zu groß, die Mühen und Risiken eines Sprungs nach Bryant hätten derartig begrenzte Ziele kaum gerechtfertigt.
„Mylord“, meldete sich die Stimme des für die Luftraumüberwachung zuständigen Offiziers: „Landungsposition ermittelt. Koordinaten folgen.“ Auf der Karte leuchtete ein Rechteck auf, auf der dem Raumflughafen entgegengesetzten Seite der Stadt. Nun, das war nur logisch. So vermieden die Angreifer es, in den Beschuß der dort stationierten Geschütze zu geraten. Außerdem hätte dann die Gefahr bestanden, daß sie mit den Chevaliers aneinandergerieten, wenn erst einmal das Flugfeld umkämpft wurde.
Also dann – es ging los...
„Kampfgruppen Eins, Drei bis Sechs – auf Positionen Rot-3 vorrücken.“ Der gewaltige Marodeur setzte sich in Bewegung, an seiner Seite der Victor. Dvensky kommandierte Kampfgruppe Drei – seine eigene Maschine, sein treuer Begleiter, dazu eine Lanze Myrmidon-Panzer und die leichte Lanze der 2. Mechkompanie. Damit hatte er erhebliche Feuerkraft zur Verfügung, und er gedachte sie zu nutzen. Doch der Schatun blieb vorsichtig – mehrere Kampfgruppen wurden noch zurückgehalten. Erst wenn der Gegner wirklich gelandet war, konnte er sichergehen, daß eine taktische Disposition nicht zum Fehler wurde, weil seine Feinde auf einmal ganz woanders absprangen. Der Umstand, daß er sich auf seine Luftwaffe verließ, erlaubte ihm dies. So würde er auch später noch umgruppieren können, ohne dabei das Risiko andauernder Luftangriffe einzugehen. Wenn nur nichts schief ging – die zwei Stukas der Söldner waren ein permanenter Unsicherheitsfaktor.
Der Geheimpolizist setzte sein Fernglas ab. Es sah ganz so aus, als ob er in der Schneise des feindlichen Vormarsches liegen würde. Die Unions setzten gerade zur Landung an. Die gegnerischen Jäger schlugen sich mit der bryantischen Luftwaffe herum – nicht unbedingt sehr erfolgreich, wie es schien. Aber unterstützt durch die Geschütze der Landungsschiffe konnten sie verhindern, daß die Bryanter durchbrachen. Der Mann log sich selber nichts vor. Natürlich hatte er Angst. Aber er war auch Realist, und als solcher schätze er seine Chancen nicht schlecht ein. Ein einzelner Mann mit einem Karabiner war ein Ziel, daß nur schwer auszumachen war. Und die Angreifer würden bald ganz andere Probleme haben. Außerdem hatte er sowieso keine Wahl. Wenn das ein ernstgemeinter Versuch war, Bryant zu erobern – er und seinesgleichen würden zu denjenigen zählen, die von den neuen Herrschern als erste an die Wand gestellt wurden. Und es gab auch auf Bryant selber eine ganze Anzahl Leute – Kriminelle, wertloser Dreck, aber es gab ihn – die Rechnungen zu begleichen hatten. Folglich hatte er allen Grund, sich Mühe zu geben. Mit bemüht ruhiger Stimme begann er, Meldung zu machen.
„Feindliche Maschinen werfen Mechs ab, offenbar um Landung abzusichern. Ich zähle Mechs – sechs bis acht, überwiegend mittelschwere Maschinen. Koordinaten für Landungspunkt sind Alpha-3-Omega-7, Korrekturen folgen.“ Dvensky hörte die Meldungen aus dem Sprechfunkgerät. Jetzt stand es also fest. Jetzt konnte er die restlichen Kampfgruppen in Stellung bringen. Außerdem...“Werfer – Feuer frei nach eigenem Ermessen!“
Er warf einen Blick auf den Luftraumradar. Dort wurde offenbar hart gekämpft. Bevor alles unübersichtlich geworden war, hatte man ihm zwei Trush, vier Transit und zwei Transgressor gemeldet – typische Liao-Maschinen, und keineswegs zu unterschätzen. Er unterdrückte die Sorge um seine Geliebte, die dort oben kämpfte. Er konnte sich eine Ablenkung einfach nicht leisten. Sie war eine gute Pilotin, im Augenblick konnte er für sich nichts tun. Dennoch mußte er sich zwingen, alle Aufmerksamkeit auf den Bodenkampf zu richten, vor allem, da jetzt ein bryantisches Jägersymbol vom Bildschirm verschwand. Das Gesicht des Diktators war wie aus Felsen gemeißelt. Keine Zeit, zu überprüfen wen es getroffen hatte. Doch sollte sie ums Leben kommen, würde er New Home dafür zahlen lassen – und wer sonst noch verantwortlich war.
Der Salvenwerfer war zusammen mit seinen Geschwistern in Stellung gegangen. Der Batteriechef zog demonstrativ an seinem selbstgedrehten Glimmstengel. So etwas war immer gut für die Soldaten – wenn der ,Alte‘ dafür Zeit hatte, konnte es so schlimm wohl nicht sein. Er wußte, auch für sie konnte es ernst werden, denn für den Fall eines Durchbruchs bestand ihre Absicherung lediglich aus ein paar Minen und vier KSR-Schützen. Aber dafür hatten sie auch die Chance als erste loszuschlagen. Das Funkgerät knackte, dann drangen die abgehackten Befehle aus dem Lautsprecher. Ein paar Straßen weiter kläfften mehrere schwere Mörser los – vermutlich auf das selbe Ziel, das man ihm wies. Mit betont gelassener Geste spuckte er die Zigarette aus und gab die Koordinaten an die Richtschützen durch. Dann hob er die Hand, denn diesen Befehl gab der Batteriekommandeur immer noch selber: „Für die Heimat, für Dvensky – FEUER!“ Und mit einem Schlag spien die vier Werfer gut sechzig Raketen aus, die sich mit einem mörderischen Heulen auf flammender Bahn in den Himmel bohrten und dann als tödlicher Regen auf den Feind niedergingen. Die Schlacht hatte begonnen.
Der Smerschoffizier sah, wie im Landungsgebiet die Explosionen aufblühten. Die kleineren Detonationen, wo Raketen einschlugen, und die stärkeren Sprengwolken der schweren Mörsergranaten. Er grinste verzerrt. Kein freundlicher Empfang für die Angreifer. Die Mechs ließen sich davon wohl kaum beeindrucken, doch für feindliche Panzer und besonders für die zumeist nur leichtgepanzerten MTW’s der Infanterie sah die Sache schon erheblich anders aus.
Natürlich war derartiger Beschuß nur so lange möglich, wie die Batterien verläßliche Zielangaben bekamen und die Konfliktparteien noch nicht zu stark ineinander verbissen waren.
Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, daß die Begrüßung die ungebetenen Gäste schon gestoppt hätte. Leider, wenn auch kaum überraschend, handelten sie genau richtig, stießen so schnell wie möglich vor. So konnte ihnen der Beschuß schlecht folgen. Gerupft waren sie freilich teilweise schon etwas – abgesprengte Panzerplatten, Brandflecken auf der Panzerung, wohl hier und da auch die eine oder andere beschädigte Waffe, angeschlagene Sensoren. Ein feindlicher Po-Panzer war sogar liegengeblieben, ein glücklicher Treffer hatte ihm wohl die Kette abgesprengt und seine Triebräder beschädigt. Die Maschine gab ihren Kameraden Feuerschutz, aber es sah nicht gut aus für sie. So wie es jetzt um sie stand, konnte die Maschine nur kriechen, und hoffen, daß ihr nicht der Rest gegeben wurde, ehe sie den Schutz der Landungsschiffe erreichte.
„Ich zähle etwa anderthalb Dutzend Mechs, die Hälfte davon leicht und mittelschwer.“, meldete die Stimme des unbekannten Beobachters dem Herrscher. „Panzer begleiten sie, etwa ein Dutzend. Überwiegend Kettenfahrzeuge mittleren Kalibers, aber auch vier mittelschwere Schwebepanzer – vermutlich Kondor-L. Infanterie zwischen zwei und vier Kompanien, einige gepanzerte Geschützträger. Bereite Feuereröffnung vor, Ende und Aus.“ Der Diktator Bryants runzelte die Stirn. Was zum Teufel sollte das denn werden? Mit so einer Streitmacht hätte der Feind nicht einmal die normale Garnison Breins überwinden können. Gab es vielleicht doch ein Abkommen mit den Chevaliers? Für die paar Depots, die in diesem Sektor der Stadt lagen, lohnte es sich kaum, so viel zu riskieren. Wie hatte man ihm doch gesagt hatte die Absicht der Angreifer laut des abgefangenen Funkspruchs gelautet? Ein Denkzettel. Denkzettel? Dvensky schüttelte den Kopf. ,Idioten‘ dachte er bei sich. Entweder man führte Krieg oder man ließ es bleiben. Und der Angriff hier war nicht sonderlich gut durchdacht, nicht Fleisch noch Fisch. In der wichtigsten Stellung des Gegners mit unzureichenden Mitteln zuzuschlagen, das bettelte geradezu nach einer Abfuhr. Außer natürlich, es gab da etwas, was er nicht wußte – wie eben diese verdammten Söldnern, die Hölle möge sie verschlingen. Aber jetzt konnte er sowieso nichts gegen sie unternehmen.
Dennoch, er wollte sich lieber keinen Vernichtungskampf mit dem Feind liefern. Eine schwere Schlacht inmitten seiner eigenen Stadt konnte nur ruinös enden. Und mit den Chevaliers im Rücken war es besser, dem Feind mit ein paar harten Nackenschlägen den Schneid abzukaufen, als ihn wirklich zum äußersten zu treiben. Und wenn er ihn ohne richtige Kämpfe loswurde...
Mit wenigen Handgriffen stellte er eine extrem niedrige Funkfrequenz ein, die von den Bryantern normalerweise nicht verwendet wurde. Sie hatte an sich durchaus die Möglichkeit, Tscheljabinsk zu erreichen, da die Ladestation als Relais fungierte. Wenn der Feind nicht völlig unfähig war...
„Hier Bryant Eins an Stein Eins. Ihre Informationen waren korrekt. Feindzahl wie angegeben, Marschrichtung dito. Wir versuchen planmäßig vorzugehen. Bitte bleiben Sie innerhalb des Ihnen zugewiesenen Landungsareals, damit es nicht zu Mißverständnissen kommt. Beutegut werde ich Ihnen wie abgesprochen zur Hälfte zuweisen.“ Dann beendete er die Sendung. Wenn die New Home Regulars die Sendung auffingen, würden sie vermuten müssen, daß ihre ,Verbündeten‘ sie verraten hatten. Natürlich würden sie sich ebenso ausmalen können, daß diese Meldung möglicherweise auch nur gefälscht war. Aber angesichts des massiven Gegenfeuers, dem sie ausgesetzt waren, und dem Umstand, daß ihnen nicht entgangen seien konnte, daß in Brein ein Großteil der bryantischen Truppen standen, würden sie sich vergewissern müssen. Und wenn sie auch nur kurz mit der 30. Lyranischen Garde sprachen, es würde sie verunsichern und ihnen kostbare Sekunden rauben. Und dann würde es noch leichter fallen, ihnen klarzumachen, daß der Besuch auf Bryant keine gute Idee gewesen war. Wenn nur in Tscheljabinsk alles glatt ging.
Cattaneo
Die Schritte der Mechs ließen den Boden erzittern. Die Motoren der gegnerischen Panzer und MTW machten genug Lärm für eine ganze Panzerdivision. In die Kakophonie der Laute des Krieges mischte sich noch das obligatorische Heulen der Salvenwerfer und Mörser, die jetzt, da sie die mobilen Feindeinheiten nur noch begrenzt unter Feuer nehmen konnten, sporadisch die Landungsschiffe aufs Korn nahmen. Und am Himmel tobte die Schlacht der Jäger.
Die Feinde hatten sich in drei Kampfgruppen aufgespalten, die auf parallelen Straßen vorstießen. Jede einzelne war durchaus ernst zu nehmen. Die mittlere, die von acht Mechs und vier Panzern sowie etlichen Kleinfahrzeugen und Infanterie gebildet wurde, hielt direkt auf den Beobachter zu. Der Geheimpolizist ließ das Visier über die feindliche Gruppe wandern. Noch kein eindeutiges Ziel...
Jetzt mußte der erste Mech, ein Heuschreck, eigentlich die vordersten Sprengladungen erreichen. Die Maschine wies bereits einige Beschädigungen auf. Dennoch – für einen Infanteristen war sie mit ihrem mittelschweren Laser und den zwei großkalibrigen Maschinengewehren ein tödlicher Gegner. Der Truppführer zog nervös die Luft ein. Jetzt kam es darauf an, daß seine Untergebenen die Nerven behielten. Angesichts von buchstäblich hunderten Tonnen an Stahl und Vernichtung war dies sicherlich nicht leicht. Sollten sie desertieren, dann würde das auf ihn zurückfallen. Und vor allem – es konnte für Bryant teuer werden. Wo zum Teufel...
Die Explosion tauchte Mech, Straße und Häuser in blutiges Rot. Ein Flammenball blühte am Straßenrand auf, ließ die massiven Gebäude erzittern. Für einen Augenblick verschwand der feindliche Mech im Feuer. Dann, als die Explosion in sich zusammensackte, wurde er wieder sichtbar. Die für einen Mech fragile Kampfmaschine – doch immerhin noch 20 Tonnen schwer – neigte sich zur Seite. Das rechte Bein war zerfetzt und konnte das Gewicht des Torsos nicht mehr tragen. Ein normaler Mech mit Armen hätte sich vielleicht abfedern können, doch der Heuschreck hatte diese Chance nicht. Mit einem donnernden Tosen stürzte er zu Boden.
Im selben Augenblick eröffneten die KSR-Werfer das Feuer. Eine Rakete setzte den liegenden Heuschreck in Brand. Drüben rückten die feindlichen Geschützträger vor, bootete Infanterie aus. Der ,Smerschniki‘ hob sein Gewehr, nun war er an der Reihe.
Es dauerte keine fünf Minuten, dann war der Kampf endgültig eskaliert. Die Plänkerer der Bryanter verlangsamten den Vormarsch des Gegners, konnten ihn aber natürlich nicht aufhalten. Sie zwangen ihn jedoch dazu, vorsichtiger vorzugehen. Ein einzelner Infanterist mit einem Infernowerfer konnte einen 60-Tonnen-Panzer abschießen, Beispiele dafür gab es genug. Die Infanterie, die eigentlich Panzerfahrzeuge vor diesem Schicksal beschützen sollte, war selber ein Ziel für Scharfschützen. Die New Home Regulars gingen sorgfältig vor, und das bewahrte sie vor zu hohen Verlusten, aber dabei verloren sie Zeit. Ihr erstes Ziel, ein mittelgroßes Depot, flog nach kurzem Beschuß in die Luft. Doch ihr zweites Ziel – eine Fabrik für Kleinwaffen – lag, ohne daß sie es wußten, bereits jenseits der Linie, die sie jetzt noch erreichen konnten. Als sie auf ihr Sekundärziel vorrückten, liefen sie genau in Dvenskys Truppe und in Tereschkows schwere Panzerlanze, die von vier Tank-34 unterstützt wurde. Der Panzermajor war über seine Neuerwerbung vermutlich alles andere als glücklich, aber vermutlich würde er auch diese Aufgabe mit gewohnter Effizienz in Angriff nehmen. Sollte Danton also eine Dummheit versuchen... Vielleicht tat er ja sogar was Nützliches, möglicherweise das erste Mal in seinem Leben, indem er gegnerisches Feuer auf sich zog. Das waren jedenfalls Dvenskys zynische Gedanken.
Auch die übrigen schweren Kampfgruppen der Bryanter rückten vor. Frontal griffen die schwersten Kampfgruppen der Verteidiger an, dort waren ihre größten Mechs massiert. An den Flanken gingen Bataillonspak sowie leichtere Mechs und Panzerfahrzeuge zum Gegenangriff über.
Die Diener des Kanzlers schossen zurück und bewiesen einmal mehr, daß die Davionpropaganda von den feigen, unfähigen Capellanern nicht viel mehr als dummes Public-Relation-Geschwätz war. Sie hätten sich niemals gegen die 30. Garde auf New Home halten können, wenn sie inkompetent gewesen wären. Aber diese eisige Welt war nicht ihr übliches Schlachtfeld, und ihr Gegner kannte sich in der Stadt besser aus. Außerdem kämpfte er um seine Heimat, während sie nur mit begrenzter Begeisterung der Möglichkeit entgegensahen, für einen ,Denkzettel‘ ihr Leben zu verlieren. Etliche hätten es vielleicht lieber gesehen, mit Dvensky gemeinsam gegen die 30. Garde zu kämpfen. So lange er sie nicht bis zum Äußersten trieb, waren sie seinen Truppen an Entschlossenheit unterlegen. Und schnell war ihnen klar, daß sie zudem auch noch an Schlagkraft ins Hintertreffen gerieten.
„Gegner hat Vormarsch abgebrochen – geht geordnet auf LZ zurück. Wir drängen nach.“, meldete eine aufgeregte Stimme. Dvensky mußte grinsen. Na also, das schien doch zu klappen. Er löste einmal mehr die beiden ER-PPK aus, die seinem Mech eine enorme Feuerkraft verliehen. Zeit, die Botschaft noch etwa snachdrücklicher zu formulieren:„Werfer – LZ anvisieren. Macht ihnen klar, daß sie hier nichts zu suchen haben!“
Er aktivierte einen weiteren Kanal: „Luftwaffe – bereitmachen zu Passierangriff auf die LZ.“
So kaltblütig und erfahren er war, er konnte nicht vermeiden, daß sich sein Herz zusammenkrampfte, als eine andere Stimme als die erwartete antwortete: „Hier Leutnant Matjewew. Major Prokofjewna wird vermißt. Leutnant Koshin ist gefallen. Erwarte Ihre Befehle, Mylord!“
Dvensky schwieg. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß ,vermißt‘ bedeuten mochte, daß die Frau, die in seinem Leben wohl der wichtigste Mensch war, mit dem Fallschirm ausgestiegen oder notgelandet war. Seine Stimme klang dennoch erstickt, trotzdem er wußte, daß er sich keine Blöße geben durfte. Nicht, daß es etwas nützte – die Piloten der kleinen Luftwaffe kannten ihre Kommandeurin so gut wie eine Schwester und wußten, was sie Dvensky bedeutete. Der Herrscher konnte sich ausmalen, wie sie selber empfinden mußten, angesichts des Todes eines ihrer Kameraden und des ungewissen Schicksals ihrer Staffelführerin.
Er biß die Zähne zusammen: „Tiefflugangriff auf Nachzügler. Die Leopard sollen Feuerschutz geben.“ Er wünschte nichts mehr, als die feindlichen Landungsschiffe vom Himmel zu holen, doch er mußte sich beherrschen. Eigene Leute zu opfern für Rache wäre töricht gewesen. Aber sollte sie gefallen sein, dann würde er Rache nehmen. Nicht heute oder morgen – aber dafür umso gründlicher...
Der Smerschoffizier holte tief Luft, dann nahm er Anlauf und sprang durch die Flammen. Nur knapp waren er und sein Kamerad dem feindlichen Beschuß entkommen. Er vergewisserte sich, daß sie noch beisammen waren. Er selber hatte Glück gehabt, aber der Arm des zweiten Geheimpolizisten war bandagiert und am Körper fixiert. Ein Granatsplitter – es würde Wochen dauern, bis der Arm wieder voll funktionstüchtig war. Nun, dafür hatte er nach den Zielangaben des Verletzten einem Panzerfahrer eine Kugel in den Halsansatz verpaßt und mindestens einen Infanteristen des Gegners erschossen.
Sie entkamen rechtzeitig – das Haus, in dem sie in Stellung gewesen waren, brannte inzwischen lichterloh, zumindest in den oberen Etagen. Er konnte die Zivilisten sehen, die sich in Sicherheit brachten. In weiser Voraussicht war es Vorschrift, daß Schutzräume stets mehrere Zugänge hatten. Sie hatten ihre Wohnung verloren, nicht aber ihr Leben. Und der Staat würde sie nicht im Stich lassen, das war die Gegenleistung für ihre Unterordnung.
Ein bißchen hatte er immer noch Probleme es zu glauben, aber sie hatten es überstanden. Er hatte die feindlichen Landungsschiffe – teilweise ziemlich angeschlagen – starten sehen. Es sah nicht so aus, als würden sie so bald wiederkommen. Vor kurzem war dann die offizielle Bestätigung gekommen, daß sich der Gegner zurückgezogen hatte und auf dem Abflug war. Jetzt ging es darum, sich einen Überblick zu beschaffen, was für Schäden der Angriff hinterlassen hatte.
Etliche Gebäude wiesen mittlere bis schwere Schäden auf, aber ganz zerstört war eigentlich nur das brennende Haus, aus dem er sich gerade gerettet hatte. Er atmete erleichtert die frische Luft, dann wies er seinen Kameraden an, sich zur nächsten Verwundetensammelstelle zu begeben. Er mußte nach seinen Soldaten sehen.
Langsam sammelten sie sich – diejenigen, die überlebt hatten.
Zwei halbwüchsige Soldaten hatten ihre alten Karabiner auf eine junge Frau gerichtet. Sie war offenbar capellanischer Abstammung und trug lediglich Kühlweste und Shorts – also war sie eine Mechkriegerin. Ihr Gesicht wies einen Bluterguß auf, vermutlich von einem Kolbenschlag. Pistolenholster und die Messerscheide, Ausrüstungsgegenstände die jeder kluge Mechkrieger bei sich hatte, waren leer. Die leicht geschlitzten Augen blickten angstvoll. Die Gefangene zitterte, denn trotz der Brände war die Luft eiskalt. Vermutlich lag es nicht nur an den geringen Temperaturen.
Gut möglich war, daß sie fürchtete, vergewaltigt zu werden – nur zu oft das Schicksal, das gefangene Soldatinnen wie auch Zivilistinnen in der Chaosmark erwartete. Angesichts dessen, daß gut die Hälfte der Bewaffneten Frauen und viele der Männer noch halbe Kinder waren, bestand diese Gefahr allerdings weniger. Das sah in Hinsicht eines Lynchmordes allerdings schon ganz anders aus. Die Paramilitärs und Polizisten hatten oft hier ihre erste Bekanntschaft mit dem Tod gemacht. Einmal niedergerissen konnte die Tötungshemmung gerade nach dem ersten Gefecht oft sehr leicht überwunden werden. Der Truppführer hätte sich unter anderen Umständen durchaus vorstellen können, die Frau einfach mit einer Kugel ins Genick zu erledigen. Er wußte, wie so etwas ging. Aber er hatte seine Befehle, außerdem war er einfach nur glücklich, daß er davongekommen war. Seine Untergebenen schienen zum größten Teil überlebt zu haben, die Verwundungen hielten sich in Grenzen. Deshalb übernahm er sofort das Kommando, ehe die Situation eskalierte, anstatt ihr einfach ihren Lauf zu lassen: „Zwei von euch – schafft sie nach hinten. Und wehe, sie kommt nicht an, und das unversehrt! Dafür wird es eine nette Prämie geben, wie auch für den Mech! Ihr habt eure Sache wirklich ausgezeichnet gemacht – das werden die sich dreimal überlegen, bevor sie ihre stinkenden Ärsche hier noch mal herbewegen. Eure Familien können wirklich stolz auf euch sein, Jungs und Mädchen. Habt ihnen kräftig in die Eier getreten.“ Eine der Soldatinnen grinste und wies auf die Gefangene: „Die haben ja gar keine!“ Der Offizier lachte, dann wurde er wieder ernst: „Der Rest hilft mir mit den Verwundeten, und wer dann noch nichts zu tun hat, sieht nach ob die Zivilisten Hilfe brauchen. An die Arbeit.“
Und sie gehorchten ihm. In diesem Augenblick war er nur der ,Alte‘, der mit ihnen gemeinsam gekämpft hatte, nicht mehr der ein wenig furchteinflößende Angehörige der Geheimpolizei. Seine Tarnuniform war verdreckt wie die ihre, und sein Gesicht zeigte das selbe erleichtert-ungläubige Grinsen des Soldaten, der dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war.
Cattaneo
Dvensky hatte sich schnell eine seiner üblichen schmucklosen Uniformen übergeworfen. Er mußte sich dazu zwingen, die nötigen Arbeiten zu erledigen. Die Verlustlisten liefen bei ihm zusammen. Major Jegorowa hatte ihm angeboten, die Arbeit zu übernehmen, doch er hatte abgelehnt. Es war seine Welt, und er mußte sich um sie kümmern.
Neben dem Kommandopanzer Tereschkows hatte er seinen Gefechtsstand eingerichtet – die Maschine hatte die besten Kommunikationseinrichtungen, und er wollte jetzt nicht erst in den Palast zurückkehren. Er mußte sich irgendwie von den quälenden Befürchtungen ablenken.
„Es scheint“, erklang die Stimme der Geheimdienstchefin aus einem der Lautsprecher: „als ob der Gegner nebenher ein Gefangenenlager hätte befreien wollen. Möglicherweise war dies auch sein Hauptziel, dann muß ich mich allerdings darüber wundern, nach welchen Zielsetzungen sie vorgehen. Dort waren einige feindliche Agenten untergebracht, die wir gefaßt hatten. Wir haben elf tote Wachsoldaten des Innenministeriums, acht Schwerverletzte. Etwa 100 Häftlinge geflohen oder vom Gegner evakuiert, mindestens 30 ums Leben gekommen. Die Suche nach eventuell versprengten läuft. Die Truppen des Innenministeriums und die Bereitschaftskräfte melden insgesamt 28 Tote, etwa 60 Verwundete, drei gepanzerte Fahrzeuge verloren.“ Ihre Stimme klang deutlich angespannt. Sie mochte es noch weniger als Dvensky wenn jemand ihren Netzen entkam, außerdem warf das kein gutes Licht auf das System Bryants, das für jede Regelverletzung Strafe versprach. Andererseits konnte man natürlich davon ausgehen, daß sie wußte was die Agenten herausgefunden hatten – Smersch trug seinen Namen nicht umsonst, und der berühmt-berüchtigte Ruf, den die Verhörkeller hatten, war keineswegs aus der Luft gegriffen. Es war ein ernster Rückschlag, und es würde einiges an Anstrengungen erfordern, die geflohenen Häftlinge wieder aufzugreifen. Die meisten von ihnen stellten auf die eine oder andere Art eine Gefahr dar, auch wenn ihre Chancen angesichts der chaotischen, unvorbereiteten Flucht und der Wetterbedingungen nicht zum Besten standen. Dvensky wußte, was auf dem Spiel stand: „Regierungsbefehl, Major, nehmen Sie auf: Wer auf der Flucht unter Waffen angetroffen wird oder sich eines ernsthafteren Verbrechens gegen einen Bürger Bryants zu Schulden kommen läßt, ist ohne Zögern vor Ort zu erschießen. Wer einem Flüchtigen hilft, macht sich der Hilfe für staatsfeindliche Elemente schuldig, mit allen Konsequenzen. Geflohene die sich stellen verbüßen ihre restliche Strafe, bleiben aber sonst straffrei – immerhin waren die Zustände einigermaßen chaotisch, da ist nachvollziehbar, daß sie aus dem Straflager geflohen sind. Und ich verlasse mich darauf, daß die Sache bald vom Tisch ist. Die Bereitschaftsmiliz können Sie von mir grüßen, ich werde bald die Besten ihrer Angehörigen auszeichnen. Setzen Sie die Verbände zu Unterstützung ein – als Wachen und Suchtrupps.“ Die Geheimdienstchefin nahm den halben Tadel schweigend hin: „Wie Sie befehlen!“
Colonel Thomsen hatte ebenfalls die Verluste bereits in Erfahrung gebracht: „Wir haben an Totalverlusten eine Speerschleuder und einen Verteidiger verloren – die können nur noch ausgeschlachtet werden. Vier weitere Mechs brauchen zwischen zwei und vier Wochen Zeit für Reparaturen. Ein Pilot gefallen, zwei mittelschwer verletzt. Die Panzerkräfte melden sechs Tote und elf Verwundete. Wir haben einen Mirmydon und einen Tank-34 verloren. Die Hälfte unserer schweren und überschweren Maschinen sowie ein Drittel der mittelschweren müssen ausgebessert werden, Zeitdauer maximal zwei Wochen, zumeist weniger. Die Infanterie hat 22 Tote zu beklagen, dazu 28 Verwundete. Zwei Bataillonspak abgeschossen.“ Die Verluste der Luftwaffe erwähnte er nicht.
Tereschkow wischte sich mit einer müden Bewegung den Ruß vom Gesicht, bevor er vor dem Herrscher salutierte. Er hatte seine Aufgabe als Babysitter zu Dvenskys Zufriedenheit erfüllt, und sein Panzer hatte zudem nicht schlecht geschossen. Ein wenig geronnenes Blut auf seinem Gesicht und Hals zeigte, daß er sich nicht geschont hatte: „Der Feind hat an Totalverlusten einen Heuschreck und einen Cataphracten eingebüßt – beide reparabel, allerdings dürfte das dauern. Sie haben zudem vier MTW’s oder Geschützträger verloren, einen Condor-L, einen Po und einen Vedette. Zahlreiche weitere Maschinen sind beschädigt worden, auch die Landungsschiffe haben einiges abgekriegt. Wir haben etwa 50 tote Infanteristen geborgen, dazu kommen einige getötete Panzerfahrer. Ich schätze, sie haben gut doppelt so viele Verwundete. Außerdem sind sechs Infanteristen, eine Mechpilotin und einen Luft-/ Raumpiloten gefangengenommen worden, zum Gutteil verletzt, aber nicht lebensgefährlich. Abgeschossen wurden zwei Trush, eine Transgressor ist notgelandet.“
Dvensky hob den Kopf. Seine Stimme klang unnatürlich ruhig: „Unsere Luftwaffe?“
Der Panzermajor senkte den Kopf: „Eine Transit abgeschossen, der Pilot ist gefallen. Panzerschäden an allen anderen, auch bei den Landungsschiffen. Einige Waffen ausgefallen. Major Prokofjewas Corsair ist östlich der Stadt aufgeschlagen, wir suchen noch nach ihr.“
Der Herrscher nickte. Er schien weder fähig, seine Freude über den Abwehrsieg zu zeigen, noch ließ er seine Angst um die Geliebte an die Oberfläche kommen. „Was gibt es von Tscheljabinsk?“
„Major Netschajew ist verwundet – Steckschuß in der Brust. Sein Zustand ist jedoch gut. Die Angreifer, etwa so viele Mechs und Panzer wie bei uns sowie ungefähr zwei Kompanien Infanterie mit zusätzlichen Geschützträgern, unterstützt von einer Luftwaffenstaffel, haben den Raumhafen angegriffen. Wartungskapazitäten für die nächste Zeit deutlich eingeschränkt oder vernichtet, einige Schäden bei den Ersatzteillagern. Wie lange es dauert bis wir wieder voll einsatzbereit sind, weiß ich nicht. Ich fürchte es wird eine Weile dauern, vermutlich mindestens zwei Monate. Bedauerlicherweise wurden auch mehrere Treibstofftanks zerstört, die Brände sind aber inzwischen unter Kontrolle. Wir werden einen Gutteil des Verkehrs nach Brein umleiten und Tscheljabinsk mit konventionellen Maschinen anfliegen müssen. Moderate bis mittelschwere Schäden an den Landungsschiffen. Ein Seydlitz und eine Chippewa von der Flak abgeschossen, vermutet schwere Beschußschäden bei einem der feindlichen Leoparden. Gewisse Schäden an Depots und Kasernen, aber überschaubar.
Die Hälfte unserer Mechs dort sind fürs erste ausgefallen, doch irreperabel ist nur eine Wespe getroffen. Die Pilotin ist gefallen. Außerdem wurden ein Bulldog, zwei Scorpione und ein Saracen sowie eine Pak-SFL abgeschossen, mehrere weitere Maschinen beschädigt. Wir haben etwa 30 tote Infanteristen, 10 Panzerfahrer und 40 Mann der Bereitschaftstruppen und des Innenministeriums verloren, ungefähr 100 Verwundete. Der Gegner hat hingegen anscheinend einiges über 100 Tote zu beklagen. Die meisten haben sie jedoch evakuiert, ebenso ihre Verwundeten. Abgeschossen wurden 2 Regulatoren und ein Manticor, an Mechs haben sie eine Valkyrie eingebüßt. Keine nennenswerten Verluste bei der Bevölkerung, keine schweren Schäden an der Infrastruktur. Mylord – der Angriff dort ist insgesamt gesehen meiner Ansicht nach ebenfalls gescheitert, zumindest wenn man die gegnerischen Verluste in Vergleich zu den erreichten Erfolgen setzt, der Feind hat schwer bezahlen müssen. Die entsprechende Ausnutzung für Propagandazwecke läuft selbstverständlich schon.“
Dvensky nickte schwerfällig: „Wir werden unsere Verwundeten pflegen, und wir werden wieder aufbauen, was sie zerstört haben. Das Volk soll entschädigt werden für seine Verluste. Dann aber werden wie zu gegebener Zeit Vergeltung üben, und mit aller Kraft, und sicherstellen, daß nie mehr Banditen unsere Welt überfallen.“
Die anderen Offiziere nahmen Haltung an: „Jawohl Mylord.“ Dvensky bemerkte sehr wohl die Blicke der niederen Dienstränge. Solche Dinge waren es, die einen Menschenführer beliebt machten, auch wenn er diesmal aus vollem Herzen und nicht aus Berechnung gesprochen hatte. Dies war es, was wichtig war, so redete er sich zumindest ein. Daß er an seine Untergebenen dachte – nicht an den eigenen Ruhm. Auch nicht zuerst an Rache. Nicht einmal an die, die er liebte. Es war die Last der Verantwortung, der Preis, den man für das berauschende Gefühl der Macht zu zahlen hatte. Denn an der Spitze fiel JEDER noch so kleine Fehler – ob echt oder eingebildet – sofort auf. Einer der Gründe, aus dem Prinz Victor vom Throninhaber zum Gärtner und dann zum Putschisten geworden war.
Der Schatun straffte sich: „Major Tereschkow – Sie gehen nach Tscheljabinsk. Ich brauche dort jemanden, der alles organisiert. Natalija wird Ihnen so bald als möglich folgen. Sie haben freie Hand, die Schäden zu beheben – ich verlasse mich da vollkommen auf Sie.“ Der junge Mann salutierte. Er wußte, ebenso wie die anderen Führungsoffiziere, wenn es noch einen Beweis brauchte, daß Dvensky in ihm einen möglichen Nachfolger sah, hier war er. Und auch, daß der Diktator die Zukunft seiner Schwester mit der des Panzerkommandanten in Verbindung sah.
Das Heulen der Sirenen, daß in der ganzen Stadt zu hören war, schwoll auf einmal an, als ein Krankentransporter aus einer der Straßen bog. Er und seine Geschwister waren überall unterwegs, um Verwundete in die zivilen und militärischen Verbandsstellen zu schaffen. Die Notversorgung Bryants war für Kriegsfälle vorbereitet worden, und das zahlte sich jetzt aus.
Die Offiziere blickten irritiert auf – das Fahrzeug kam doch wohl kaum wegen der Kratzer, die einige von ihnen aufzuweisen hatten. Die Hecktür wurde aufgestoßen, und dann trat eine Gestalt in Luftwaffenuniform heraus. Sie schwankte, hielt sich aber aufrecht. Der Herrscher machte zwei Schritte auf sie zu.
Major Prokofjewa lächelte, ungeachtet der Schmerzen, die sie haben mußte. Ihr Gesicht war bandagiert, und die Montur stand offen, so daß man erkennen konnte, daß sie unter ihrem Hemd einen dicken Verband um den Oberkörper trug. Sie salutierte fahrig: „Melde mich wieder zurück, Mylord.“ Dann stöhnte sie auf, als Dvensky sie in die Arme nahm. Sofort ließ der Herrscher sie los. Er blickte den Sanitäter an, der neben der Verletzten stand. Seine Stimme klang wütend: „Warum habt ihr sie nicht ins Krankenhaus gebracht?!“ Der Mann wurde bleich, aber die Majorin lachte leise: „Weil ich ihnen angedroht hatte, ansonsten sind sie nach meiner Genesung die beweglichen Zielscheiben auf meinem nächsten Manöver, darum!“
Dvensky lachte, und das war wahrhaft selten: „Nun, das verstehe ich. Aber jetzt ein dienstlichen Befehl, und den wirst du befolgen, Major: Abmarsch ins nächste Hospital, und dort bleibst du bis sie dich freigeben – und keine ,Überredungsversuche‘ wie den hier.“ Die junge Frau drückte seine Hand: „Zu Befehl, Mylord.“