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Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:47:

 

An Bord der Columbia
Sterntor-System

Essen, Arbeiten, Sport, Schlafen. Essen, Arbeiten, Sport, Schlafen. Essen, Arbeiten, Sport, Schlafen.
Donovan „Stuntman“ Cartmell versuchte durch seine tagtägliche Routine gar keine Zeit für seine Wut und seine Trauer über die Abweisung von Jean Davis aufkommen zu lassen. Er hatte seinen Kalender mittlerweile so vollgepackt, dass er zum bersten voll war. Doch überraschenderweise lenkte es ihn nicht nur ab, er fühlte sich auch noch gut dabei.
Wenn er keine Einsatzbesprechungen hatte oder Patrouillenflüge absolvierte, war er so häufig wie möglich im Simulator oder half den Deck-Crews – die notorisch unterbesetzt waren – bei der Wartung der Maschinen. Er war zwar nicht der einzige bei den Angry Angels, der gerne an seiner Maschine schraubte und einige wenige der Piloten waren sogar ausgebildete Ingenieure. Und auch wenn Donovan sich nicht mit deren Wissen messen konnte, so hatte er doch seit seinem Stunt mit Ace am Kiralu-Karrashin Wurmloch, wo er im luftleeren Raum das Schleudersitzmodul seiner Nighthawk ausgebaut hatte, sich auch bei den Technikern der Columbia einen gewissen Respekt verdient. Zumindest so viel, das er nicht verscheucht oder mitleidig angeschaut wurde, wenn er seine Hilfe anbot. Im Gegenteil, im Augenblick konnte die Deck-Crew jede helfende Hand dringend gebrauchen.
Dazu machte er jeden Tag intensiv mehrere Stunden Sport, soviel wie schon lange nicht mehr in seinem Leben. Neben Laufen, Fahrradfahren, Krafttraining auch noch seine Kendoübungen mit Kano und seit neuestem noch Kampfsportübungen wie Jiu-Jitsu, Karate und Taekwondo. In den ersten Tagen war er wie tot in seine Koje gefallen, aber schon nach kurzer Zeit begann er zu spüren, dass er kräftiger, stärker und fitter wurde.
Früher hatte er seine Freizeit vor allem mit Abschalten, Schlafen und Lesen verbracht und hatte damit aber auch viel Zeit verschwendet. Hätte er geahnt, wie gut es ihm tun würde einen geregelten, strikt durchgetakteten Tag zu haben, dann hätte er das schon viel früher gemacht.

Jetzt war er gerade von einem ereignislosen Patrouillenflug zurück und wollte sich schnell umziehen, um dann ins Fitnessstudio zu gehen. Arrow war mit ihm draußen gewesen, und folgte ihm schweigend zum Gemeinschaftsumkleideraum der Roten Staffel.
Sie hatten schon den gesamten Einsatz nur das notwendigste gesprochen und das war Donovan auch durchaus Recht so, denn er wurde nicht richtig warm mit dem unerfahrenen, jungen und ziemlich steifen Piloten. Der altgediente Veteran und Ex-Sträfling und der hochintelligente, strebsame Karriere-Offizier hatten nun so mal gar nichts gemeinsam.
Und somit traten sie auch wortlos in die Umkleide der Staffel ein, in der er mit Too-Tall, Dog, Kid und Sunnyboy sofort einige weitere Mitglieder der Staffel bemerkte.
Und es dauerte auch nur einen weiteren Bruchteil einer Sekunde, das er wahrnahm, das etwas anderes nicht so war wie sonst. Der strenge Farbgeruch im Raum war das erste, was ihm auffiel, noch bevor er den in Signalgelb gestrichenen Spind sah. In großen blauen Lettern war auf dem gelb lackierten Grund das Wort „CABBIE“ geschrieben.
Donovan brauchte nur noch einen weiteren kurzen Augenblick um zu realisieren, dass der knallgelbe Spind zu Arrow gehörte.
„Was ist denn das?“
„Tja, sieht so aus, als ob dir jemand ein neues Callsign verpasst hat.“ Donovan kannte sich mit sowas aus und erkannte mittlerweile einen Ulk auch als solchen. Ob das Mantis allerdings auch so lustig finden würde, wenn sie das sah, würde eine andere Frage sein.
Mittlerweile hatte sich im Geschwader herumgesprochen, dass Gant für den Bronce Star vorgeschlagen worden war. Und es gab nicht wenige, die der Meinung waren, dass jemand der in seinem ersten Gefecht schon aus seiner Maschine geschossen wird, nicht so eine Auszeichnung verdient haben konnte. Und eifersüchtig wie Piloten nun mal so waren, griffen manche eben in Ermangelung anderer Möglichkeiten eben zu derben Späßen um ihren Unmut in Verkleidung eines ‚Spaßes‘ Ausdruck zu verleihen.
Cartmell hatte das schon häufig genug selbst erlebt und verglichen mit dem was er selbst hatte bislang erleben müssen, war diese Taufe sogar recht originell.
Gant schritt zu seinem Schrank und wollte ihn öffnen, um zu schauen, ob er denn wenigstens innen nicht gestrichen war. Doch noch bevor Donovan eine Warnung ausrufen konnte, war es schon geschehen und Gant zuckte mit gelben Händen zurück. „Oh Mann, so ein Mist, wer war das?“
Donovan musste lachen, da ihm die Antwort sofort klar war, wenn er in die Augen der vier übrigen Piloten blicke, die sich das Grinsen kaum verkneifen konnten.
Too-Tall hob abwehrend die Hände. „Keine Ahnung, ehrlich, ich bin nur rein zufällig hier!“
„Ich auch.“
„Jepp, ich auch.“
„Und ich erst“ kicherte Dog.
„Hah Hah, sehr witzig!“ maulte Arrow, während er krampfhaft überlegte, wie er die gelbe Farbe von seinen Fingern abkriegen würde, ohne überall eine große Sauerei zu hinterlassen.
Donovan musste jetzt laut auflachen. „Tja, wird schwer werden, Mantis zu erklären, warum du deinen Schrank gelb angemalt hast.“
„WAS? Aber ich war das doch gar nicht!?“
„Naja, du bist derjenige, der die Farbe an den Fingern hat…“
Jetzt mussten auch die anderen lauthals lachen. Es war nicht nur dieses Gefühl des Lachens das Donovan in diesem Augenblick gut tat, sondern auch die Tatsache, dass zur Abwechslung mal nicht er selbst zum Zielscheibe des Spotts geworden war.

***

Etwas später war Donovan schon wieder in einem der bordeigenen Fitnesscenter und strampelte auf dem Fahrrad. Über seine Ohrhörer wummerte inspirierende Musik und half ihm das Tempo hochzuhalten. Der Schweiß lief in Sturzbächen an seinem Körper entlang und seine Muskeln brannten wie Feuer, doch er fühlte sich äußerst gut dabei. Wie in Trance trat er in die Pedale und bemerkte somit überrascht, dass ihn jemand von der Seite ansprach. Donovan drehte sich zur Seite und erkannte Titan, die ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Auch auf ihrer Haut glänzte der Schweiß von ihrem Hanteltraining. Donovan hatte sie vorhin an den Geräten gesehen, sie aber nicht stören wollen, da er heute nur Fitness geplant hatte und kein Kraft- oder Kampftraining.
Jetzt schien sie wieder etwas zu sagen, daher nahm er seine Ohrhörer raus. „… wieder hier?“
„Was?“
„Ich sagte, du bist ja auch wieder hier? Mir war bisher nicht aufgefallen, dass du auch so ein Fitnessfreak bist wie ich.“
„War ich… bis jetzt… auch nicht…!“ Donovan trat weiter in die Pedalen und war doch etwas aus der Puste.
„Eigentlich wollte ich jetzt duschen und dann in die Kantine. Wie lange hast du noch?“
„Donovan schaute auf die Anzeige an seinem Fitnessrad. Bislang hatte er eine Stunde und 15 Minuten auf der Uhr. „Noch … 15 Minuten.“
Titan grinste kurz, dann zuckte sie die Schultern und stieg auf das Fahrrad neben ihm. „Na gut, 15 Minuten zusätzliche Fitness werden nicht schaden.“
Titan stellte ihr Rad ein, knapp ein Drittel stärker im Widerstand und trat in die Pedalen. Donovan war sich nicht sicher ob er seine Ohrhörer wieder einstecken sollte, entschied sich aber dann doch dagegen, auch wenn er es eigentlich gerne getan hätte. Es wäre sicher unhöflich das zu tun und er wollte sich nicht noch eine Gegnerin im Geschwader machen. Stattdessen stellte er die Intensität noch etwas höher und versuchte seine protestierenden Oberschenkel- und Wadenmuskeln so gut es ging zu ignorieren.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Titan offensichtlich keine Mühe zu haben schien. Donovan hatte sich selbst für recht sportlich gehalten und war ja auch früher schon regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen. Aber neben der durch- und durchtrainierten Titan kam er sich reichlich unsportlich vor.
Aus dem Augenwinkel betrachtete er ihren muskulösen Körper, konnte sehen wie ihre Sehnen und Muskeln hervortraten und ihr das athletische Aussehen und Eleganz einer Raubkatze verliehen. Titan war keine Schönheit, sie war recht groß und kräftig gebaut, doch sportlich war sie. Nicht so zierlich und niedlich wie Jean Davis…
Und da waren sie wieder, seine Gedanken an die kleine Schwester von Ace. Sie hatte ihm das Herz gebrochen, war aus seinem Leben verschwunden, vielleicht für immer und er konnte sie einfach nicht vergessen.
Sie fehlte ihm, ihr Lächeln, ihre Wärme, ihre hübschen Augen. Und so sehr er auch versuchte sich abzulenken, so wenig gelang ihm das.
Ace war da keine große Hilfe, im Gegenteil. Nachdem nun in kurzer Zeit sowohl Justus Schneider, Ian und auch Jean Davis aus den verschiedensten Gründen versetzt worden waren, hatte sich Ace deutlich häufiger mit ihm Treffen wollen als früher. Doch Donovan war ihm mehrmals aus dem Weg gegangen. Nicht weil er Cliff nicht mochte, nein, das nicht. Aber nicht nur das Ace seiner jüngeren Schwester ähnelte und Donovan sich damit erst recht an sie erinnerte, wenn er mit Ace zusammen war. Natürlich musste Ace auch in jedem Gespräch seine Familie und damit auch Jean erwähnen. Aber bislang hatte Donovan es noch nicht fertig gebracht Ace über seine wahren Gefühle für seine Schwester aufzuklären – obwohl Ace etwas zu ahnen schien so wie er ihn jedes Mal angrinste, wenn er über seine jüngere Schwester sprach- geschweige denn ihm zu sagen, was kurz vor der letzten Schlacht zwischen ihm und Jean vorgefallen war. Und das wusste Ace offenbar tatsächlich nicht. Er würde bald mit Ace darüber sprechen müssen, das wusste Donovan. Doch er wich diesem Gespräch aus solange er konnte.
„Hey, ich mag das, wenn jemand so konzentriert trainiert.“
„Was?“ Donovan wurde von Titan aus seinen tiefen Gedanken gerissen.
„Oh Mann, du bist ja vollkommen in Trance! Ich sagte, ich mag es, wenn jemand so konzentriert trainiert.“
Donovan ließ sie lieber im Unklaren. „Wenn ich trainiere, dann richtig.“
Titan nickte. „Das ist gut. Wie trainierst du denn? Ich meine, wie sieht dein Trainingsplan aus? Wenn du willst, kann ich dir ein paar Tipps geben?“
So wie Titan aussah, konnte Donovan ihre Hilfe gut gebrauchen. Als er ihr seinen Trainingsplan leicht keuchend erklärt hatte, nickte sie nochmal. Es war klar, dass sie in ihrem Element war, als sie ihn Änderungen an seinem Trainingsplan vorschlug. „Und weil mein Trainingsplan ähnlich ist, könnten wir auch zusammen trainieren, wenn du willst?“
Überrascht riss Donovan kurz die Augen auf und konnte nicht gleich antworten, weil er so aus der Puste war.
„Natürlich nur, wenn du willst. Kein dämliches Rumgequatsche, Fokus auf das Training, kein Wettkampf, einfach nur gemeinsam trainieren. Zu zweit geht das Training immer etwas leichter aber bisher habe ich noch keinen passenden Trainingspartner gefunden.“
„Kein … Wettkampf?“ Donovan grinste.
Titan, die immer noch mühelos in die Pedalen trat, hob belustigt eine Augenbraue. „Du meinst ja wohl nicht es mit mir in Sachen Fitness aufnehmen zu können, oder?“
Donovan lachte jetzt auch auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ich meine… Ja.“
„Wie bitte?“
Donovan stoppte jetzt sein Training, die Zeit war ohnehin um. „Ich meine: Nein, ich kann in punkto Fitness nicht mit dir mithalten und: Ja, ich würde gerne dein Angebot annehmen. Das heißt aber nicht, dass ich auf dich stehe!“ Donovan grinste breit.
„Na super, das trifft sich gut. Ich steh nämlich auch kein bisschen auf dich.“ Titan grinste breit und hielt ihm ihre offene Hand hin. „Deal?“
„Deal!“ Donovan schlug ein und war nicht im Geringsten über ihren Schraubstockgriff erstaunt. Er fragte sich zwar immer noch, warum Titan das tat, hatte er doch weit mehr von diesem Deal. Aber sie würde ihre Gründe haben und Donovan konnte froh sein, dass sie sich mit ihm abgab. Also stellte er sich keine weiteren Fragen mehr sondern ging duschen um mit seiner neuen Trainingspartnerin zu weiterer Fachsimpelei in die Kantine zu gehen.



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:48:

 

TRS COLUMBIA

Kano war gerade dabei, sich aus dem Simulatoranzug zu schälen und lauschte mit halbem Ohr den Worten, die zwischen den Piloten der Schwarzen Schwadron hin- und herflogen. Natürlich konnte man eine Simulatorübung auch ohne Spezialanzug ‚fliegen’, aber mit ihnen konnte die Realität eines Weltraumfluges besser simuliert werden. Zum einen reflektierten sie die durch den Schutzanzug eingeschränkte Beweglichkeit der Piloten. Und außerdem konnten so die Vitalfunktionen der Piloten überwacht und sogar in begrenztem Ausmaß die Schwerkraftwirkung rasanter Manöver simuliert werden.
Flüchtig registrierte er, wie ein kleiner metallener Gegenstand unter dem Hemd auf seine Haut drückte und erlaubte sich ein kurzes Lächeln. Kali und er hatten Irons Anordnung natürlich befolgt. Sie trugen ihre Verlobungsringe nicht mehr an der Hand. Sondern um den Hals. Da sie beide gelegentlich bei der Wartung und Bestückung ihrer Maschinen Hand anlegten, war das sowieso die bessere Alternative. Und weder Irons noch Stafford würden Anstoß daran nehmen können. ‚Außer sie sehen uns nackt. Und das kann ich mir nur schwer vorstellen.’
Kalis Willkommensfeier war ein Erfolg gewesen. Die meisten ihrer alten Bekannten waren froh über ihre Rückkehr gewesen, auch wenn das bedeutete, dass sie ihren Posten als Staffelführerin beim Flying Circus aufgeben musste. Aber Blackhawk hatte es ganz richtig ausgedrückt: ‚Deren Verlust ist unser Gewinn.’
Sie hatten darauf angestoßen, dass Kali ihre eigene Staffel bekommen würde, was zu einigen Frotzeleien geführt hatte, bei denen besonders Ace und Ohka im Zentrum gestanden hatten. Als Staffelführer im Rang eines Lieutenant – die dazu auch noch beide eine (allerdings verschieden geartete) enge emotionale Bindung zu Kali hatten, waren sie perfekte Zielscheiben gewesen. Beide hatten es mit Humor genommen, auch wenn das bei Kano vielleicht nicht so offensichtlich gewesen war. Und sie hatten auf jene getrunken, die die letzte Schlacht nicht überlebt hatten – ein inzwischen nur zu vertrautes Ritual. Da das ganze allerdings in überschaubarer Runde stattgefunden hatte, war es nicht zu einem allgemeinen Besäufnis gekommen, wie es bei anderen Feierlichkeiten der Angry Angels gelegentlich der Fall gewesen war. Danach hatten Helen und Kano sogar das Kunststück fertiggebracht, sich zwei Stunden Zeit füreinander zu nehmen. Der versäumte Schlaf rächte sich zwar immer noch, aber das war es ihnen wert gewesen. Am nächsten Tag war dann der neue Kommandeur der Angry Angels eingetroffen.
Die Ankunft der Arrow-Atomraketen bedeutete zwar einen gestrafften Dienstplan, dennoch war die Stimmung bei den Butcher Bears gut. Die meisten werteten die neue Waffe als Beweis dafür, dass die Angry Angels im Allgemeinen – und die Butcher Bears im Besonderen – immer noch die Elite der TSN waren. Und das kam gut an. Sollte Commander Decker allerdings doch noch zu der Ansicht kommen, dass die Schwarze Staffel nicht seinen Wunschvorstellungen entsprach, dann würde die Stimmung genauso schnell wieder kippen. ‚Aber wenn er das tut, ist er wirklich ein Idiot. Es gibt niemanden im Geschwader, der besser ist als wir.’

Was die andere Neuheit an Bord der COLUMBIA anging…
Kano wusste noch nicht, was er von Jules Stafford halten sollte. Seine Leistungsbewertungen waren offenbar beeindruckend. Und er hatte Erfahrung mit der Führung und Ausbildung von Piloten.
Andererseits schien er ganz anders als Raven, Darkness und Lone Wolf – mit dem er die Vorliebe für ein eher legeres Auftreten teilte. Bei Lone Wolf war das vor allem einem gut entwickelten Selbstbewusstsein und einer gewissen ‚Ihr-könnt-mich-mal’-Einstellung zu verdanken gewesen. Vielleicht ging Stafford aber auch nur der Ehrgeiz ab, immer glänzen zu wollen.
Kano verabscheute Blender, aber er hielt auch nicht viel von Leuten, denen ihre Außenwirkung egal war. Vor allem, wenn sie das Kommando hatten. Ein Geschwaderchef sollte immer auch Vorbild sein. Und Gleichgültigkeit gegenüber sekundären Führungstugenden war nach Kanos Meinung oft auch ein Hinweis für Defizite in wichtigeren Dingen. Vielleicht war er zu anspruchsvoll, aber bei nur ein paar Dutzend Trägergeschwader-Kommandeuren in der ganzen TSN sollte man meinen, dass sie den höchsten Anforderungen entsprachen. In Lone Wolfs Fall war das zwar auch nicht so gewesen, dennoch…
Außerdem hatte Stafford eine ziemlich lange Zeit hinter der Front verbracht. Vor allem aber wies sein Lebenslauf etliche Episoden auf, die ihn nicht unbedingt empfahlen…

Bei den Piloten der Schwarzen Staffel herrschte – wie im gesamten Geschwader – keine einhellige Meinung zu dem ‚neuen Alten’, auch wenn viele einen ‚echten’ Angry Angel bevorzugt hätten. Die Art und Weise, wie ihn einige vorerst anonym bleibende Geschwadermitglieder vorgeführt und durch das halbe Schiff geschickt hatten, hatte für allgemeine wenn auch verborgene Heiterkeit gesorgt.
Außerdem warteten nun vermutlich viele gespannt, wie der Neue mit diesem ‚Spaß’ umgehen würde – der zumindest in Kanos Augen nicht sehr lustig war. Erstens warf das kein gutes Licht auf die Angels. Sie waren die Elite – aber Starallüren waren nicht die beste Art und Weise, um das unter Beweis zu stellen.
Und dann war da noch eine weitere Bedeutungsebene, die vielen vermutlich gar nicht bewusst sein würde. Der Vorfall konnte sich auch als ein Testfall erweisen, der ernstere Folgen hatte, als ein paar Lacher und die eine oder andere Karikatur neben dem Eingang zur Messe.
Einen vorgesetzten Offizier unter Vorspiegelung eines Befehls in die Irre zu führen, konnte als Insubordination aufgefasst werden. Und es war ein Angriff auf die Autorität des neuen Geschwaderchefs. Kano an seiner Stelle hätte vermutlich alles daran gesetzt, um die Witzbolde aufzuspüren und ihnen die Hölle heiß zu machen. Aber er hatte keine Ahnung, welchen Führungsstil Stafford bevorzugte.
Als er das Huntress gegenüber erwähnt hatte, hatte die nur gelächelt, und sich auf ein Zitat beschränkt: ‚Niemand sitzt so hoch im Sattel, wie ein Reiter der den Weg nicht weiß.’
Kano wusste nicht, ob das ein irdisches oder ein Akarii-Sprichwort war, aber ihm war klar, was sie meinte. Er konnte nur hoffen, dass niemand aus seiner Schwadron an diesem ‚Spaß’ beteiligt gewesen war. Es gab etliche, denen er es durchaus zugetraut hätte.
Dass der ‚neue Alte’ ein Konföderierter war, störte hingegen die wenigsten im Geschwader. Nach ein paar bissigen Bemerkungen über Staffords Standhaftigkeit im Angesicht des Feindes war das Thema für die meisten abgehakt gewesen.
Paradoxerweise schien Irons gegenüber ihrem Nachfolger keinerlei Ressentiments zu hegen. Offenbar hatte Kali Recht mit ihrer Vermutung, dass die Interimskommandeurin der Angry Angels kriegsmüde war. Auch die anderen Kommandeure der Bomberschwadronen, Ace und Blackhawk waren mit Stafford offenbar vorerst im Reinen – blieb abzuwarten, wie sich das entwickeln würde, falls Stafford ähnlich flexiblen Moralvorstellungen huldigte, wie Lone Wolf. Lilja hingegen beäugte den neuen Geschwaderchef mit etwas, das Kano als unterschwelligen Argwohn identifizierte. Nicht unbedingt feindselig, aber als ob Stafford sich erst noch bewähren müsste, und sie mit einem Fehltritt rechnete. Wie sie an Staffords Stelle auf einen fingierten ‚Marschbefehl’ reagiert hätte, konnte Kano sich gut vorstellen.

Einige waren mit ihrem Urteil schneller. La Reine hatte sich von Anfang an auf die Seite des neuen Geschwaderchefs gestellt. Aber wahrscheinlich lag das vor allem daran, dass Huntress aus ihrer Antipathie keinen Hehl machte. Übergroße Zurückhaltung konnte man der XO der Butcher Bears bestimmt nicht vorwerfen: „Ich weiß wirklich nicht, was sich die Personalabteilung dabei gedacht hat, als sie uns diese Katastrophe vorgesetzt haben. Von Psychologie und Propaganda verstehen die offenbar so viel, wie ich von Schwarzer Materie. Nämlich, dass es sie geben soll!
Bin ich der einzige, der meint, dass so jemand an der Spitze eines Elitegeschwaders nichts zu suchen hat?! Was ist denn das für ein Signal an uns? Und an die Heimatfront?“
„Die werden damit schon klarkommen.“ war La Reines Antwort: „Und immer noch besser als irgendeine hochwohlgeborene Karrierekriecher die ihren Posten Papas Beziehungen verdankt. Oder ihren…“ es folgte eine obszöne Geste.
„Keine Sorge, Königin von Saba. Ehe ich bei diesem Heini etwas versuche, schmeiße ich mich an einen Akarii ran. Immerhin gibt es so etwas wie Stil.“
„Gib es ruhig zu, es geht dir doch nur gegen den Strich, dass Stafford so ein Elitebengelchen gekillt haben soll.“
„Natürlich! Normalerweise hätte er nach so einem Stunt nämlich rausfliegen müssen.“
„Der Vorfall wurde als Notwehr eingestuft.“ wandte Kano abwesend ein. Er musste dem Neuen so bald wie möglich klarmachen, dass die Butcher Bears die richtige Wahl für den Test der Arrows waren. Der Geschwaderchef konnte ein wertvoller Verbündeter sein, falls Decker sich querstellte. Aber worauf würde Stafford anspringen? Statistiken? Ein kleines Do-ut-Des?
Huntress schnaubte abfällig, was so gar nicht nach einer Tochter aus gutem Haus klang: „Rührend. Aber das macht die Sache nur unwesentlich besser. Jeder, der es überhaupt erst einmal soweit hat KOMMEN lassen, hat an der Spitze eines Geschwaders nichts zu suchen. Wir sind doch keine verdammte Piratenkommune!
Und was ist, wenn er das erste Mal einem Vorgesetzten – oder auch nur Gleichrangigen – an den Wagen fährt? Jede Wette, dann kommt das wieder hoch. Ich kann es schon hören ‚Und was wollen Sie tun, Stafford? Mich etwa erschießen?’ Was für ein Brüller.“
„Ich kann kaum an mich halten.“ Aber insgeheim gab Kano Huntress Recht. Vielleicht spürte sie das, denn sie setzte nach: „Dann hätte man eher jemanden wie Blackhawk oder meinetwegen die Eisprinzessin an die Spitze stellen sollen. Wenn Stafford wirklich so toll ist, könnte er ja immer noch den Geschwader-XO machen. Aber nicht mehr. Dann steht er nicht so im Rampenlicht.“
„Ich muss zugeben, da hat unser High Society-Girl nicht ganz unrecht…“, sprang Top Gun Huntress überraschend zur Seite, auch wenn ihm das ‚High Society-Girl’ beinahe eine Kopfnuss verpasste: „Es ist nicht das beste Bild, das wir mit so jemandem abgeben. Auch wenn ich nicht ganz verstehe, warum dich das so umtreibt, Huntress.“
„Was meinst du, wie es sich auf meinen Lebenslauf auswirkt, mit SO jemandem geflogen zu sein. Außerdem…nicht dass er irgendwann noch einmal seine antiaristokratischen Reflexe abarbeiten muss. Gott schütze mich vor kleinbürgerlichen Aufsteigern und ihren Komplexen.“
Damit hatte Huntress mal wieder den Lacher auf ihrer Seite. Sogar La Reine musste sich auf die Lippen beißen, auch wenn sie ein „Meinst du tatsächlich? Klingt gut…“ hinterher schob.
Huntress focht das natürlich nicht an. Sie hatte sich auf ein anderes Ziel eingeschossen: „He, Top Gun. Für dich werden ja goldene Zeiten anbrechen. Mit so jemanden als CO ist deine Karriere gesichert.“
Kano schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, dass Stafford der Typ für so etwas ist. Und Top Gun übrigens auch nicht.“
„Trotzdem er ein Cochrane ist?“, spottete Huntress, die natürlich das letzte Wort haben wollte.
„Das sagt genau die richtige!“ kam es von La Reine, doch Top Gun schien die Sache weniger zu stören: „Das verstehst du nicht, Huntress. GERADE DESWEGEN kann ich mir meine Beförderungschancen erst mal abschminken. Das würde zu sehr nach Vetternwirtschaft riechen. Er wird sich hüten.“
„Vielleicht ist er ja doch so däm…“
„Das reicht jetzt.“ schaltete sich Kano ein. „Wenn Sie über einen Vorgesetzten herziehen wollen – irgendwo gibt es eine Grenze.“
„Wie die, dass man keine eigenen Leute erschießt? Schon gut. Aber vielleicht kann mir Top Gun doch mal erklären, ob in der Konföderation jemand einen Kommandoposten bekommt, wenn er einen Kameraden kalt macht.“
Die Miene des konföderierten Piloten hatte sich schlagartig verfinstert. Nach einer gefühlten Ewigkeit beschränkte er sich auf ein halbherziges: „Wenn das so weitergeht, werden wir es wohl tatsächlich noch erleben…“ Vielleicht dachte er ja an die Gerüchte, die über einen drohenden Putsch oder Bürgerkrieg in der Konföderation kursierten. Einige der Piloten verstummten betreten, während Phoenix weniger zurückhaltend mit einem rüden Marines-Kraftausdruck deutlich machte, was er von der Situation an der konföderierten Grenze hielt.
Sogar Huntress schien die Situation ein wenig peinlich zu sein, denn sie ließ sich dazu hinreißen, dem konföderierten Piloten einen aufmunternden Schulterschlag zu verpassen.
Allerdings verfehlte sie ihr Ziel, als sich Top Gun zur Seite duckte, ihre Hand mit seiner Rechten abfing und einen blitzschnellen Kuss auf ihr Handgelenk drückte.

Durch das aufflackernde Gejohle wäre das etwas verlegene Räuspern beinahe untergegangen, mit dem der eintretende Pilot auf seine Anwesenheit aufmerksam machte.
Der Mann in der Dienstuniform eines Second Lieutenant war von untersetzter Statur und durchschnittlichem Wuchs, also größer und schwerer als der etwa gleichaltrige Kommandeur der Butcher Bears. Das schwarze Haar trug er kurz, wie viele Piloten es taten. Die dunkelbraune Haut verriet seine afrikanischen Vorfahren. Der Mann schien ein wenig verunsichert, salutierte dann aber vorschriftsmäßig: „Second Lieutenant William ‚Rerun’ Stewart meldet sich zur Stelle, Sir.“
Kano erhob sich, erwiderte den Gruß und streckte seinem neuen Untergebenen die rechte Hand entgegen: „Lieutenant Stewart…willkommen bei der Schwarzen Staffel. Willkommen bei den Butcher Bears.“
„Vielen Dank, Sir. Und es ist mir eine Ehre! Jeder weiß, dass die Angry Angels immer an der Spitze der Flotte fliegen.“
Angesichts des in diesen Worten mitschwingenden Enthusiasmus musste Kano ein Zucken in den Mundwinkeln unterdrücken, das Steward vielleicht falsch verstanden hätte: „Wir bemühen uns, unserem Ruf gerecht zu werden.“
„Nur ein bisschen spät, Rerun.“ warf Huntress ein, was den Neuen prompt Erröten ließ.
„Lieutenant Agyris – Huntress – ist meine Stellvertreterin. Geben Sie nicht zu viel auf das was sie sagt. Außer es hat mit dem Dienst zu tun.“
„Und mit ihren sozialen Fertigkeiten. Zu einer Verabredung zu spät zu kommen, gilt als ziemlich unhöflich.“ stichelte Huntress weiter.
„Verzeihen Sie, aber es gab Probleme mit der Maschine. Erst mit der Startmechanik, und nachdem das bereinigt war, musste noch einmal die gesamte Hard- und Software des Fahrgestells überprüft werden.“
Kano winkte ab: „Entspannen Sie sich, wir wissen, warum Sie erst jetzt an Bord kommen konnten. Und dass Sie an der Reparatur ihrer Maschine beteiligt waren, wird Ihnen hier niemand ankreiden. Solche Fähigkeiten können wir immer gebrauchen.
Haben Sie sich schon einrichten können? Momentan geht es an Bord immer noch etwas chaotisch zu.“
„Ja, Sir. Es ist…ein Träger ist doch etwas ganz anderes als die Akademie oder ein Frachter. Oder ein Zeus-Träger. Ich meine…“
„Ich weiß. Mir ging es bei meiner Ankunft auf der REDEMPTION genauso. Und die war erheblich kleiner als die COLUMBIA.
Außerdem möchte ich Ihnen gratulieren. Wie Sie selber bemerkt haben, die Angry Angels sind eines der Elitegeschwader der TSN. Und die Butcher Bears…“, Kano überraschte seinen Gegenüber und die anderen Piloten mit einem seiner seltenen Lächeln, „…sind die Elite der Elite. Egal was andere Staffeln behaupten. Wir übernehmen jeden Auftrag, und wir versagen nicht. Über die Hälfte von uns sind Fliegerasse, etliche gleich mehrfach.“
„Das weiß ich, Sir. Und ich werde Sie nicht enttäuschen!“
„Ich nehme Sie beim Wort, Lieutenant Stewart.“ Dann deutete er mit einer ausholenden Geste auf die übrigen Piloten: „Machen Sie sich mit ihren neuen Kameraden bekannt. Meine Stellvertreterin haben Sie ja bereits kennengelernt. Lieutenant Obasanjo kommandiert die dritte Sektion der Butcher Bears und…“

Die meisten Mitglieder der Schwarzen Staffel begrüßten den Neuen freundlich, auch wenn Flyboy wie immer kaum mehr als ein paar Worte hervorbrachte. Phoenixs Begrüßung blieb ebenfalls zurückhaltend, aber er hatte vermutlich einfach zu viele Kameraden sterben gesehen, um große Emotionen in die Begrüßung eines Neulings zu stecken.
Allerdings ließ Kano Stewart auch nicht viel Zeit für den sozialen Teil. Sie hatten einen engen Zeitplan: „Dort drüben sind die Simulatoranzüge, ziehen Sie sich um. Zeit, dass Sie mir zeigen, was Sie können. Wie Sie angeht…“, Kano wandte sich an die anderen Piloten: „Sie kennen ihren Dienstplan.“
„Wir könnten auch zusehen, wie sich der Neue gegen unseren Chef schlägt.“ schlug Sugar arglos vor.
Kano schüttelte den Kopf: „Wir werden nicht gegeneinander fliegen.“
„Weil das keine Herausforderung wäre…“, vollendete Phoenix den Satz. Bei anderen Piloten hätte das vielleicht boshaft geklungen, aber der Marine sagte einfach nur, was er dachte.
Was die Sache für Rerun allerdings nicht unbedingt besser machte.
Wieder verneinte Kano: „Danke für das Vertrauen in mein Können, aber darum geht es nicht.
Wir werden schon noch früh genug erfahren, wie sich Lieutenant Stewart gegen andere Butcher Bears schlägt. Aber erst einmal möchte ich sehen, wie er als Flügelmann fliegt.“

Ein paar Minuten später war Kano mit Stewart alleine, der allerdings nicht unbedingt entspannt wirkte, während er sich etwas unbeholfen in den Simulatoranzug quälte: „Noch mal wegen meiner Verspätung, Sir…“
„Vergessen Sie das. Sie haben richtig gehandelt.“ Kano zögerte kurz. Er hatte mit Absicht gewartet, bis sie allein waren: „Ihre Dienstakte spricht sehr lobend über ihren Einsatzeifer und ihr Engagement.“

Stewart schien sich nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war. Verständlich, denn er war bei seiner ersten Bewerbung an den Akademiestandards gescheitert. Etliche Jahre hatte er dann als Raummatrose in der zivilen Raumfahrt gearbeitet, bevor er – nicht zuletzt wegen den liberalisierten Aufnahmebedingungen – dann doch in die Kampffliegerausbildung gekommen war. Daher kam auch Stewarts Callsign ‚Rerun‘, das er wahrscheinlich nicht selber gewählt hatte. Unter normalen Umständen hätte er maximal ein Zubringershuttle fliegen dürfen, aber keinen Raumjäger. ‚Aber das sollte ich wohl besser nicht erwähnen. Das werden schon andere besorgt haben.‘ Kano hatte Stewarts Beurteilungen – technische Fertigkeiten sehr gut, Flug- und Schießfähigkeiten mittelmäßig – und sein psychologische Profil aufmerksam gelesen. Geblieben war ein…zwiespältiger Eindruck. Ob dieser Junge sich in der Raumschlacht bewähren würde, blieb abzuwarten. ‚Junge? Er ist älter als ich. Und er wollte unbedingt Kampfpilot werden. Aber weiß er auch, was das heißt? Wird er durchhalten? Es gibt genug Traumtänzer, die einem Ideal hinterherjagen, ohne es verwirklichen zu können.‘ Doch auch das musste für den Augenblick ungesagt bleiben. Aber er würde Rerun im Auge behalten.

„Talent alleine reicht nicht, Lieutenant. Als Pilot brauchen Sie vor allem Beharrlichkeit, Entschlossenheit und Durchhaltewillen. Eigenschaften, die Sie bewiesen haben. Alles Weitere ist vor allem eine Frage des Trainings. Und das werden Sie bekommen.“ Das war nicht ganz richtig. Einige Fähigkeiten konnte man zwar erlernen oder durch Training verbessern. Andere jedoch nicht. Aber zumindest der zweite Teil von Kanos Aussage stimmte hundertprozentig.
„Sie werden als mein Flügelmann fliegen.“ Der japanische Pilot lächelte erneut kurz: „Und machen Sie sich keine Sorgen, ich habe meinen alten Katschmarek nicht verschlissen. Aber Flyboy kommt in eine andere Rotte.“
„Danke, Sir. Ich habe schon viel von Ihnen gehört…“
Diesmal fragte sich Kano, wie diese Bemerkung gemeint war. Sein Ruf basierte nicht nur auf der Zahl seiner Abschüsse, sondern vor allem darauf, wie häufig die Akarii ihn aus der Maschine geschossen hatten: „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Zeigen Sie denselben Einsatzgeist und dieselbe Zähigkeit, die sie hierher gebracht haben. Die nächste Zeit wird nicht einfach für Sie werden. Ich stelle hohe Anforderungen. An alle Piloten meiner Staffel. Wir haben einen Ruf zu wahren – und unseren Platz an der Spitze des Geschwaders zu verteidigen. Und Ihre Aufgabe wird es sein, dabei meinen Rücken zu decken und zu verhindern, dass mich der Akarii abschießt, den ich übersehen habe.“ Kano flüchtiges Grinsen wurde von Rerun erwidert: „Ich zähle auf Sie, Stewart. Und ich weiß, dass Sie es schaffen können.
Ihr erster Raumflug ist in acht Stunden angesetzt. Alles Weitere entnehmen Sie ihrem Dienstplan. Wenn Sie zusätzliche Übungsstunden sammeln wollen, wird sich das arrangieren lassen.“ Kano wusste, dass er nicht gerade subtil war, aber Rerun hatte zusätzliches Training nötig. ‚Ich gebe dir eine Chance, um auch mir zu zeigen, wie sehr du ein Kampfflieger werden willst. Beweise es mir.‘ Wenn das nicht funktionierte, konnte er immer noch die Gangart verschärfen. „Morgen findet eine Staffelübung statt. Nutzen Sie die Zeit bis dahin, um sich einzurichten. Und um Ihre Staffelkameraden kennenzulernen. Von diesen Männern und Frauen werden Ihr Erfolg…und ihr Überleben abhängen. Die meisten haben bereits Kampferfahrung. Also hören Sie auf ihre Ratschläge.
Haben Sie sonst noch Fragen?“
Rerun zögerte, schien nach Worten zu suchen: „Vorhin, als die anderen über Commander Stafford geredet haben…“
Kano presste die Lippen kurz zusammen, und winkte dann ab: „Piloten reden. Gewöhnen Sie sich daran. Und wie Sie ja bereits wissen, wir sind ein Elitegeschwader. Und das bedeutet auch, dass einige sich ein paar verbale…Freiheiten herausnehmen. Solange dass nicht den Dienstbetrieb beeinträchtigt oder in der Öffentlichkeit geschieht, spielt es keine Rolle.“
„Ich…verstehe.“ Das klang allerdings nicht ganz überzeugt. Kano rief sich ins Gedächtnis, dass Steward den neuen Geschwaderchef schon länger kannte. Und obwohl Stafford vermutlich auch in seinem alten Geschwader nicht ganz unumstritten war, zumindest Rerun schien zu ihm zu halten. ‚Das ist löblich, aber ich will keinen Zuträger oder Denunzianten in meiner Staffel.’ Er würde seine Untergebenen im Auge behalten – vor allem Huntress. Sie hatte einfach ein zu loses Mundwerk und diese verdammte Unbekümmertheit, die mit einer privilegierten Herkunft, herausragenden Fähigkeiten und Leistungen und den ebenso weitreichenden wie hochrangigen Verbindungen ihrer Familie einhergingen.
„Außerdem…Piloten das Meckern verbieten? Ich suche mir lieber Kämpfe, die ich auch gewinnen kann.“ Auch wenn Kanos Stimme ruhig blieb, machte ein leiser Unterton in seiner Stimme klar, dass die Angelegenheit für ihn erledigt war.

Steward nickte langsam: „Wissen Sie schon, wann wir in den Einsatz geschickt werden?“ In seinen Worten schwang jetzt eine Mischung aus Erwartung, Ungeduld und leichter Nervosität mit. Aber das war nun wirklich nichts Ungewöhnliches.
„Die Reparaturen an der COLUMBIA sind abgeschlossen. Die Staffeln sind wieder auf Sollstärke. Ich würde nicht damit rechnen, dass wir nach der Indienststellung der LIBERTY noch sehr viel länger hier bleiben.“ ‚Die Akarii greifen an. Und Birmingham will wiedergewählt werden. Sie können nicht auf uns verzichten. Wenn nicht aus militärischen Gründen, dann aus psychologischen. Zu irgendetwas muss unser Ruf schließlich gut sein.‘ Steward würde schon bald die Action bekommen, die er sich zu wünschen schien. Hoffentlich würde sie nicht zu viel für ihn sein.
„Sie haben es wahrscheinlich noch nicht gehört, aber die Butcher Bears sind ausgewählt worden, um eine neue Waffe zu testen. Arrows – leichte Atomraketen, die auch von einem Jäger abgefeuert werden können. Laut Ihrer Sicherheitseinstufung sind Sie auf jeden Fall befugt, daran teilzunehmen – aber Sie werden noch einiges nachholen müssen. Rechnen Sie deshalb lieber damit, dass Sie in den nächsten Wochen nicht viel Freizeit haben werden.
Ihre Vorgesetzten haben sich sehr positiv über ihre technischen Fähigkeiten geäußert.“
Rerun verzog den Mund: „Ja…dank meiner Zeit in der Handelsflotte.“
„Sie sollten das nicht geringschätzen, sondern als ihre Stärke betrachten. Gerade wenn es um den Testbetrieb angeht, könnten wir ihre Expertise gut gebrauchen.“
„Danke, Sir.“
Es zuckte kurz um Kanos Lippen: „Danken Sie mir lieber noch nicht.“

Auf Kanos auffordernde Geste hin schloss Rerun die ‚Cockpitkanzel’ seiner Simulatorkapsel.
Während Kano das Simulatorprogramm startete, runzelte er nachdenklich die Stirn. Er war sich noch nicht so recht sicher, was er von dem Ersatz für Jimmy halten sollte. Rerun zeigte Engagement, aber Jimmy hatte mehr Einsatzerfahrung gehabt…
‘Nicht, dass ihm das viel genutzt hat.‘ Kano hatte in den letzten Jahren viele Piloten kommen, fliegen – und sterben gesehen. Viele davon erfahrener oder talentierter als Stewart. Natürlich konnte nicht jeder Pilot ein Naturtalent oder erprobter Veteran sein. Dennoch…
Kano war erst ein paar Monate nach Kriegsbeginn zur aktiven Truppe gestoßen, nach dem großen Aderlass der ersten Stunde. Doch sogar er sah den Unterschied. ‚Wir bluten aus. Oder sind kriegsmüde.‘ Aber vielleicht wurde er einfach alt. ‚Alt? Du bist noch nicht mal Dreißig!‘
Natürlich würde er nichts davon gegenüber Rerun äußern. Der Junge würde es auch so hart genug haben: „Wir beginnen mit einer simulierten Kampfpatrouille. Halten Sie Ihre Position bis ich…“



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:49:

 

Vergessen von allen

Die Welt um sie herum war öde und leer. Selbst der Staub und die Steine unter ihren Füßen wirkten steril und leblos, ganz anders als auf der Erde und vielen der anderen Welten, auf denen sie schon gestanden hatte. Keine Spur von Leben, soweit sie blicken konnte. Für einen Moment kamen ihr ein, nein zwei Namen in den Sinn, Welten, die dieser hier in ihrer Lebensfeindlichkeit glichen. Doch im nächsten Moment waren diese Gedanken verschwunden und sie wunderte sich, was diese Namen eigentlich bedeuten sollten – Erde, Mars, Graxon… Was waren das für Welten, deren Klang ihr vertraut und doch fremd war?
Selbst wenn sie diese Planeten einmal besucht hatte, sie berührten sie nicht mehr. Aber irgendetwas an dem öden Land ringsum brachte eine Saite in ihr zum Klingen, war zugleich vertraut und doch fremdartig, auf eine verstörende, ja erschreckende Art und Weise.
Es fing mit den drei Sonnen an, die über dem ewig blauen Himmel schwebten. Sie glaubte zu wissen, dass hier praktisch niemals Finsternis herrschte, dass diese Welt keine Nacht kannte, so wie es kaum eine Stunde gab, die nicht lange Schatten warf. Mindestens eine der drei Sonne – zwei leuchteten blau und eine gelb – war immer zu sehen. Die blauen Sonnen spendeten zwar weniger Licht als ihre Schwester, doch genug für ein seltsames Zwielicht. Und der Hauptmond des Planeten leuchtete zu bestimmten Zeiten selbst wie eine Sonne, wenn er ihr Licht auf den Planeten zurückwarf.
Die Strahlung der drei Sterne ließ Polarlichter über den Himmel wandern, die viel stärker und deutlicher zu sehen waren als auf anderen Welten – auch weitab von den Polen und selbst tagsüber. Die Sonnen verbrannten das Land, und bombardierten es mit ihren tödlichen Strahlen. Es wunderte sie nicht, dass sie ringsum keine Spur von Leben entdeckte, weder eine Pflanze noch ein Insekt oder gar ein größeres Tier.
Und doch wusste sie, dass diese Welt nicht leblos war. Es gab Höhlen, endlose Kavernen, tief unter der verbrannten Oberfläche verborgen, es gab tief eingeschnittene Canyons und es gab die flachen Meere mit ihren endlosen Algenwäldern. Überall dort gab es Leben, ein bizarres, durch die vom Strahlenbombardement beschleunigte Evolution verformtes Leben. Auch die Jahreszeiten waren hier anders als auf anderen, ‚normalen‘ Planeten, da die Positionen der drei Sterne das Wetter beeinflusste und die Umlaufbahn des Planeten alles andere als regelmäßig verlief.
Für einen Moment runzelte sie nachdenklich die Stirn. Wieso wusste sie das alles, fast als hätte sie ein ganzes Zeitalter hier verbracht? Und wenn sie das hatte, wieso kannte sie dann nicht einmal den Namen dieser Welt, die ihr doch so vertraut war wie eine Zuflucht, eine Heimat? Es war, als bestünde ihr Selbst aus zwei Hälften, die nicht zueinander passten – und dennoch verbanden sich Bruchstücke ihres Wissens unablässig miteinander, drifteten dann jedoch wieder auseinander, um sich erneut zu treffen…

Eine Weile, eine Ewigkeit lang dachte sie gar nichts, vergaß diese irritierenden Fragen, studierte einfach nur die Polarlichter, beobachtete die wabernden Lichtbänder, die den Himmel überzogen, sich überkreuzten, miteinander verschmolzen und bizarre Bilder zu formen schienen. Die Erscheinungen hatten etwas Zwingendes an sich – blau, weiß, grün und violett über den rostbraunen Dünen und dem schimmernden Sand. Wenn man lange genug hinsah, dann hatte man das Gefühl…
Sie schauderte unwillkürlich und wandte sich ab. Etwas wie ein ferner Schmerz durchzuckte sie, fast eine Warnung. Nein, sie würde dieses Spiel nicht wieder mitspielen. Es gab da etwas, das sie eigentlich wissen müsste, an das sie sich jedoch beim besten Willen nicht entsinnen konnte. Doch dann war auch dieser Gedanke schon wieder verflogen.

Die Luft schmeckte sauber – wirklich SAUBER – ohne künstliche Beimischung, ganz anders als die gefilterte und aufbereitete Luft, die sie so lange Zeit geatmet hatte, aber auch frei von den Zivilisationsgerüchen, die sie von anderen Planeten kannte. Und doch war da etwas, das an ihrer Wahrnehmung kratzte. Ein Geruch von etwas Uraltem, oder nein, es war eher…ja, es war Tod, aber ein weit zurückliegender, schwer begreiflicher, der sie nicht schreckte.
Soweit sie auch sehen konnte, über all die endlosen Meilen in alle Himmelsrichtungen, nirgends war eine Spur von Besiedelung zu entdecken. Kein Weg, keine Straße, kein Stück Müll, keine Gebäude, Boden- oder Luftfahrzeuge. Nichts deutete darauf hin, dass es hier jemals etwas Derartiges gegeben hatte, und sie wusste, es HATTE hier tatsächlich nie so etwas gegeben – nur die Wüste, gnadenlos und groß, und die fernen Berge.
Für einen Augenblick war da wieder etwas in ihren Gedanken, so als müsste sie etwas…alles…über diese Berge wissen, genauso, wie sie über die Polarlichter Bescheid wusste, doch dann zerfaserte ihr Wissen, ließ nichts zurück als wirre aber intensive Sinneseindrücke. Sie meinte fast zu fühlen, wie sich die Steine in den scharf eingeschnittenen Tälern unter ihren nackten Zehen anfühlten, wie die staubige Luft in ihre Lunge biss, wenn sie rannte, wie ihr keuchender Atem von den Felswänden widerhallte. Wie der Kies knirschte, wenn sie eine Halde hinab stieg, wie es sich anfühlte, das vertraute Brennen eines von den Sonnen aufgeheizten Steines, der in ihrer Hand lag…

Mit einem mentalen Achselzucken tat sie diese Gedanken wie alle früheren flüchtigen Irritationen ab, obwohl irgendetwas ihr zuraunte, dass diese Fragmente eigentlich wichtig waren.
Ihre Füße fanden den Weg ohne Schwierigkeit, obwohl es keinen Pfad zu geben schien. Instinktiv wich sie jenen Stellen aus, wo der unachtsame Wanderer in Geröll und Sand ausrutschen, stecken bleiben oder gar spurlos verschwinden würde. Sie bewegte sich vollkommen selbstsicher. Lautlos, aber nicht aus Vorsicht, sondern weil sie es konnte. Nicht einen Augenblick fühlte sie Unsicherheit, obwohl sie unbewaffnet war. Irgendetwas sagte ihr, dass sie von den Tieren dieser Welt nichts zu befürchten hatte, nicht einmal von den größten Raubtieren, die in den Schluchten und Höhlen lauerten. Sie wusste, der kleinste Hauch ihres Geruchs würde genügen, um jeden Räuber in die Flucht zu schlagen. Doch wieso hatten die Bewohner einer Welt, auf der es keine Spuren von Zivilisation zu geben schien, solche panische Angst vor ihr?

Auf einmal war sie an einem vollkommen anderen Ort, doch sie konnte sich nicht an eine Bewegung erinnern, die sie hier gebracht hatte. Sie war…einfach auf einmal da, wo DA auch immer seien mochte. Vor ihr erstreckte sich eine schmale Schlucht, tief eingeschnitten in die Gebeine der Erde. Wenn jemand anderes vor ihr diesen Weg genommen hatte, so hatte er keine Spuren hinterlassen, oder es war vor sehr, sehr langer Zeit geschehen. Die Felswände zur Rechten und Linken stiegen über hunderte Schritte schroff an, unbesteigbar für jeden außer den erfahrensten Kletterern. Ja, dies waren die Berge, die sie vorhin – Wann war das gewesen? Und wo? – gesehen hatte. Und wieder waren da diese Sinneswahrnehmungen, so als wären die Steine Bekannte, deren Gesichter sie erkannte, deren Namen sie aber vergessen hatte. Wie war das nur möglich…
Nur ein schmaler Streifen Himmel war zu erkennen, weit, weit oben. Riesige Felsblöcke flankierten die Ränder der Schlucht wie eine von namenlosen Angreifern verheerte Mauer. Tiefe Schatten lagen hier unten, Schatten, in denen sich alles Mögliche verbergen konnte, und die sie dennoch nicht schreckten. Der Fluss, der einst das Tal in Erde und Fels gegraben haben mochte, war zu einem Rinnsal verkümmert, gespeist von einem verlorenen Regen, der sich auf welchem Wegen auch immer hierher verirrt hatte, oder geboren aus uraltem Eis, das fern und gnadenlos auf den höchsten Gipfeln blitzte. Hier unten gab es Schutz vor der Strahlung, doch nur wenige Gewächse hatten sich in die Flanken des Tals oder seinen Boden gekrallt. Nichts schien hier zu wachsen außer einigen hartblättrigen Ranken mit tiefroten Blüten, die sich verbissen in die Ritzen klammerten und von Dornen starrten. Sie blieb ihnen wohlweißlich fern. Es gab kaum ein Zeichen tierischen Lebens hier unten, nicht einmal Insekten. Als sie die Luft prüfend einzog, spürte sie es wieder, deutlicher diesmal – den Geruch vergangener Tode. Einen Geruch, den sie nur zu gut kannte. Und da war noch etwas…
Sie wusste, dass sie nicht allein war. Spürte, dass in den Schatten und Gesteinsritzen am Rande ihrer Wahrnehmung etwas war und sie beobachtete. Hin und wieder schienen kleine Steine unter Füßen oder Krallen zu knirschen, war eine verschwommene Bewegung aus den Augenwinkeln zu erahnen – wenn man jedoch genauer hinsah, war da nichts mehr. Doch vor allem war es das Gefühl, beobachtet zu werden, wie man es manchmal hatte, wenn man mit dem Rücken zu einem Beobachter saß, und doch meinte, seinen Blick zu spüren. Nicht unbedingt feindselig, doch nicht ohne Misstrauen und voller Berechnung, mit uralten, wissenden, kalten Augen. Es störte sie nicht. Die Unsichtbaren hielten Abstand. Aus Vorsicht, vielleicht sogar Angst…aber sie spürte keinen Hass, nicht auf sie jedenfalls. Solange sie nicht daran hinderten, ihr Ziel zu erreichen, waren sie ihr egal.

Es gab keine Markierung, die ihr den Weg wies, und doch wusste sie, wohin sie wollte. Sie ging ohne zu zögern, aber ohne Eile, bis sie den Ort erreicht hatte, zu dem es sie zog, auf einem Weg, der sich anfühlte, als wäre sie ihn so oft schon gegangen. An dieser Stelle sprangen die Felswände so weit vor, dass sie sich weit, weit oben um ein Haar berührten. Ein guter Springer konnte hier die Schlucht mit einem gewaltigen Satz überqueren – wenn er nicht den tiefen Sturz fürchtete, der auf ihn lauerte. Und wieder wirkte die Szenerie fremd und doch zugleich vertraut auf sie, in einer Intensität, die beinahe schmerzte.
Tief unter einem der Felsvorsprünge klaffte ein Höhleneingang, groß genug für einen kompletten Panzer. Doch nur wer direkt davor stand, hätte den Eingang bemerkt – von den Rändern der Schlucht oder gar aus der Luft war nichts zu erkennen.
Für einige Augenblicke verharrte sie. Sie blickte sie nicht um, obwohl sie spürte, dass die unsichtbaren Beobachter sie umgaben, zahlreicher, näher als zuvor, den Kreis um sie schlossen, mit nur einem Ausweg – voran, in den Berg hinein. Fast meinte sie ihren Atem zu spüren.

Übergangslos fand sie sich plötzlich in der Dunkelheit einer Höhle wieder. Unter ihren Füßen fühlte sie die angenehme Kühle glatt polierter Steine. Sie konnte nichts sehen, doch fand sie ihren Weg mit traumhafter Sicherheit. Ihre…Begleiter waren noch immer um sie herum, fast lautlos in den Schatten.
Als sich der Gang zu einer gigantischen Höhle weitete, so groß, dass ihr Ende sich mehr erahnen als erkennen ließ, spürte sie das erste Mal, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Waren es Angst, Erwartung, vielleicht sogar Freude? Sie wusste es nicht. Hier herrschte ein eigenartiges Zwielicht, das von überall und nirgends zu kommen schien, und das ihr sonderbar bekannt vorkam. Ihre Augen wanderte über die Wände, die sich langsam aus den Schatten erhoben, wie aus schwarzem Glas geformt, makellos, perfekt, mit Schriftzeichen und Zeichnungen bedeckt, die ihr vertraut waren. Ihr Blick wanderte weiter zu der gewaltigen Statue im Herzen der Halle, die die kleineren Standbilder an den Wänden weit überragte. Sie fühlte sich zwergenhaft, ein flüchtiges Nichts zu den Füßen eines Giganten, als ihr Blick immer höher wanderte, zu dem verschatteten Gesicht der Statue, die mit verschränkten Armen dastand, gehüllt in eine Art Panzer. Oder war es ein Zeremonialgewand? Das Monument wirkte uralt, doch es war unberührt vom Zahn der Zeit. Sie machte einen Schritt nach vorne, noch einen – gleich würde sie das Gesicht des Monuments erkennen können, die Inschriften lesen, die sich in endlosen Schlangenlinien um den Sockel zogen. Dann würde sie WISSEN. Nur deshalb war sie hierhergekommen, dorthin, wo sie hingehörte. Nur noch wenige Schritte…
Es war nur ein einziges Wort, gedacht, gehaucht, geflüstert von einer uralten Stimme hinter ihr – das, und die Gewissheit, dass sie nicht mehr allein war, dass die schweigenden Beobachter ihre Unsichtbarkeit aufgegeben hatten, die sie herumfahren ließen. Ihre Augen weiteten sich, und dann öffnete sich ihr Mund zu einem erstickten Schrei, während sie zurücktaumelte, den Halt verlor, stürzte…

***

Lilja riss panisch die Augen auf. Für einen Moment wollte sie aufspringen, in der ersten Schrecken erregenden Sekunde, als sie sich nicht sicher war, wo sie sich befand. Doch dann, als die Erkenntnis kam, dass sie nur geträumt hatte, zwang sie sich gleichsam gewaltsam auf ihr Bett zurück. Nur ihre reflexartige Handbewegung zum Lichtknopf konnte sie nicht bremsen. Die Deckenleuchten sprangen an und blendeten sie, ließen ihren Puls zu neuen Höhen rasen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. In Gedanken formulierte sie einen lästerlichen Fluch…,Nicht schon wieder!‘
Sie zwang das Gefühl der Panik zurück, den Drang, ihr immer griffbereites Messer zu ziehen – und sie unterdrückte auch den Schrei, der in ihrer Kehle lauerte. Mühsam atmete sie ein paar Mal tief durch, ehe sie sich aufsetzte. Sie versagte es sich, sich prüfend nach einem Eindringling umzuschauen, oder gar den Baderaum zu kontrollieren, obwohl sie es gerne getan hatte. In Gedanken beglückwünschte sie sich, dass sie als Staffelchefin ein Einzelzimmer hatte. Eine Zimmergenossin hätte inzwischen Alarm geschlagen. Betont gelassen warf sie einen Blick auf ihr Chrono, dann ließ sie ihre Hand prüfend über ihr Laken wandern. Sie verzog ihre Lippen angeekelt, als sie die Schweißflecken fühlte.

Für einen Moment zögerte sie, atmete noch ein paar Mal tief durch bis sich ihr Puls beruhigte. Dann breitete sie ihre Decke unter sich aus und lehnte sich zurück. Der kühle Hauch der Klimaanlage spielte über ihre schweißnasse Haut, doch sie hieß dieses Gefühl willkommen, weil es eben nicht die brennenden Strahlen ferner Sonnen waren, die ihren Schweiß trockneten. Das Licht zu löschen kostete sie Überwindung. Aber sie wusste, die Ecken ihres Zimmers enthielten nichts, wovor sie sich fürchten musste – weder bei Licht noch in der Dunkelheit. Was sie ängstigte, lauerte hinter ihren Augenlidern.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie hatte es mit Tabletten versucht, aber das hatte – genauso wie früher – nur wenig geholfen. Ungeachtet aller Selbstkontrolle, die sie sich erarbeitet hatte, konnte sie sich nicht daran hindern, dass ihre Gedanken zu wandern begannen…
Unangenehme Träume waren für Lilja nichts Neues. Eigentlich waren sie seit Kriegsbeginn ihr ständiger Begleiter. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie kaum eine Nacht hatte durchschlafen können. Drei, vier Mal und öfter war sie damals hintereinander aufgeschreckt, und nur Medikamente hatten ihr etwas Erholung verschafft. Es waren Visionen von Verlust und Tod gewesen, dem von anderen und ihr eigener, der Schatten der Niederlage, Bilder von ihrer Heimat, ihren Kameraden und Mitstreitern, verschlungen vom Feuer des Krieges, die sie damals gefoltert hatten. Das volle Programm, sozusagen. Vielleicht nicht sonderlich originell, aber ungemein wirksam.
Nicht, dass Lilja jemals von den Gesichtern der Akarii gepeinigt wurde, die sie getötet hatte. Sie hatte ihnen schließlich nicht in die Augen geblickt, als sie sie getötet, manche würden sagen ,ermordet' hatte. Sie kümmerten sie auch nicht, ließen ihr Gewissen unbelastet – es waren ja nur Akarii. Wie sie einmal in einem Moment seltener und launenhafter Offenheit zu Imp gesagt hatte, als sie noch ein Zimmer teilten, waren es eher die Echsen, die sie NICHT oder NOCH NICHT getötet hatte, die ihr den Schlaf raubten.
Auch wenn sie ihre Ängste in den Griff bekommen hatte – vielleicht weil der Krieg besser lief oder sie einfach abstumpfte – waren die Alpträume nie GANZ verschwunden, hatten sie begleitet wie ein dumpfer, vertrauter Wundschmerz, der niemals verging. Oder zumindest hatte sie angenommen, alles im Griff zu haben. Andererseits, verglichen mit ihren Erlebnissen zu Anfang des Krieges war das doch harmlos, was sie in den letzten Monaten erlebt hatte, oder…?

Sie verzog ihre Lippen zu einer Grimasse. Wem machte sie eigentlich was vor? Versuchte sie, sich selbst zu belügen? Das, was sie früher durchgemacht hatte, war vollkommen normal gewesen, jedenfalls soweit man die menschliche Reaktion auf so etwas Unnormales wie Krieg so bezeichnen konnte. So lange es ihre Einsatzbereitschaft nicht beeinträchtigte, hatte sie gelernt damit umzugehen. Dieser Traum aber, die Träume der letzten Wochen, waren anders. Und wie um das zu betonen hatten sie die „normalen“ Alpträume verdrängt. ,Wie ein fetter Hecht in einem Teich, der alle anderen Fische gefressen hat.’ dachte sie sarkastisch.
Sie wusste nur zu gut, wann es damit angefangen hatte – während der Reise ins Medusa-System. Genauer, irgendwann nach ihrem Flug über diesen verdammten Gespenstermond. Seitdem hatte sie, wenn sie genauer nachdachte KEIN EINZIGES Mal mehr das Vergnügen mit einem ihrer „alten Bekannten“ gehabt, einem der Alpträume, die sie seit Anfang des Krieges begleiteten. Zumindest konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Nicht einmal während oder nach der entbehrungsreichen Schlacht um Sterntor, die genug Anlass gegeben hatten, ihr den Schlaf zu rauben. Statt dessen…
Sie fluchte unflätig, zuckte aber gleich darauf erschrocken zusammen, als ihre Worte durch den dunklen Raum hallten. Bloß gut, dass die Quartiere der Piloten nicht WIRKLICH flächendeckend überwacht wurden. Sonst hätte ein Zuhörer sie vermutlich für verrückt erklärt und die Krankenstation benachrichtigt. Was sie aber noch mehr beunruhigte – für einen Moment hatte sie das Gefühl, als hätte ihr etwas auf der Zunge gelegen, ein Wort, das sie nicht einmal verstand…

Es war zum Verrücktwerden. Genauer gesagt war das ihre größte Sorge: dass sie langsam irrewurde. Woher kamen diese verdammten Träume? Wie konnten ein paar längst zerstörte Ruinen – oder Felsformationen, die sie mit ihrer überspannten Phantasie für Ruinen hielt – die sie nur für Sekunden gesehen hatte, zusammen mit dem Geschwafel eines Pseudoexperten für extraterrestrische Kulturen und ein paar, na ja, seltsame Ereignisse sie so aus dem Gleichgewicht bringen?
Denn obwohl sie sich sonst über überhaupt nichts sicher war – die Bilder, Schriftzeichen und Bauten, die sie immer wieder in ihren Träumen sah, kamen ihr nur zu bekannt vor. Sie entsprachen haargenau dem, was ihr Dr. Georges gezeigt hatte, und dem, was sie flüchtig auf dem Mond hatte erahnen können. Nein, das war nicht ganz richtig. Ihre Traumbilder waren viel besser erhalten, viel deutlicher und detaillierter als alles, was der Wissenschaftler ihnen vorgeführt oder was sie selber gesehen hatte.

Vielleicht, nein, sicher lag genau da die Erklärung. Irgendwie mussten Georges Bilder und Geschichten einen Teil von ihr angesprochen haben, von dem sie nicht einmal wusste, dass er noch da war, tief in ihr begraben. Natürlich, als Kind und selbst als junge Kadettin hatte sie auch davon geträumt, Dinge zu finden, zu erforschen, die noch keiner zuvor untersucht hatte.
Die erste sein, die Neuland betrat – so wie bei ihrem Flug über den Medusa-Mond. Und solche Sehnsüchte hatte sie natürlich auch in Bezug auf die Spuren anderer, älterer Zivilisationen gehabt. Vor ihrem Militärdienst, aber auch in der ersten Zeit bei der TSN, vor dem Krieg, als sie auf einem Außenposten am Rand des republikanischen Raums diente. Sie hatte damals sogar einige Artikel zu dem Thema gesammelt, sich gefragt wie es wohl wäre, wenn sie selber auf etwas stoßen würde – ein uraltes verlassenes Schiff, eine verlassene Basis auf einem Asteroiden... Dass sie mal für so genannte Heldentaten in einem echten Krieg Bekanntheit erlangen würde, hatte jenseits ihrer Vorstellungskraft gelegen. Aber als Entdeckerin, das hatte sie vielleicht für möglich gehalten...
Nun, das war eigentlich nichts, dessen sie sich schämen musste. Jeder, der zu den Sternen aufbrach, der ihre Unendlichkeit und manifestierte Ewigkeit auf sich wirken ließ, fragte sich, ob da nicht andere vor ihm gewesen waren. Manche Menschen glaubten das Wirken Gottes – oder der Götter – zu spüren, aber zu denen hatte sie nie gehört. Doch auch eine Rationalistin wie Lilja fühlte Ehrfurcht angesichts der endlosen Weiten, denen sie sich gegenübersah. Und jeder der darüber nachdachte, füllte seine Vorstellungen über diese Welten, diese früheren Zivilisationen, die es gegeben haben musste, mit Träumen, Hoffnungen und Ängsten. Vielleicht war es ein psychologischer Defekt der Menschheit, dass sie die Anderen fast immer nur als eines von drei Rollenbildern wahrnehmen konnte. Wie Ton, den man nur in wenige bekannte Formen pressen konnte, einfach weil die eigene Wahrnehmung nichts anderes zuließ. Als Ebenbild, als Engel – oder als Dämonen…
Konnte es sein, dass sich diese kindischen Träume, die immer noch tief in ihrem Innersten schlummerten, begraben von Jahren voller Gewalt, Schmerz und Hass, dass diese Relikte früherer Naivität sich in ihrem Kopf mit Georges‘ wirren Theorien und verschiedenen Elementen aus mehr handwerklich geschickten als wissenschaftlich korrekten Filmen und Büchern verbanden, die sie im Laufe ihres Lebens gelesen oder gesehen hatte? Lilja hätte es ungern zugegeben, aber sie wusste, dass sie ihre Psyche wie ihren Körper in den letzten Jahren harten Belastungsproben ausgesetzt hatte.
Einige steckten das problemlos weg, andere fanden unter Mühen einen Weg damit klarzukommen – zu dieser Gruppe rechnete sie sich – und einige zerbrachen früher oder später daran. Wahnsinn, Selbstmord oder zumindest dauerhafte Dienstuntauglichkeit - die Zahl der Opfer musste in die Hunderte, Tausende gehen.
Aber wenn sie nun einfach Bilder, Ideen, Wünsche oder Ängste aus ihrem bisherigen Leben verarbeitete, wie trivial die auch gewesen seien mochten, dann wäre das auch eine Erklärung für gewisse…unheimliche…Elemente ihrer Träume. Denn natürlich waren für mehr als einen Regisseur von Scifi-Horror-Filmen die Geschichten von den uralten verschollenen Rassen ein reichhaltiger Steinbruch für seine Ideen gewesen, was nicht wenig zum Spott über alle Wissenschaftler beigetragen hatte, die sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigten. Und sie war sich nicht zu gut dafür gewesen, den einen oder anderen dieser Schundstreifen anzuschauen, aus Langeweile, um sie sarkastisch zu kommentieren und, wozu das leugnen, auch einem gewissen morbiden Hang zum Nervenkitzel, der nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Allerdings…die Realität schrieb auch gute Horror-Scripts. Oder wie anders sollte man das bezeichnen, was auf der Mary C passiert war?
Das erklärte vielleicht auch dieses enervierende Gefühl von Vertrautheit, ja Vorahnung, das sie aus ihren Träumen kannte – sie wusste ja, was kam…
Andererseits, wenn sie genau darüber nachdachte, wirkliche Furcht und Entsetzen spürte sie eigentlich nur sehr selten. Oft erst, kurz bevor sie aufwachte – und sie konnte einfach nicht den Finger darauf legen, WAS ihr dann Angst machte.
Lilja schürzte nachdenklich die Lippen. Konnte es so einfach sein? Doch warum sprach sie so intensiv auf ein so wirres Mischmasch aus längst vergangenen Träumen und eher unglaubhaften Geschichten an? Wie konnte das ihre altvertrauten Dämonen so vollkommen in den Hintergrund drängen?

Nein, das ergab keinen Sinn. Oder doch? Sie wusste es nicht, und das Unwissen machte ihr Angst – etwas, das normalerweise nicht einmal dem Feind gelang. Sie hatte, wie man so sagte, dem Tod schon ein halbes Dutzend Mal ins bleiche Antlitz geschaut. Sein suchender Blick war stets weitergewandert und hatte jemand anderen getroffen. Sie war selber Dutzende Male zum Tod oder zumindest seiner Sendbotin geworden. Im Kampf hatte sie selten Angst verspürte – es war die Niederlage und der Verlust geliebter Menschen, die sie fürchtete.
Und fast ebenso so sehr fürchtete sie, zu versagen. Das war eine Gefahr, die ihr aus ihr selbst, aus ihrem Körper und ihrer Seele drohten, die nicht so stark waren, wie sie sein sollten, sein mussten.
Doch war das ein Kampf, den sie allein kämpfen musste – und bisher auch erfolgreich bestanden hatte. Mit wem sollte sie auch darüber sprechen? Sie traute so wenigen Menschen. Und selbst jenen, denen sie trauen konnte und die von ihren normalen Alpträumen wussten, würden DAS HIER kaum verstehen. Was „neutrale“ Spezialisten anging – sie hielt nichts von geistlichem Beistand, und nichts von Psychologen und der Art und Weise, wie diese Träume deuteten. Für solchen Unsinn hatte sie einfach keine Zeit. Was sollte es bringen, irgendwelchen übernatürlichen Gewalten etwas vorzujammern oder aber sich mit angeblichen kindlichen Traumata oder sexuellen, sozialen, emotionalen oder sonstigen Defiziten ihres Lebens auseinanderzusetzen? Der Verschwiegenheit von Flottenärzten traute sie ohnehin nicht, und um einen zivilen Spezialisten aufzusuchen fehlte ihr neben dem Vertrauen auch die Zeit.
Und jenen, die ihre Träume vielleicht verstehen würden, konnte sie unmöglich vertrauen. Wem denn von der erlesenen Schar der Medusa-Forscher? Den Doktoren Georges und Eriksen vielleicht, oder gar ihren „Freunden“ vom TIS? Die würden sie entweder wie eine Irre behandeln oder – nicht unbedingt besser – wie etwas, das man auseinander nehmen musste, um es zu verstehen.

Wer blieb dann noch? Ace vielleicht? Hm...nein – nein, wohl besser nicht. Er interessierte sich ohnehin etwas zu sehr für sie. Sie verstand nicht wieso, aber vermutlich hatte er eine Schwäche für angeschlagene Leute, die er bemitleiden konnte und die für sein Mitleid dankbar waren. Noname, diese Beinahe-Selbstmörderin, seine sonderbare Schwärmerei für Admiral Alexander...sie wollte nicht sein nächstes ,Projekt` sein. Soweit sie das sagen konnte, meinte er es ja gut, seine Bemühungen in Ehren, aber Mitleid war kein vollwertiger Ersatz für Empathie. Und wenn sie ehrlich war, war sie auch keine dankbare Adressantin für Mitleid, sah es fast als Beleidigung. Eine Wagenladung Interesse mit einem Fingerhut wirklichem Einfühlungsvermögen, das war in der Vergangenheit ihr wenig wohlwollende und sicher nicht ganze faire Einschätzung des blauhaarigen Piloten gewesen, wann auch immer er seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. Da war es wesentlich ratsamer, mit ihm nur dienstlich Kontakt zu halten. Wenn er nur nicht immer so unterschwellig selbstgerecht gewesen wäre...aber egal. Und außerdem war er der letzte, vor dem sie Schwäche zeigen wollte – nicht, dass er sich noch irgendwelche Dummheiten einbildete. Einen „Retter“ konnte sie nicht gebrauchen. Überhaupt, warum wälzte sie diesen Gedanken überhaupt so lange? Also, das hätten wir abgehakt - wer blieb noch? Ihre engen Freunde – nein, die waren bei Medusa nicht dabei gewesen.
Nein, reden würde nichts bringen. Dazu war sie nicht bereit, noch nicht, oder besser NIEMALS, wenn es nach ihr ging. Abgesehen davon hatte sie wirklich keine Zeit für diesen Unsinn – und sie hasste es, um Hilfe zu betteln, da zustehen wie ein halbes Wrack. Und gerade jetzt konnte, durfte sie keine Schwäche zeigen, oder sie würde so unendlich viel verlieren. Dinge, von denen sie lange Zeit nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Das wäre etwas – die Kriegsheldin tickt aus, passend zur Ordensverleihung. Nicht, dass diese Geschichte in den letzten Jahren nicht schon ein paar Mal in der Realität passiert war. Sie konnte ohne Mühe ein halbes Dutzend Vorzeigehelden nennen, die praktisch öffentlich ausgebrannt waren. Der Grad war schmal, auf dem sie balancierten, niemand wusste das besser als sie. Sie war einmal aus dem Dienst genommen worden, und das würde ihr, so lange ihre Knochen heil waren, nicht noch einmal passieren. Diesen Kampf würde sie allein durchstehen. Aber was sollte sie tun? Einfach mit den Schultern zucken und weitermachen?

Plötzlich hielt Lilja es nicht mehr länger aus. Sie aktivierte wieder die Beleuchtung. Mit einem frustrierten Blick auf die Uhr stand sie auf. Die Russin zögerte noch einen Moment, dann setzte sie sich vor ihren Dienstcomputer und schaltete das Gerät an. Als es Bereitschaft meldete, hob sie die Hand, doch dann zögerte sie unvermittelt. Ihre Finger schwebten eine gefühlte Ewigkeit über der Tastatur, als könne sie sich weder dazu bringen, sie zurückzuziehen und das Gerät auszuschalten, noch mit dem Schreiben zu beginnen. Ihr Impuls, bis eben logisch, erschien mit einem Mal widersinnig. Für einen irrationalen Moment fühlte sie sich, als hätte sie eine wichtige Entscheidung zu treffen – ob sie ihre Alpträume ernst nahm, als ein echtes Problem, oder als vorübergehende Hirngespinste abtat.
Doch schließlich gab sie sich einen Ruck. Sie hatte es satt, diese Fragen vor sich her zu schieben. Irgendetwas musste sie tun. Und sie war bisher immer noch am besten damit gefahren, ihre Ängste und Schwächen – wenn sie diese nicht verdrängen konnte – zu bekämpfen, so gnadenlos wie einen Feind aus Fleisch und Blut. Sie hatte es damit schon einmal früher versucht, nach ihrer Suspendierung. Irgend so ein Gehirnpfuscher hatte ihr geraten, ihre Träume auf Band zu erzählen, oder Bilder davon zu malen, zu Therapiezwecken, aber auch, damit sie ihre irrationalen Ängste visualisierte und sich offen mit ihnen konfrontieren konnte. Das hatte damals nicht sehr viel geholfen. Sie hatte stattdessen „nachgeholfen“, um wieder diensttauglich geschrieben zu werden, was ihr auch angesichts der verzweifelten militärischen Lage geglückt war.
Aber vielleicht half es ja diesmal.
Zögernd erst, dann immer schneller begann sie zu tippen, rief kurz darauf weitere Programme auf. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich über die Tastatur, korrigierte sich immer wieder, bis sie zufrieden war. Dann verband sie ihren Computer mit dem Bordnetzwerk und wählte von dort eine Verbindung zum System vom Sterntor…

Als ihre Uhr einige Stunden später das Wecksignal ertönen ließ, brannten ihre Augen und sie war müde und ausgelaugt. Aber sie fühlte sich auch ein Stück erleichtert, und das war etwas das ihr Kraft gab.
Sie hatte angefangen ihre Träume aufzuschreiben, Skizzen angefertigt von dem, was sie gesehen zu haben glaubte – Bauwerke, Statuen, Schriftzeichen, Reliefs. Nun, daran an was sie sich erinnerte, woran sie GLAUBTE sich zu erinnern. In ihren Träumen hatte sie ganze Wände voller Inschriften gesehen, so klar als hätte sie diese wirklich vor ihren Augen gehabt, obwohl man doch angeblich in einem Traum nicht lesen konnte. Doch was sie hier zusammenbekam, waren eher einzelne Schriftzeichen, höchstens kurze Fragmente. Dennoch weit mehr, als sie ursprünglich vermutet hatte. Sie war geradezu überrascht, an wie viel sie sich erinnerte. So oft hatte sie doch eigentlich nicht geträumt. Konnte es sein, dass sie im wachen Zustand die vagen Bilder der Nacht mit Inhalt füllte und ihnen dadurch erst so detaillierte Gestalt gab? Denkbar, sogar wahrscheinlich. Andererseits, dann würde ihr es umso leichter fallen, die wahre Quelle ihrer Träume aufzustöbern, sie als die Hirngespinste entlarven, die sie waren. Hatte sie die erst einmal geschafft, dann würde sie auch eine Erklärung haben, und dann würden die Träume ihren Schrecken verlieren. Das war vermutlich der beste Weg – wenn sie es vor sich sah, war es nicht mehr so mysteriös und unheimlich. Sie schnaubte, als sie einige der computergenerierten Skizzen betrachte. Nun, manche der Bilder andererseits…
Aber sei dem wie es sei, sie würde das am besten auch künftig tun – aufzeichnen, wovon sie träumte und recherchieren, wo dergleichen schon einmal aufgetaucht war, ob es Parallelen zu anderen Aufzeichnungen gab. Wenn sie herausfand, dass die Bilder ihrer Träume aus irgendwelchen populärwissenschaftlichen Büchern oder Filmen oder gar aus fiktionalen Werken kamen, hätte sie zumindest eine Erklärung. Sie dachte kurz nach, dann startete sie auch eine automatische Suche nach Trinärsternsystemen, realen und fiktionalen. Irgendetwas rumorte da in ihrem Hinterkopf, aber sie konnte den Finger einfach nicht darauf legen, was es war. Das war eigentlich nicht verwunderlich. Hatte sie schon einmal jemanden darüber reden hören, oder so etwas in einem Film gesehen? In ihrer Jugend, und eigentlich auch in den letzten Jahren, hatte sie immer mal wieder Trivialliteratur konsumiert, und wo schon ihr Leben zum Gutteil im Weltraum spielte, da hielt sie sich gedanklich auch in einem Teil ihrer Freizeit darin auf. Sie hatte eine gewisse Vorliebe für Bücher aus der Expansionsphase der FRT gehabt, als den Autoren alles möglich erschien, natürlich besonders Bücher aus ihrer Heimat, die vom neo-sowjetischen Heroismus geprägt waren. Kleine Gruppen von Menschen stellten sich als Kollektiv den Herausforderungen und siegten als Gemeinschaft, nicht als einzelne Helden, durch Pflichterfüllung, Selbstverleugnung und Selbstverzicht. War da nicht auch ein oder zweimal ein Trinärstern-System aufgetaucht? Wie hieß das Buch noch, oder nein, war es nicht ein Film gewesen...Vermutlich...Irgendetwas war da, sie wusste nur nicht, was...ach, egal. Sie würde schon noch herauskriegen, woher ihre verdammten Träume kamen! Jedes einzelne Bild, sie musste nur genug suchen.
Und wenn nicht, dann konnte sie immer noch hoffen, der symbolischen Bedeutung auf die Spur zu kommen. Nicht, dass sie dem Geschwafel der Seelenklempner Bedeutung zumaß – ein toter Akarii war eben einfach nur ein toter Akarii – aber möglicherweise schrieben diese Kerle nicht NUR Blödsinn. Vielleicht sollte sie selber mal den einen oder anderen Blick in ein einschlägiges Buch werfen. Oder anonym einen dieser Scharlatane fragen...nein, das war zu riskant.
Denn eines war klar, sie musste um jeden Preis sicherzustellen, dass niemand mitbekam, was sie trieb. Sonst könnte sie sich gleich selbst in ein Irrenhaus einweisen. Nun, schlimmstenfalls würde sie eben lügen müssen – etwas, das sie nur zu gut gelernt hatte, in Bezug auf ihre Gesundheit wie auch bei anderen…Dingen. Mit einem verächtlichen Schnaufen stand sie auf und stürmte in die Dusche. Es war Zeit für Dienstbeginn – und daran würde sie kein Alptraum, keine Geschichten über längst vergessene Imperien und nicht einmal irgendwelche verdammten Geister hindern! Auch keine Spinnerei, die sie vielleicht sonst noch ausbrütete. Ihre alten Alpträume hatten sie auch nicht weichkochen können – und diese würden es auch nicht schaffen!
Ohne noch einen Blick auf ihren Computer zu verschwenden, der seine Suche fortsetzte, konzentrierte sie sich auf das Hier und Jetzt. Alles andere hatte zurückzustehen.



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:49:

 

‚Die Galaxis hat Wesen kommen und gehen gesehen, die Jahrtausende älter sind als die Akarii. Einst durchstreiften sie das All, riesig und zeitlos wie Giganten. Und als wir ihrer gewahr wurden, unterwarfen wir uns voller Ehrfurcht und nannten sie angstvoll Götter. Denn wir kannten kein anderes Wort für ihre Macht.‘
Angeblich aus den Schriften einer verbotenen Akarii-Sekte, Authentizität umstritten


Terra, NSC-Hauptquartier, Sektion Sieben

Lieutenant Commander Jean Falkner lehnte sich mit einem frustrierten Aufseufzen zurück und rieb sich die müden Augen. Andere Frauen und Männer mochten im Dienst am Schreibtisch einen Sinn sehen, sogar Erfüllung finden – sie hingegen vermisste die Anspannung und den Adrenalinkick der Feldeinsätze, den Kitzel eines schwierigen Verhörs…
Aber nach dem Beinahe-Debakel der letzten Mission konnten sie und ihr Vorgesetzter vermutlich dankbar sein, dass man sie nicht verhaftet oder zumindest hochkant aus dem Naval Scientific Corps und dem Geheimdienst rausgeschmissen hatte. Im NSC gab es genug Puristen, die wenig von der dem NSC vor einigen Jahren aufgehalsten Sektion Sieben hielten, mit der der Geheimdienst zwei wenig angesehene Abteilungen ausgelagert hatte – die für die Kontrolle der archäologischen Untersuchung extraterrestrischer Siedlungen und Artefakte, und die Abteilung für ungeklärte Phänomene. Viele Forscher hätten die ‚Geheimdienstspinner‘ lieber gehen als kommen gesehen, da sie zu Recht einen ‚kalten‘ Übernahmeversuch des Geheimdienstes fürchteten, oder sich durch die Aufgabenbereiche der Sektion Sieben in ihrer Seriosität bedroht sahen.

Und um alles noch schlimmer zu machen, hatte sich Commander Tremane in rekordverdächtiger Zeit auch noch eine Reihe von Feinde innerhalb des Geheimdienstes, im Sicherheitsdienst und der Flotte gemacht.
Natürlich hatte er auch einflussreiche Gönner – darunter einige, von denen Andrew Tremane selber vermutlich nichts wusste. Männer und Frauen, die eigene Motive dafür hatten, seine besessene Suche nach der COPERNIKUS, und den Gründen der inzwischen über einhundert Jahre dauernden Irrfahrt des ‚Gespensterschiffs‘ zu fördern, der mindestens zwei weitere Schiffe zum Opfer gefallen waren, die das Pech gehabt hatten, den Kurs der COPERNIKUS zu kreuzen. Jean Falkner war eine praktisch veranlagte, durch ihren Dienst im Geheimdienst abgehärtete Frau. Dennoch wünschte sie sich manchmal, sie hätte niemals den Auftrag bekommen, mit Tremane zusammenzuarbeiten und ihn dabei diskret im Auge zu behalten. Und dann war sie auch noch so dumm gewesen, sich mit ihrem Vorgesetzten auf mehr als eine Art und Weise einzulassen.
Einiges, was sie gesehen und gehört hatte, raubte sogar ihr den Schlaf und weckte beunruhigende Fragen nach Dingen, über die sie nie hatte nachdenken wollen.

Tremanes letzte verrückte Mission hatte ihn, Falkner, eine Handvoll Wissenschaftler, Piloten und Marines mit dem Trampfrachter JADE EMERALD in das abgelegene Medusa-Sternsystem geführt. Die Expedition hatte Tremanes versponnener These, dass das Verschwinden der COPERNIKUS mit den Überresten einer untergegangenen Alienzivilisation zusammenhing, eine gewisse…Plausibilität verliehen. Ein Schiff, das auf der Suche nach Alienartefakten kurz vor der EMERALD ins Medusa-System eingedrungen war, war dort unter mehr als mysteriösen Umständen verschwunden…
Aber bevor man die Vermutungen und Theorien mit Fakten untermauern konnte, hatte das Auftauchen eines Akarii-Kriegsschiffes die EMERALD zum überhasteten Rückzug gezwungen. Als sie das Sterntor-System erreichten, waren weder der Sicherheitsdienst noch die Navy erbaut über die Geheimdienstoperation gewesen, die Tremane unter ihrer Nase durchgezogen hatte. Der sprichwörtliche Zorn einer verschmähten Frau war NICHTS im Vergleich zu der gekränkten Eitelkeit der republikanischen Streitkräfte…
Sie hatten einen Großteil der gesammelten Proben verloren und dem Sicherheitsdienst und der Navy Zugriff auf zu viele und zu sensible Daten gewähren müssen, bevor sich endlich Tremanes Gönner einschalteten. Natürlich waren sie nicht erfreut gewesen, und Falkners Zukunft hatte auf der Kippe gestanden. Immerhin war es ihre Aufgabe gewesen, genau so etwas zu verhindern.
Aber letztendlich hatten ihre Auftraggeber entschieden, dass es zu aufwändig wäre, einen neuen Aufpasser für den an der Grenze zur Paranoia und Besessenheit operierenden Tremane zu finden. Man hatte sie beide zur Erde zurück beordert und aufs Abstellgleis geschoben. Ihre Geldmittel waren beschnitten worden – und nur die Zukunft würde zeigen, ob diese Kürzung dauerhafter Natur sein würde. Also saßen sie erst einmal fest, mit einem Budget, das höchstens noch für einen Flug zum Mars reichte.

Und was das anging…
„Hattest du eine schöne Zeit?“ begrüßte Jean ihren Vorgesetzten, der mit einem Gesichtsausdruck den Raum betrat, den man früher wohl als ‚umwölkt‘ bezeichnet hätte.
Der Commander schnaubte abfällig: „Wenn du es als ‚Spaß‘ bezeichnest, einen ganzen Tag damit zu verplempern, die unausgegorenen Spinnereien irgendwelcher Idioten zu hören, die sich seit ihrer Pubertät geistig nicht weiterentwickelt haben…“
„Dann muss ich dir wohl dankbar sein, dass du mich hier hast sitzen lassen. War es wirklich so schlimm?“
„Man sollte meinen, die Tatsache, dass die Teilnahme an der Mars-Konferenz kostenpflichtig ist, würde die meisten Idioten abschrecken. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Kein Wunder, dass die Xeno-Archäologie so einen schlechten Ruf hat. Jeder, der sich diesem Thema widmet, braucht einen dicken Knüppel, um all die Schwachköpfe beiseite zu prügeln, die sich in diesem Fach herumtreiben. Vor allem, wenn es um Themen wie Raumfahrerkulturen der Vorzeit geht.“
„Ein Skandal. Und diese Banausen machen es praktisch unmöglich, dass fundierte und plausible Theorien die nötige Beachtung finden. Wie beispielsweise die von einem Alien-Imperium das vor tausenden von Jahren die Galaxis regierte, die Entwicklung zahlloser jüngerer Völker beeinflusste, und dessen Artefakte – oder Geister?! – in der Lage sind, Schiffe zu entführen und ihre Besatzungen umzubringen, richtig?“
Damit schaffte sie es kurz, so etwas wie ein Lächeln über Tremanes Gesicht huschen zu lassen: „Diese Theorie ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Sie würde aber vieles erklären. Aber du weißt, dass die COPERNIKUS Realität ist. Genauso wie die Schiffe, die ihr zum Opfer gefallen sind. Dieser Akarii-Hilfskreuzer, die MOTRONOS. Und die STARDANCER…“, Tremanes Stimme klang mit einmal rau. Sein Vater war mit der STARDANCER verschwunden.

Jean Falkner unterdrückte einen frustrierten Seufzer. Dagegen kam sie nicht an. Erst Recht nicht, da es so aussah, als könnte Tremane mit seinen verrückten Theorien Recht behalten. Sie hätte damit rechnen müssen. Andernfalls würde es wohl kaum Leute geben, die bereit waren, Tremanes Suche zu finanzieren.
„Aber dann hättest du dich doch unter diesen ‚Spinnern‘ wie zuhause fühlen müssen.“
„Du meinst unter Leuten, die allen Ernstes behaupten, dass die T’rr, die Sarrkush, die Akarii und sogar die MENSCHEN das Ergebnis von Genmanipulationen oder ‚Einkreuzungen‘ irgendeiner überlegenen Alienrasse sind, die so eine Soldatenrasse oder willfährige Diener züchten wollten?“
„Stimmt, das ist Schwachsinn. Welche uralte Zivilisation würde mithilfe ihrer unbegrenzten Möglichkeiten ausgerechnet so ein trauriges Ergebnis wie die Menschen heranzüchten…“
Tremane grinste wieder flüchtig und winkte dann ab: „Mit der Argumentation könntest du auf dem Mars wohl kaum punkten. Vor allem bei denjenigen, die meinen, dass die irdischen Geschichten von Atlantis, Lemuria und was weiß ich noch auf den Kontakt mit diesen ‚Ältesten‘ zurückzuführen – und wir alle ihre Nachkommen sind.“
„Zumindest alle von uns, die blond, hochgewachsen und langschädlig sind…“
„Na da hättest du doch gute Chancen. Und ich wusste gar nicht, dass du so gut in der Geschichte längst überholter Ideologien bewandert bist. Es wundert mich direkt, dass niemand die Welteis-Theorie reaktiviert hat. Bah!
Immerhin hat jemand die Geschichten über diesen verrückten Akarii-Wissenschaftler Tramt ins Spiel gebracht…“
„Hm?“
„Er war so etwas ähnliches wie dieser Akari-Wissenschaftler Aligop Kerr, nur dass Tramt Genetiker war und ein paar Generation früher lebte. Angeblich hat er Experimente mit dem Erbgut von Akarii, T’rr und noch einigen anderen Rassen gemacht, um so etwas wie einen perfekten Soldaten – oder eine Art Superwesen zu schaffen. Da er bei der Beschaffung seines ‚Rohmaterials‘ nicht gerade zimperlich war und seine Theorien gegen die Vorstellung von der Überlegenheit der Akarii verstießen, wurde er wissenschaftlich fertig gemacht und ging in den Untergrund. Es gibt einige sehr unappetitliche Geschichten darüber, wie er seine Forschungen dann fortgeführt hat. Irgendwann wurde er dann aber gestellt, wegen Hochverrat zum Tode verurteilt und hingerichtet. Angeblich. Die Theorien darüber ‚was wirklich geschah‘ und wie weit er mit seinen Forschungen gekommen ist, füllen Bände. Ein moderner Frankenstein. Was für ein Schwachsinn.“
„Ich verstehe nicht ganz, was das mit…“
„Ein paar Idioten sehen Tramt’s Experimente – und seine angeblichen Erfolge - als Beweis dafür, dass die verschiedenen Alienrassen miteinander verwandt sind und in ihrer Entwicklung durch irgendeine uralte Zivilisation beeinflusst wurden. Oder behaupten, Tramt hätte antike Aufzeichnungen für seine Experimente benutzt. Wie ich schon sagte…“
„Schwachsinn. Bist du mit der COPERNIKUS hausieren gegangen?“

Tremanes abfälliges Schnauben war Antwort genug. Dieses Thema unterlag der absoluten Geheimhaltung – und Tremanes Paranoia sorgte dafür, dass er sogar dann seine Absichten und Ziele vernebelte, wenn das gar nicht nötig gewesen wäre. „Zum Glück hat noch keiner dieser Idioten vom NIC oder der Flotte geplaudert. Es fehlte uns gerade noch, dass die Nachricht über die offenen Kanäle geht, im Medusa-System hätte man Relikte einer jahrtausendealten Alienzivilisation entdeckt, die eine Station von der Größe eines kleinen Mondes bauen konnte, Antimateriewaffen einsetzte und Sterne aus dem Takt bringen konnte, als bei uns Tontafeln eine unerhörte Neuheit waren und das Richtfest für die Pyramiden gefeiert wurde.“
„Irgendwann wird jemand reden. Oder fragt sich in der Flotte oder beim Sicherheitsdienst, warum wir die Leute, die im Medusa-System dabei waren, regelmäßigen Gehirnscans unterzogen haben. Und sollte das die Runde machen…“
„Würde man uns alle vermutlich endgültig aus dem NSC werfen.“
„Mich vielleicht. Dich werden sie in eine Klapsmühle stecken.“
„Bist du nur deshalb länger im Büro geblieben, um mir das zu sagen?“
„Unter anderem. Aber vielleicht interessiert es dich, was ich kürzlich aus dem Sterntor-System gehört habe.“
„Ehrlich gesagt interessiert mich dieses Schlachtgetümmel nicht besonders. Irgendein alter Franzose hat mal vor ein paar Jahrhunderten etwas über Seeschlachten gesagt…ach ja.
‚Ein kurzes Piff-Paff, und die Wellen rauschen genauso wie zuvor.‘
Ich habe die Übersicht verloren, wie oft wir schon einen kriegsentscheidenden Sieg errungen haben…“
„Dein Patriotismus ist überwältigend. Aber darum geht es gar nicht. Du erinnerst dich doch sicherlich, dass wir unsere…Kollegen von der Medusa-Operation im Auge behalten wollten.“
„Hat die Kapitänin der EMERALD JADE beschlossen, auf eigene Faust nach Medusa zurückzukehren, um ein bisschen auf eigene Faust zu bergen?“
„Wohl kaum. Die Frau war etwas zu vernünftig dafür. Sie wäre am liebsten aus dem System verschwunden, kaum dass wir es erreicht hatten. Nein, ich rede von unseren Weltraumjockeys.“
„Ist einer ausgerastet? Oder hat merkwürdige Träume? Geht es um Davis?“
„Tut mir Leid…aber auf jeden Fall scheinst du oder unser NSC-Freund Georges bei Lieutenant Commander Pawlitschenko einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Laut dem Online-Profil, das der Sicherheitsdienst routinemäßig von jedem an Bord erstellt, hat sie sich für einige…interessante Themen erwärmt. Du weißt schon – Pyramiden unbekannter Herkunft und so…“
„Das war Georges Steckenpferd, nicht meines. Seine These von einer flächendeckenden prähistorischen Interaktion einer überlegenen, raumfahrenden Alienzivilisation…“
„Und sie hat sich für abgelegene Trinärstern-Systeme interessiert.“
„Sie hat WAS?!“
„Du hast mich schon verstanden.“

Tremanes Miene zeigte ein eher seltenes Gefühl – Ratlosigkeit: „Jean, wir haben niemandem davon erzählt. Sie kann gar nicht wissen, dass die COPERNIKUS und die MARY C offenbar das Triumvirat-Trinärsystem anfliegen…“
„Und trotzdem hat sie in den Sternenkarten danach gesucht. Nicht einfach nur nach irgendeinem Drei-Sterne-System. Nein, nach einem mit zwei blauen und einer gelben Sonne. Genauso wie im Triumvirat-System…“
„Dieses verdammte Miststück. Woher…“
„Tja, DAS ist eine interessante Frage.“
„Wir müssen sie uns noch mal vorknöpfen. Ein vollständiges Tiefenverhör, Gehirnscans, Hintergrunddurchleuchtung. Wir müssen…“
„Wir SOLLTEN vielleicht. Aber wir können gar nichts. Wir sitzen hier fest. Wenn du nur in die Nähe des Sterntor-Systems kommst, werden sie dich einkassieren, und zwar dauerhaft. Oder sie schicken dich postwendend zur Erde zurück. Aber OHNE Raumschiff.“
Tremane öffnete den Mund um zu wiedersprechen – dann nickte er widerwillig: „Die örtliche TIS-Abteilung muss einspringen. Es gefällt mir nicht, jemanden einzuweihen, aber wenn es die einzige Möglichkeit ist…“
„Du bist nicht mehr auf dem neusten Stand, Andrew. Da draußen herrscht KRIEG. Die Akarii haben das halbe System zusammengeballert, bevor sie abhauen mussten. Die Navy setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die COLUMBIA und die anderen Träger wieder einsatzfähig zu machen. Vielleicht ist sie inzwischen sogar schon auf dem Weg an die Front. Glaubst du wirklich, sie nehmen sich die Zeit, eine Kriegsheldin zu durchleuchten? Ich glaube sogar, sie ist für irgendeine Auszeichnung vorgeschlagen.
Und du hast dir in dem System nicht gerade viele Freunde gemacht. Nicht beim TIS, der Flotte, dem NIC oder dem NSC. Die werden gar nichts tun. Außer vielleicht eine Überprüfung deiner Zurechnungsfähigkeit einzuleiten, wenn du ihnen mit dieser Geschichte kommst.“
„Für heute habe ich genug von meiner Zurechnungsfähigkeit gehört, Jean.“
Falkner lachte kurz auf, wurde aber sofort wieder ernst: „Du weißt genau, was ich meine.“
„Aber wir können doch nicht einfach hier rumsitzen…“

„Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Ross, der Sicherheitschef der COLUMBIA, hat eine Black Ops-Vergangenheit und schon öfter mit dem TIS zusammengearbeitet. Ich kenne die Sorte. Obwohl du ihm die Hucke vollgelogen hast, kann ich den Mann vielleicht für uns rekrutieren.“
„Was willst du tun? Ihn verführen?“
Jean Falkner grinste: „Bei dir hat es doch funktioniert.“
Andrew Treman lächelte zurück: „Touche. Aber Scherz beiseite…“
„…wenn wir ihm ein paar Brocken hinwerfen und beide unseren Charme spielen lassen, können wir ihn vielleicht dazu bewegen, Pawlitschenko im Auge zu behalten und zu einem zwanglosen Gedankenaustausch einzuladen. Was die Gehirnscans angeht, sieht es allerdings schlecht aus. Diese Russin war dermaßen verklemmt und karrierefixiert, sie wird wohl kaum freiwillig bei Untersuchungen mitmachen, die Zweifel an ihrer Einsatzfähigkeit wecken könnten. Wenn wir ihr nicht einen guten Grund liefern oder einen Befehl zeigen...
Sie hat schon ein paarmal am Rande der Dienstuntauglichkeit entlang balanciert.
Und was sie auch immer weiß, glaubt oder zu ahnen meint – sie hat es jedenfalls nicht für nötig gehalten, jemanden darüber zu informieren.“

Andrew Tremane trommelte nachdenklich auf der Tischplatte herum, während er das Für und Wider von Jean Falkners Vorschlag abwog. Er mochte es nicht, Verantwortung abzugeben – er hasste es sogar – aber er sah keine echte Alternative. Nicht, solange sein Budget begrenzt und das Sterntor-System Kriegsgebiet war. Und außerdem…er vertraute Falkner. Nicht nur, weil sie miteinander schliefen: „Also gut, wir versuchen es. Aber wenn Pawlitschenko uns etwas verheimlicht, will ich das wissen. Wenn Sie mit jemandem über Medusa spricht, will ich es wissen. Wenn sie deswegen weitere Forschungen anstellt…“
„Ich weiß, ich weiß.“
„Hoffentlich weiß es Ross dann auch. Verdammt. Bis dahin…“
„Können wir noch ein paar alte Lücken füllen. Wir sollten noch einmal bei Pawlitschenkos alter Vorgesetzten nachhaken. Immerhin war Diane Parker der letzte Mensch, der die COPERNIKUS gesichtet hat.“
„Und davon berichten konnte.“
„Und außerdem hat Georges angerufen. Er sagt, er hätte etwas gefunden.“
Tremane schnaubte kurz. Ihm kamen manche Theorien des jungen Wissenschaftlers, der sie ins Medusa-System begleitet hatte, doch etwas verstiegen vor: „Lass mich raten. Der Orbitalbeschuss der Akarii hat auf Masters ein paar Pyramiden freigelegt, die endlich die Existenz der Ältesten auch im Sterntor-System beweisen.“
Jean Falkner lachte kurz auf: „Frag ihn doch selbst. Aber ich glaube, bei seiner Videobotschaft habe ich tatsächlich im Hintergrund ein paar luftgestützte Georadar-Aufnahmen gesehen. Er wollte jedenfalls, dass du ihn umgehend zurückrufst.“
„Gibt unser Budget eine Direktverbindung nach Masters überhaupt noch her?“
„Wenn du die nächsten paar Wochen auf den Zucker in deinem Kaffe verzichtest…“

***

Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Verbindung nach Masters zustande kam, und selbst das war ein Glücksfall. Der Angriff der Akariis hatte schwere Verwüstungen angerichtet, denen auch eine Reihe Relaisstationen und Kommunikationssatteliten zum Opfer gefallen waren. Die Überlichtkommunikation funktionierte nur eingeschränkt, war teilweise rationiert und durch die Flut militärischer, geheimdienstlicher und administrativer Berichte, Kommuniqués und Anweisungen überlastet, die die unvermeidliche Begleiterscheinung einer Schlacht solchen Ausmaßes waren.

„Georges. Freut mich, dass Sie diesen ganzen Mist unbeschadet überstanden haben. Was gibt es Neues?“
Die Begrüßung des jungen NSC-Wissenschaftlers war etwas verhalten – vermutlich erinnerte er sich an das Ende der gemeinsamen Mission. Daran, wie Tremane ihn und die anderen belogen hatte. Aber letztendlich überwog der Enthusiasmus für sein Forschungsthema. Oder das Wissen, dass Tremane zu den wenigen Menschen gehörte, die bereit waren, sich Georges Theorien über uralte, raumfahrende Alienkulturen anzuhören.
„Es hat mir keine Ruhe gelassen, dass wir nur so vage Zeiträume dafür angeben konnten, wann im Medusa-System die Sonne…aus dem Takt geraten ist. Und ob das in einem engeren temporären Zusammenhang mit den Sensordaten steht, die auf die Vernichtung einer gigantischen Raumstation, eine Reihe von Nuklearexplosionen und mindestens eine Materie-Antimaterie-Reaktion in dem System hindeuten…“
„Das ist lobenswert. Denken Sie aber daran, dass Ihr Anruf dem Steuerzahler ein Vermögen kostet. Also kommen Sie auf den Punkt.“
Wie bei einigen ihrer früheren Gespräche ließ sich Georges durch solche Einwürfe nur unwesentlich zur Eile treiben: „Bei der Untersuchung setzten wir einerseits bei der Zerfallsgeschwindigkeit radioaktiver Teilchen an, und andererseits bei der Tatsache, dass sich die Licht- und Schockwellen – sowohl die von Sonneneruptionen als auch die der Nuklear- und Antimaterie-Explosionen – mit einer spezifischen Geschwindigkeit ausbreiten. Der Ausstoß von Nuklearexplosionen ist zwar galaktisch gesehen zu klein, und diffundiert zu stark, um für unsere Untersuchungen von Nutzen zu sein. Aber eine Materie-Antimaterie-Reaktion ist ungleich stärker und hat außerdem eine unverwechselbare Signatur.
Indem wir auf alte Aufnahmen des Medusa-Systems zurückgriffen, teilweise aus der Frühzeit der Weltraumforschung…“
„Ich hoffe, Sie haben daran gedacht, dass ihr Forschungsthema der Geheimhaltung unterliegt. Daran hat sich auch dadurch nichts geändert, dass die Flotte sich einmischen musste.“
Früher hatte Tremane Georges mit dem Verweis auf die geltende Sicherheitsstufe einschüchtern können. Aber nachdem man ihn und Falkner arretiert hatte...
„Ich habe nur Eckdaten verwendet, kein Hintergrundmaterial. Alle Analysen, die durch NSC-Rechner durchgeführt wurden, wurden anonymisiert. Nach der Auswertung der Daten wurden die Versuchsreihen gelöscht. Natürlich mit Ausnahme sicher verwahrter Referenzunterlagen. Sie brauchen sich also gar keine Sorgen zu machen.“
„Sie wissen ja gar nicht, wie mich Ihr Wort beruhigt.“ ‚Du spekulierst wohl schon auf deine Habilitationsschrift‘, „Was haben Sie herausgefunden?“
„Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sowohl die Explosionen im System als auch die…Veränderung der Sonne in galaktisch gesehen demselben Zeitraum stattgefunden haben. Vor etwa 3.000 bis 4.000 Jahren.“

Tremane nickte langsam. Es war gut, den Zeitrahmen etwas einzugrenzen, obwohl 1.000 Jahre Differenz in der terranischen Geschichte immer noch den Unterschied zwischen den Kreuzzügen und der ersten Marslandung ausmachten. Außerdem deckte sich das Ergebnis mit der Analyse einiger Artefakte, die man angeblich in dem System gefunden hatte, in dem die COPERNIKUS verschwunden war. Auch wenn Georges nichts davon – oder der COPERNIKUS selber – wusste. Wenigstens dieses Geheimnis hatte Tremane aus dem Debakel im Medusa-System retten können: „Gute Arbeit. Verdammt gute Arbeit…“, Tremane hielt inne und musterte Georges wachsam: „Ist sonst noch etwas?“
Der Wissenschaftler lächelte breit und triumphierend: „Da ich schon mal die alten Sensordaten – übrigens nicht nur menschliche – nach den Spuren vorbeiwandernder Schockwellen einer Materie-Antimaterie-Reaktion untersuchen wollte, war ich so frei, ein Verzeichnis ähnlicher Passiervorgänge anzulegen, auch wenn ihre Ausrichtung und Alter nicht für die Vorgänge im Medusa-System passt.“
„Und…“
„Natürlich habe ich die Auswirkungen der uns bekannten Materie-Antimaterie-Explosionen heraus gerechnet. Da aber momentan nur die Menschen und das Imperium über die nötige Technologie verfügen und die Wahrscheinlichkeit einer entsprechend großen natürlichen Materie-Antimaterie-Reaktion in historischer Zeit als vernachlässigbare Größe angesehen…“
„Kommen Sie zum Punkt.“
„Selbst bei einer eher oberflächlichen Rastersuche habe ich mindestens zwanzig solcher Wellen feststellen können. Ihr Alter lässt sich schwer feststellen, da wir dazu auch den genauen Ort ihres Ursprungs kennen und untersuchen sollten, aber aufgrund der Wellendiffusion gehe ich von einem durchschnittlichen Alter von 10.000 bis 3.000 Jahren aus.“
„Und es ist nicht möglich, dass das irgendetwas natürlich war? Wir reden immerhin von Ereignissen, die tausende Jahre zurückliegen.“
„Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei unter 30 Prozent.“
Und Sie wollen mir weismachen, dass das vorher noch niemandem aufgefallen ist?“
„Man hat nicht danach GESUCHT. Im Vergleich zu einer Supernova ist selbst eine Antimaterieexplosion dieser Größe relativ…klein. Und das hohe Alter erschwert die Erfassung. In den Fällen, in denen wir bisher gezielt nach explosiven Materie-Antimaterie-Reaktionen gesucht haben, galt das Interesse immer nur der unmittelbaren Vergangenheit – um festzustellen, ob einer unserer Nachbarn einen Test durchgeführt oder einen halben Planeten weggesprengt hat. Es braucht schon besondere Geduld und Wachsamkeit…“
„Seien Sie nicht so verdammt selbstgerecht. Aber Sie haben Recht, das ist wichtig.“ Tremane musterte ein etwas jüngeren Mann misstrauisch: „Und was wollen Sie jetzt mit Ihrem Wissen machen? Falls Sie an eine Veröffentlichung denken…“, in die Stimme des Geheimdienstoffiziers schlich sich ein drohender Unterton.
„Auch der Sicherheitsdienst und die Flotte haben mir striktes Stillschweigen über alles befohlen, was mit der Operation Medusa in Zusammenhang steht.“ Diese Versicherung trug wenig dazu bei, Tremanes Laune zu verbessern. Dass er selber nicht mehr genug in der Hand hatte, um Georges den Mund zu verbieten…‘Jetzt bin ich schon auf diese Stümper vom NIC und der Flotte angewiesen…bah!‘ „Wie zuvorkommend von denen. Also kann ich davon ausgehen, ihre Erkenntnisse nicht in der nächsten Sendung des Mystery-Kanals zu sehen?!“ Tremane riss sich zusammen. Es brachte nichts, diejenigen zu vergrätzen, die noch bereit waren, mit ihm zusammenzuarbeiten: „Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“
„Danke…Aber ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet? Wir haben eindeutige Spuren eines interstellaren Krieges gefunden, der tobte, lange bevor die Akarii in den tiefen Raum vorstießen. Oder sonst eine heute noch existierende Zivilisation, die uns bekannt ist. Die Menschen…“
„Für die war zu diesem Zeitpunkt das Eisen immer noch eine tolle Erfindung. Bestenfalls.“
„Wenn wir die Materie-/Antimaterie-Schockwellen zu ihrem Ursprungsort zurückverfolgen, könnten wir feststellen, WO dieser Krieg stattgefunden hat. Und gezielt in den entsprechenden Systemen nach Artefakten oder Relikten der Zivilisationen suchen, die ihn geführt haben…“

„Relikte wie diejenigen, die die MARY C offenbar gefunden hat?“, Tremanes scharfe Stimme dämpfte den Enthusiasmus des jungen Forschers. Der Geheimdienstoffizier schüttelte den Kopf: „Die wahrscheinlich dafür verantwortlich waren, dass ein kompletter Frachter mitsamt der Besatzung verlorenging? Abgesehen von einer Rettungskapsel voller Leichen und einem Mannschaftsmitglied, das…
Solche Relikte meinen Sie? So herzerwärmend Ihre Begeisterung ist, sollten Sie nicht die Risiken vergessen.“
„Wir wissen immer noch nicht…“
„Nein, Sie wissen es nicht. Und vielleicht sollten Sie darum BETEN, dass Sie es nie erfahren.“
„Und warum haben Sie dieses Projekt dann überhaupt angestoßen?“
„Weil es immer noch besser ist, wenn jemand auf diese…Relikte stößt, der sich der Gefahren bewusst ist. Und weil ich nicht will, dass die Akarii Technologien bergen, die den unseren um ein paar Jahrtausende voraus sind.“ Das war nicht die ganze Wahrheit, aber so viel davon, wie Tremane preiszugeben bereit war: „Aber worum streiten wir uns eigentlich? Niemand wird Expeditionen zu irgendwelchen abgelegenen Systemen bewilligen, um nach den Spuren eines interstellaren Krieges zu suchen, der vor drei- oder viertausend Jahren zu Ende ging. Nicht, solange wir unseren eigenen Krieg zu führen haben.“
„Ihre Expedition ins Medusa-System…“
„Sie wissen, was mir das eingebracht hat. Es war sowieso sehr knapp kalkuliert – eigentlich zu knapp. Und ich werde das nicht so bald wiederholen können…“
„Das Erkundungskorps der Republik…“
„Wird seine durch den Krieg gekürzten Ressourcen wohl kaum für SO ETWAS verschwenden. Wachen Sie auf. Im NSC gelten Sie mit ihren Theorien als Witzfigur. Und die, die Sie vielleicht ernst nehmen, haben nicht das Geld…“, außerdem würde Tremane den Teufel tun, und sich SEINE Operation aus den Händen nehmen lassen.
„Da bliebe immer noch die Sprungpunktforschung.“
„Was hat die denn damit zu tun?“
„Nach dem, was wir und die Akarii mit einigen Sprungpunkten gemacht haben, ist deren Erforschung wieder wichtiger geworden. Besonders die Untersuchung von wenig erforschten, instabilen oder abgelegenen Hyperraumrouten. Warum könnte man nicht…“
„Sie fangen langsam an, wie ein Geheimdienstler zu denken. Die Idee ist gut – Schiffe wie die TESLA wären ideal für unsere Zwecke. Aber Sie vergessen, dass die Galaxis groß ist. Die Chance, dass eines dieser Schiffe auch nur in die NÄHE eines Systems geschickt wird, dass für meine…unsere…Forschungen von Belang ist…“
„Ist immer noch größer, als die Chance, eine komplette Expedition bewilligt zu bekommen.“
Tremane lächelte frostig: „Möglicherweise. Also gut. Da Sie sich wahrscheinlich ohnehin umhören wollen, machen Sie ruhig weiter. Aber NUR umhören! Zu keinem ein Wort. Sollten wir eine geeignete Gelegenheit finden…dann müssen wir koordiniert vorgehen.“ Sonst gab es nicht viel zu sagen, und zwei Minuten später war die Übertragungszeit, die Tremane sich durch das Ausnutzen seiner verbliebenen Kontakte organisiert hatte, abgelaufen.

„Ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass Georges auf die Idee kommen könnte, dass er seine ambitionierten Pläne auch OHNE dich verfolgen kann?“
Tremane hatte seine Untergebene nicht nähertreten hören, aber er fing sich schnell: „Was denn, ich dachte er wäre wie alle Männer deinem berüchtigten Charme erlegen und würde schon deswegen nicht wagen, einen Alleingang zu unternehmen?“ spottete er, runzelte dann aber kurz die Stirn: „Aber du hast recht. Deshalb habe ich seinen Computer verwanzen lassen.“
„Und wenn er tatsächlich auf eigene Faust operieren will?“
„Dann kann ich ihn vielleicht dadurch zur Raison bringen, dass ich ihm klarmache, dass er es nicht vor mir geheim halten kann. Zu irgendetwas muss der Ruf des Geheimdienstes doch noch gut sein.
Und wenn das nicht reicht…so viel Macht, um einen verrückten Doktor auszubremsen, habe ich noch allemal. Ohne mich, ohne uns, kann Georges auf seiner von den Akariis zusammengeballerten Dreckskugel sitzen, bis er schwarz wird.“
„Verstehe. Eher soll keiner etwas finden, als jemand der nicht du bist. SEHR erwachsen.“
„Ich habe Georges schon gesagt, dass das Schicksal der MARY C wohl am besten beweist, was für Gefahren damit verbunden sind, wenn jemand unvorbereitet auf das stößt…“
„Und wie stellst du es dir vor, ‚vorbereitet‘ zu sein? Auf was denn? Wir wissen immer noch nicht, warum die MARY C verschwunden ist. Oder die MOTRONOS, die COPERNIKUS…falls zwischen all diesen Vorfällen wirklich ein Zusammenhang besteht.“

Tremane ignorierte den letzten Halbsatz, vielleicht weil Falkners Worten ein wenig die Überzeugung fehlte: „Wir haben zu tun. Ich will sobald wie möglich Georges Daten in unserer Abteilung haben. Das muss alles noch mal überprüft werden…“
„Heißt das, wir lassen Parker erst mal vom Haken?“
„Auf keinen Fall. Je mehr wir wissen, umso klarer die Spur wird…umso wichtiger wird es, alles zu sammeln, was wir über die COPERNIKUS in Erfahrung bringen können. Irgendwann, irgendwo wird der Tag kommen, an dem wir dieses Schiff stellen. Und wenn ich an Bord gehe, will ich vorbereitet sein…“
Jean Falkner wusste, dass sie an diesem Tag höchstens einen Schritt hinter Tremane stehen würde. Und ungeachtet ihrer langjährigen Einsatzerfahrung, obwohl sie die Begegnung mit einem Akarii-Kriegsschiff überlebt hatte – die Aussicht, die COPERNIKUS zu betreten, erfüllte sie mit einem leisen, kalten Grauen.



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:50:

 

Die Lautsprecherdurchsage hatte ‘Commander McGill melden Sie sich bei Commander Stafford im CATCC‘ geheißen. Das war nicht ganz schlecht gewesen. Weder hatte Stafford über ihren Kopf hinweg das Kommando übernommen noch ließ er sie jetzt wild suchend durch die Gegend laufen.
Als sie das CATCC – Carrier Air Traffic Control Center – betrat, sah sie einen unbekannten Commander zusammen mit einigen Lieutenants mit Red Cooper sprechen, der die neuen Piloten persönlich in die Statistik einpflegte.
Die Lieutenants hatten ein kaum verhehltes Grinsen auf dem Gesicht. Ja, euch wird er dafür auch nicht gegen das Schienbein treten.
Da sie sich die Dienstakten der Neuzugänge im Vorwege zumindest kurz angesehen hatte, wusste sie, dass die Ersatzleute, die von Roswell Station kamen recht jung waren.
Doch diese Jungspunde jetzt zusammen mit Stafford zu sehen, machte den Kontrast umso deutlicher. Er war in etwa ihrem und Darkness‘ Alter, eher etwas drüber, definitiv älter als Lone Wolf.
Ihn inmitten von Piloten zu sehen, die schon mit ihm Gedient hatten und ihm zwanzig Jahre an Dienstgrad und Dienstzeit hinterher hinkten war sehr aufschlussreich.
Ihr fiel spontan kein Pilot der Angry Angels ein, der je so locker mit einem der vorangehenden Geschwaderführer gescherzt hätte. Weder Lone Wolf noch Darkness hätten jemals so den Mittelpunkt einer informellen Versammlung gebildet.
Irons trat in die Traube und räusperte sich und als Stafford sich zu ihr umdrehte nahm sie Haltung an und salutierte: „Commander Stafford? Commander McGill, willkommen an Bord, Sir.“
Stafford erwiderte ihren Salut, etwas salopp ohne dabei unhöflich zu wirken: „Danke, Commander, vielleicht könnten Sie mir eine kleine Führung spendieren, nach Möglichkeit als erstes zu meinem Quartier, damit ich meinen Krempel los werden kann.“
„Natürlich, Sir“, Irons deutete auf das zweite Schott, „wenn Sie mir folgen wollen.“
„Nach Ihnen, könnten Sie mir vielleicht den Helm abnehmen, dann muss ich nicht diesen dämlichen Hut tragen. Ich glaube die halbe Besatzung hält mich schon für einen Exzentriker.“
Irons nickte und nahm ihm den Helm ab. Sie führte Stafford aus der CATCC und ließ die Besprechungsräume des Geschwaders links liegen.
Über eine der Haupttreppen wechselten sie auf ein Deck tiefer. Das Quartier des CAGs war auf derselben Ebene wie die Quartiere für die Hälfte der Piloten gelegen. Dazu noch relativ Zentral neben einigen Aufzügen und in der Nähe für einige der wichtigsten Treppenhäuser.
Sie überlegte kurz, wie sie ihn auf den Streich ansprechen sollte.
Drauf geschissen, ich soll mit diesem Mann zusammenarbeiten: „Sir, wegen der Sache mit der CIC, dass tut mir leid und ich werde dem entsprechenden Witzbold den Arsch aufreißen.“
„Na, soviel ist ja nicht passiert, da ich zum Glück darauf verzichtet habe mich bei Captain Ahn zum Vollidioten zu machen und vielleicht geben Sie einfach zu verstehen, dass es nicht die beste Idee ist, den zukünftigen Chef wie einen Rookie durch die Korridore zu schicken.“
„Natürlich Sir, wenn Sie mir in etwa beschreiben könnten, wer das war, dann sehe ich zu, dass die Botschaft auch den richtigen erreicht.“
Stafford zuckte die Schultern: „Das war eigentlich geschickt gemacht, ich hatte den Helm noch auf und mich kaum orientiert. Von daher kann ich nur so viel sagen: männlich, dunkle, kurz geschnittene Haare, Flightsuit, irgendwo um die einen Meter achtzig groß. Klingelt es da irgendwie, Commander?“
„Da fallen mir dreißig bis vierzig Gesichter zu ein, Sir.“
„Nennen Sie mich Jules, wenn wir unter uns sind oder Cowboy wenn es denn sein muss.“
„Natürlich, Irons oder Trisha.“
„Trisha, ist das irgendeine Abkürzung?“
„Nein, das ist mein ganz regulärer Vorname“, sie blieben vor dem Quartier des Geschwaderkommandanten stehen, „aber da wären wir.“
„Gut, wenn es Ihr Zeitplan zulässt, könnten Sie mich instruieren, während ich meine Sachen auspacke.“
„Natürlich“, Irons öffnete die Tür.

Jules sah sich kurz um und begann dann seinen Seesack auszuräumen. Sein neues Heim war von gleicher Qualität wie das auf Roswell-Station aber etwas kleiner.
„Gibt es irgendwelche Probleme, von denen ich wissen sollte oder Baustellen?“
„Leider ja, die haben wir“, gestand Irons ein. Irgendetwas an ihrem Akzent kam ihm so verdammt bekannt vor.
„Als da wären?“
„Wir haben zwei Schwadronen, blau und schwarz, die von Lieutenants befehligt werden. Die sind schon vor Monaten zur Beförderung vorgeschlagen worden. Noch bevor die Columbia in Sterntor ankam und warten immer noch.“
„Hm“, machte Jules, „soweit ich den Akten entnehmen konnte, fehlt zusätzlich auch für die rote Schwadron ein Staffelführer.“
„Jein, da haben wir aktuell zwei Lieutenant Commander, was unser nächstes Problem ist.“
Er war gerade dabei seine Hemden neu zu falten: „Dann sehe ich nicht wirklich das Problem. Rote und schwarze Schwadron fliegen beide Nighthawks, sieht so aus, als ob wir das Problem so in den Griff bekommen. Die blaue Schwadron könnte ich übernehmen, meine Erfahrung mit der Falcon ist recht frisch. Oder übersehe ich da etwas?“
„Ich fürchte ja“, woher kam ihm nur dieser Akzent so bekannt vor, „Lieutenants Davis und Nakakura das Stafflekommando zu entziehen, könnte für das Geschwader das falsche Zeichen sein. Beide zählen sie zu den besten Piloten des Geschwaders und auch ihre Leistungen als Staffelführer würde ich persönlich als überdurchschnittlich beschreiben.
Demgegenüber steht Lieutenant Commander Shaw, die durchaus in der Lage wäre eine Staffel zu befehligen, sich aber bei weiten nicht so sehr hervorgetan hat wie einer der beiden Lieutenants. Darüber hinaus liegen zwei Gesuche auf Versetzung vor. Eins vor der letzten Schlacht und eines danach.“
Carlyle, sie betont die Worte wie jemand der von New Boston kommt: „Und der überzählige Lieutenant Commander?“
„Helen Mitra. Ebenfalls eine herausragende Pilotin, hängt zwar etwas hinter den beiden Lieutenants zurück, ist jedoch meiner Ansicht nach besser geeignet eine Staffel zu führen.“
Jules stellte das Wäsche sortieren ein und lehnte sich mit dem Hintern gegen seinen Schreibtisch, während er Irons mit vor der Brust verschränkten Armen musterte: „Sie haben doch sicherlich eine Empfehlung für mich, XO?“
„In der Tat, die habe ich, Skipper.“
„Die Lieutenants Davis und Nakakura auf ihren Posten zu belassen, Commander Shaw zu versetzen und Mitra als XO für die rote Schwadron einsetzen“, Irons selbst hatte über diesen Vorschlag lange nachgedacht und einige schlaflose Stunden zugebracht diesen so simpel wie er klang zu formulieren.
Mantis wäre damit weg vom Fenster. Eine Versetzung aus dem Frontdienst in eine im Hinterland gelegene Einheit auf eigenen Wunsch war genauso karriereförderlich, wie eine Beförderung abzulehnen. Auch hätte Stafford damit immer noch das Problem mit Ace und Okha am Hals, die beförderungstechnisch in der Schwebe hingen.
„Ich werde es in Betracht ziehen. Andere Probleme?“
„Wir spielen für R&D Testkaninchen. Wir sollen eine neue leichte Anti-Schiff-Rakete testen. Um genau zu sein, die Butcher Bears. Der zuständige Ingenieur, Commander Decker, wirkt nicht wirklich glücklich mit Lieutenant Nakakura, dennoch sind die Bears die einzigen, die auf diesen Einsatz vorbereitet sind.“
Jules grinste freudlos: „Wieder Nakakura?“
„Ja, Sir.“
Nakakura, auch da klingelte irgendwas bei Jules. Etwa Crashdown-Nakakura: „Bevor wir da überhaupt loslegen soll sich der Chefmechaniker mal die Spezifikationen ansehen und was eventuell an den Nighthawks modifiziert werden muss. Sämtliche Einsätze zur neuen Waffe möchte ich zur Absegnung vorgelegt bekommen.“
„Das wird Commander Decker sicherlich nicht schmecken.“
Jules zuckte mit den Schultern: „Ich hatte jetzt fünfzehn Monate intensiv mit den Jungs von R&D zu tun. Mein Geschwader, meine Leute, meine Maschinen, meine Verantwortung, Punkt. Apropos, nächster Punkt?“
„Die Columbia hat einen neuen XO und mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Der hat sich schon mehrfach in Belange des Geschwaders eingemischt.“
„Begründet oder unbegründet?“
Irons überlegte kurz, ob Stacy sich überhaupt begründet in Belange der Angels einmischen konnte: „Beides, leider.“
„Was kommt da auf mich zu?“
„Eine unglaublich detaillierte Mängelliste, ein angepisster Chefmechaniker, wütende Piloten, eine irrational Handelnde XO.“
„Das volle Programm al…“, Jules unterbrach sich, „wo liegt Ihr Problem mit diesem Commander…“
„Stacy, Charles Stacy“, Irons atmete tief durch und strich sich über die Stoppelfrisur, „ich musste auf seine Veranlassung einem Piloten befehlen den Pferdeschwanz zu entfernen und als ich dann an meine Vorbildfunktion erinnert wurde, habe ich mir meinen unvorschriftsmäßigen Haarschnitt entfernt.“
„Klingt im ersten Moment ein wenig kindisch.“
Irons nickte: „Ich weiß.“
„Sie sagten aber gerade einem Piloten. Das hat im Vorwege niemanden gestört?“
„Wir sind alles erwachsene Menschen, Sir. Wenn ich einer Pilotin einen Pferdeschwanz durchgehen lassen kann, dann kann ich das auch bei einem Mann oder sehen Sie das anders?“ Irons Blick wanderte wie zufällig zu dem im Regal ruhenden Cowboyhut.
„Mal abgesehen davon, dass mir gerade die Argumente ausgegangen sind, DEN trage ich eigentlich nur in meiner Freizeit.“
„Das beruhigt mich ungemein, Skipper“, war ihre trockene Antwort.
„Sonst noch irgendwas, was ich unbedingt wissen muss?“
„Nur noch zwei Dinge, wenn wir in knapp einer Woche über Masters ankommen, haben wir hier jede Menge Brimborium. Wiederindienststellungszeremonie der Liberty und Commander Pawlitschenko, welche die grüne Schwadron befehligt erhält die PVM verliehen. Dazu werden natürlich jede Menge Ehrengäste und sonstige Messingständer an Bord erwartet.“
„Und was noch.“
„In diesem Geschwader dienen immer noch eine Menge Piloten, die früher in der New Boston Space Miliz waren. Einige davon waren persönlich mit Lieutenant Edwin Carlyle bekannt. Um ehrlich zu sein, ihre Berufung zum unserem CAG hat einigen Leuten aufs Gemüt geschlagen.“
Jules wusste, dass man seiner Miene die Abscheu ansehen konnte, da war aber nichts zu machen: „Meinen Sie etwa, der kleine Scherz von vorhin könnte in diese Richtung gehen?“
Irons blickte zu Boden: „Ja Sir, ich fürchte schon.“
Jules schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: „Das wäre besser nicht der Fall, Commander. Einen Witz stecke ich weg, sollte mir aber einer der Piloten gezielt ans Bein pissen, werde ich ungemütlich.“
„Ist angekommen, Sir.“
„Gut“, Jules fuhr sich mit der rechten über das Gesicht, „ich bin um 19 Uhr zum Abendessen bei Admiral Girad eingeladen. Davor möchte ich mit Shaw und Mitra reden, erste zehn vor sechs und die nächste dann zwanzig nach sechs.
Der Chefmechaniker soll sich mit der Mängelliste von Commander Stacy bei mir melden. Am besten eine Stunde vor Shaw.“
„Werde ich in die Wege leiten.“
„Dann brauche ich die beiden Versetzungsanträge von Shaw, die Vorschläge zur Beförderung von Nakakura und Davis und mit Commander Decker müsste ich sprechen aber den werde ich persönlich aufsuchen.“
Irons holte ihr Computerpad hervor und machte sich Notizen.
„Waren Sie schon mal bei Admiral Girad zum Dinner eingeladen, wie formell wird das?“
„Zweimal. Wenn nicht anders befohlen Dienstuniform, freitags Dinner-Dress Blue.“
„Na Gott sei Dank,“ Jules stieß sich von seinem Schreibtisch ab „um 21 Uhr möchte ich die Staffelführer und übrigen Stabsoffiziere kennen lernen. Und man möchte doch bitte die Kampfbereitschaftsberichte mitbringen. Morgen früh, um sieben, übernehme ich offiziell das Kommando. Das Geschwader soll sich im großen Auditorium einfinden“
„Wird in die Wege geleitet.“
„Gut, dann wäre das erst einmal alles“, Jules streckte seiner Stellvertreterin die Hand entgegen, „dann auf gute Zusammenarbeit, Trisha.“

***

Fast zwei Stunden später war Jules wieder in seinem, dem Quartier angeschlossenen Büro. Das Gespräch mit Commander Decker war etwas schwieriger gewesen als gedacht.
Anfangs war es glatt gelaufen, er hatte dem Ingenieur seine volle Unterstützung versichert und dass dieser nur das Beste bekommen würde, was das Geschwader zu bieten hatte.
Dass dies Nakakura und die schwarze Schwadron waren, hatte die Stimmung etwas gekippt. Ebenfalls waren Jules weitere Forderungen zur Durchführung der Erprobung auf wenig Gegenliebe gestoßen. Decker hatte letztlich darauf bestanden, das Gespräch abends, zusammen mit Admiral Girad, weiterzuführen.
Der Tag wurde besser und besser.
Wie Irons versprochen hatte, stellte Nicole Shaw tatsächlich ein Problem dar. Ihre Beförderungsempfehlung durch seinen Vorvorgänger war nach der Beförderungsempfehlung von Davis und Nakakura beim Personalbüro der 5. Flotte eingegangen, jedoch gleichzeitig dem Beförderungskomitee übermittelt worden.
Während dieses Komitee aktuell die Vorschläge abarbeitete, die nach der Schlacht eingereicht worden waren, lagen alle anderen Beförderungsvorschläge auf Eis, außer einem. Shaw, war vorgezogen worden. Ohne sofort ersichtlichen Grund.
Naja, vielleicht gab es dort irgendeinen Bekannten, der sich erinnerte, dass der letzte Vorschlag zur Beförderung abgelehnt worden war.
Die Leistungsbewertungen, die Shaw, Mitra und Davis erhalten hatten waren alle relativ schlampig verfasst gewesen. Der ehemalige Staffelführer der Red Sun Spirit, ein gewisser Harvey Jones, schien es mit dem Papierkram nicht ganz so genau genommen zu haben.
Doch nach mehrmaligen Querlesen war klar, das Mitra und Davis überdurchschnittliche Piloten waren, während man bei Shaw bestenfalls Durchschnitt herausfiltern konnte.
Nakakuras Bewertungen durch einen Lieutenant Commander Terrano waren schon fast pingelig genau.
Die Arbeit der drei aktiven Staffelführer unterschied sich wie Tag und Nacht. Nakakura war ebenso akkurat wie sein Vorgänger, wenn auch nicht ganz so pedantisch.
Die Berichte der blauen Staffel waren seit ihrer Ankunft in Sterntor ein absolutes Chaos und lasen sich letztlich wie Zeitungsartikel und waren vor allem erst mal von Davis XO. Als Davis den Papierkram seiner Staffel übernommen hatte, wurde es auch dort ordentlicher und viel sachlicher.
Shaw hingegen beschränkte sich in ihren knappen Berichten auf das absolute Minimum. Einzig ein Lieutenant Cartmell erhielt eine gute Portion negativer Aufmerksamkeit.
Und selbst wenn Cartmell alles andere als ein mustergültiger Soldat war, was dann ein kurzer Blick in dessen Dienstakte leider zutage brachte, las man aus Shaws Berichten sehr schnell die persönliche Note heraus.
Der Türsummer unterbrach ihn bei seinen Gedanken. Verdammt der Chief: „Herein!“
Jules wurde natürlich nicht enttäuscht. Matthew Dodson trat in beiger Dienstuniform ein. Abweichend von den Vorschriften für den Borddienst hatte er alle Ordens- und Kampagnenbänder über die linke Brusttasche geheftet, die er im Laufe seiner Karriere erworben hatte.
Angesichts dieser sieben Reihen a drei Ribbons fiel seine Meldung selbst für Jules Geschmack etwas lapidar aus: „Sie wollten mich sprechen, Sir?“
Innerlich zuckte Jules mit den Schultern, einen Master Chief Petty Officer ins Achtung zu stellen, dass schickte sich nicht: „Ich habe gehört, Sie hatten einigen Ärger mit dem neuen XO, Chief.“
„Das ist Korrekt, Sir“, Dodson zog eine Aktenmappe unter der Linken Armbeuge hervor, „hier ist die aktuelle Mängelliste, Sir.“
Nachdem Jules diese entgegengenommen hatte, zog Dodson die zweite Aktenmappe hervor: „Und dies ist der aktuelle Sachstand über das fliegende Gerät des Geschwaders und über das technische Personal, Sir.“
Jules legte die erste Aktenmappe beiseite und nahm auch die zweite entgegen: „Setzen Sie sich, Chief.“
„Danke, Sir.“
Er ließ den Unteroffizier eine Weile so sitzen, während er den Zustandsbericht des Geschwaders durchblätterte. Ihm schwante Übles.
„Ich nehme an, hier ist jede fehlende Inspektion aufgelistet, ebenso wie jede Überstunde, die einer Ihrer Techniker machen musste, um das Geschwader im Kriegszustand am Laufen zu halten.“
„Das ist korrekt, Sir.“
„Jeder nicht gemeldete Fehlgriff, jeder nicht gemeldete Regelverstoß und so weiter und so fort, ist meine Annahme richtig?“
„Ja, Sir.“
Jules nahm den Aktenordner und ließ ihn in seinen Papierkorb fallen. Dann wandte er sich der Mängelliste des ersten Offiziers der Columbia zu: „Ist dieser Bericht Ihrer Meinung nach vollständig und korrekt?“
Dodson blinzelte etwas verwundert: „Sir?“
„Hat der XO der Columbia mit seinen Beschwerden recht?“
Dodson blickte zum Papierkorb und dann zu Jules zurück: „Ja, Sir.“
Jules nickte und ging die Beschwerden durch. Vieles war tatsächlich Blödsinn, mit denen man Leute in Friedenszeiten beschäftigte.
Schließlich gab er die Liste an den Chief zurück: „Ignorieren Sie die angemahnten ABM´s, stellen Sie die übrig bleibenden Mängel der Dringlichkeit nach ab und wo Sie dienstrechtlich Handlungsbedarf sehen, geben Sie die Sache an den Bosun weiter.“
„Und was ist, wenn Commander Stacy mir wegen den, wie sagten Sie gerade ABM´s, auf die Füße tritt.“
„Dann sagen Sie ihm bitte, er möge sich an ihren kommandierenden Offizier wenden.“
„Werde ich machen, Sir.“
„Kommen wir dann zu den von Ihnen dokumentierten Unregelmäßigkeiten“, fuhr Jules ungerührt fort, „gibt es dort etwas, was man akut abstellen müsste?“
„Mir fehlt Personal, Sir und dass über die Toleranz hinaus.“
„Wie viele?“
„Die Sollstärke für das technische Bodenpersonal beträgt sechshundertdreißig. Wir sind knapp über fünfhundert. Mit nur sechzig mehr kann ich verhindern dass die Situation für Ihre Piloten lebensbedrohlich wird. Aber alles unter neunzig ist eigentlich unzumutbar.“
„In Ordnung, Sie wissen, dass ich da nichts versprechen kann, aber ich werde mich darum kümmern.“
„Versprechungen sind billig, Commander.“
„Ich bin seit weniger als acht Stunden an Bord, was erwarten Sie?“
Dodson hob zustimmend die Hände.
„So weit, so gut“, Jules lehnte sich etwas zurück, „ich möchte, dass die Nighthawk mit der ich angekommen bin, der roten Staffel zugeteilt wird und die Markierung des Geschwaderführers bekommt.“
„Aye, Sir.“
„Zusätzlich informieren Sie bitte die technischen Leitungen der einzelnen Schwadronen, dass jede Schwadron eine der Ersatzmaschinen ebenfalls mit Geschwaderführermarkierung versehen soll.“
Dodson hob eine Augenbraue.
„Ich werde von Zeit zu Zeit auch in anderen Schwadronen als Gast mitfliegen.“
„Wie Sie möchten, Sir.“
„Darüber hinaus kommt eventuell noch etwas Zusatzarbeit auf die Waffenabteilung zu. Ich persönlich hätte gerne Ihre Expertise zu den neuen Atomraketen, welche die Bears testen sollen.“
„Das wird Commander Decker sicherlich nicht so ganz in den Kram passen, Sir.“
„Womöglich, der Commander und ich haben unsere Einigung in dieser Sache auf das Admiralsdinner vertagt.“
Die Antwort des Chiefs war ein amüsiertes Schnaufen.
„Das wäre es fürs Erste, ich bin mir sicher Commander McGill hat Sie informiert, dass um 21 Uhr Stabsbesprechung ist.“
„Das hat Sie, Sir“, sein Chefmechaniker erhob sich.
„Aber eine Kleinigkeit noch“, Jules deutete auf seinen Mülleimer, „Sie können mich gerne auf Probleme ansprechen aber wenn ich nochmal so etwas in schriftlicher Form sehen muss, dürfen Sie sich nach einem neuen Dienstposten umsehen, klar soweit?“
Dodsons Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen: „Aye, aye, Sir!“



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:50:

 

Nachdem Dodson gegangen war wandte sich Jules wieder den Personalakten zu. Wenn man von der strikten Hierarchie und den Lebensgefahren absah, war das Militär nichts anderes als ein ganz normaler Arbeitgeber. Okay, dass stimmte nicht ganz, was die Anforderungen an Truppenteile wie die Marine anging. Letztlich traf es doch auf der persönlichen Ebene nun einmal doch zu. Wie in jeder anderen Firma war auch in der TSN ihr Anteil an Faulenzern, Schmarotzern oder gar ganz stinknormalen Idioten vorhanden. Manch einer mochte anführen, dass dieser Anteil in der TSN besonders hoch ausfiel.
Für Jules war es nichts Ungewöhnliches mehr, dass er mit Leuten auskommen musste, die er nicht riechen konnte und auch dass er damit auskommen musste, dass Leute unter seinem Kommando sich gegenseitig nicht vertrugen.
Es würde ihn in keiner Weise verwundern, dass es an Bord der Columbia Piloten gab, mit denen man eigentlich nichts anfangen konnte und bei denen es am besten wäre, wenn diese sich in einen dunklen Raum setzten und einfach nicht störten.
Leider neigten diese Leute im Regelfall dazu besonders auf sich Aufmerksam zu machen. Davon hatte er scheinbar an seinem ersten Tag schon zwei Leute erlebt. Der eine, war dieser ominöse Pilot, der ihn schlicht und ergreifend verarscht hatte.
Der andere Fall war schon schwieriger und lag auf seinem Schreibtisch: Nicole Shaw schien nicht der Mensch zu sein, der sonderlich auffiel. Der in der Menge herausstich und dem man gleich an der sprichwörtlichen Nasenspitze ansah, dass er Ärger bedeutete.
Irgendwas sagte ihm, dass mit Shaw was nicht stimmte. Sie hatte es geschafft bereits Großmutter zu werden obwohl sie nur knapp älter war als er. Wie sie den Job einer Pilotin und den als Mutter unter einen Hut gebracht hatte, war ihm schleierhaft.
Den Krieg hatte sie soweit überlebt ohne in die eine oder andere Richtung groß aufzufallen und doch war es ihr gelungen über die eigene Unfähigkeit oder Unwilligkeit hinaus befördert zu werden.
Das genaue Aktenstudium hatte bei Jules die Entscheidung zu Tage geführt: Die Frau muss weg. Der Berufsoffizier und auch der Kamerad in ihm weigerte sich jedoch unterschwellig eine erfahrene Pilotin einfach so abzuschieben.

Als um zehn vor sechs die betreffende Delinquentin bei ihm klingelte, hatte Jules sich noch zu keinem endgültigen Vorgehen durchgerungen.
Jedoch handelte sich Mantis schon kurz nachdem er sie hereingebeten hatte Minuspunkte ein.
Nicole Shaw hatte wie Dodson ihre khakifarbene Offiziersuniform an. Auf Ordensbänder hatte sie jedoch verzichtet.
Sie blieb exakt anderthalb Meter vor dem Schreibtisch stehen und nahm mustergültig Haltung an: „Lieutenant Commander Nicole Shaw meldet sich wie befohlen, Sir.“
„Danke, Commander, rühren, nehmen sie bitte Platz.“
Stattdessen hielt sie ihn einen Briefumschlag entgegen: „Mein Versetzungsgesuch, Sir.“
Jules nahm das Schreiben entgegen und musterte Mantis, während diese sich hinsetzte.
Um etwas Zeit zu gewinnen, richtete er dann seine Aufmerksamkeit auf ihre Eingabe.
Ein schlichtes, nüchternes Schreiben, dass so nichtssagend es auch war alles erklärte; nicht ansatzweise dazu geeignet, dass er sich lange hinter dem Studium der Gründe verstecken konnte.
Während seiner Zeit bei der TSN und auch bei der Jasperian Space Force hatte Jules verschiedene Formen von Pathos zu hören bekommen. Man hatte versucht ihn über Pflicht, Ehre, Loyalität aufzuklären.
Mantis mochte vielleicht erklären, dass sie ihre Pflicht für Volk und Vaterland getan hatte; andere würden dem sicherlich vehement widersprechen und der Meinung sein, dass ihre Pflicht erst dann endete, wenn die Tinte unter einem Friedensvertrag oder wünschenswerterweise der Kapitulationserklärung des Feindes trocken war.
Jules eigener Patriotismus war alles andere als glühend. Er hatte den Beruf als Soldat letztlich gewählt, weil er ihm gefiel. Er hatte seinen Spaß am Fliegen gehabt und daran junge Piloten auszubilden und sein Pflichtgefühl und seine Loyalität betrafen in erster Linie seine Untergebenen und Kameraden.
Eigentlich durfte er Drückebergertum nicht durchgehen lassen und dennoch: „Nun, Reisende soll man nicht aufhalten, Commander.“
Mantis wirkte im ersten Moment teilnahmslos und als sie seine Worte zu begreifen schien stahl sich ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht: „Wie bitte, Sir?“
„Ich werde ihren Gesuch stattgeben und zusehen, dass Sie so schnell wie möglich versetzt werden“, entgegnete er ihr geschäftsmäßig.
„An die Akademie, Sir?“
„Auf gar keinen Fall, Commander“, er blickte sie direkt an, „soweit es meinen Informationsstand betrifft, sind sie nicht geeignet Piloten auszubilden und einen persönlichen Eindruck, den konnte ich mir nun wirklich nicht machen.“
Sein Gegenüber schloss mit einem hörbaren ‚Klapp‘ den Mund.
„Ich werde versuchen, sie so teuer wie möglich an eine Staffel auf Victoria Station oder nach Masters zu verschieben.“
„Danke, Sir“, antwortete Mantis etwas kleinlaut, sich anscheinend deutlich bewusst, dass er sie gedanklich zu einem Teil des militärischen Nachschubwesens degradiert hatte, dass man gegen Gefälligkeiten oder Material eintauschen konnte.
Jules erhob sich und hielt ihr die Hand hin: „Bis dahin, erwarte ich, dass sie weiterhin mit vollen Engagement ihre Pflicht an Bord der Columbia versehen.“
„Selbstverständlich“, log Mantis, als sie ihm die Hand schüttelte und beide wussten es.

Auch Helen Mitra schaffte es sein Missfallen zu erregen, als sie eintrat.
Wie Dodson hatte auch sie allen Glitter und Glimmer zur Dienstuniform angelegt, den man sich vorstellen konnte. Bronce Star, Silver Star, Flying Cross, Kampagnenbänder, Verwundeten Löwen in Silber mit Sternchen drauf und, und, und.
Als sie mustergültig vor dem Schreibtisch Haltung annahm war Jules kurz geneigt sie einen Augenblick stehen zu lassen und nochmal in ihre Akte zu blicken, verwarf diesen Gedanken aber als seiner unwürdig.
„Setzen Sie sich, Commander.“
„Danke, Sir.“
„Da haben Sie sich aber ganz schön in Schale geworfen, um mich zu begrüßen.“
„Ich möchte hier nur nicht unter Wert rausgehen, Sir“, war ihre kämpferischen Antwort.
Jules musterte die jüngere Frau eindringlich und was er sah gefiel ihm. In jeder Hinsicht, jedoch kam es ihm tatsächlich auf die inneren Werte an und ja, da schien sie noch mehr zu glänzen als ‚nur‘ mit dem Gesicht.
„Ich möchte, dass sie die Rote Staffel als mein XO übernehmen“, das leise funkeln von Enttäuschung überging er, „sie werden für die Aufstellung, Ausbildung und Administration der Staffel verantwortlich sein. Ebenso wird es ihre Aufgabe sein, mich in die Einsätze der Staffel zu integrieren. Darüber hinaus müssen Sie meine Einsätze in den anderen Staffeln koordinieren. De facto werden Sie die rote Staffel kommandieren, jedoch nicht de jure. Halten Sie das für den Obstsalat den sie auf der Brust tragen als angemessen genug?“
Mitra hatte immerhin den Anstand kurz schuldbewusst die Augen zu senken: „Damit kann ich mich abfinden, Sir.“
„Die richtige Antworte wäre: Danke, Sir.“
„Danke, Sir.“
Er begann dann Kali zu erläutern, wie er die Staffel ausgebildet und geführt haben wollte. Schon beim ersten Gedankenaustausch erkannte er mit Kali die richtige Person für den Job gefunden zu haben.

***

Mit Ach und Krach schaffte es Jules nicht als letzter bei Admiral Girads Dinner einzutreffen. Die private Messe der Einsatzgruppenkommandeurin war nach allen Regeln der Kunst eingedeckt und machte fast den Eindruck eines Speisesaals in einem Herrenhaus.
Die Offiziere in legerer Dienstuniform wirkten irgendwie fehl am platze.
Das einzig bekannte Gesicht in der Runde war Commander Decker und Jules konnte fürs erste auf ein Gespräch mit dem Verzichten. Dafür brauchte er sich aber keine Mühe zu geben, da die Offiziere der Columbia keinerlei Berührungsängste hatten und Commander Nissler, Girads Stabschef die Vorstellungsrunde übernahm.
Sie waren eine kleine Runde, Commander Charles Stacy, gerade aufgerichtet als hätte er einen Ladestock verschluckt, Lieutenant Commander Paavo Lipponen, der Chefingenieur der Columbia und Commander Stephan Keller, frisch Beförderter Chef- und Fliegerarzt der Columbia.
Nach einer kurzen Reihe Händeschütteln übernahm das Alphatier das Reden.
„Ich hörte Sie haben bereits mit Chief Dodson gesprochen, CAG“, nahm Stacy das Gespräch auf.
„Ja, das habe ich. Er hatte eine Menge interessanter Lektüre für mich. Wir sind übereingekommen, dass er die gravierenden Mängel so schnell es geht abstellt und ich sehe zu, wo ich weiteres Personal für ihn her bekomme.“
„Ihr technischer Stab ist also unterbesetzt“, Pavel Decker sah aus wie eine Katze, die einen verletzten Vogel gefunden hat.
„So wie es aussieht: ja.“
Commander Decker machte ein ernstes Gesicht: „Und da möchten sie ihren Leuten noch zusätzliche Arbeit mit den neuen Raketen aufbürden?“
Gewiefter kleiner Schweinehund, doch Jules kam nicht zu einer Antwort.
„Könnte es nicht sein, dass Chief Dodson die durchaus gravierenden Mängel in der technischen Abteilung auf die angebliche Unterbesetzung schieben möchte“, auch Charles Stacy schaffte es jegliche Anklage aus seiner Stimme zu verbannen.
Jules strich sich mit der rechten Hand langsam übers Kinn und, während er den Ellenbogen auf die linke abstützte und so Stasys Denkerpose nachahmte: „Was glauben Sie, Commander?“
„Ich habe mir über Chief Dodson noch keine abschließende Meinung gebildet, CAG“, schlug der erste Offizier der Columbia den Ball zurück in Jules Spielfeld.
Ein Steward verschaffte Jules etwas mehr Zeit, indem er Aperitifs servierte. Der neue CAG der Columbia lehnte höflich ab und betrachtete Stacy eingehend: „Commander: Ich habe mir die Zahlen des technischen Personals angesehen und bin aufgrund des Personalstandes und der Einsatzbereitschaft des Geschwaders zu dem Schluss gekommen, dass ich hier eine der besten Crews der Flotte geerbt habe. Wenn Chief Dodson unfähig oder faul wäre, sähe die technische Seite bei dem fehlenden Personal viel schlimmer aus.“
„Da muss ich Commander Stafford zustimmen“, mischte sich jetzt Lipponen ein, „keiner der vorherigen Geschwaderkommandeure hätte Dodson auf dem Posten geduldet, wenn er nicht erstklassige Arbeit geleistet hätte.“
Jules wollte sich gerade an Commander Decker wenden, doch Stacy unterbrach all seine Gedankengänge: „ACHTUNG! Admiral an Deck!“
Vanessa Girad war in Begleitung von Captain Ahn in die Messe gekommen und musterte die anwesenden Offiziere kurz. Nahm jeden kurz zur Kenntnis: „Rühren, Gentlemen. Bitte entschuldigen sie meine Verspätung. Commander Stafford, schön Sie persönlich kennen zu lernen.“
Jules reichte ihr artig die Hand und versuchte einen festen Händedruck zu präsentieren ohne der kleineren Frau die Hand zu zerquetschen.
„Ich hörte, man hat sie schon, hm angemessen, an Bord begrüßt“, in ihren Augen funkelte ehrliches Vergnügen, zumindest konnte Jules kein Bisschen Häme erkennen.
„Tja, Admiral, ich fürchte mein Callsign ist ein wenig daran schuld, dass ich nicht ähnlich viel Respekt abverlange wie Commander Stacy“, gestand Jules ein. Beim Seitenblick auf den ersten Offizier der Columbia war er erstaunt, wie ausdrucksvoll ein ausdrucksloses Gesicht war. Aber es war als würde Stacy ihm direkt ins Ohr flüstern: Das liegt am wenigsten am Callsign.
Girad nahm vom Steward einen Sherry entgegen und bedeutete Jules sich ebenfalls zu bedienen.
„Vielen Dank, Ma’am aber ich möchte morgen früh Topfit sein, wenn ich das Kommando über die Angry Angels übernehme.“
„Und da leben sie heute abstinent, Commander?“
„Oh, ich habe nicht die Absicht heute abstinent zu leben, ich halte mich nur zurück. Vor allem, da ich gehört habe und ich zitiere: sie ein Weinsnob sind, werde ich doch eher darauf warten.“
Girads Augen verengten sich: „Nannten Sie mich gerade Weinsnob?“
„Mit allen gebührenden Respekt natürlich, Ma’am. Außerdem habe ich nur zitiert.“
„Na gut, dann werde ich Ihnen das fürs erste durchgehen lassen.“
Die Admiralin wandte sich ihren anderen Gästen zu.
Das Dinner plätscherte ansonsten angenehm vor sich hin. Vanessa Girad war eine ausgezeichnete Gastgeberin und die Küche der Columbia schien für sie geradezu einen Kopfstand hinzulegen. Der Wein hingegen traf, unabhängig von seiner Qualität, nicht Jules‘ Geschmack.
Erst zum Nachtisch wurde es wieder Dienstlich und Girad fing an die Offiziere zu sezieren. Anhand der Fragen, welche die Admiralin stellte ging es ihr darum die Frisch auf ihre Posten berufenen Offiziere kennen zu lernen.
Zuerst traf es den neuen ersten Offizier der Columbia, der nach Jules persönlicher Meinung vielleicht zwei bis zehn Dekaden zu steif war, sich ihm jedoch als absoluter Profi darstellte. Kampferfahren, pflichtbewusst, intelligent und fleißig.
Dr. Stephan Keller wirkte äußerst von sich überzeugt, um einiges weniger Steif als Stacy und angemessen kompetent. Reichlich jung für seinen Dienstgrad, musste Jules neidisch feststellen.
„Commander Stafford“, wurde er letztlich von Girad aus seinen Gedanken gerissen, „können sie sich vorstellen was jetzt kommt?“
„Natürlich, Ma’am, jetzt komme ich an die Reihe.“
„So sieht es aus, CAG, können sie uns schon über die Ausrichtung des Geschwaders informieren?“
Jules blickte auf seine Uhr.
„Etwas spät sich jetzt über die Flucht Gedanken zu machen“, stichelte Lipponen freundlich.
„Das ist es nicht, in etwa vierzig Minuten treffe ich mich zum ersten Mal mit meinen Staffelführern. Im Vorwege habe ich mich mit dem leitenden Unteroffizier meiner technischen Abteilung besprochen. Diese muss dringend aufgestockt werden. Danach habe ich einige Personalien für die rote Schwadron geklärt, welche ich fürs erste persönlich befehlige. Abgesehen davon, dass ich dort die Struktur etwas geändert habe und meine dortige Stellvertreterin eingewiesen habe, werde ich mir erstmal die Arbeitsweise des Geschwaders ansehen und gucken, wo ich etwas verändern möchte.“
„Sie haben sich das mit den Butcher Bears nicht weiter überlegt?“ warf Decker ein.
„Doch Commander jedoch bin ich zum Schluss gekommen, dass die Bears für die Testeinsätze die am besten geeignete Schwadron an Bord ist. Und wo wir gerade beim Thema sind, habe ich mit Commander Decker über die Richtlinien der Testeinsätze gesprochen.“
„Gesprochen ist doch ein wenig sehr höflich formuliert“, Decker wandte sich jetzt direkt an Girad, „trotz seiner angeblich unterbesetzten Abteilung, verlangt Commander Stafford, dass vor jedem Einsatz SEINE Techniker die Raketen nochmal komplett warten. Wir reden hier von streng geheimen Prototypen.“
„Commander Decker“, Jules beugte sich etwas vor, „ich verstehe Ihre diesbezügliche Argumente und Bedenken aber wie sie sagen, es handelt sich um Prototypen, nicht serienreife Testobjekte und in dieser Hinsicht muss ich an die Sicherheit meiner Piloten denken. An allererster Stelle.“
„Bei der Entwicklung und Herstellung der Arrow-Raketen haben wir größte Sorgfalt walten lassen. Das System ist ausgereift.“
„Das ist ihre Sicht der Dinge und ich bin mir klar, dass sie hier Ergebnisse sehen wollen und wohl auch sehen müssen aber ich bin nicht bereit, meine Piloten mit einem neuen Waffensystem ins all zu Schicken, dessen Kinderkrankheiten noch nicht einmal bekannt sind, ohne dass ich dazu eine zweite Meinung gehört habe.“
Es war deutlich zu sehen, dass Decker eine harsche Erwiderung herunterschluckte: „Admiral, ich habe meine Befehle diese Raketen im Einsatz zu testen und … und ich erwarte die vollste Unterstützung der Angry Angel, statt dessen werde ich nur blockiert, ohne Rücksicht auf die Wichtigkeit meiner Aufgabe. Und das scheinbar nur, weil man jede Form von Risiko scheut.“
„Mister Decker“, Girad warf Jules einen kurzen Blick zu, „ich versichere Ihnen, die Angry Angels sind es gewohnt Risiken einzugehen und ich bin sicher, dass Commander Stafford ihnen jede Unterstützung gewährt, die er und sein Geschwader leisten können.“
„Selbstverständlich, Admiral“, versicherte Jules und an Decker gewandt, „ich kann Ihnen versichern Commander, dass unseren Job letztlich zu ihrer vollsten Zufriedenheit erledigen werden. Aber…“
Decker wandte sich mit verdrehenden Augen zu Girad um und deutete mit der Hand auf Jules: Na, habe ich es nicht gesagt!
„… ich stehe in der Verantwortung meine Leute vor unnötigen Risiken zu beschützen. Ich trage an letzter Stelle die Verantwortung für die mir anvertrauten Piloten und deren Hardware. Ich schreibe die Briefe.
Das heißt, dass in allerletzter Instanz ich die Spielregeln aufstelle.“
„Admiral!“ bellte Decker und verstummte als diese die Hand hob.
„Commander Decker“, Girad legte den Kopf leicht schräg, „auch ich habe die Insubordination in Commander Staffords Worten durchaus vernommen. Aber ich führe durch Auftrag. Das heißt, wenn ich Commander Stafford befehle, die Tests an den neuen Raketen durchzuführen und zu unterstützen, dann ist es in seinem Ermessensspielraum Sicherheitsmaßstäbe festzulegen, wie dieses Unternehmen durchgeführt wird. Solange er dabei keinen Unsinn macht, werde ich ihn gewähren lassen.
Ich erteile Aufträge und sage meinen Offizieren, welche Standards ich erwarte. Wie diese dann meine Anweisungen in die Realität umsetzen, da würde ich sowohl Dr. Keller als auch Commander Lipponen ebenso wenig hineinreden wie ich es bei Commander Stafford vorhabe.“
„Ich verstehe, Ma’am“, gab der Commander der Forschungs- und Entwicklungsabteilung nach.
„Haben Sie das auch verstanden, CAG?“
„Natürlich, Admiral, ich darf keine Scheiße bauen.“
„Da hat aber jemand bei Jack Sandoval wirklich aufgepasst“, entgegnete Girad mit einem trockenen Funken Humor in der Stimme.



Geschrieben von Ironheart am 12.11.2015 um 17:51:

 

An Bord der Columbia
Sterntor-System

Donovan „Stuntman“ Cartmell starrte sein Gegenüber ungläubig an. „Nein…!“
„Doch, wenn ich es dir doch sage, ich habe es eben selbst aus ihrem Munde gehört.“ Too-Tall schien die Wahrheit zu sagen, doch irgendwie traute Donovan dem Ganzen nicht ganz so Recht. Also wandte er sich an Titan, die mit verschränkten Armen neben ihnen stand. „Ihr nehmt mich auch nicht nur auf den Arm, oder?“ fragte er skeptisch mit leicht zusammengekniffenen Augen.
Titan schüttelte den Kopf mit Lippen dünn wie ein Strich. „Mantis ist Geschichte, Kali ist jetzt Staffel-XO und wird die Drecksarbeit für Stafford machen.“
Donovan nickte, das klang plausibel und es freute ihn umso mehr, da es bedeutete, dass sowohl Ace als auch Kano ihre Staffeln behalten würden.
„Yes, endlich!“ Er ballte die Fäuste und lachte herzhaft. „Endlich, endlich, endlich…!“
„Ich weiß nicht, was du dich so freust?“ Titan war angesäuert, das konnte man ihr deutlich an der Stimme anhören.
„Bev, du glaubst ja gar nicht, wie lange ich schon darauf warte, dass diese… diese… blöde Kuh endlich, endlich weg ist. Sie hat mich einfach zur Weißglut getrieben. Arrogant, eingebildet, unfair, unfähig…“
„Und du glaubst, dass das unter Cowboy und Kali besser werden wird als unter Lone Wolf und Mantis.“
Donovan zuckte mit den Schultern. „Alles wird besser sein als unter Mantis. Stafford kann ich noch nicht einschätzen, das werden wir dann sehen müssen. Aber Kali kenne ich von früher, sie ist zumindest fähig und fair.“ Dass sie ihn auch nicht sonderlich zu mögen schien, ließ er weg. Sie beide hatten auch früher schon nicht wahnsinnig viel miteinander zu tun gehabt, aber wenigstens hegte sie keine offen gelebte Feindschaft zu ihm wie es Mantis getan hatte.
Titan war aber beleidigt, das konnte Donovan seiner neuen Trainingspartnerin deutlich ansehen. „Hey, Beverly, ich weiß, du hattest gehofft, das Mantis versetzt wird, Kali die Schwarzen oder die Blauen übernimmt und du dann den Staffel-XO Platz angeboten bekommst, aber…“
„Was aber…?“ Wut und Zorn waren in Beverly Carrs Gesicht zu sehen, so dass Donovan sich hilfesuchend nach Too-Tall umsah. Doch der Hüne hob nur abwehrend die Hände. „Ich mach mal lieber, dass ich fortkomme.“
Titan funkelte Donovan immer noch wortlos an.
„Bev, sei mir nicht böse, aber du kannst doch nicht erwarten, dass Du tatsächlich Kali, Ace oder Kano den Rang ablaufen kannst, oder? Zumindest jetzt noch nicht.“
„Und warum nicht?“
Donovan seufzte, da er wusste wie ehrgeizig Titan war. „Weil sie allesamt mehr Abschüsse, mehr Erfahrung und mehr Kriegsjahre auf dem Buckel haben als du. Sieh das doch ein.“ Titan schaute ihn noch eine Weile böse an, doch langsam entspannten sich ihre Züge. „Ich weiß es ja auch, aber ich wäre trotzdem gerne…“ Sie stoppte und lächelte ihn gequält an. „Na was soll´s, dann eben beim nächsten Mal. Aber ein Problem haben wir dann immer noch oder besser schon wieder.“
„Und das wäre?“
„Naja, wenn Mantis uns verlässt, dann fehlt uns wieder ein Pilot in der Roten Staffel.“
„Das stimmt, aber ich bin sicher, dass sich Cowboy und Kali so schnell wie möglich um Ersatz bemühen werden. Das ist dann wenigstens der Vorteil den CAG in der eigenen Staffel zu haben.“
„Na hoffentlich. Und ich wäre froh, wenn es nicht wieder irgendein ein Frischling oder ein sonstiger Versager wird!“
„Alles ist mir lieber als Mantis.“
Titan verdrehte die Augen. „Mann Donovan, es reicht. Ich habe es verstanden…“
„Schon gut, schon gut.“ Cartmell hob entschuldigend die Arme, doch das Grinsen wollte ihm dennoch nicht aus dem Gesicht weichen.

***

Etwas später hatte Donovan sein obligatorisches Erstgespräch mit seinem neuen Staffel- und Geschwaderführer.
Commander Jules „Cowboy“ Stafford war erst seit kurzer Zeit an Bord doch legte er gleich ein ordentliches Tempo vor. Er hatte natürlich seine ersten Gespräche geführt, jeweils mit den kommandierenden Offizieren der Angry Angels und auch mit denen der Columbia. Dann waren die Staffelführer der Angels an der Reihe gewesen. Und nun führte er noch kurze Einzelgespräche mit allen Piloten der Roten Staffel. Ob er auch noch mit den Piloten der übrigen Staffeln sprechen würde, bezweifelter er zwar aber nach allem was er von Stafford bisher gehört und gesehen hatte, würde es ihn zumindest nicht wundern, auch wenn es unwahrscheinlich war.
Donovan wartete vor der Kabine des Commanders, er war extra ein paar Minuten früher eingetroffen um ja nicht zu spät zu kommen. Er war sehr nervös, deutlich nervöser als er es früher je gewesen wäre. Doch dieses Mal wollte er seinen ersten Kontakt mit seinem zukünftigen Kommandeur endlich einmal nicht versauen. Vor allem sein erstes Aufeinandertreffen mit Harvey „Skunk“ Jones war fast schon legendär, als dieser ihn sogar gleich körperlich angegriffen hatte. Und auch wenn er an seine übrigen früheren Kommandeure dachte, so waren die ersten Begegnungen immer schwierig bis merkwürdig gelaufen, ob nun mit Darkness, Lone Wolf, Radio. Und auch wenn dieser Stafford ein anderes Kaliber zu sein schien, so wollte Donovan es dieses Mal besser machen und er hatte sich vorgenommen einen guten Eindruck zu hinterlassen und nicht gleich wieder ins Fettnäpfchen zu treten.
Er wusste, das Kali in voller Montur aufgetreten war, und dass einige Piloten sich entschlossen hatten ihrem Vorbild zu folgen. Doch er selbst hatte sich dann für seine khakifarbene Dienstuniform entschieden und auf seine Orden, Auszeichnungen und Kampagnenbänder verzichtet. Zum einen konnte er damit ohnehin nicht mit Kali mithalten und besonders eindrucksvolle Auszeichnungen hatte er auch nicht vorzuweisen, wenn man mal von seiner Anzahl der Abschüsse absah, aber die trug man schließlich nicht auf der Brust herum. Und zweitens konnte Stafford ja sicher selbst lesen und würde daher sowieso mit seinem Werdegang vertraut sein.
Stattdessen hatte er sich auf jede Menge heikle Themen eingestellt. Anders als früher war er nicht so naiv zu glauben, dass dieses Gespräch ohne kritische oder sogar unfaire Fragen ablaufen würde. Wahrscheinlich würden alte längst vergessene Vorwürfe zum Vorschein kommen. Aber dieses Mal würde er es ertragen und sich nicht wie ein kleines Kind verhalten und seinem neuen Kommandeur daraus einen Vorwurf zu machen. Seine Dienstakte las sich nun einmal als eine Ansammlung von Problemen.

Als sich die Tür vor ihm öffnete, trat Titan hinaus, schloss die Tür hinter sich und lächelte ihn flüchtig aber gequält an.
„Und?“ Statt einer Antwort zuckte sie nur kurz mit den Schultern. `Also nicht so gut!` Donovan merkte instinktiv, das er auf Titans Antwort würde warten müssen.
„Du sollst ihm 2 Minuten geben und dann reinkommen.“
Donovan nickte. „Danke.“
„Bis dann, viel Erfolg.“
Damit stapfte Titan davon und ließ Donovan alleine zurück. Er spürte, wie die Nervosität sich langsam in seinen Eingeweiden breit machte und ein Kribbeln über seinen Rücken zu wandern schien. Wenn es für Titan schon nicht so gut gelaufen war, wie würde es dann für ihn selbst ausgehen?
Er schüttelte den Kopf über sich selbst, war er doch tatsächlich lächerlicherweise nervöser als vor seiner letzten Schlacht. Doch dann als die zwei Minuten um waren, atmete er tief durch, betätigte den Türsummer und betrat dann die Kabine des CAG.
„First Lieutenant Donovan Cartmell meldet sich wie befohlen, Sir!“ Cowboy erwiderte den zackigen Salut ebenso vorschriftsmäßig.
„Setzen sie sich, Lieutenant!“
„Danke, Sir.“
Commander Stafford musterte ihn kurz und kam dann gleich zur Sache. „Lieutenant Cartmell, Commander Mitra und ich hatten eine ausführliche Diskussion über sie. Können sie sich denken, warum?“
Unwillkürlich musste Donovan sich straffen. „Ja, Sir. Das kann ich mir denken. Ich vermute mal, dass die Beurteilungen von Commander Shaw über mich nicht gerade positiv ausgefallen sein dürften.“
Stafford nickte. „Wie erklären sie sich das?“
Donovan musste jetzt vorsichtig sein „Sir, ich denke, ich hätte mich sicher in der einen oder anderen Situation gegenüber Commander Shaw anders verhalten sollen. Aber um ehrlich zu sein, sie konnte mich nicht ausstehen und das schon bevor sie die Staffel übernommen hatte.“
„Und was halten SIE von Commander Shaw?“
Donovan wagte sich nur langsam aus der Deckung „Nun, sie ist eine… solide Pilotin und war eine gute Staffelführerin…“ Er stockte, denn noch während er sprach legte der CAG seinen Kopf schief und Donovan konnte seinem Kommandeur genau ansehen, dass dieser ihm kein Wort glaubte.
`Ach was soll´s…!`
„Sir, Erlaubnis frei reden zu dürfen?“
„Erlaubnis erteilt, Lieutenant!“
„Die Wahrheit ist, dass Mantis und ich uns schon vom ersten Augenblick an nicht hatten ausstehen können. Durch meine Vergangenheit, die sie ja sicher meiner Personalakte entnommen haben, bilden sich viele bereits ein Urteil über mich, ohne mich wirklich zu kennen und ohne mir die Chance zu geben mich zu beweisen. Für viele bin ich erst mal der Ex-Häftling, Ex-Pirat, ein Schläger, ein Querulant, ein Störenfried. Und ich weiß auch, dass ich durch mein früheres Verhalten auch sehr stark dazu beigetragen habe, dass sich dieser Eindruck auch so hartnäckig halten konnte, auch wenn viele der Gerüchte gar nicht stimmen und ich mich auch stark verändert habe in den letzten Jahren.“
Der CAG machte keinerlei Anstalten etwas zu sagen, also redete Donovan einfach weiter.
„Ja, Sir, ich war über Jahre Gefangener bei den Piraten aber ich war weder der Black Buccaneer noch habe ich den Piraten geholfen, sondern nur versucht so gut es ging zu überleben. Ja, Sir, ich bin wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden und habe deswegen im Knast gesessen, aber ich bin dafür über Monate provoziert und gemobbt worden, bis mir eines Tages - als ich mich zur Wehr gesetzt habe - die Sicherungen durchgebrannt sind und ich es meinen Peinigern heimgezahlt habe. Und ja, Sir, ich hatte zunächst Probleme mit so ziemlich jedem meiner Vorgesetzten, doch haben die meisten von Ihnen - mit Ausnahme von Commander Shaw - mich im Laufe der Zeit akzeptiert und mit mir angefreundet. Ich weiß, dass ich manchmal zu impulsiv und zu aufbrausend bin, aber ich arbeite daran, Sir! Alles was ich will ist eine faire Chance.“ Donovan musste ausatmen, so schnell und hektisch hatte er gesprochen.
Soviel zu seinem Vorhaben gut vorbereitet in das Gespräch zu gehen um einen guten Eindruck zu machen. Er musste wie eine weinerliche Quasselstrippe auf Stafford wirken.
Dieser hatte während des ganzen Monologs von Cartmell nicht mal mit der Wimper gezuckt, und das im wahrsten Sinne des Wortes. „Und?“
„Und was, Sir?“
„Und, werden sie mir Ärger machen, Lieutenant?“
„Nicht wenn sie mir eine Chance geben, Sir!“
„Ach und wenn ich Ihnen keine Chance gebe, dann doch?“
Donovan schreckte hoch. „Nein, nein…! Um Gottes willen, nein Sir, so war das nicht gemeint…“ stammelte er vor sich hin. Dann seufzte er aus dem allertiefsten seines Herzens und blickte betreten zu Boden, da er merkte, wie ihm die Anspannung und der Stress unerklärlicherweise die Tränen in die Augen trieb. „Ich bin es leid, ständig in Ärger zu geraten, wirklich. Alles was ich will ist es einen guten Job zu machen, meine Kameraden zu schützen und diesen verfluchten Krieg irgendwie zu überleben…. Sir!“
Eine unangenehme Pause entstand, so dass Donovan trotz der Tränen in seinen Augen, die ihm extrem peinlich waren, aufblicken musste. Stafford hatte immer noch sein Pokerface aufgesetzt und beobachtete Cartmell durchdringend.

Nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille reagierte der CAG endlich.
„Nun, die Gefechtsauswertungen und ihre Simulatorergebnisse belegen, dass sie ein exzellenter Pilot sind. Die Anzahl ihrer Abschüsse spricht deutliche Bände und ihre Flugweise ist unkonventionell aber vielleicht genau deswegen so erfolgreich. In Anbetracht dessen, dass die Akarii im Laufe des Krieges ihre Pilotenaus- und Weiterbildungen auf unsere gängigen Flugmuster ausgerichtet und angepasst haben, könnte das durchaus ein Vorteil sein.“
Stafford machte eine kurze Pause und blickte auf seine Akte. „Aber bei dem Rest?“ Cowboy seufzte kurz. „Einem Piloten mit ihrer Erfahrung müsste ich eigentlich eine eigene Sektion zuweisen. Aber im Augenblick sehe ich Titan und wahrscheinlich auch Too-Tall vor ihnen. Also werde ich Titan den dritten Platz als Sektionsführer geben. Ist das ein Problem für sie?“
„Nein, Sir, absolut nicht.“ Donovan war etwas verwirrt, warum Titan dann eben schon wieder so angesäuert war. „Diesen Ehrgeiz habe ich schon vor einer Weile abgelegt.“
„Ach wirklich? Auch wenn sie kurzzeitig nach der Karrashin-Kiralu-Kämpfen unter Ace als als Interims-XO geführt wurden? Von dem haben sie zumindest ziemliche gute Bewertungen erhalten.“
„Ja, Sir. Das stimmt, aber das war nur weil wir damals herbe Verluste einschließlich unseres Staffelführers erlitten hatten und sich Mantis damals nicht gerade um diese Position gerissen hatte. Aber meine Ambitionen in dieser Hinsicht sind so ziemlich erloschen.“
Stafford lehnte sich ein wenig zurück. „Hmmm. Das gefällt mir nicht so sehr, Lieutenant. Ein Offizier ohne Ambitionen hat oft auch keinen Anreiz sich verbessern zu wollen. Das heißt nicht, dass ich Ihnen die Position jetzt geben werde, aber ich erwarte schon von Ihnen, dass sie um den Posten kämpfen. Denn nur dann werden sie sich immer verbessern wollen und das ist auch für ihre Kameraden, ihre Sektion und ihre Staffel gut.“
„Ich verstehe, Sir.“
„Gut! Sie haben nach einer fairen Chance gebeten. Nun, Respekt und Vertrauen bekommt man nicht geschenkt sondern muss man sich hart erarbeiten. Haben wir uns verstanden?“
„Ja, Sir!“ Donovan war überrascht wie gut das Gespräch im Grunde gelaufen war, das hätte er vor der Unterhaltung nicht unbedingt erwartet. Doch dieser Stafford schien zu meinen, was er sagte und das was er sagte, machte Sinn. Wenn Donovan es sich nicht selbst vermasselte, dann hatte er vielleicht zum allerersten Mal einen Kommandeur, der ihn vorurteilsfrei behandelte.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:26:

 

Platzhalter - Ace Kaiser

Melde dich bei mir, Ace, wenn du diesen PH irgendwann auflösen willst



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:27:

 

‚Hass ist ein Schwert ohne Heft. Halte ihn fest, und du schneidest dir ins eigene Fleisch.’
Der antike Akarii-General Gorlan Rikata


Akar
Imperialer Palastbezirk von Pan’chra

Die beiden Fechter umkreisten sich langsam und lauernd, die langen Dreeh-Schwerter kampfbereit erhoben. Der kleinere der Kontrahenten eröffnete den Kampf mit einem blitzschnellen Diagonalhieb in Kopfhöhe – ein Vorstoß, der sofort abgefangen und zur Seite gelenkt wurde. Ein schneller Wechsel aus Konterangriff, Parade und Finte folgte, dann erneuerte der kleinere der Kämpfer seinen Vorstoß und trieb seinen Gegner zwei Schritte zurück, bis fast zum Rand des in den hellen Sand gezogenen Fechtkreises.

„Eine gute Kombination, findet Ihr nicht?“
Admiral Kern Ramal drehte sich zu dem kräftig gebauten Akarii um, der leise an seine Seite getreten war und musterte ihn nicht gerade freundlich: „Ihr nehmt euch doch nicht die Zeit, um ausgerechnet mich zu fragen, ob die Stammbäume von Navarr Thelam und dieser kleinen Otrano zusammenpassen?“
Rallis Thelam lächelte amüsiert und erweckte den glaubhaften Eindruck, dass ihm eine sardonische Retourkutsche auf der Zunge lag. Aber dann beschränkte er sich auf ein: „Ich meinte eigentlich ihren Kampfstil.“
„Verzeiht, aber ich wusste auch nicht, dass Ihr ein Auge für dergleichen habt.“
Auch dieser Pfeil prallte an dem Thronprätendenten ab: „Wie jeder junge Adlige musste ich zumindest die Grundlagen des Fechtens meistern. Außerdem habe ich ein gutes Auge für Kleinigkeiten, Admiral. Nuancen, Details, Strömungen. Etwas, was mir bei Hofe gut zupass gekommen ist. Also, was haltet Ihr von den beiden?“
Ramal drehte sich wieder um und musterte die Kämpfer. Eigentlich war er hierhergekommen, weil er gehört hatte, dass Dero Allecar dem Übungsrund des Palastbezirks einen Besuch abstatten wollte.

Die Anlage war uralt, errichtet lange bevor die Akariis zu den Sternen aufbrachen. Sie bot Platz für Dutzende Kämpfer und hunderte Zuschauer und war doch nur ein Schatten der gigantischen Kampfarenen der Antike. Angeblich stammten die Steine, die man beim Bau verwendetet hatte, tatsächlich aus den berühmtesten Arenen der Vergangenheit. Einigen Legenden nach hatten sie im Lauf der Jahrhunderte so viel Blut und Kampfgeschrei in sich eingesogen, dass sie zu etwas anderem geworden waren, als bloßem Stein. Unzählige Gespenstergeschichten begannen, spielten – und endeten – in dem Kampfrund des Palastes. Und manch besonders Phantasiebegabte schwor, dass die schweigend wachenden Kriegerstatuen, die über den Zuschauerrängen aufragten, über Nacht manchmal ihren Standort oder ihre Haltung geändert hatten.
Seit Jahrtausenden erprobten junge Adlige und Mitglieder der kaiserlichen Garde hier ihr Können im Nahkampf, häufig unter den Augen neugieriger Zuschauer. Früher war dies auch ein beliebter Platz für Ehrenduelle gewesen, obwohl die zeitweilig aus der Mode gekommen oder zumindest an etwas verschwiegene Orte verlegt worden waren.

Aber deswegen war Ramal nicht hier, auch wenn er die Symbolik des Ortes zu würdigen wusste. Heute ging es ihm nur um die Gelegenheit, diesen anmaßenden Emporkömmling Dero zu beobachten, seine Fähigkeiten und Schwächen ausloten zu können. ‚Je besser du deinen Feind kennst, desto weniger brauchst du ihn zu fürchten…’
Jetzt allerdings fragte sich der Admiral, ob er nicht unter einer Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gelockt worden war. Eigentlich hatte er sich denken können, dass Dero nicht in der Öffentlichkeit trainieren würde. Das würde die falsche Art von Gerüchten schüren. Außerdem wäre es sehr unklug von Dero, die eigenen Fähigkeiten offen zu demonstrieren. Vor allem, falls man einem Duell auf Leben und Tod entgegensah und nicht gerade ein wahrhaft legendärer Kämpfer war. Und zuletzt… ‚Wenn er nur einen Funken Verstand hat, dann zeigt er sich nicht an SO einem Ort mit einer Waffe in der Hand. Es gibt genug zornige, junge Offiziere, die die Möglichkeit begrüßen würden, ihn zu fordern oder in einem ‚freundschaftlichen’ Übungsduell zurechtzustutzen.’
Was hingegen Rallis Thelams Anwesenheit anging…Ramal glaubte nicht an Zufälle. Und das Linais Cousin anscheinend ohne seine Leibwächter hier auftauchte, hatte etwas zu bedeuten.

Während ihm dies durch den Kopf ging, tat der Admiral so, als würde er die Antwort auf Rallis Frage abwägen: „Der Schwerttanz der beiden ist besser als das, was man in den meisten Fechtschulen und Übungskreisen zu sehen bekommt. Aber ich halte nicht viel von einer Kampferöffnung aus der Bewegung. Man gibt den sicheren Stand auf und verliert an Schwung.“
„Aber es hat seine Vorteile, beweglich zu sein. Man ist…flexibler, zwingt den Gegner zum Reagieren. Er muss auf das Spiel eingehen – oder läuft Gefahr, aus der Flanke angegriffen zu werden.“
‚Reden wir noch vom Fechten?’ „Navarr hat Potential, genauso wie dieses Otrano-Mädchen. Sie ist schneller, aber ich denke, er könnte besser sein als sie. Er hat mehr Reichweite, Kraft und Ausdauer. Aber er nutzt das nicht aus, lässt sie den Kampf dominieren. Navarr ist zu passiv.“
„Maran Otrano weiß was Sie erreichen will. Und das verleiht ihr einen Vorteil.
Genauso ist es übrigens mit dem jungen Dero Allecar. Ich bin mir zwar noch immer nicht ganz sicher, was er will. Aber was es auch ist, er will es mit Leidenschaft.“
Ramal schnaubte verärgert: „Wie wäre es, wenn Ihr die Andeutungen sein lassen und mir einfach sagen würdet, was Ihr wollt.“
„Aber wo bleibt da der Spaß? Und so spielt man nun einmal nicht am Hofe.“
„Ich spiele nicht.“
„Da liegt Ihr falsch. Das tun wir alle. Nur unsere Methoden und Figuren unterscheiden sich.
Ihr seid über Deros Duellkarriere informiert?“

Ramal wusste, das bereits Gerüchte über ein anstehendes Ehrenduell zwischen Dero Allecar und Linais Gemahl Tobarii Jockham kursieren mussten. Die hatte es schon gegeben, bevor die beiden überhaupt wussten, dass sie gegeneinander antreten wollten. Aber so leicht ließ sich der Admiral nicht aus der Reserve locken. Es wäre einfacher gewesen in den kalten, zeitlosen Gesichtern der Statuen zu lesen, die die Zuschauerränge bewachten, als in Ramals Miene: „Warum sollte mich das interessieren? Und ich wüsste ohnehin nicht, dass Dero bisher durch IRGENDEINE kriegerische Leistung von sich reden gemacht hat.“
„Er ist ganz bestimmt kein Dorani Jotari…“
„Der seinen größten Sieg für Haus Otrano gewonnen hat…“, präzisierte Ramal amüsiert mit einem Nicken in Richtung Maran Otrano, die im Augenblick vor einer Attackeserie Navarrs zurückweichen musste.
Rallis fuhr unbeirrt fort: „…aber immerhin hat er schon drei Duelle ausgefochten. Eines davon übrigens, um die Ehre von Prinzessin Linai zu verteidigen.“
„Ich würde es vorziehen, wenn Ihr den Namen der Prinzessin nicht in diesem Zusammenhang erwähnen würdet.“ Ramals Stimme war leise und kalt. Rallis Thelam neigte den Kopf leicht, lächelte dabei aber flüchtig, als hätte er die Antwort erhalten, auf die er gewartet hatte: „Ein Duell verloren, zwei gewonnen – und das ohne den Gegner zu töten. Und diese Duelle sind genau drei mehr, als zum Beispiel…der hochedle Tobarii Jockham ausgefochten hat. Von der Anzahl der Übungskämpfe mal ganz zu schweigen. Und auch wenn Dero kein Jotari ist – Tobarii Jockham ist ganz gewiss kein Gerik Jockham.“

Der ‚fechtende Philosoph’ war nicht nur für mehr als dreißig gewonnene Duelle berühmt, sondern vor allem für seine melancholischen Gedichte über die Schönheit und Kürze des Lebens. Seine Texte wurden immer noch verlegt und rezitiert, und das sonst recht unkriegerische Haus Jockham war zu Recht stolz auf dieses Mitglied ihrer verzweigten Familie.

‚Dieser hinterhältige Prinzling weiß Bescheid. Aber das hätte ich mir denken können.’
Ramal lachte abfällig: „Und wie kommt Ihr auf die Idee, dass der Kriegsminister und Prinzgemahl die Absicht hat, mit einem…Unteroffizier die Klingen zu kreuzen?“
„Das wisst Ihr nur zu gut. Das weiß doch JEDER am Hof.
Wer Augen hat, um zu sehen…und Ohren, um zu hören…“
Irgendetwas an Rallis Worten kratzte an Ramals Bewusstsein, wie ein schwacher aber vertrauter Ton: „Ich gebe eigentlich nicht viel auf Klatsch. Und auch Ihr solltet Wichtigeres zu tun haben.
Aber selbst wenn Ihr mit eurer Vermutung recht habt. Was geht das mich an?
Behauptet ihr ernsthaft, dass dieser Menschenfreund Dero kämpfen kann? Dann ist Euer Auge vielleicht doch nicht so scharfsichtig, Hoheit. Ein paar blutarme Klingenspielereien mit einigen untalentierten Gecken machen ihn noch nicht zu einem Klingenmeister. Immer weniger im Adel beherrschen noch die alte Schwertkunst. Angeblich duelliert man sich heute sogar mit den Waffen der MENSCHEN. Das ausgerechnet Dero…“ In den Worten des Admirals lag genug Wahrheit, um seine Befürchtungen zu vernebeln. Zumindest hoffte er das.
„Dero wird sich nicht mit einem Menschen duellieren.“

Ramal begriff, dass sein Leugnen zwecklos war. Rallis wusste von dem Duell. Und er schien sich sicher zu sein, dass man besser kein Geld auf Tobarii Jockhams Sieg setzen sollte. ‚Würde ich das?’ Aber wenn es dem Thronprätendenten nicht nur darum ging, Ramal zu frustrieren und sich an der eigenen Klugheit zu ergötzen, dann hatte er noch etwas vor.
Es war kein Geheimnis, dass Rallis Thelam gegen die Allecars opponierte und dem Favoriten der Prinzessin mit unverhohlener Abneigung begegnete. ‚Und der Feind meines Feindes…’
Aber Ramal würde es dem stämmigen Thronprätendenten nicht einfach machen. Sollte Rallis doch weiter glauben, dass er Dero unterschätzte: „Es ist nicht einmal sicher, dass dieser Allecar-Jüngling ein Dreeh überhaupt zu führen versteht. Vielleicht kennt er die Grundlagen, aber bisher hat er sich immer von allem ferngehalten, was von einem jungen Adligen eigentlich erwartet wird. Wer weiß, womit er seine bisherigen Duelle ausgefochten hat. Messer…vielleicht sogar mit den Fäusten!“

Waffenlose Duelle galten als barbarisch und als nur wenig mehr, als die brutalen Schaukämpfe, mit denen sich die Unterschicht verlustierte.

„Admiral, versucht bitte nicht, meine Intelligenz zu beleidigen. Und um den Gegner zu unterschätzen, seid auch Ihr zu klug.“
„Wer hat euch eigentlich gesagt, dass Dero mein Gegner ist?“
„Der Wind, der um die tausend Türme von Pan’chra streift, trägt die Worte mit sich…“
Wieder hatte Ramal das Gefühl, dass Rallis sich einen Witz auf seine Kosten erlaubte, und das gefiel ihm nicht. Woher kannte er nur diese Zeilen? Aber die vage Ahnung verschwand, als Rallis fortfuhr: „Eure Abneigung Dero gegenüber ist genauso wenig ein Geheimnis, wie die meinige. Und was Ihr nicht vergessen haben dürftet - er ist durch die Schule der Infanterieausbildung gegangen. Und das zählt in diesem Zusammenhang sehr viel mehr als ein paar Fechtstunden und seine Anwaltskarriere.
Das bedeutet, dass er gelernt hat, Leid und Strapazen zu ertragen. Nicht aufzugeben, auch wenn die Füße blutig, die Glieder schwer wie Stein und jeder Schritt eine Qual.“ Jetzt zitierte Rallis aus einem beliebten neuzeitlichen Kriegsepos: „Jockham…“ Jockham hatte das nicht.
„Ihr solltet den Prinzgemahl nicht unterschätzen.“
„Er hat seine Qualitäten. Aber er kann nicht KÄMPFEN. Ihm fehlt der Willen dazu. Vielleicht findet sich ja jemand, der sein Feuer zu wecken versteht…aber die Zeit dafür ist knapp.
Und ich weiß auch nicht, ob das reicht.
Es wäre viel besser, wenn jemand für ihn in das Kampfrund treten würde. Jemand, dem das Führen des Dreehs in Fleisch und Blut übergegangen ist…“
Der Admiral musterte den Thronprätendenten wachsam: „Aber was für ein Bild würde Jockham dann bieten, wenn er sich hinter seinem Sekundanten versteckt?“ ‚Das könnte dir so passen – Jockhams Ansehen würde das eher schaden.’
„Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Das Stellen eines Stellvertreters hat eine lange Tradition. Und abgesehen davon, wenn zum Beispiel ein…anderer Verwandter von Prinzessin Linai ihrem Ehemann zuvorkommen würde… Jemand der Linais die Ehre seiner Blulinie seine und Linais Ehre durch diese unverschämten Gerüchte bedroht sähe und einen Anspruch auf Satisfaktion meldet…“
„Redet Ihr von euch selbst?“ Ramal stellte sich absichtlich dumm und in seiner Stimme klang mehr als nur ein wenig Sarkasmus mit.
Rallis überraschte seinen Gegenüber mit einem gutgelaunten Lachen: „Auch wenn ich in meiner Jugend vielleicht etwas häufiger als Tobarii mit dem Drehh trainiert habe, Schwerter sind nicht meine Wahl der Waffen. Ich kenne meine Grenzen. Und um der Frage vorzubeugen, Karrek ist nicht hier…“
`Und würde auch kaum für Jockhams Ehre eintreten. Oder Linais.’
„…und ich meine auch nicht Lisson. Der kann noch schlechter fechten als ich. Oder der Prinzgemahl.“
„Dann also Navarr?“ Ramal glaubte nicht wirklich, dass Rallis tatsächlich diese Möglichkeit erwog. Zwar war Navarr Thelam Dero eventuell gewachsen oder sogar überlegen – aber Rallis würde niemals das Leben des einzigen anderen Thronprätendenten riskieren, der vielleicht halb in seinem Lager stand. ‚Außer er hat das geplant, um sich eines potentiellen Konkurrenten zu entledigen und gleichzeitig auch noch Dero und Jockham zu diskreditieren. Das würde zu ihm passen.’
Aber Rallis schüttelte wieder den Kopf: „Nein, das wäre zu unsicher. Und es wäre wohl auch wenig plausibel, dass Navarr Dero herausfordert. Der junge Prinz ist in Sachen Ehre nicht ganz so strikt und gibt wenig auf Gerüchte. Eigentlich ein recht sympathischer Charakterzug.
Außerdem…dachte ich, dass vielleicht jemand in den Kreis treten sollte, der Linai noch näher steht als ihre Cousins.“ Kern Ramal war sich nicht sicher, ob ihm Rallis Thelams Unterton gefiel. Wusste er etwa…
„…so nah, wie ein Bruder. Vielleicht nicht nach dem Namen, aber nach dem Blut.
Und wer sich derart um den Thron verdient machen würde, der hätte dann vielleicht auch endlich das Anrecht erworben, seiner Herkunft auch durch den Namen Rechnung zu tragen. Es wäre nicht zum ersten Mal…“

Der Admiral wusste natürlich, wen Rallis meinte. Obwohl der Thronprätendent wahrscheinlich keine Beweise für Ramals kaiserliche Bastardherkunft hatte. Oder?
Aber Kern Ramal war auch kein dummer Jüngling mehr, der sich verunsichern oder von irgendwelchen verstiegenen Hoffnungen oder alten Geschichten den Kopf verdrehen ließ. Andere Adlige, in deren Adern kaiserliches Blut floss, mochten vom Thron träumen. Aber gegen Jors Cousins oder Linais ungeborenes Kind hatten sie ohne die Unterstützung der Streitkräfte und einer ganzen Allianz alter Häuser keine Chance, waren derartige Ambitionen lediglich eine besonders sichere Art des Selbstmords. Und eine Garantie für genau die Sorte von Unruhen, die sie das Imperium nicht gebrauchen konnte.
Jeder der…weniger naheliegenden Thronprätendenten musste das wissen. Und zum Glück waren sie offenbar so klug, dass sie das bisher davon abgehalten hatte, in das Spiel um den Thron einzusteigen.

Ramal wusste, wo sein Platz war: „Was Ihr da andeutet – egal an wen ihr dabei denken mögt – liegt nicht in eurer Macht. Auch nicht in der von Prinzessin Linai. Nur in der des Imperators.“
Rallis lächelte flüchtig: „So ist es. Des neuen Imperators. Und in der des Adelsrates. Es gibt…Präzedenzfälle.“
„Die nach meinem Wissen meistens in einer Katastrophe endeten und nur zur Anwendung kamen, wenn es keine legitimen Nachkommen der kaiserlichen Familie gab. Sicherlich wollt Ihr nicht behaupten, dass die Lage SO verzweifelt ist.“
„Das mögen die Götter verhüten. Aber Prinz Jors Tod – und die Nachfolgefrage – haben das Bewusstsein geweckt, dass die kaiserliche Linie nicht so sicher ist, wie das Reich es sich wünschen könnte. Eine Stärkung der Thelam-Linie, durch Blut besiegelt…“
‚Das könnte dir so passen.’ Ramal wusste, dass seine Legitimierung durch den Adelsrat – auch nur die Möglichkeit – fast unweigerlich einen Keil zwischen ihn und Linai treiben musste. Und das würde automatisch Rallis Position stärken – besonders wenn Ramal zuvor den Erben des Allecar-Clans niedergestreckt hätte. ‚Und Jockham stände als Feigling da, der andere für sich kämpfen lässt. Aber du musst doch wissen, dass ich das auch weiß. Also warum…’
Andererseits war ja nicht so, als ob Ramal nicht schon selber die Idee gekommen wäre, Dero vor seine Klinge zu fordern. Aber er würde nicht Jockhams Kämpfe ausfechten. Ganz bestimmt nicht für die vergiftete Frucht, die Rallis ihm jetzt vor die Nase hielt.
Nein, es war an der Zeit, dass der Prinzgemahl sich sein hohes Amt VERDIENTE. Sein Entschluss stand fest – und niemand würde ihn davon abbringen. Sicher nicht Rallis.
Allerdings…falls Linai ihn darum bitten sollte…

Und plötzlich erkannte er, aus welchem antiken Akarii-Epos Rallis während ihrer Unterhaltung immer wieder zitiert hatte. ‚Der Bastardprinz’ – eine düstere und blutige Tragödie um Verrat, Intrigen, Mord – und Inzest.
Ramals Gefühle mussten sich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Rallis Thelam wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Für einen Augenblick wirkte der Thronprätendent gar nicht mehr so selbstsicher. Und das war auch gut so, denn kurz hatte Kern Ramal einen Mord erwogen. Oder zumindest einen tätlichen Angriff, der Hochverrat gewesen wäre. Die Stimme des Admirals war leise, gepresst und eiskalt: „Ihr hattet euren…Spaß, Hoheit. Aber wenn das alles war, was Ihr im Sinn hattet, dann würde ich vorschlagen, dass Ihr geht. Auf der Stelle.“
Rallis öffnete den Mund, schloss ihn wieder und räusperte sich dann, während er mit einer leicht fahrigen Bewegung einen Datenchip hervorholte: „Das ist die Aufnahme von einem von Deros Kämpfen. Einem illegalen Duell, das er gewonnen hat. Ich denke, das könnte Euch interessieren.“
„Woher…“
„Noch so eine Unart der Jugend. Sie muss alles für die Ewigkeit festhalten. Außerdem findet Ihr auf dem Chip auch noch Aufnahmen von einigen von Deros früheren Übungskämpfen. Hauptsächlich gegen Mitglieder dieser…Bande von Taugenichtsen, mit denen er sich in seiner Zeit im Palast herumgetrieben hat.“
„Einige von denen sind inzwischen Admiräle.“ warf Ramal sarkastisch ein. ‚Und du bist nicht der Richtige, um sich als Moralinstanz aufzuspielen.’
„Und dann ist da auch noch eine Liste der Fechtlehrer, die das Haus Allecar beschäftigt hat. Was Deros Zeit bei der Infanterie angeht…ich gehe davon aus, dass sich jemand mit…sagen wir euren Kontakten die entsprechenden Unterlagen bereits besorgt hat.“

„So, denkt Ihr das.“ Kern Ramal schwieg ein paar Augenblicke und schaffte es, die immer noch schwelende Wut niederzukämpfen und nach dem Datenchip zu greifen: „Danke.“
Trotz allem war Rallis nicht Linais Feind – zumindest noch nicht. Und wenn doch, dann war er ein Gegner, der genauso gut ein Verbündeter werden konnte. ‚Oder ein Freund, der beim geringsten Anzeichen von Schwäche zum Feind wird.’ Die hohe Politik auf Akar war nicht weniger komplex und verwirrend, als ein echter Krieg. ‚Und nicht weniger tödlich.’ Aber wahrscheinlich würde er Rallis noch einmal brauchen. ‚Oder vielmehr kann Linai nicht auf ihn und ihre übrigen Cousins verzichten. Nicht, solange ihr Kind noch nicht einmal geboren ist.’
Kern Ramal warf noch einmal einen Blick in die Übungsarena, in der sich Navarr Thelam und Maran Otrano umkreisten und die Klingen mit fast spielerischer Eleganz durch die Luft wirbeln ließen.
‚Aber genau das ist es ja für sie. Ein Spiel, wenn auch mit scharfen Klingen. Kinder die mit echten Waffen spielen. Doch sind wir anders? Dero, ich, Rallis. Er hat Recht, dieser alte Halunke hat Recht…’ Der Admiral schob den unangenehmen Gedanken beiseite. Wenn er sich etwas nicht leisten konnte, dann Schwäche.
‚Dafür ist Zeit, wenn die Allecars in den Staub getreten, Rallis gebändigt und der Thron von Linais Sohn sicher ist.’

***

Etwas später

Rallis Thelam lehnte – nun alleine – scheinbar lässig an der Brüstung der Zuschauerloge und betrachte die beiden jungen Adligen in der Arena, die ihren freundschaftlichen Zweikampf beendet hatten. Er konnte nicht hören, worüber Navarr und Maran sich unterhielten, aber ihren lebhaften Gesten zufolge schienen sie sich zu amüsieren. ‚Gut so. Freut euch eures Lebens. Es kommen ernstere Zeiten. Auch für euch…’
Dann drehte er sich um: „Da bist du ja, Dan.“
Der Adjutant des Thronprätendenten wirkte etwas angekränkelt: „Das war ziemlich riskant, Hoheit.“
Rallis Thelam lächelte flüchtig: „So, war es das?“ Er schob den Ärmel seiner Prunkrobe nach oben und enthüllte dabei ein Handgelenk-Komm: „Commander Galdt, Bericht?“
„Der Admiral war alleine.“
„Tatsächlich? Wie nachlässig von ihm. Entweder er fühlt sich sicher, oder er hat eine ziemlich hohe Meinung von seinen Kampffähigkeiten. Er sollte wirklich etwas vorsichtiger sein. Du kannst jetzt übrigens aus deinem Versteck kommen.“
Dan Qau sah sich verunsichert um: „Wo…“
„Gib dir keine Mühe, mein Lieber. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du einen imperialen Gardisten entdecken kannst, der das nicht WILL. Ein verborgener Leibwächter – oder Scharfschütze – erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn er auch verborgen BLEIBT.“
„Scharfschütze?!“
„Möglicherweise. Vielleicht. Immerhin HÄTTE es ja sein können, dass Admiral Kern Ramal sich vergisst. Oder jemand anderes versucht, eine vermeintlich günstige Gelegenheit wahrzunehmen. Wir leben in so unsicheren Zeiten…“ Der leicht amüsierte Ton des Thronprätendenten machte es unmöglich festzustellen, ob er seine Worte ernst meinte.
„Ihr hattet damit gerechnet…“
„Sagen wir es mal so, ich plane gerne alle möglichen Eventualitäten ein.“
„Habt Ihr den Admiral deswegen provoziert?“
„Das wäre etwas plump, findest du nicht? Vor allem, wenn meine liebe Cousine dadurch einen der wenigen Charakterköpfe verlieren würde, der vielleicht verhindern kann, dass sie zu einer Marionette der Allecars wird.“
„Und deshalb habt Ihr ihm diese Aufzeichnungen über Dero gegeben. Damit er sie an Tobarii Jockham weitergibt. Und als ein…Symbol. Ein Angebot für die Zukunft…“
„Sehr gut, Dan…“
„Aber warum habt Ihr ihn dann gereizt?“
„Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass fast nichts so gefährlich ist, wie Berechenbarkeit. Soll ich der Wasserträger für einen Bastard und einen verhinderten Gelehrten sein, der Kriegsminister spielt? Das würde mir sowieso niemand glauben. Sie sollen sich bloß nicht zu sicher sein. Das vergrößert die Verhandlungsmasse, mein junger Freund. Keiner bezahlt viel für eine Ware, die er schon zu besitzen glaubt.
Und wenn Kern Ramal wirklich eine…Dummheit versucht hätte, ja dann…“

„Und der letzte Satz eures Lebens wird mit den Worten enden ‚Was passiert wohl, wenn ich diesen Knopf drücke.’“ Commander Galdt, der Befehlshaber von Rallis persönlicher Leibwache, war kleiner als die meisten seiner Kameraden von der imperialen Garde, was allerdings immer noch bedeutete, dass er die meisten Akarii überragte. Galdt war auch in anderer Hinsicht eine Ausnahme. Er hatte als einfacher Soldat angefangen, war deshalb für seinen Dienstrang schon relativ alt und bereits am Ende seiner Aufstiegschancen angelangt. Schon dass er über den Lieutenant hinausgekommen war, verdankte er vor allem auch Rallis Protektion. Dennoch war er in seinen Äußerungen sehr viel freier als es für einen Gardisten eigentlich schicklich war. Aber das schien Rallis eher zu amüsieren.: „Du meinst, das war zu riskant? Mit dir in der Hinterhand? Du verschreckst den armen Dan mit deiner Schwarzseherei. Ich war vollkommen sicher.“
„Es gibt keine vollkommene Sicherheit.“
„Ein Risiko, das wir alle tragen müssen.“, winkte Rallis Thelam ab und wandte sich wieder zu Dan Qau um: „Du musst begreifen, wie instabil die Situation im Augenblick ist.
Wäre meine geliebte Cousine ein Mann, sie wäre längst Imperator. Aber das ist sie nicht, und statt auf dem Thron sitzt sie deshalb nur auf einem Holzschemel.“
Innerlich verdrehte Dan Qau die Augen, beschloss aber mitzuspielen: „Sie ist die Prinzessregentin und Mutter des künftigen Imperators. Ihr gebührt…“
„Dan, um der Götter Willen, nimm das doch nicht so wörtlich!
Normalerweise wären Haus Thelam und seine Verbündeten mächtig genug, um ihren Anspruch abzusichern. Aber da mehrere Thelams Thronansprüche melden und nach Jors Eskapaden das Ansehen der kaiserlichen Linie nicht mehr über jeden Zweifel erhaben scheint, reicht das nicht aus.
Linais Macht stützt sich deshalb auf drei Säulen: Da wären zum einem die Allecars und ihre degenerierten Verbündeten. Eine sehr unzuverlässliche Stütze. Dann ist da der Teil der Streitkräfte, die sich wie dieses alte Fossil Rian und Kern Ramal hinter Linai stellen. Dazu kommt dann natürlich noch ihre Gefolgschaft im Adelsrat – diejenigen, die ihr und Haus Jockham die Treu halten.
Und was glaubst du geschieht, wenn eine dieser Säulen weg bricht? Hast du schon mal versucht, auf einem zweibeinigen Schemel zu sitzen?“
„Ihr meint…“
„Politisch ist es fast egal, wie dieses Hauen und Stechen zwischen den Allecars und unserm bedauernswerten Kriegsminister nebst bastardkaiserlichen Anhang ausgeht.
Zumindest, wenn man das unvermeidliche Ungleichgewicht schnell und entschlossen nutzt.“

Der Commander räusperte sich sarkastisch: „Natürlich im Rahmen der Gesetze und Traditionen. Und im Sinne des Reiches.
Aber warum helft Ihr dann Admiral Ramal und Lord Jockham überhaupt? Ihr könntet euch einfach zurücklehnen und zusehen.“
„Abgesehen davon, dass mir schon schlecht wird, wenn ich nur daran denke, wie der alte Allecar und sein missratener Sohn sich im Thronsaal breitmachen? Dass Ramal, Rian und Tobarii Jockham auf jeden Fall ein starkes Haus Thelam brauchen, während die Allecars unseren Platz an der Spitze über Linais Bett einnehmen wollen?
Manchmal ist Nichtstun das einzig richtige. Aber man muss sich auch einmal aus der Deckung wagen. Sonst verlierst du nicht nur deinen Biss, sondern auch dein Gefolge. Niemand folgt einem Kadaver.“
„Tanzt weiter so auf der Dreeh-Schneide, und Ihr riskiert es, diesen Worten mehr Wahrheit zu verleihen, als euch lieb ist.“ murmelte Commander Galdt, ohne auf eine Antwort zu hoffen.

Tatsächlich winkte Rallis nur ab: „So sehr ich deine politische Weitsicht schätze, im Augenblick bin ich eher an deiner Expertise im Nahkampf interessiert. Ich wollte doch eine aktualisierte Liste der aufsteigenden Sterne am Duell-Himmel…“
„Die möglichst aus dem Hochadel stammen, nicht zu deutlich an Eure Person gebunden sind und die Allecars nicht leiden können? Das grenzt das Feld etwas ein, auch wenn die Garde ein waches Auge auf die Duellszene hat. Immerhin sichern wir viele Übungskämpfe und echte Zweikämpfe ab. Wenn sie denn ordnungsgemäß angemeldet werden. Aber ich sagte Euch schon, wenn ihr ein Duell gewinnen wollt, dann solltet ihr…“
„Ein professioneller Kämpfer – so jemand wie du – wäre einfach zu offensichtlich. Außerdem würde dann vermutlich Herzog Allecar seinem Söhnchen klar machen, dass auch er einen Stellvertreter in den Kampf schickt.
„Vielleicht solltet Ihr erst einmal warten, wie sich Jockham schlägt. Vorausgesetzt es kommt überhaupt zu diesem ominösen Zweikampf, und das alles ist nicht wieder eine grandiose Luftnummer des Hofklatsches.“
„Das glaube ich nicht. Und wenn doch…dann ist die Idee einfach zu gut, um sie nicht zu adaptieren. Also brauche ich diese Liste. Auch um auf Nummer sicher zu gehen.“
„Es gibt ein paar Namen, die sich aufdrängen. Leider ist der Beruf des professionellen Duellanten beim Hochadel vor mindestens ein paar Jahrhunderten aus der Mode gekommen.
Aber da wäre zum Beispiel Yelak Taran. Es gibt nur wenige Familien, die noch älter oder edler zu sein behaupten, als die Tarans. Er ist ein hervorragender Dreeh-Fechter, obwohl er nach meinem Wissen bisher noch kein offizielles Duell bestritten hat. Und laut euren Dossiers verabscheut er Dero Alleacar.“
„Und leider auch den Kriegsminister. Aber er hätte Potential. Vor allem, da sein Bruder den Draned-Sektor kommandiert. Leider ist der wiederum ein Freund von Dero, aber zum Glück ist er ja nicht hier. Yelak KÖNNTE starrköpfig und leidenschaftlich genug sein, um sich über die Familienbande mit den Allecars hinwegzusetzen. Wenn man ihm den richtigen Impuls gibt. Hm…
Und Blut ist allemal dicker als Wasser. Wie auch immer ein Duell ausgehen würde, die Tarans könnten dann wohl kaum darüber hinweggehen, dass einer der ihren den Erben von Haus Allecar niedergemetzelt hat. Oder umgedreht. Uralte Allianzen sind schon aus weniger triftigen Gründen zerbrochen.
Und da Taran den Draned-Sektor…“
„Das könnte einen Bürgerkrieg auslösen!“ Dan Qaus Stimme überschlug sich beinahe.
„Sei kein Narr! Das würde Haus Taran niemals wagen.“
„Diese in den Adel aufgestiegenen Halbbarbaren? Warum nicht? Manche haben schon halb damit gerechnet, dass die Soldaten einer der Randflotten jemanden wie Mokas Taran auf ihr Schild heben und zum Imperator durch das Schwert proklamieren.
Und die Tarans haben sogar schon einmal einen Imperator gestürzt. Zusammen MIT den Allecars.“
„Xias den Blutigen. Aber das ist so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr ist. Und glaubst du etwa, es ist weniger riskant, wenn sich Dero und Tobarii an die Gurgel gehen?“
Commander Galdt schnaubte kurz: „Haus Jockham wird jedenfalls ganz bestimmt keinen Bürgerkrieg anfangen, Hoheit. Setzt auf die Tarans…und Ihr würfelt mit dem Schicksal.“
„Mein vorbildlicher und verantwortungsvoller Leibwächter. Aber du musst mir schon etwas mehr bieten als ein paar alte Geschichten, um mich zu überzeugen. Zum Beispiel jemanden der noch besser dafür geeignet ist, in das Kampfrund geschickt zu werden, falls Dero siegt oder sich diese Gerüchte um Tobariis Duellabsichten tatsächlich als Humbug erweisen.“
„Nun da wäre vielleicht…“

***

„Wie es aussieht, haben wir Zuschauer.“ Maran Otranos Stimme klang beiläufig, aber als Navarr Thelam in die von ihr gewiesene Richtung wandte, wurde seine Miene ernst: „Rallis, mal wieder.“ In der Stimme des kaiserlichen Prinzen schwang eine seltsame Mischung aus wohlwollender Frustration, Belustigung und Anspannung mit.
„Er ist mir ehrlich gesagt manchmal ein klein wenig unheimlich.“ bemerkte Maran, während sie ihr Dreeh in einer fließenden Bewegung in die Scheide schob.
„Weil er versucht hat, sich an dich heran zu machen?“ Navarr grinste abwesend.
„Sehr witzig. Aber wenn ich mich von so etwas verunsichern lassen würde, wäre ich wohl in die falsche Gesellschaftsschicht geboren worden.“
„Und mit dem falschen Gesicht.“
„Danke. Nehme ich mal an.“
„Aber ich weiß, was du meinst. Vor ein paar Monaten hielt ich Rallis für einen jovialen Lebemann. Politisch nicht unbegabt, aber vor allem daran interessiert, es sich gut gehen zu lassen. Aber jetzt, nach Jors Tod…
Plötzlich ist er überall. Im Adelsrat hat er die Hälfte der Reformer auf seiner Seite. Dann ist da seine Position im Wirtschaftsministerium, die Verhandlungen mit der Konföderation…“
„Und seine guten Beziehungen zu der ehemaligen Offiziersfronde gegen Jor. Falls er da nicht schon viel früher seine Finger mit ihm Spiel hatte.
Schau nicht so überrascht. Auch ich habe Ohren. Aber was hast du erwartet? Er ist einer der Thronprätendenten – und ein Thelam. Das verpflichtet.“
„Ein Thelam ist Lisson auch. Aber er ist immer noch das, was er schon vorher war. Ein Gelehrter, ein Professor an der kaiserlichen Universität. Aber Rallis…
Entweder er hat mir – und sehr vielen anderen – die ganze Zeit etwas vorgemacht. Oder er ist doch noch erwachsen geworden.“
Maran Otrano lachte kurz auf: „Dann hätte er sich damit aber ziemlich viel Zeit gelassen.“ Sie musterte den jungen Prinzen aufmerksam: „Und du fragst dich, ob du auch ‚erwachsener’ sein müsstest?
Falls du damit den Kampf um den Thron meinst, dann muss ich dir sagen, dass es da schon reichlich Interessenten gibt. Einige am Hof fragen sich inzwischen vermutlich, wie viele potentielle Imperatoren das Reich überhaupt noch vertragen kann…“
„Ich wüsste nur zu gerne, was Rallis will. Den Thron? Oder nur den Platz HINTER dem Thron? Und wo sieht er mich dabei…
Auf dem Thron? Daneben? Oder darunter – als sein Fußschemel?“
„Ich glaube, jetzt übertreibst du etwas. Wenn er das wollte…“
„Würde er mich nicht in der Öffentlichkeit als seinen Lieblingscousin hofieren und von einer Festlichkeit zur anderen reichen? Na, wer weiß. Aber will er nun meinen Marktwert steigern, oder mich aufbauen?“
„Wenn du meinen Rat hören willst…“
Navarr lächelte entwaffnend: „Auf jeden Fall. Wenigstens möchte dein Haus nicht auch auf den Thron.“
„Jedenfalls nicht auf den Thron des IMPERATORS…“, Maran Otrano grinste etwas sardonisch: „Du solltest dich besser schon darauf vorbereiten, dass einige meiner Sippschaft dir irgendwann ein paar…indiskrete Fragen stellen werden. Wegen mir.“
„Wir sind erwachsen. Und leben nicht mehr in der glorreich-antiquierten Vergangenheit.“
„Sag das mal manchen meiner Onkel und Tanten. Aber um auf Rallis zurückzukommen...
Mein Rat ist folgender. Wenn er dir seine Unterstützung anbietet…dann nimm sie. Zu deinen Bedingungen.
Aber block ihn nicht ab. Denn wenn du ihn zu den Höllen schickst, macht dich das bei den anderen Parteiungen nicht automatisch sympathisch. Sondern vor allem zu einem leichteren Ziel. Und jetzt, da dein Cousin Karrek erst einmal unter der Kontrolle von Großadmiralin Rian steht, wäre es gut, einen Verbündeten zu finden. Wenn die Heere sich sammeln…“
„Wandert es sich schlecht alleine, ich weiß. Aber ich weiß nicht, ob ich Rallis' Weg mitgehen will.“
„Doch vielleicht ist er ja bereit, deinen mitzugehen. Zumindest ein Stück.“
„Hm…“ Navarr Thelam drehte sich zu der Zuschauerloge um, wo Rallis Thelam in ein Gespräch mit seinen Begleitern verwickelt schien.
„Und wenn du mit diesem Ballast in einen Schwertkampf gehst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn du geschlagen wirst.“
„Soviel ich weiß, hatten wir einen Punktegleichstand.“
„Aber ich habe den ersten Treffer angebracht. In einem echten Kampf…“
Als die beiden jungen Adligen das Übungsrund verließen, drehte sich Maran Otrano noch einmal kurz um. Zufall oder nicht, ihr war so als hätte der Thronprätendent ihr kurz zugewinkt.
‚Ja, ich weiß, was du willst. Und ich möchte es ja auch. Aber lass es mich auf meine Art und Weise angehen. Und ich hoffe, du weißt es zu würdigen. Navarr kann viel mehr sein, als du vielleicht denkst…’

Nur wenige Augenblicke später lag das Rund der Arena wieder leer und verlassen. Nur die antiken Kriegerstatuen starrten mit kalten, steinernen Augen auf den Sand, auf dem schon so viele Duelle ausgefochten worden waren. Sie schienen auf etwas zu warten.


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Die Duellkultur der Akarii

Duelle haben auf Akar eine Tradition, die bis in die Frühgeschichte zurückreicht. Bereits in der späten Steinzeit setzen einige Kulturen auf mehr oder weniger ritualisierte Zweikämpfe als Mittel zur Konfliktbeilegung. Spätestens am Ende der Bronzezeit wurden die ersten Kodizes veröffentlicht, die den Ablauf solcher Duelle minutiös regelten. Allerdings sind aus dieser Zeit höchstens Bruchstücke und spätere Abschriften der Kampfregeln erhalten geblieben. Offenbar hatten die Duelle zeitweilig fast den Status eines irdischen Gottesgerichtes. Bis in die Akarii-Klassik war die Anwesenheit eines Priesters teilweise fast obligatorisch (zumindest bei Duellen, die auf Leben und Tod ausgetragen wurden).
Den Gipfel der Vollendung erreichte die Duell-Kultur jedoch Jahrhunderte später, in der frühen Neuzeit von Akar - allerdings auf Kosten einer gewissen Säkularisierung.
Zweikämpfe schlichteten die Streitigkeiten des Adels, versprachen Ruhm und Ansehen, dienten der Verteidigung der eigenen Ehre (oder der anderer), oder sühnten ein Fehlverhalten. Eigens für den Duellkampf wurden diverse Fechtstile entwickelt. Es gab sogar spezielle Kleidungs- und Speisevorschriften für die Duellanten, auch wenn diese inzwischen kaum noch beherzigt werden.

Eine Zeitlang war der ‚Beruf’ des Duellanten bei den nachrangigen oder illegitimen Sprösslingen des Hochadels sehr beliebt – vor allem bei denen, die für einen Dienst in den Streitkräften zu undiszipliniert waren. Inzwischen ist diese Art des Gelderwerbs zwar schon lange aus der Mode gekommen, aber in den Geschichten, Sagen und der Populärkultur Akars haben diese Männer und Frauen eine festen Platz als Helden wie als Schurken.
Dorani Jotari etwa, der ‚Gott im Duellkreis’, der an einem Tag sechs Kämpfe für die Otrano-Familie gewann, zwei davon gegen drei Gegner. Für diese Großtat wurde der fünfte Sohn eines verarmten Provinzadligen von den Otranos adoptiert.
Teleri Davon, die ‚Albtraumbringerin’, war das illegitime Ergebnis der skandalösen Liaison eines Taran-Sprosses. Nachdem sie in einem Kampf für das Haus Allecar alleine gegen sieben Herausforderer antrat und sie besiegte, vermählte der damalige Herzog seinen Zweitgeborenen mit ihr.
Kun Zuuni, aus einer verarmten Seitenlinie seines Klans stammend, war zu seiner Zeit bekannter als der Herzog der Zuunis, und berüchtigt für seine Affären und seine Geschicklichkeit mit dem Sirash-Säbel.
Sogar das Haus Jockham, sonst für Dichter und Intellektuelle bekannt, war stolz auf Gerik Jockham, den ‚fechtenden Philosophen’ mit über dreißig Duellsiegen. Seine melancholischen Gedichte über die Schönheit und Kürze des Lebens werden immer noch verlegt.

Zwar wurden Duelle immer wieder zeitweise und regional verboten, erlebten aber immer wieder eine Renaissance. Auch in den letzten Jahren sind sie besonders unter den jungen Akarii der Oberschicht wieder in Mode gekommen.
Es gab und gibt sie als heimlichen, illegalen Schlagabtausch zwischen zwei Kontrahenten, die sich an einem verborgenen Ort ohne Zeugen trafen, und als fast öffentliche Veranstaltung mit einer mehr oder weniger großen Anzahl Zuschauer.

Es gibt keine festen Richtlinien bezüglich der Satisfaktionsfähigkeit – nicht einmal Nicht-Akarii sind per se ausgeschlossen. In der Realität aber spielt die soziale Stellung eine große Rolle. Von Zivilisten aus dem ‚gemeinen Volk’ erwartet man kaum, dass sie eine Herausforderung annehmen. Außerdem sind die Behörden bei nichtadligen Duellanten rasch mit einem Verbot oder einer Strafanzeige bei der Hand. Und je weiter ein potentieller Duellant über seinem Herausforderer steht, desto einfacher ist es für ihn, die Herausforderung ohne Gesichtsverlust abzulehnen. Eine Herausforderung innerhalb des Offizierskorps oder dem Adel hingegen kann nur sehr schwer ausgeschlagen werden, ohne dass der Betreffende an Ansehen einbüßt.

Ein dem geltenden Komment entsprechendes, ‚legales’ Duell sollte den Behörden gemeldet werden. Mitglieder der lokalen Garnison/Offiziersschule, Sicherheitskräfte oder Gefolgsleute des Schiedsrichters sorgen für die Abschirmung des Kampfplatzes. Der unparteiische Schiedsrichter sollte von Adel, oder zumindest ein aktives oder ehemaliges Mitglied der Streitkräfte sein. Idealerweise hat er selber gewisse Duellerfahrungen. Neben ihm, den Wachen, Zeugen und passiven Sekundanten, die gegebenenfalls für einen verhinderten Duellteilnehmer antreten, ist üblicherweise auch ein Arzt zugegen. Er stellt sicher, dass die Teilnehmer den Kampf freiwillig und im vollen Bewusstsein ihres Tun antreten. Außerdem kümmert er sich um Verletzte - und stellt gegebenenfalls den Tod des Besiegten fest. Allerdings werden heutzutage nur die wenigsten Duelle bis zum Tod ausgefochten. In der Regel endet der Zweikampf mit der ersten Verwundung oder der Aufgabe eines der Duellanten.
Verloren hat üblicherweise auch, wer über die Umrandung gedrängt wird, die das Kampffeld markiert. Üblicherweise ist diese Begrenzung ein gemalter oder in den Boden geritzter Kreis, doch je nach Anzahl und Wunsch der Teilnehmer kann das Kampffeld auch die Gestalt eines Drei- bis Achtecks haben, auch wenn heute nur noch wenige Kämpfer die speziell für diese Form des Kampffeldes entwickelten Fecht- und Bewegungsmuster beherrschen.
Zwar ist das klassische Duell ein Kampf zwischen zwei Kämpfern, doch früher war es nicht unüblich, dass je nach Vereinbahrung einer oder beide Duellanten von aktiven Sekundanten unterstützt wurden, die mit fochten. Die Höchstzahl der insgesamt an einem Duell beteiligten Teilnehmer lag traditionell bei acht – einer für jede Windrichtung. Heute sind solche Massenkämpfe allerdings relativ selten oder haben mehr den Charakter von (meist freundschaftlichen) Übungskämpfen mit scharfen Waffen.

Im Laufe der Zeit hat fast jede Nahkampf- und Projektilwaffe bei Duellen Verwendung gefunden – darunter etliche, von denen man heute nur noch den Namen kennt.
Die meisten Duelle werden jedoch traditionell mit Klingenwaffen ausgetragen. Unangefochtener König des Zweikampfes war und ist (mit kurzen Unterbrechungen) seit Jahrtausenden das anderthalbhändig geführte Drehh-Schwert. Daneben erfreut sich auch der Sirash-Säbel, der To’toc-Streitkolben und der Nakal-Stoßdolch (abnehmender) Beliebtheit und Ansehen.
In der Unterschicht und bei einigen eher unkonventionellen Adligen ist auch die Chark in Gebrauch, eine brutale Nahkampfwaffe, die aus einem waagerechten Handgriff mit ein bis drei mörderischen Sichelklauen besteht. Der Gebrauch anderer Nahkampfwaffen ist ebenso wie der Einsatz von Schilden, Helmen und Rüstungen inzwischen ziemlich aus der Mode gekommen. Das gleiche galt für die früher sehr beliebten Reiterduelle und Zweikämpfe mit Projektilwaffen (Bögen, Speeren etc.).
Waffenlose Zweikämpfe gelten als barbarisch und sind nur bei der Unterschicht beliebt und üblich (manchmal auch bei jungen Adligen, die auf einen Skandal aus sind).
Schusswaffen (vor allem Feuerwaffen, seltener Laser) finden schon seit geraumer Zeit Verwendung, auch wenn einige Traditionalisten darüber die Nase rümpfen. Allerdings ist ihr Gebrauch sehr reglementiert (wegen der größeren Gefahr für Unbeteiligte), was wiederum ihre Beliebtheit bei illegalen Zweikämpfen erhöht.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:28:

 

Schnellen Schrittes betrat Kern Ramal die Eingangshalle der Ramalschen Familienresidenz. Ein Diener in militärischer Livree nahm ihm den Regenmantel ab.
Alles deutete darauf hin, dass die Ramal eine Kriegerfamilie waren oder zumindest gewesen waren. Die Familienresidenz war weniger zu einer Villa verkommen wie die vieler anderer adliger Familien. Statt im prunkvollem Protz begrüßte der Klan der Ramal seine Gäste in einer Waffenkammer, die ein wenig an ein Museum erinnerte.
Rüstungen aus vielen Epochen der akariischen Geschichte waren ausgestellt worden. Jedoch keine funkelnden Kunstgegenstände, sondern gepflegte und instand gehaltene Geschichte der Ramal-Krieger.
Natürlich durften auch die Klingen nicht fehlen und wie die Rüstungen ihrer Träger waren auch sie gepflegt und in scharfen Zustand gehalten worden. Einer von Kerns Freunden hatte es nicht geglaubt, doch ein kurzes Prüfen eines fast antiken Dreehs hatte Blut fließen lassen.
Einige Jahre später hatte Kern hier sein erstes Duell gefochten, unbedachte Worte hatten zu einem hitzigen Streit geführt. Alkoholvernebelte junge Gecken hatten zu Schwertern gegriffen; zum Glück war damals niemand gestorben.
„Wo finde ich meinen Vater?“
„In der oberen Bibliothek My Lord.“
Kern nickte dem Diener zu und machte sich auf den Weg. Die große Treppe hinauf und durch die Ahnengalerie in den gelben Flügel, der auf Kerns Urgroßmutter zurückging.
Die Räumlichkeiten der resoluten Matriarchin waren im Stile der Spätrenaissance eingerichtet. Handgearbeitete Möbel aus Zearfizeder in enger Harmonie mit Fensterrahmen und Türen. Feine Schnitzereien zeigten Themen aus der akariischen Geschichte, eng verwoben mit der Familie Ramal, das Wappen immer wieder dezent eingearbeitet.
Vor der Bibliothek angekommen sammelte sich Kern einmal, richtete seine Uniform und klopfte leise an.
Es dauerte einen Augenblick, ehe die kratzige Stimme des Grafen Ramal erklang: „Herein.“
Leokar Ramal erwartete seinen Besucher auf einer Couch sitzend, einen Computerpad auf dem Schoß und machte auf den ersten Blick den Eindruck als würde er arbeiten.
Zustand der Kleidung und der Kissen auf der Couch sagten Kern jedoch, dass sein Vater wohl eher ein Nickerchen gemacht hatte.
„Kern“, der alte Akarii zeigte ein schon fast jugendliches Lächeln, als er sich erhob und seinen Sohn entgegen kam. Vater und Sohn umarmten sich und drückten die rechten Gesichtshälften aneinander, „was führt Dich zu so früher Stunde und mitten in der Woche zu mir?“
„Ich, hm, war in der Nähe und hatte ein … sehr aufwühlendes Gespräch.“
„Nimm Platz mein Junge, ich habe gestern ein Präsent bekommen, dass ich ungern allein anbrechen möchte“, der alte Ramal holte zwei Trinkschalen und eine grünliche Flasche mit weißen Etikett, auf dem irgendwelche Hieroglyphen abgebildet waren. Erst beim genauen Hinsehen erkannte Kern menschliche Schriftzeichen.
Leokar Ramal schenkte ihnen beiden reichlich ein.
Kern roch an seiner Schale und rümpfte ein wenig die Nase: „Ungewöhnlich.“
„Es ist ein so genannter Whisky, den Namen habe ich wieder vergessen“, sein Vater betrachtete nachdenklich die Flasche, „und beim allen Göttern, das Gekrakel kann kein Akarii lesen.“
„Sabatia da nau*“, Kern hielt seinem Vater die Schale entgegen.
Dieser hob seine Schale ebenfalls: „Gleichfalls.“
Beide Ramals nahmen einen kräftigen Schluck und verzogen das Gesicht.
„Widerlich“, kommentierte Kern, „wer schenkt dir denn so etwas?“
„Scheußlich, geradezu obszön. Viel zu daraki**, Graf Naccuro hatte es von seinem Sohn bekommen, es soll angeblich Kriegsbeute sein.“
Kern stellte seine Schale beiseite und blickte seinen Vater erstaunt an: „Was möchte ein Gefolgsmann der Allecar von Dir?“
„Das was alle von mir möchten“, entgegnete Leokar, „meinen Einfluss auf die Herzogin Zuuni.“
Die beiden blickten sich einen Augenblick an.
„Ein großes Haus wird fallen“, nahm Kern das Gespräch wieder auf.
Sein Vater lachte kurz auf: „Seit der Erfindung der Atombombe ist kein großes Haus mehr gefallen. Verarmt ja, ausgestorben natürlich, innerlich verrottet und möglicherweise bedeutungslos geworden. Aber es fallen heutzutage keine Häuser mehr und kleine Häuser steigen auch so gut wie nicht mehr auf.
Nur noch die wenigsten Häuser leisten sich den Luxus eigener Truppen. Mit zweihundert Soldaten unter Waffen ist Haus Zuuni nach dem Haus Thelam und der Imperialen Armee an dritter Stelle.“
Der alte Akarii unterbrach sich und musterte seinen Sohn: „Die Allecars haben etwas vor, nicht wahr?“
„Die Gerüchte betreffs Dero und Tobarii werden demnächst wahr.“
„Und wenn schon, sollen sie sich umbringen.“
„Tobarii würde dann Imperator durch das Schwert werden“, Kern beugte sich etwas weiter vor.
Sein Vater nickte bedächtig: „Er ist Sohn des Imperators, er hat den höchsten Anspruch und er hätte seinen Platz durch das Schwert verteidigt.“
„Du glaubst, das könnte klappen?“
Leokar nickte: „Entgegen der allgemeinen Meinung gibt es geschichtlich genügend Präzedenzfälle. Mein Namensvetter Leokar Thelam verfügte nach dem Tod seiner drei Söhne, dass der Mann seiner jüngsten Tochter sein Erbe sein sollte. Aus diesem Stammbaum geht der heutige Thronanwärter Lisson Thelam hervor.
Aroeko Perrin hat nach dem Verrat seines ältesten Sohnes alle seine leiblichen Söhne verstoßen, seine Frau als vermeintlich Verantwortliche hinrichten lassen und sich einen imperialen Dispens geben lassen und seinen ältesten unehelichen Sohn als Erben einzusetzen.
Mecilon Gor hat nachdem jeder seiner fünf Söhne eine Frau ehelichte, die laut Meinung des alten Mecilon nicht würdig genug war, seine ältesten Tochter via kaiserlichen Dispens als Erbin einsetzen lassen.
Heute ist es für fast alle Schichten normal, dass Schwiegersöhne wie auch Töchter legitime Erben sind. Kinderlose Paare adoptieren sogar hin und wieder Erben. Du siehst, alles ist möglich.“
„Alles?“
„Nun fast alles. Natürlich hätte Eliak es nicht geschafft seine Tochter an Jor vorbei zur Erbin zu erklären. Aber wäre er nach Jors Tod noch in der Lage gewesen, hätte er einfach einen anderen Erben bestimmen können. Der einfachste wäre zu der Zeit Kerrek gewesen, als Soldat natürlich die naheliegende Wahl. Da wären viele mit unglücklich gewesen aber alle hätten sie nicken müssen.
Linai hätte natürlich einige Proteste gebracht aber imperialer Dispens, ist imperialer Dispens. Tobarii als Schwiegersohn hätte natürlich Verunsicherung nach sich gezogen, wäre aber auch abgenickt worden.
Und dann wäre da natürlich noch eine andere Möglichkeit…“
Kern nickte unbehaglich: „Aber da wäre Kerrek auf die Barrikaden gegangen. Eventuell sogar mit Waffengewalt.“
Sein Vater nickte bedächtig: „Ja, das wäre möglich gewesen. Tatsächlich wäre er wohl auch derjenige, die aktuell wahrscheinlichste Opposition gegen Tobarii. Ihre Hoheit ist äußerst geschickt.“
„Vielleicht nicht geschickt genug“, murmelte Kern.
„Wie meinst Du das?“
„Ganz einfach, wenn Dero und Tobarii aufeinander losgehen, ist es wie eine Party Dabo***, einer wird gewinnen und der andere wird verlieren. Welcher am Ende Sieger ist, werden wir alle erst sehen, wenn der Tanz zu Ende ist.“
„Und Du glaubst Dero ist der überlegene Kämpfer.“
„Unter Umständen. Er ist auf jeden Fall der erfahrenere.“
Der alte Ramal lehnte sich zurück und machte kurz Anstalten nach seiner Trinkschale zu greifen, überlegte es sich jedoch anders: „Ich muss Dir ganz ehrlich gestehen, dass mich in meinem ganzen Leben noch kein Allecar sonderlich beeindruckt hat.“
„Und Jockhams, haben die dich schon mal beeindruckt.“
Leokar machte ein nachdenkliches Gesicht und antwortete bedächtig: „Ja, doch in der Tat ein einziges Mal, als sie es schafften dem alten Eliak Tobarii als Schwiegersohn zu verkaufen.“
Kern musste gegen seinen Willen amüsiert schnaufen.
„Aber Du hast Recht, bei so einem Duell kann alles passieren und einen Akarii der plötzlich um sein Leben kämpfen muss, den sollte man niemals unterschätzen.“
Zum wiederholten Mal fragte sich Kern, ob es nicht ein wenig kurzsichtig von Linai war, IHN Tobariis mangelndes Können Abhilfe zu verschaffen und darauf zu vertrauen, dass Dero Allecar im richtigen Moment einfach stirbt.
Ja, Tobarii hatte sich in mehrfacher Hinsicht als positive Überraschung erwiesen. Das Kriegsministerium leitete er mit lange nicht mehr dagewesener Effizienz und mit der Klinge hatte er sich als Naturtalent erwiesen. Das ersetzte aber keine zehn Jahre kontinuierliches Training. Ob Linai insgeheim hoffte, dass beide Kontrahenten sich gegenseitig umbrachten?


*Trinkspruch: Ehre Dir, dem Tapferen.
**Darakar: Ein akariisches Gewürz dem Salz ähnlich.
*** Dabo: Ein akariisches Glücksspiel


***********


„Pünktlich wie Lone Wolf“, kommentierte Ace mit einem Blick auf die Uhr.
Das brachte dem Interimskommandeur der blauen Schwadron nicht nur einige böse Blicke ein, sondern auch einen guten Teil Lacher.
Irons entschloss sich den Kommentar zu überhören, diesmal. Sie hoffte inständig, dass alle Staffelführer die richtigen Schlüsse daraus ziehen würden, dass schon heute Kali statt Mantis an dieser Besprechung teilnahm.
Stafford hatte ihr eine kurze E-Mail diesbezüglich zukommen lassen. Ach hoffte sie, dass Stafford die Blicke und Gesten zwischen Okha und Kali genauso übersehen würde, wie es scheinbar Meltdown und Lieutenant Commander Arossew von den Rawhides, neben Blackhawk die beiden einzigen verheirateten Staffelführern der Angels, augenscheinlich erging.
Beide quetschten sie gehörig über die Zeit beim Flying Circus aus, während Kali nicht wirklich bei ihnen war.
Stafford kam fast zwanzig Minuten zu spät. Eine Unsitte, die Irons bei Lone Wolf zu hassen gelernt hatte, obwohl es eine der wenigen liebenswerten Eigenschaften ihres ehemaligen Geschwaderführers war, denn er nutzte es nicht wie viele andere Kleinigkeiten um den Leuten zu zeigen wer der Boss war, er hatte es mit der Zeit einfach nicht drauf gehabt.
Als ihr neuer CAG jedoch endlich kam, schob sie allen Ärger beiseite.
„ACHTUNG“, rief sie aus, als sie sich erhob.
Die Unterschiede unter den Staffelführern konnten nicht deutlicher sein. Lilja und Kano standen auf einmal aufrecht und starr wie zwei Ladestöcke.
Keiner der anderen Staffelführer kam da heran, wollten es wahrscheinlich auch nicht. Chief Dodson und Sean Grover machten geradezu einen lässigen Eindruck.
„Rühren, bitte entschuldigen sie meine Verspätung“, Stafford nickte ihr kurz zu und sie begann alle einmal kurz vorzustellen.
Der neue CAG nahm sich die Zeit jeden die Hand zu geben, ehe er auf den Tisch deutete: „Aber nehmen wir doch wieder Platz.“

Jules blickte seinen Staffelführern der Reihe nach noch Mal ins Gesicht: „Auf große Ansprachen denke ich können wir in diesen Rahmen wohl verzichten. Ich habe mir die Statusberichte des Geschwaders durchgesehen und auch wenn ich noch nicht die Zeit hatte, diese bis ins Detail zu sichten, denke ich bin ich recht gut über den Zustand der einzelnen Staffeln informiert. Gibt es irgendetwas, was jemand von ihnen dem letzten Bericht hinzufügen möchte?“
Während Lilja und Meltdown sofort den Kopf schütteln, schien der Rest zumindest kurz einige Anstandssekunden über die Frage nachzudenken, ehe sie ebenfalls verneinten.
„Gut, wir haben ein straffes Programm. Commander Lincoln, obwohl ihre Staffel an den Wiederindienststellungsfeierlichkeiten der Liberty teilnimmt, möchte ich nicht, dass sie sich zu sehr mit Aerobatik oder Kunstflug beschäftigen. Wir werden spätestens morgen Nachmittag mit Defensivmanövern beginnen. Aggressives Abfangen und Punktverteidigung. Daran werden alle Teilnehmen, das betrifft auch die Butcher Bears.“
Blackhawk und Kano bestätigten kurz.
„Sie haben eine Frage Lieutenant Nakakura?“
„Ja, Sir, sie erwähnen meine Staffel speziell: Warum?“
Jules nickte: „Die Bears müssen sich weiterhin auf die Testeinsätze mit den Arrows vorbereiten. Das betrifft auch die Red Sun Spirit, Commander Mitra, ich habe uns als Reserve dafür eingeteilt.“
„Selbstverständlich, Skipper“, bestätigte Kali.
Jules entging der Blick nicht, den Lilja ihr daraufhin zuwarf. Eine Freundin von Mantis?
„Sind irgendwelche Latrinenparolen im Umlauf wohin es für uns als nächstes geht?“ war Jules nächste Frage.
„Negativ, CAG“, antwortete ihm Irons.
„Sir“, Blackhawk hob leicht die Hand, „Commander McGill informierte mich, dass wir ebenfalls einige Testrunden mit den Arrows machen sollen, das könnte alles in allem etwas eng werden.“
„In der Tat“, bestätigte der neue CAG, „und ich würde die Jaguars auch gerne von der Flugshow abziehen und ihnen für die Waffentests mehr Vorbereitungszeit einräumen aber ich glaube es wäre für das Geschwader ganz gut, wenn wir dabei mitwirken. Sie bekommen aber im Anschluss genug Zeit sich auf die Arrows vorzubereiten.“
„Danke, Sir.“
„Zwei weitere Neuerungen für sie alle. Erstens: Ich bin der Ansicht, dass junge Piloten nicht früh genug Erfahrung als Rottenführer sammeln sollten. Daher möchte ich, dass sie dementsprechend einteilen, wenn die Lage es zulässt und sie beim Gedanken daran einem Rookie die Führung zu übergeben schweißgebadet aufwachen. Es versteht sich von selbst, dass diese dann einen erfahrenen Piloten als Rottenflieger bekommen.
Nummer zwei: Zukünftig wird jede Staffel einen CAG-Bird zur Verfügung stellen. Ob dieser in der Reserve steht oder ob sie einen Freiwilligen dafür finden, überlasse ich ihnen. Stellen sie sich jedoch darauf ein, dass ich hin und wieder bei ihnen zu Gast bin.
Das ermöglicht es mir, zum einen weiterhin Praxis auf den unterschiedlichen Mustern zu behalten und natürlich lerne ich so meine Staffelführer besser kennen.“
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, sorgte diese Ankündigung für einige lange Gesichter.
„Gibt es aktuell noch Fragen?“
„Wir brauchen noch einen Operationsoffizier, Sir“, warf Razor ein.
„Bis zur Indienststellung der Liberty werden sie diesen Posten bekleiden, anschließend übernimmt Commander Grover diesen. Einwände?“
Beide Offiziere schüttelten den Kopf.
Dodson räusperte sich kurz: „Konnten Sie mit Admiral Girad schon über die Aufstockung des technischen Personals sprechen, Sir?“
„Ich habe sie zwar darauf angesprochen und das Thema war heute Abend schon Trumpf aber ich habe das Gefühl, dort am Ball bleiben zu müssen.“
„Was wird mit Mantis?“
Das war jetzt unangenehm aber wohl unvermeidlich. Jules blickte den Fragesteller direkt an, doch leider kannte er diesen noch nicht gut genug um zu erahnen, worum es bei dieser Frage wirklich ging. Der Ton ließ ein wenig Trotz erkennen: „Um ganz ehrlich zu sein, Lieutenant Davis, Commander Shaw passt nicht in mein Team, also wird sie versetzt. Wie sie selbst schon mehrmals beantragt hat.“
Jules musterte seine Staffelführer erneut und er hoffte, dass sie alle genug Profi waren, die Botschaft zu erkennen und zu akzeptieren.
„Wenn das dann alles wäre, morgen um null-siebenhundert ist die offizielle Kommandoübernahme, Dienstuniform ohne Obstsalat****, sie können dann wegtreten.“


****Obstsalat: Britischer Slang für Ordensspangen und Kampagnenabzeichen



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:28:

 

TRS COLUMBIA

Cartmell blockte die auf sein Gesicht zielende Holz‘klinge’, fast mühelos ab und lenkte sie zur Seite. Nach fast anderthalb Jahren Training brachte ihn so ein Angriff nicht mehr in Bedrängnis. Wa ihn überraschte, das war der gepanzerte Ellbogen, der in das Visier seines Gesichtsschutzes krachte, den Helm verrutschen und ihn zurückzucken ließ. Ein Ausfallschritt zur Seite stabilisierte Cartmells Stand, aber seine Konzentration war dahin.
Die beiden Kämpfer waren sich jetzt eigentlich zu nahe, um ihre Waffen sicher zu führen. Cartmell versuchte, den Gegner dank seiner überlegenen Körperkraft zurückzustoßen. Wütend und wenig elegant lenkte er seine Waffe nach unten, registrierte mit einer grimmiger Befriedigung wie sie auf den Oberschenkel seines Kontrahenten zielte – und erstarrte, als die ‚Klinge’ seines Gegners sacht gegen seinen gepanzerten Hals tippte. Kano hielt seine Waffe in einem unorthodox wirkenden Griff – eine Hand am Schwertheft, die andere flach auf dem Rücken der ‚Schneide’. Cartmells Shinai prallte mit einem dumpfen Knall auf Kanos Oberschenkel – leider um einen entscheidenden Sekundenbruchteil zu spät. „Verdammt!“ Wie auf Kommando traten die beiden Kämpfer einen Schritt zurück. Kano verneigte sich flüssig, während Cartmells Bewegungen etwas weniger formvollendet waren.
In der kleinen Runde neugieriger Zuschauer flackerte kurz Applaus auf, begleitete von ein paar spöttischen Kommentaren. Aber inzwischen waren die ‚Duelle’ von Kanos Kendo-Gruppe schon lange keine Neuheit mehr, und kurz darauf waren die beiden Kämpfer alleine.

„Das war aber nicht nach dem Lehrbuch. Was war denn das für ein Manöver?“
Kano nahm den Helm ab und Cartmell registrierte befriedigt, dass der Kommandeur der Butcher Bears außer Atem schien: „Vergiss nicht, das ist Neo-Kendo. Und das bedeutet den Einsatz des ganzen Körpers.“
„Trotzdem, das war ein wenig…“
„Wirkungsvoll?“
„Ich wollte sagen ‚unelegant’. Und immerhin habe ich dich auch getroffen.“
Kano nickte: „Und in einem echten Kampf hättest du mir wahrscheinlich eine Wunde zugefügt. Aber das würde dir nichts mehr nutzen. Denn du wärst tot gewesen. Manchmal ist es notwendig, dem Gegner einen Treffer zu erlauben. Jeder Sieg, der etwas bedeutet, fordert auch ein Opfer.“
„Wirst du deshalb so oft aus der Maschine geschossen?“
Kano lächelte kurz: „Eine interessante Analogie.“
„Also gut, was habe ich diesmal falsch gemacht? Abgesehen von der fehlenden Bereitschaft, mich von dir filetieren zu lassen, um einen Siegtreffer landen zu können.“
„Der Schlag ins Gesicht hat dich abgelenkt und deine Konzentration zerbrochen. Und vor allem bist du zornig geworden. Das war dein Fehler.“
„Sag mir etwas, was ich noch nicht weiß.“
„Du wirst besser. Vor einem halben Jahr hätte ich es noch nicht nötig gehabt, dir einen Treffer zu erlauben.“
„Danke.“ Cartmell schaffte es nicht ganz, die Freude über Kanos Urteil aus seiner Stimme herauszuhalten. Der japanische Pilot war jünger als er, und in mancherlei Hinsicht weniger lebenserfahren. Auf der anderen Seite hatte er 42 Abschüsse und eine eigene Staffel vorzuweisen – und beim Kendo war er der inoffizielle und (fast) ungeschlagene Champion der COLUMBIA.
„Aber du könntest noch besser werden, wenn du dich nicht von deinen Gefühlen ablenken lassen würdest. Wut, Frustration, Stolz, Kummer, Angst…das müssen für dich die Emotionen eines Fremden sein. Sie dürfen keine Rolle spielen. Dann kannst du siegen…“, Kano hielt kurz inne und überraschte seinen Gegner mit einem fast übermütig wirkenden Grinsen: „Na ja, vielleicht nicht gegen mich, aber ansonsten…“
„Wie war das mit dem Stolz? Und ich dachte immer, dass Angst am Leben hält. Und Hass beflügelt. Frag Lilja.“
„Ich wusste nicht, dass du sie als Vorbild ansiehst. Auch wenn es schlechtere gibt. Aber Wut hilft dir nicht, wenn sie dein Handeln diktiert und dich blind für die Wirklichkeit macht.“
Cartmell fragte sich, ob Kano ihm mal wieder einen nicht allzu subtilen Ratschlag zu geben versuchte. Es wäre nicht das erste Mal. Allerdings waren sie nicht wirklich Freunde, und auch nach so langer Zeit war ihm Ohkas Bushido-Variante fremd.
„Vergiss niemals, es gibt nur dich…“
„Ich weiß, ich weiß. Mich und mein Schwert.“
„Nein, das ist so nicht ganz richtig. Oder jedenfalls ist es nur der erste Schritt. Der nächste Schritt ist eine andere Wahrheit. Es gibt nur dich…und deinen Gegner. Denn dein Schwert ist Teil deines Körpers, so wie du die Waffe deines Feindes als einen Teil von ihm begreifen musst. Tust du das nicht, wirst du scheitern. Schau nicht auf die Waffe. Schau auf den ganzen Körper.“
„Und was ist dann der nächste Schritt?“
„Auf der nächsten Stufe gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dir und dem Gegner. Auf der Ebene des Kampfes seid ihr EIN Körper und du kannst jede seiner Bewegungen und Manöver fühlen und lenken, als wären sie deine eigenen.“

Cartmell wusste nicht, ob er diese leicht mystisch angehauchten Worte nickend akzeptieren oder die Augen verdrehen sollte. Eine spöttische Stimme schnitt durch seine Gedanken und enthob ihn der Entscheidung: „Wenn du Frust abbauen willst, würde ich nicht gerade mit Ohka die Klingen kreuzen, ‚Joystick’. Das einzige, was du davon hast, ist ein zurechtgestutztes Selbstwertgefühl.“ Huntress Tonfall schien allerdings nahezulegen, dass das nicht unbedingt schlecht wäre.
Der ehemalige Bewährungspilot drehte sich wegen seinem Körperpanzer etwas schwerfällig zu Kanos Stellvertreterin um und musterte sie. Da sich ihre Bekleidung auf Shorts und ein Sport-Shirt beschränkte, gab es allerdings auch einiges zu sehen.
„Es heißt ‚Stuntman’…“, Cartmell wusste, dass einige Piloten seit seinem ‚Tandemflug’ mit Ace einen neuen Spitznamen für ihn gefunden hatten, auch wenn ihn bisher nur wenige in seiner Gegenwart benutzt hatten: „…und falls das eine Einladung zu einer anderen Art von Stressabbau ist…“
Huntress musterte ihn eingehend, obwohl sie wegen seines schweren Bogu deutlich weniger anzusehen hatte. Ihre leicht angeraute Stimme gewann kurz eine süßliche Note: „Nicht mal wenn du der letzte Mann auf diesem Schiff wärst. Und hat dir noch niemand gesagt, dass eine Niederlage ziemlich unsexy macht? Falls du aber auf die Mitleidtour hoffst…“
„Sind Sie eigentlich nur hierhergekommen, um sich zu streiten, Lieutenant Agyris?“ In Kanos Stimme klang schwach so etwas wie duldsames Amüsement mit. Aber nur, wenn man sehr genau hinhörte.
„Warum sollten Sie der einzige sein, der sich Zeit für den Dojo nimmt? Sie müssen mir mal erzählen, wie sie das mit unseren ganzen Sonderpflichten unter einen Hut bringen. Einfach auf den Schlaf verzichten oder so…“

Agyris hatte nicht unrecht. Kanos knapp bemessene Freizeit war durch Commander Deckers Arrow-Erprobungskommando noch weiter zusammengeschmolzen. Die Ankunft des neuen Geschwaderchefs hatte den Druck weiter erhöht, zumal Kano – wie Ace – als Staffelführer immer noch auf Bewährung war.
Und Staffords Anordnung, geeignete Flügelmänner und –frauen gelegentlich als Rottenführer fliegen zu lassen, bedeutete zusätzliche Arbeit. Piloten wie Submarine, Spacer und vor allem Bunny waren zweifellos bereit dafür. Bei Flyboy und besonders Kanos neuem Flügelmann Rerun hatte der Staffelführer hingegen gewisse Zweifel, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Flyboy fehlte immer noch Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein, Rerun Erfahrung und Können. Und Marat war zu unbesonnen, ohne seine Hitzköpfigkeit durch herausragende Anlagen oder umfangreiche Kampferfahrung ausgleichen zu können.
Dennoch würde Kano auch diese Piloten nicht einfach kommentarlos aus Staffords ‚Drehtür-Programm’ heraushalten. Unzufriedenheit oder ein beschädigtes Selbstwertgefühl konnte sowohl das Staffelklima als auch die Flugleistung beeinträchtigen. Und zu allem Überfluss hatte er einige…starke…Charakter in seiner Staffel, die eine zeitweilige Zurückstufung hinter nicht als ebenbürtig angesehene Piloten kaum positiv aufnehmen würden.

Einer dieser potentiellen Problemkandidaten war Huntress, auch wenn sie bisher in dieser Hinsicht noch kein Theater gemacht hatte. Außer man rechnete ihre spitzen bis anzüglichen Bemerkungen dazu. Aber die waren wohl eher ihrem Naturell geschuldet.
„Ich bin jedenfalls nicht hierhergekommen, um zuzusehen, wie Sie mal wieder einen ihrer Fechtfreunde zurechtstutzen. Auf die Dauer wird das langweilig…“
„Ich glaube, sie steht auf dich, Ohka.“ spottete Cartmell: „Das wird Kali aber gar nicht gefallen.“ Kanos Antwort war ein ausdruckloser Blick. Er gab nicht viel auf Gerüchte, hatte aber den Verdacht, dass Cartmell sich schon mal in das zeitweilig nicht ganz klare Beziehungsgeflecht zwischen Kano, Kali und Ace eingemischt hatte. Etwas, was ihn nun wirklich überhaupt nichts anging.

Huntress hingegen lachte: „Die dürfte momentan eher überlegen, wie sie ein Blue on Blue arrangieren kann, damit sie endlich ihre eigene Schwadron bekommt. Sie KÖNNTE den Stein des Anstoßes natürlich auch einfach erschießen und dann auf berechtigte Notwehr plädieren. Das soll schon mal funktioniert haben…“
Cartmell überraschte sich selber, wie er kurz auflachte. Aber Huntress konnte tatsächlich witzig sein. Und einer Frau die SO aussah, nahm man bissige Bemerkungen irgendwie nicht ganz so übel wie etwa dem fast unbetrauert verblichenen Radio.
Kano wirkte eher genervt: „Ich habe Ihnen doch schon mal gesagt, sie sollten sich mit ihren Sotissen zu Commander Stafford zurückhalten.“
„Den Namen haben Sie ins Spiel gebracht. Und wann haben Sie eigentlich genug von dem Spielen mit Holzschwertern und liefern uns einen Kampf mit ECHTEN Klingen?“ Sie warf Stuntman einen etwas abschätzigen Blick zu: „Nur nicht gerade gegen ihn.“
Kurz huschte eine Emotion über Kanos Gesicht, die Cartmell nicht einordnen konnte, dann schüttelte der Kommandeur der Butcher Bears den Kopf: „Das wird nicht passieren. Es gibt niemanden an Bord der COLUMBIA, der gegen mich antreten wird.“
„Weil Sie so gut sind.“, spottete Huntress.
„Auch. Und ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt. Weil es zu riskant wäre. Ein Kampf mit echten Klingen ist kein Spiel. Und auch kein Schauraufen. Ein Duell zu wagen, wenn nicht beide Kontrahenten dazu bereit sind, ist nicht nur für beide gefährlich. Es wäre ganz einfach nicht richtig. Es ist…“ Er murmelte ein paar Worte auf Japanisch und schloss etwas unbeholfen: „…unwürdig.“
Huntress Konter überraschte Cartmell, der den Eindruck gewann, dass dies die Fortsetzung einer früheren Unterhaltung war:„Ich wüsste nicht, dass Sie Hemmungen hatten, ein feindliches Shuttle oder Frachter zusammenzuschießen.“
Kano verzog kurz den Mund: „Und wenn ich ein Schwert in der Hand habe und mich gegen einen Angreifer verteidigen müsste, dann würde ich auch nicht fragen, ob er mit ebenbürtig ist. Aber das ist etwas anderes – so wie der Krieg etwas anderes ist.“
„Also langsam bekommt das Ganze für mich eine etwas zu metaphysische Note.“, spottete Cartmell. Das alles erinnerte ihn irgendwie an das Hickhack zwischen Lilja und Ace.
Vielleicht reizte Huntress an dem Kommandeur der Butcher Bears das gleiche, was Ace bei Lilja anziehend fand. Dass beide so harte Brocken waren. Ansonsten war ihm das Ganze ziemlich rätselhaft. Er nickte Kano noch einmal kurz zu, der den Gruß abwesend erwiderte, die Gedanken offensichtlich woanders.
„Also, was ist?“ Kano trommelte auf den Heft seines Shinai.
„Muss es immer um Sie gehen? Eigentlich wollte ich mich mit ein paar von den anderen treffen, um etwas Dampf abzulassen. Sie brauchen nicht so streng zu schauen – ich meine im Kampfring. Ein gesunder Körper, ein gesunder Geist und so weiter…“ Sie machte eine ausholende Handbewegung.

Tatsächlich waren die beiden nicht die einzigen Piloten der Angry Angels, die ihre Freizeit für etwas körperliche Ertüchtigung nutzten. Auch die Butcher Bears waren gut vertreten, woran Kano nicht ganz unschuldig war. Darkness und Lone Wolf hatten das als eher zweitrangig für den Staffelgeist angesehen, aber Monty hatte Wert auf die sportliche Fitness seiner Untergebenen gelegt. Piloten mussten – oder sollten – ohnehin sportlich sein, aber viele gingen über die Mindestanforderungen hinaus. Für manche war der Sport ein Ausgleich, eine Abwechslung – und für andere eine Möglichkeit, Reflexe und Ausdauer zu schulen, die auch einen Raumkampf entscheiden konnten. Kano sah Top Gun und Phoenix, die zuvor seinem Übungskampf mit Cartmell zugeschaut hatten. Und da drüben absolvierte Flyboy eine Reihe von Tai-Chi Chuan-Formen, während sich ihre Rottenführerin Sugar an einem Punchingball abarbeitete.

„Schade für sie, dass man die Dinger nicht als Akariiköpfe herausgibt.“ bemerkte Huntress, die Kanos Blick registriert hatte.
Der Staffelchef lächelte flüchtig „Ich dachte, ich hätte so eine Variante im Grauen Sektor von Seafort gesehen.“ Als er sich allerdings erinnerte, dass sein Besuch dort zwei Männern das Leben gekostet hatte, schmierte seine Laune genauso schnell ab, wie ein antriebsloser Raumjäger in der Atmosphäre.
Huntress bemerkte den Stimmungsumschwung nicht, oder ignorierte ihn: „Dann weiß ich ja, was ich Sugar zum Geburtstag schenken kann. Hm. Wenn man sich die beiden so ansieht, vielleicht sollten Sie Flyboy und Sugar auch mal in den Ring schicken. Das könnte ihnen helfen.“
Kano runzelte abgelenkt die Stirn: „Ich habe keine Ahnung, was Sie damit meinen.“
„Nein, das haben Sie vermutlich wirklich nicht.“
„Ich glaube, ich habe genug Zeit für nicht dienstrelevante Dinge vergeudet. Allerdings habe ich den Eindruck, dass Sie mir noch etwas verheimlichen. Gibt es also noch etwas WICHTIGES?“
Huntress lachte auf: „Für jemanden, der als ziemlich unsensibel in zwischenmenschlichen Dingen gilt, haben Sie eine gute Beobachtungsgabe. Sie müssen darauf achten, dass Sie nicht ihre Reputation gefährden.
Da Sie aber schon fragen…Decker will Sie sehen. Es geht um die Simulationsprofile für den Arrow-Einsatz. Und die Frage, wer die kostbaren Eier als erster einsetzen kann.“
Kano verzog kurz den Mund: „Da haben wir hoffentlich auch noch ein Wort mitzureden.“
„Sagen Sie ihm das aber besser auch…“, spottete Huntress: „Er schiebt natürlich immer noch Frust, weil er die Bordtechs an den Hacken hat. Vermutlich braucht er also auch jemanden, bei dem er seine Enttäuschung abladen kann.“
„Ich werde daran denken. Er hätte mich aber auch einfach über das Komm rufen können.“
„Offensichtlich hat er mich mit einem Meldegasten verwechselt. Oder er hofft, so Stafford und unseren Chief umgehen zu können.“

Tatsächlich machte Commander Decker keinen Hehl daraus, was er von den ihm von dem Geschwaderchef diktierten Beschränkungen und Richtlinien hielt und umging sie wo immer es möglich war. Kano war sich nicht sicher, ob Decker sein Revier verteidigen wollte, oder tatsächlich ein Sicherheitsleck oder die in seinen Augen mangelnde Kompetenz der Bordtechs fürchtete. Bisher war zwar der große Krach mit Stafford ausgeblieben, aber Kano wartete nur darauf, dass die beiden noch einmal ernsthaft aneinandergerieten.

„Dann hätten Sie sich den Weg sparen und mich anrufen können.“
„Wie gesagt, ich wollte sowieso in den Dojo. Am liebsten hätte ich diesem aufgeblasenen Wichtigtuer ja gesagt, was er mich mal kann. Aber bei seinem Ego hätte er das vielleicht als Einladung verstanden. Und vermutlich wäre es meiner Kariere nicht unbedingt förderlich, wenn ich einem Vorgesetzten das Knie in die Eier rammen müsste.“
Kano verdrehte kurz die Augen, während er den Schutzpanzer ablegte: „Bei Ihrer Ausdrucksweise möchte ich nicht wissen, was Sie hinter meinem Rücken über mich reden.“
„Tja…“, Huntress dehnte die Silbe bedeutungsvoll, „Aber immerhin hat Decker ein Herz für Welpen. Er muss also nicht immer ein Arschloch sein. Zumindest Ihrem Flügelmann gegenüber.“

Rerun, dessen fliegerische Fähigkeiten Kano als höchstens mittelmäßig einschätzte, hatte sich als ungewöhnlich talentiert bei der technischen Seite des Arrows-Erprobungsprogramms erwiesen. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass er sich bei der Handelsmarine ein umfassenderes technisches Wissen erworben hatte, als es bei den meisten Piloten üblich war.
Und obwohl Commander Decker Dodsons Abteilung nicht weiter zu trauen schien, als er den Chief gerne werfen würde, hatte er gegenüber einem begeisterungsfähigen, höflichen und talentierten Amateurtech weniger Vorurteile. Zumindest solange der nichts auf eigene Faust unternahm. Offenbar war Decker der Meinung, dass technische Fähigkeiten eine Begabung waren.
Da Kano von Darkness, Monty und auch Lone Wolf gelernt hatte, die Talente von Untergebenen optimal zu nutzen, hatte er keine Einwände dagegen, dass Decker sich Rerun gelegentlich ‚auslieh’. Den anstrengenden Chef der Arrows-Erprobungsabteilung bei Laune zu halten, würde sich noch auszahlen. Und vielleicht konnte er so ja auch noch den einen oder anderen Einblick in das Arrows-Programm bekommen, der ihm sonst verborgen geblieben wäre. Kano erinnerte sich noch gut an die Probleme mit der überhasteten Einführung der Hydra-Raketen und des Trackballs…

„Dann will ich Decker mal nicht länger warten lassen, als Sie es schon einrichten konnten. Gibt es sonst noch etwas?“
„Vermutlich sollte ich Sie noch daran erinnern, dass wir in zwei Stunden eine Übung mit Staffel Grün und Gelb haben. Die Eisprinzessin wartet bestimmt nicht gerne. So können Sie Decker loswerden, wenn der mal wieder kein Ende findet.“
„Wir haben viel zu selten die Gelegenheit für so eine Großübung. Ich werde pünktlich sein. Bei der Gelegenheit können wir vielleicht auch Commander Staffords Idee austesten und ein paar Flügelpiloten in die erste Reihe schieben.“
„Aber nur, wenn die anderen das auch machen. Ich habe keine Lust, mir wegen den Geistesblitzen unseres Beute-TSNlers den Geschwaderdurchschnitt versauen zu lassen.“
Kano lächelte knapp: „Ich bin der erste, der Ihnen damit recht gibt, dass es so etwas wie ‚nur eine Übung’ nicht gibt. Aber falls der Rottenführerwechsel dadurch bei einem Schlagabtausch mit den Akarii besser funktioniert, zahle ich diesen Preis gerne. Und zumindest in einer Hinsicht hat Commander Stafford Recht. Wir haben ein paar Piloten, die dringend mehr Erfahrung im Führen gebrauchen können.“
„Hm…Solange sie dann nicht zu qualifiziert für den Posten als Katschmarek sind und der nächsten Auskämmaktion für ein anderes Geschwader zum Opfer fallen.“

Auch damit hatte Huntress nicht ganz Unrecht. Schon viele Staffelführer hatten erleben müssen, dass fähige Piloten zu anderen Einheiten abkommandiert wurden, weil sie ‚zu gut’ für ihre bisherige Position waren – oder ein anderes Geschwader weiter oben auf der Prioritätsliste stand. Das hatte sogar schon dazu geführt, dass einige Kommandeure die Führungsfähigkeit von Untergebenen schlechter bewerteten, um sie zu behalten. Das konnte natürlich Ärger geben und war zudem dem Staffelklima nicht unbedingt zuträglich, wenn es nicht mit dem Wissen der ‚Abgeschriebenen’ geschah oder ihr Stillhalten durch andere Vorteile oder eine Auszeichnung ausgeglichen wurde. Aber offenbar war es so manchem Offizier das Risiko wert. Kano hätte so etwas wahrscheinlich nicht einmal erwogen – so etwas vertrug sich nicht mit seinen Vorstellungen von Pflicht und korrektem Verhalten – aber bei anderen Offizieren der Angry Angels war er sich da nicht so sicher.

„Ich glaube nicht, dass wir uns so bald um eine Abkommandierung Sorgen machen müssen. Nicht, wenn der Elitestatus der Angry Angels noch etwas wert ist.“
„Ihre…Freundin wäre immerhin beinahe auf Dauer beim Flying Circus gelandet. Wenn die Akarii deren Träger nicht derart zusammengeschossen hätten…
Wir sollten wir uns wohl etwas anstrengen, dass wir unserem Ruf wieder gerecht werden.“

Auch das stimmte leider. In der letzten Zeit hatte das Geschwader nicht gerade geglänzt – und dass die TSN insgesamt nur mittelmäßig abgeschnitten hatte, war da kein Trost. Die Siege der Vergangenheit gerieten schon in Vergessenheit und es ging bereits das böse Bonmot um, dass die TSN wohl nur noch über ehemalige Verbündete zu siegen verstände.

„Ihre Zuversicht in die Zukunft ist beruhigend. Ich verlasse mich darauf, dass wir auch dank Ihnen dieses Schicksal abwenden können. Falls Sie Vorschläge haben sollten, wie wir diesen Krieg gewinnen können...“ bemerkte Kano trocken: „Inzwischen…“
„Ich weiß, ich weiß. Keine bösen Worte mehr über Stafford und keine anderen Piloten als Sparringpartner verbeulen.“
„Und falls La Reine ebenfalls etwas ‚Dampf ablassen’ will, schlagen Sie ihr doch lieber ein Hallentennismatch vor, ja?“
„Witzig. Und Sie lächeln sogar beinahe.“
Kano unterdrückte den Impuls, erneut die Augen zu verdrehen, und ging mit einem „Wir sehen uns in zwei Stunden im Besprechungsraum...“. Huntress spöttische Verbeugung ignorierte er.

Seine Stellvertreterin kam zu dem Schluss, dass sie nach Punkten gesiegt hatte. Als sie sich umdrehte, kreuzte ihr Blick den von Phoenix, der neben einem von Top Gun festgehaltenen Sandsack stand und sie spöttisch musterte: „Warum bringt ihr beiden es nicht einfach hinter euch und macht dann ohne dieses verbale Vorspiel weiter?“
„Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“ konterte Huntress: „Weißt du, ich KANN mich mit jemanden unterhalten, ohne mit ihm in die Falle hüpfen zu wollen.“
„Aber sicher doch.“
Huntress ignorierte ihn demonstrativ und begann ihre Muskeln zu lockern, während Phoenix sich wieder dem Sandsack zuwandte, und ihn mit einer Serie wuchtiger Hiebe eindeckte. Lange konnte sie allerdings nicht den Mund halten: „Es wäre doch irgendwie fordernder, wenn der sich wehren könnte.“
Der ehemalige Marinekorps-Pilot drehte sich nicht einmal um: „Frag Top Gun.“
Der nickte knapp: „Wir hatten schon eine Runde. Für einen alten Jarhead schlägt er ganz schön zu.“
„Vielleicht versuche ich es ja auch mal…“
Phoenix schüttelte den Kopf: „Nein. Such dir jemand anderen.“
„Weil ich eine Frau bin?“ spottete Huntress.
„Ich komme aus dem Korps, nicht von den Amish. Bei uns kämpfen auch Frauen – nur seit etwa siebenhundert Jahren, weißt du? Aber ich habe es mir zur Regel gemacht, niemals einen Vorgesetzten zu verprügeln. Das schafft nur Probleme. Genauso, wie mit ihr…“
„Als würde das jemals passieren.“
„Ich stände zur Verfügung.“ schaltete sich Top Gun amüsiert ein, was Phoenix mit einem spöttischen Schnauben quittierte.
Huntress Blick hatte etwas von einer Katze, die ein neues Spielzeug beäugte: „Was jetzt? Das Kämpfen, oder…“
„Such es dir aus. Aber für Alternativvorschlag Zwei sollten wir vielleicht einen weniger öffentlichen Ort aussuchen.“
„O. K. Versuchen wir es – das KÄMPFEN. Du brauchst also gar nicht so blöd zu grinsen, Phoenix. Wie wäre es, wenn du dich stattdessen nützlich machst.“ Sie deutete auf die in die Wände des Dojos eingelassenen Spinde, in denen die Kampfsportausrüstung lagerte.
„Hast du Angst, dir dein hübsches Gesicht zu ruinieren?“
„Im Gegensatz zu dir, wo es nichts mehr zu verunstalten gibt?
Außerdem hat Top Gun vielleicht noch ein PAAR unbeschädigte Neuronen im Kopf, die ich ihm nicht unbedingt zu Brei schlagen möchte. Bei dir, ja da besteht das Risiko nicht. Ihr Jarheads…“
Phoenix schnaubte erneut, diesmal abfällig, holte aber tatsächlich zwei Kopfschützer, die er den beiden anderen Piloten zuwarf: „Viel Spaß beim Spielen.“
„Werde ich haben. Jedenfalls mehr als er.“ verkündete Huntress siegesbewusst.
Top Gun wirkte davon allerdings wenig beeindruckt: „Wie wäre es, wenn wir dem ganzen etwas mehr…Pfiff verleihen.
Drei Runden. Und wer die meisten Treffer landet, hat einen Wunsch frei.“
Phoenix lachte jäh auf: „Ich hab gehört, so kriegt Ace seine ‚Abschüsse’. Wie wäre es eher mit ein paar Blumen?“
Huntress ignorierte ihn und musterte Top Gun nachdenklich, während sie locker vor und zurück tänzelte um ihre Beweglichkeit zu testen: „Unser Beute-TSN’ler Nummer Zwo will also spielen. Bist du dir wirklich sicher, dass du mit dem fertig wirst, was du dir da auflädst?“
„Du scheinst ja sehr sicher zu sein, dass du gewinnst.“
Sie grinste amüsiert: „Oh nein. Ich meinte eigentlich, selbst WENN du gewinnst…“

***

Knapp zwei Stunden später

Kano musterte Top Gun etwas überrascht: „Sie sind also der Meinung, dass Submarine für die nächsten fünf Übungen als ihr Rottenführer fliegen sollte.“
„Ja, Sir.“
„So was habe normalerweise ich zu entscheiden, aber wenn Sie sich schon freiwillig melden...
Submarine kann die Führungserfahrung gebrauchen. Ich werden Ihnen beiden noch ein paar zusätzliche Übungslektionen zuweisen. Sprechen Sie sich mit Huntress ab – ich will nicht, dass die Performance ihrer Sektion darunter leidet.“
„Sie weiß bereits Bescheid.“
„Hm.“ Kurz zuckte es um Kanos Mundwinkel: „Falls das ihre Idee war, scheint sie ja recht…überzeugende Argumente angewendet zu haben. Ich wusste nicht, dass sie SO gut ist.“
„Das war auch für mich eine Überraschung.“ antwortete Top Gun mit ausdrucksloser Miene. Seine Stimme klang etwas undeutlich. Möglicherweise hing das auch mit dem schwachblauen Fleck zusammen, der sich über seinen linken Wangenknochen zog. Der Form nach ähnelte er einem Fuß, wenn auch einem relativ kleinen.
„Vielleicht kann er es ja das nächste Mal mit Hallentennis versuchen.“ bemerkte Huntress und hatte damit mal wieder die Lacher auf ihrer Seite. Die einzige Ausnahme war Flyboy, die vermutlich zu schüchtern dafür war, und Kano, der diesmal nicht einmal die Lippen verzog: „Ich dachte, Sie hätten versprochen, keine Piloten zu…wie war der Ausdruck, zu ‚Verbeulen’?“
„Das war ein Unfall. Er ist mir in den Fuß gelaufen.“ log Huntress ebenso offensichtlich wie schamlos.
Kano blickte auf sein Handgelenk-Chrono und winkte ab: „Die Übung beginnt in zehn Minuten. Denken Sie daran, dies ist eine Koordinationsübung mit der Gelben Staffel. Der Frachter ROSE fungiert als Ziel und wird von Liljas Schwadron beschützt.“
„Denkt aber auch daran, dass die ROSE mitspielt. Wer einmal von ihren Schützen markiert wird, gilt als beschädigt, beim zweiten Mal als tot.“ schaltete sich Huntress ein, auf einmal ganz professionell.
Kano nickte: „Deshalb werden wir von zwei Seiten angreifen um sowohl den Abwehrschirm als auch das Abwehrfeuer aufzusplittern.“ Da die ROSE ein kapitales Kriegsschiff ‚spielen’ sollte, hätte sich normalerweise angeboten, auch noch eine der Bomber- oder Jagdbomberstaffeln einzubinden. Aber diesmal nicht, denn die Übung sollte auch den Einsatz von Deckers Arrow-Atomraketen vorbereiten, die ja angeblich selbst von Abfangjägern getragen werden konnten.
„Etwas unfair für die Stallions.“ bemerkte Top Gun.
„Lilja will offenbar ihre Leute etwas bieten. Und falls es sie tröstet, in der zweiten Runde wird gewechselt und wir übernehmen die Verteidigung. Danach ist dann Blackhawk dran. Sie sehen also, wir haben einiges vor.
Und ansonsten…wie Admiral Mithel zu sagen pflegt: ‚Wenn Sie Fairness wollen, sollten Sie ein Basketball-Team aufstellen. Und nicht im Krieg danach suchen.’“



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:29:

 

„Es heißt, die Akarii würden sich nicht ändern. Tief verwurzelt in ihren Traditionen und Bräuchen, in ihren Religionen und in ihrer festen Überzeugung vom Lauf der Dinge.
Wie wir haben die Akarii zu Anbeginn der Zeit in Hütten gehaust und waren clanartige Jägergemeinschaften. Heute sind sie nach uns die zweitmächtigste Raumfahrende Zivilisation im Umkreis von einhundert Lichtjahren.
Die Akarii haben sich geändert und sie werden sich weiter ändern. Heißen wir sie also an unserer Tafel willkommen.“

Lia’Kla’Dûnir d’Rash’vir Murhaur
1. Autark der Sternenrepublik Kian’var
Einen Tag vor der akariischen Kriegserklärung


Das Gebäude, in dem der imperiale Adelsrat zusammentrat, war ALT – selbst für die ewige Stadt Pan’chra in der zahlreiche Gebäude auf eine mehr als tausend Jahre zurückreichende Geschichte zurückblicken konnten. Es lag etwa zwei Meilen von dem Endpunkt der im Lauf der Zeit immer wieder erweiterten und verbreiterten Triumphstraße, die am Haupttor des kaiserlichen Palastes endete, und war älter als viele Teile dieses gigantischen Gebäudekomplexes. Im Lauf der Jahrtausende war die Palaststadt immer weiter gewachsen und hatte dabei auch die Versammlungshalle des Adelsrates ‚geschluckt’, ohne sie jedoch wirklich vereinnahmen und assimilieren zu können. Der Adelsrat blieb ein Fremdkörper in der architektonischen Komposition der Kaiserstadt.
Die Geschichte und Tradition der halb in einen gedrungenen, etwa 30 Meter hohen Basaltfelsen gebauten Marmorhalle reichte bis in die späte Bronzezeit und die Gründung von Pan’chra zurück.
Ursprünglich hatte es weder Mauern noch Dächer gegeben, nur einen in den schwarzen Felsen getriebenes Dreiviertelrund aufsteigender Sitzreihen unter offenem Himmel. Es war umstritten, ob der Versammlungsort ursprünglich religiösen Zwecken gedient hatte, eine Arena für die blutigen Schau- und Gerichtskämpfe der Antike oder gar eine Art Theater gewesen war – auch weil die Übergänge zwischen all diesen Nutzungsmöglichkeiten wahrscheinlich fließend gewesen waren und sich nicht gegenseitig ausschlossen.

Irgendwann war es dann Brauch geworden, dass hier die Adligen von Pan’chra und der näheren Umgebung zusammenkamen, um einem neu proklamierten Herrscher zu huldigen, mit ihm ein siegreich heimkehrenden Heer zu empfangen, oder der Hinrichtung hochrangiger Kriegsgefangener und adliger Empörer beizuwohnen. Damals musste dann die Entscheidung gefallen sein, den Versammlungsort zu überdachen – zuerst mit Holz, später mit Stein.
Später hatte man dann innmitten des Dreiviertelrund der Sitzreihen eine Art niedrige Steintribüne errichtet und darauf einen Thron aufgestellt, auf dem der Imperator Platz zu nehmen pflegte – zuerst eine einfache, erstaunlich schmucklose Steinkonstruktion, dann ein wuchtiges, mit Edelmetallen verziertes Gebilde. Später war rechts davon ein Tisch und eine Reihe schwerer Pi’ri-Holzstühle für die kaiserlichen Minister hinzugekommen.

Das Gebäude zwar mindestens zweimal abgebrannt und mehrmals umgebaut, renoviert und erweitert worden, auch um den Ansprüchen an Sicherheit und Komfort gerecht zu werden, die die meisten Adligen trotz aller Traditionsverliebtheit nicht mehr missen mochten. Ein breiter, halbrunder Balkon mit Sitzreihen ermöglichte es Besuchern, den Sitzungen beizuwohnen.
Doch unter der von gigantischen, mit schwarzem und roten Vulkanglas verzierten Säulen getragenen Marmorkuppel, unter den für die Bequemlichkeit der Adligen hinzugefügten Polstern und den Lehnen aus ‚tausendjährigem’ Pi’ri-Holz steckten man immer noch die schlichten, von der Zeit und kunstvollen Händen glattpolierten Steinsitze, auf denen die Führer und Repräsentanten der hohen Adelshäuser von Akar sich seit Jahrtausenden versammelt hatten. An mancher Stelle erinnerte ein in den Stein eingeritzter Name an Männer und Frauen, die hunderte Generationen vor dem Augenblick gelebt hatten, als das erste primitive Raumschiff von der Oberfläche von Akar abhob. Und fast ausnahmslos jede Familie, die im Laufe der Jahrtausende den imperialen Thron erobert oder in die kaiserliche Linie eingeheiratet hatte, hatte zuvor in dieser erlauchten Runde ihr Debüt gegeben. Die in diesem Rund gehaltenen Brandreden, Anklagen und Verteidigungsmonologe waren in die Geschichte eingegangen.
Eine Zeitlang hatte diese Versammlung sogar das wachsende Reich von Pan’chra aus eigener Machtvollkommenheit regiert. Ohne einen König oder Kaiser über sich zu dulden hatte sie über Krieg und Frieden entschieden, aus ihren Reihen Generäle und Provinzgouverneure gewählt. Dies war nur eine Episode geblieben, doch eine die bis heute unvergessen blieb.
Die Rolle des Adelsrates hatte sich im Laufe der Jahrtausende immer mehr auf eine beratende und bestätigende Funktion beschränkt. Die Bestätigung eines neuen Imperators war zu fast so etwas wie einer Formalität geworden – und das letzte dieser Ereignisse lag immerhin schon fast drei Generationen zurück. Zwar gab es noch andere Anlässe zur Zusammenkunft – etwa die Eröffnung des neuen Steuerjahres, bei dem der Krone die traditionellen Tribute überreicht wurden - aber das war vor allem Teil des Zeremoniells.
Inzwischen waren privilegierte Schulklassen und Besuchergruppen, die in regelmäßigen Abständen bis zum den Eingang zur Ratshalle postierten imperialen Gardisten und der unvermeidliche Stab aus Tech- und Reinigungskräften, die über die ständige ‚Nutzungsbereitschaft’ des Ratsgebäudes zu wachen hatten, weitaus häufiger hier als die stimmberechtigten Adligen.
Mancher eher traditionell oder romantisch veranlagte Adlige, der die Atmosphäre und Geschichte des Ortes ungestört genießen wollte, empfand diese Art von Aktivitäten als ein rechtes Ärgernis, fast als Entweihung. Das gleiche galt für die Installation der modernen Sicherheits-, Wartungs- und Kommunikationstechnik, die nicht unbedingt mit der erhabenen Tradition und antiken Bauweise und Ausstattung der Räume harmonieren mochte, und nicht überall durch Zierelemente kaschiert werden konnte.
Und dennoch – dies war ein Ort, den auch ein künftiger oder amtierender Imperator mit einer gewissen Demut zu betreten pflegte.
Denn er wusste, das zahllose seiner Vorgänger hier bestätigt und proklamiert worden, mindestens ein Dutzend aber auch abgesetzt, einer hingerichtet und wenigstens drei ermordet worden waren. Manche schwache, verblichene Verfärbung auf den Steinen stammte angeblich von dem Blut, dass hier im Laufe der Jahrtausende vergossen worden war. Und mancher Adlige, der die Halle dank einer Sondererlaubnis des Nachts aufgesucht hatte, wenn ihre Lichter gelöscht und die Sitzreihen der Ratshalle verweist waren, berichtete anschließend von einem leisen, geisterhaften Wispern, das zwischen den Säulen hin- und herhuschte – Stimmen aus der Vergangenheit, die den Abgrund der Zeit überbrückten

Linai Thelam fürchtete weder Geister noch die Vergangenheit oder die Mythen, welche beides kombinierten. Das redete sie sich zumindest ein. Tatsache war, die Vergangenheit beherrschte die akariische Gesellschaft mehr als man sich das eingestehen wollte. Es waren Tradition und Glaube die mehr Gewicht besaßen als geschriebene Gesetze. Tatsächlich waren die wenigsten Gesetze schriftlich festgehalten. Man hatte aufgezeichnet, was Kaiser und Imperatoren entschieden hatten. Es gab Lieder, Opern, Geschichtsbände, ganze Enzyklopädien über Kriege, ja einzelne Schlachten. Vor über viertausend Jahren hatte ein Imperator sich das Recht erkämpfen müssen den Steuersatz festlegen zu dürfen. Seitdem war es so.
Linai hatte dementsprechend diesen Tag gefürchtet wie sie ihn herbeigesehnt hatte
Die Adelskammer würde heute das erste Mal zusammentreffen um den Regentschaftsrat zu diskutieren. Rechtsgelehrte und Vertreter aller großen Häuser hatte versucht an den folgenden Beschlüssen zu partizipieren.
Man hatte paktiert, gedroht und bestochen um sie für die kommenden hundert Jahre Einfluss zu erschachern. Dem verzweifelten Versuch Einfluss zu nehmen hatte das Haus Nellan unternommen, so munkelte man. Haus Nellan war tief verfeindet mit dem Haus Bors, einem engen Vasallen des Hauses Jockham.
Edon Bors sollte einen wichtigen Platz im Regentschaftsrat einnehmen; vor wenigen Tagen starb er unter ungeklärten Umständen.
Umstände, die wenn Haus Nellan dahinter steckten niemals aufgeklärt würden. Nellan, so klein und auch unbedeutend es auch war, war imperialer Vasall.
Es wäre für Linai eine wirklich unangenehme Angelegenheit geworden, würde es in kürze nicht in totaler Bedeutungslosigkeit verschwinden. Der vierundzwanzigste Nekar in der 5008 Dekade akariischer Zeitrechnung würde in die Geschichte eingehen und Edon Bors würde am Ende nicht einmal eine Fußnote sein.

Vor dem Thron in der großen Ratskammer hatte man für Linai wieder den uralten Feldschemel aufgestellt, auf dem ihre Vorfahren so sie denn selbst in die Schlacht gezogen waren die Kapitulation ihrer Feinde entgegen genommen hatten.
Der Thron hatte einst einem anderen Akarii-Fürsten gehört, eine Familie lange vor der Zeit der Raumfahrt ausgelöscht.
Alet Qau, der amtierende Kanzler seiner Majestät Eliak IX. begleitete sie auf ihrem Weg von der Tür der Ratskammer bis vor den Thron. Die versammelten Adligen hatten sich dabei tief verbeugt. Tiefer als man es ihr als bloße Prinzessin je zugestanden hatte, aber wahrscheinlich galt die Verbeugung eh ihrem ungeborenen Sohn.
Alle versammelten Adligen, wahren in den Farben ihrer jeweiligen Häuser erschienen. Sofern die Oberhäupter in der Flotte oder der Armee dienten wurden sie von ihren Erben repräsentiert.

Es gab auf Akarr, seinen Kolonien und Territorien exakt achttausendzweihundertsiebenundsiebzig verschiedene Adelshäuser, akariische Historiker rühmten sich ihrer Akkurateste in dieser Angelegenheit. Davon saßen am heutigen Tage fünfhunderteinundzwanzig im Adelsrat. Alle fünfhunderteinundzwanzig Häuser waren heute vertreten. Linai wusste, dass einige Berufungen in den Rat seit dem Tod ihres Vaters hinausgeschoben wurden, um das aktuelle Machtgefüge im Rat, welches auf einmal wieder sehr wichtig zu sein schien, nicht zu verschieben.

Auf den oberen Rängen sah man dann die Uniformen der Streitkräfte in der Überzahl. Sicherlich waren dort auch eine Menge jener anwesend, die heute im Saal vertreten wurden. Häufig hatte man bei wichtigen Abstimmungen die jungen Stellvertreter nach oben kibitzen sehen, um stumm nachzufragen, wie man nun abzustimmen habe.
Dadurch, dass einige Herzöge und Clanführer Ministerien vorstanden, hatten einige der anwesenden tatsächlich zwei Stimmen, Alet Qau als Oberhaupt seines Hauses und als Kanzler sogar drei.

Von den Thronanwärtern war heute nur Rallis anwesend. Da er keinem Haus vorstand musste auch er sich auf einem Platz oben auf den Rängen begnügen. Linai nahm zur Kenntnis, dass ihr Cousin nur eine kleine Entourage mit sich führte.
Lisson war auf ihren Wunsch hin nicht erschienen und hatte sich in seiner Bibliothek verbarrikadiert. Als Lord seines eigenen Hauses ließ er sich von seiner ältesten Tochter vertreten.
Karrek war weit entfernt und tat auf erstaunlich demütige Art und Weise seine Pflicht als Soldat. Eine Tugend, die man wohl gerade auch Navarr Thelam beibrachte. Der junge Kadett befand sich auf Manöver. Was das leise Wispern eines Kriegsministers doch so alles bewirken konnte.
Nur Rallis hatte man nicht bewegen können, irgendwie hatte er sich einer Verpflichtung im Wirtschaftsministerium entwunden.

„My Lady“, begann Qau sich vor ihr angemessen verbeugend, was in seinem Fall nur etwas mehr als ein Kopfnicken war, „Königliche Hoheiten, Lords und Ladies des Adelsforums von Akarr, Minister des Imperiums: Es ist ein Lichtblick in düsterer Zeit, der uns heute zusammenbringt. Nach reichlicher Überlegung und Abstimmung ist das Forum, mangels eines festgelegten Erben, übereingekommen, dass der noch nicht geborene Enkel unserem Imperator Eliak dem Neunten auf dem Sternenthron nachfolgen soll.“
Qau’s kräftige Stimme strafte sein Alter Lügen: „Eine schwerwiegende Entscheidung, wie wir sehr wohl wissen. Nicht weniger als vier würdige lebende erbberechtigte Prinzen werden mit dieser Entscheidung übergangen, doch das Forum, in seiner Verpflichtung dem Reich gegenüber sieht, dass eben jene Prinzen in dieser Stunde der Not, dem Reich bedeutend besser Dienen, wenn sie ihre Pflichten in ihren aktuellen Stellungen weiterhin ausüben.
Auch ist das Forum davon überzeugt, dass Prinzessin Linai weiterhin ihre Pflicht als Regentin wahrnehmen muss. Diese Entscheidung ist gefallen, zum Wohle des Imperiums und all seiner Untertanen.“
Diese Worte nahm die Kammer ohne ein Murren hin. Nach wochenlangem Tauziehen, war diese Entscheidung gefallen und selbst diejenigen, die mit ihr nicht einverstanden waren hatte jetzt kaum noch eine Möglichkeit an ihr zu rütteln.

„Das Kabinett als oberstes Regierungsorgans des zukünftigen Imperators hat darüber hinaus beschlossen, das Prinzessin Linai ein Regentschaftsrat zur Seite gestellt wird, dem vier Vertreter des Forums und vier Vertreter des Kabinetts angehören sollen. Prinzessin Linai soll diesem Rat als Erste vorsitzen.“
Diese Entscheidung wurde nicht ganz so gut aufgenommen. Es gab genügend Stimmen, dass ein anderer den Vorsitz des Regentschaftsrates innehaben sollte. Allen voran ihr Schwiegervater war der Meinung, dass dieser Posten ihm zustünde.

„Zur Ordnung!“ verlangte Alet Qau und schlug mehrmals mit seinem Amtsstab auf den Fußboden.
„Aus dem Kabinett wird vorgeschlagen“, begann Qua, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, „seine Gnaden der Kriegsminister Tobarii Jockham.“
„Mein Lord Kanzler“, Meliac Allecar erhob sich elegant von seinem Sitzplatz, „bevor wir abstimmen, könntet Ihr uns erläutern, welchen Anspruch der ehrenwerte Tobarii Jockham haben sollte.“
Der Kanzler wirkte zu recht verwirrt. Von allen Kandidaten für den Regentschaftsrat sollte Tobarii der einzig zweifelsfreie sein: „Lord Allecar, wir reden vom Kriegsminister…“
„Soweit stimme ich Euch zu, Mein Lord Kanzler.“
Qau zeigte leicht die Zähne: „Und möchtet Ihr etwas zu meinem anderen Argument sagen? Nur frei heraus.“
„Das möchte ich in der Tat“, antwortete Allecar, keinen Deut eingeschüchtert, „ich zweifle die Vaterschaft, nein ich bestreite die Vaterschaft von Tobarii Jockham am Kind seiner Ehefrau!“
Ein wütendes Heulen ging durch die Halle, unter dem Linai zusammenzuckte. Kaum einen Lord hielt es auf seinem Sitzplatz. Herzöge und Grafen gifteten sich an. Hochverrat und Lüge wurde gerufen.
Es bedurfte Alet Qau einiges an Mühe um wieder Ordnung in der Kammer herzustellen.
Meliac Allecar ließ dies alles kalt, so schien es Linai. Er schien nur Augen für sie zu haben, suchte nach einem Riss in ihrer Selbstbeherrschung.
Sie hingegen wandte den Blick beschämt nach unten. Beschämt, dass ihr Verrat jetzt wirklich öffentlich wurde; beschämt, dass sie Tobarii betrogen hatte.
„Ich befinde mich im Besitz von Beweisen“, fuhr Allecar ruhig fort, „zuverlässigen Beweisen, unwiderlegbaren, medizinischen Beweisen, die besagen, dass mein Sohn Dero der Vater unseres zukünftigen Herrschers ist.“
„Lüge!“, brüllte Mukar Nellan, „die Prinzessin würde sich niemals mit einer Kreatur wie…“
Der Lord des Hauses Nellan verstummte, als er Linais Schweigen gewahr wurde.
Leises Getuschel beherrschte für den Moment den Saal.
„Lord Nellan, ich bezichtige die Prinzessin nur einer Sache“, Allecar verließ seinen Platz und trat in die Mitte des Konklave, „alles getan zu haben, um die Dynastie der Thelams fortzusetzen.“
Oh, Du Ekel. Aber damit hatte Linai gerechnet. Da Allecar große Pläne für sich und das Kind hatte, durfte er sie nicht angreifen. Ihre Pflicht gegenüber dem Reich und der Herrschaftslinie der Thelam wog natürlich viel schwerer als ihre Pflicht Tobarii gegenüber. So konnten alle das Gesicht wahren.
„Genug! Genug von diesen infamen Unterstellungen“, alle außer die Jockhams. Ihr Schwiegervater war rot vor Zorn und es schien als ob er kurz davor war Schaum vor dem Mund zu bekommen, „wir verlangen diese angeblichen, unwiderlegbaren Beweise zu sehen! Wir verlangen eine Untersuchung!“
„Wir verlangen Satisfaktion!“
Alle Blicke richteten sich auf Tobarii, der sich nun erhob und zum ersten Mal in seinem Leben seinen Vater zum Schweigen gebracht hatte.
„Eure Beweise, Lord Allecar, sind nichts wert“, Tobarii ging um den Ministertisch herum und trat direkt vor den älteren Herzog Allecar, „jedes der größeren Häuser hat die Mittel eine medizinische Probe herzustellen, die besagt ihr Sohn wäre Vater meines Kindes!“
„Ihr nennt mich hier einen Lügner? Einen Verräter?“
„Und noch vieles mehr! Ihr beleidigt mich, hier vor allen Vertretern meines Standes, Lord Allecar und macht allen Ernstes Anspruch auf mein Kind geltend, im Namen Eures Sohnes?“
„Und, wie antwortet Ihr, Lord Kriegsminister? Die Beweise sind nichts wert? Das Wort meines Sohnes ist nichts wert? Ist das Eure Antwort, Tobarii?“
Linai hatte ihren Gatten noch nie so wütend erlebt.
Tobarii wandte sich an das gesamte Adelsforum: „Meine militärische Karriere mag nicht ganz so illuster sein wie die von Dero. Aber als Prinz von Akarr und nächster Herzog des Hauses Jockham und Vater dieses Kindes kennt meine Ehre nur eine Antwort auf diese Anschuldigungen: Wenn Dero Allecar mein Kind will, soll er vortreten und sich nicht hinter seinem Vater und diesem hohen Haus verstecken. Er soll vortreten, damit ich ihm meine Antwort mit dem Drehh in die Haut ritzen kann! Ich verlange Satisfaktion! Ich verlange das Blut des Hauses Allecar!“
Tobarii blickte in die Runde, ebenso Allecar. Die Belustigung über Tobariis Einleitung betreffs der militärischen Karriere von ihm und Dero hatte nicht lange angehalten.
Beide konnten sie erkennen, dass ein Duell auf breite Zustimmung traf. Schwert und Blut sollten über den Streit entscheiden. Schwert und Blut waren in der akariischen Gesellschaft mehr wert als jeder wissenschaftliche Beweis.
„Dann sei es so“, Allecar nickte in Tobariis Richtung.
Dieser wandte sich wortlos ab und ging zu Linai hinüber: „Die Diskussion ist beendet. Kommt, königliche Hoheit.“
Wären sie beide allein, hätte Linai es niemals erlaubt, dass er so mit ihr sprach aber Tobarii war heute schon genug gedemütigt worden. Ihr blieb nichts anderes übrig als ihm gehorsam zu begleiten.
Dabo me kolar*.

***

TRS Columbia,
Sterntor, FRT

Jules war früh aufgestanden, hatte etwas Sport getrieben, nichts aufwendiges nur ein wenig Laufen und Seilspringen. Anschließend hatte er in der Offiziersmesse ein leichtes Frühstück eingenommen.
Bei den Hellcats hatte er einfach so das Kommando übernommen. Die Staffelführer und ein Großteil der Piloten hatten ihn gekannt, ihm vertraut und hatten gewusst, was er drauf hatte.
Auf Roswell-Station war die Situation etwas anders gewesen, er war neu zum Geschwader gekommen, doch anders als bei den Angry Angels waren die Red Harpys keine geschlossene Gesellschaft gewesen. Piloten kamen und gingen. Staffelführer rotierten durch, Rookies von der Akademie wurden für fünf oder sechs Monate zum letzten Part ihrer Ausbildung bei den Harpys reingereicht. Erfahrenere Piloten gingen wieder an die Front. Er war innerhalb eines Jahres der dritte Geschwaderführer, der die Harpys führen durfte.
Die Angry Angels waren trotz aller Neuzugänge eine eingeschworene Gemeinschaft und er war ein Fremdkörper.
Nur die Ruhe alter Junge, Du bist schon Akarii im Kampf gegenübergetreten, da wirst Du es auch schaffen, deinen Piloten in die Augen zu blicken.
Natürlich war dieser Moment nicht mit einem Kampfeinsatz zu vergleichen; er war ungleich wichtiger. Das grundlegende Vertrauen zwischen ihm und seinen Piloten konnte in der Zukunft über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Jules atmete tief durch und betrat das große Auditorium der Columbia.
„Achtung! Stillgestanden!“ Irons nahm mit dem Rest des Geschwaders Haltung an.
Da er durch die Tür links vom Hauptmonitor hereingekommen war, hatten die Piloten einen guten Blick auf ihn und er starrte in über Hundertzwanzig Augenpaare zurück.
„Guten Morgen, Piloten“, begann er, nachdem er kurz seinen Blick über die Angry Angels hatte schweifen lassen, um ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, „rühren, bitte nehmen sie Platz.“
Er stieg die zwei Stufen hinauf auf die kleine Bühne, vorbei an Irons und stellte sich neben das Rednerpult, wo er gestern Abend das Mikrophon ausgerichtet hatte. Jules aktivierte sein CompPad und begann zu lesen: „An Commander Jules Stafford, TSN Fighter Corps: Sie werden hiermit aufgefordert und angewiesen das Kommando über Fighterwing 125. TSN., stationiert auf TRS Columbia, CV 44 zu übernehmen.
Einhergehend mit diesem Befehl werden sie zur fünften Flotte TSN, Sterntor, versetzt.
Gezeichnet Chakal Murat, Rear Admiral, TSN.“
Jules legte das Pad beiseite und drehte sich zu Irons um, die sich jetzt ihm zuwandte: „Commander McGil, hiermit übernehme ich das Kommando und löse sie ab.“
„Sir, hiermit übergebe ich Ihnen das Kommando, Sir. Ich bin abgelöst“, antwortete Irons militärisch und legte die Hand zum Salut an.
Jules erwiderte den Salut und Irons trat ab, um in der ersten Reihe neben dem Count Platz zu nehmen.
Über seinen nächsten Schritt hatte der neue CAG der Angry Angels lange nachgedacht. Sollte er die Hände salopp in die Hosentaschen stecken, sich hinter dem Pult verschanzen oder sich selbst einen Stuhl holen. Er hatte aber entschieden, dass zu viel Lässigkeit im Augenblick alles andere als gut für ihn war.
Also blieb er neben dem Pult stehen und legte die Hände auf den Rücken. Blieb gerade stehen, weder angespannt noch wirklich locker: „Für diejenigen, denen ich mich noch nicht vorgestellt habe, mein Name ist Jules Stafford, aber das haben sie ja gerade eben gehört und sicherlich auch schon gewusst. Ich diene beim Militär schon fast so lange, wie die jüngsten von ihnen auf der Welt sind, davon die meiste Zeit als Pilot. Davor bin ich auf einem Zerstörer der TSN gefahren. Wie für die meisten von Ihnen erstreckte sich meine Vorkriegserfahrung auf Anti-Piraten-Einsätze. Meine richtige Kampferfahrung habe ich bei der vierten Flotte gesammelt, auf einem leichten Träger. Als Rottenführer, als Ausbilder, als Staffelführer und als Geschwaderchef.
Wie jeder von ihnen haben ich mein Geschäft von den besten Offizieren gelernt, welche die TSN aufzubieten hat und meine Prüfung war wie die ihrige das Pilotencorps der Akarii.
Soviel zu meiner Vita.
Mein Kommandostil lässt sich wohl am besten mit meinen Erwartungen erklären: Ich erwarte von ihnen, dass sie gleichzeitig Ausbilder und Schüler sind. Ich erwarte von Rottenführer, dass sie ihr Geschäft ihren Flügelmännern beibringen und dass sie von ihren Sektionsführern deren Aufgabe lernen. Ich erwarte, dass sie sich anstrengen und alles geben und gleichzeitig aufsaugen.
Die ersten von ihnen schalten schon geistig ab, wie ich sehe. Mir ist das in jüngeren Jahren nicht anders gegangen, soll der Alte doch labern, ich bin Profi, ich habe schon alles gesehen.
Nun gut, noch haben wir Zeit dies zu ändern.“
Jules blickte nochmal über seine Leute, noch war keiner an Langeweile verendet: „Unser Programm für die nächsten Tage sieht natürlich jede Menge Training vor. An erster Stelle steht das Defensivtraining. Sobald wir etwas mehr über unsere nächste Aufgabe wissen, können wir ein entsprechendes Offensivtraining ausarbeiten.
In fünf Tagen nimmt die Columbia an der Zeremonie für die Liberty teil, ebenso die Stalking Jaguars, hierfür meine Glückwünsche an die Staffel.
Tags drauf haben wir unsere eigene kleine Zeremonie, Admiral Girad hat mir gestern den Zeitplan dafür durchgegeben: Zehn Uhr Eintreffen der Ehrengäste mit militärischen Ehren für die Premier Ministerin und Admiral Auson. Jede Staffel wird zwei Junior Lieutenants als Führer für Gäste bereitstellen. Freiwilligmeldungen werden natürlich gern gesehen und gehen an Irons. Paradeuniform mit Orden ist Pflicht.“
Theatralisches Gestöhne und Wehklagen schlug ihm entgegen, wie nicht anders zu erwarten gewesen wäre.
„Um 17 Uhr findet die Ordensverleihung auf dem Hangardeck statt. Auch hier ist Paradeuniform angesagt. Im Anschluss brauche ich ein paar Senior Lieutenants, welche die zivilen Gäste im Pilotencasino unterhalten. Freiwillige, Irons, die Prozedur dürfte bekannt sein.
Für 19 Uhr ist das Galadinner angesetzt. Alle Staffelführer und Lieutenant Commander werden daran teilnehmen. Für diejenigen, die in ihrer militärischen Laufbahn noch keine praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt haben empfehle ich: üben sie das Fliege binden, Admiral Girad gab den Befehl aus: Dinnerdress, blau.“
Dies sorgte vor allem für die nichtbeteiligten für ordentliche Belustigung. Lieutenant Commander Grover vergrub das Gesicht in den Händen und bekam dafür mitfühlendes Schulterklopfen von einigen Staffelkameraden.
Das Affenjäckchen, wie die Gesellschaftsuniform gerne genannt wurde, sah zwar sehr schick aus, erfreute sich aber wenig Beliebtheit. Jules selbst sah sie als unnötigen Ballast.
"Nachdem wir dies alles hinter uns haben, stehen dann Manöver in Geschwadergröße an, in der Hoffnung, dass wir diese auf unsere zukünftigen Missionen ausrichten können. Ansonsten nehmen wir den normalen Drill vor: Flottenverteidigung und –angriff. Gehen Sie davon aus, dass sie zwei bis drei Einsätze pro Tag fliegen werden.“
Diese Mitteilung sorgte für eine gemischte Reaktion. Die Veteranen wussten, welch eine Belastung ein derartiges Pensum darstellte, für die Frischlinge war es die Aussicht auf viel Action.



*Das Rad ist in Bewegung



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:31:

 

Der erste Schritt ist immer der schwerste

TRS Columbia, Sterntor-System, FRT, zwei Tage nach Jules Staffords offizieller Kommandoübernahme

Second Lieutenant Hanna ,Kicker' Lindbergh stolzierte erhaben durch die Gänge der Columbia - anders konnte man es kaum nennen. Es war kein Marschschritt, kein Rennen oder gar schlendern, vielmehr ein fast königliches Schreiten. Auf ihrem Gesicht war ein freundliches Lächeln - das freilich etwas Gekünsteltes hatte - geradezu festgefroren. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, in einer endlosen Litanei. Einem - vermutlich fürbass erstaunten - Lippenleser wäre wohl schon nach kurzer Zeit klar geworden, dass es sich um die Strophen von Dinka-Fever* handelte, die sie in einer Art Endlosschleife wiederholte. Sie bog links um eine Ecke, passierte zwei Durchgänge, wandte sich wieder nach rechts. Jetzt musste sie gleich am Ziel sein, dem Sekundäraufgang zum Promenadendeck, nur noch...
Kicker nahm eine Biegung, nur um sich beinahe das Gesicht an einer Wand einzurennen. Der Gang endete hier scheinbar blind. Mit knapper Mühe vermied sie einen Zusammenstoß. Für einen Augenblick sah sie so aus, als wolle sie in Tränen ausbrechen, obwohl sie doch sonst keineswegs nahe am Wasser gebaut war, und sich einiges auf ihre Selbstbeherrschung einbildete. ,Ich hasse, hasse, HASSE dieses verdammte Weib!' dachte sie. Und dann: ,Wie konnte es nur so schief gehen?`

Sie war natürlich aufgeregt gewesen, als sie im Sterntor-System angekommen war. Ihr erster Fronteinsatz stand bevor, und das sogar in einer Eliteeinheit der TSN, den Angry Angels, dem ,Geschwader der Entscheidungsschlachten'. Es mochte etliche Einheiten mit einer längeren, ruhmreicheren Tradition geben, andere, die mehr hoch dekorierte Mitglieder oder eine etwas bessere Abschuss-Verluste-Bilanz aufweisen konnte. Aber kein Geschwader hatte an mehr der wirklich großen Schlachten dieses Krieges teilgenommen. Sie war natürlich nicht vollkommen blauäugig und naiv gewesen. Es hatte auf der Akademie und später bei den Red Harpys auch gewisses Gerede gegeben als es um die Frage ging, ob, wann und in welcher Einheit man an die Front kommen wollte oder würde. Und manche Gesprächsteilnehmer, darunter eine beunruhigende Zahl von Piloten, die entweder selber Erfahrung oder gute Kontakte hatten, hatten vor den Elitegeschwadern gewarnt. Beunruhigend viele Neuzugänge wurden in ersten drei bis sechs Monaten verwundet oder gar getötet. Wer so lange durchhielt, hatte deutlich bessere Chancen, aber der Tenor hatte gelautet, es sei besser erst einmal in einer zweitrangigen Einheit Erfahrung und Routine zu sammeln. Auch Kicker war klar gewesen, dass Fronteinsatz nicht nur Action, Ruhm und Karrieremöglichkeiten bedeutete - sondern auch die reale Chance, verwundet und getötet zu werden. Und die ,Gefahr', für diesen Krieg ,zu spät' zu kommen, war ja inzwischen leider gebannt.
Aber dennoch war sie mit einer gehörigen Portion Optimismus angetreten. Sicher, der Empfang durch ihre neue Staffelchefin, Lieutenant Commander Tatjana ,Lilja' Pawlitschenko, war etwas unterkühlt gewesen, aber sie hatte nichts anderes erwartet. Denn natürlich hatte sie sich während des Transfers mit den Akten jedes einzelnen Kommandooffiziers und deren Stellvertreter beschäftigt, auf die sie bei den Angry Angels stoßen würde, plus alles, was sie an Gerede über sie im republikanischen Netz ausgraben konnte. Lilja hatte keinen Grund, sie überschwänglich zu begrüßen, denn sie war ja ein unbeschriebenes Blatt - sah man von dem blue-on-blue Zwischenfall ab. Und obwohl Kicker wusste, dass die Schuld dafür allein bei diesen Idioten von Testpiloten gelegen hatte, war ihr klar, wie das für einen Offizier wirken musste. Das hatte sie also nicht sonderlich überrascht, und was sie von den anderen Staffelmitgliedern mitbekommen hatte, sah eigentlich ganz patent aus. Keiner von ihnen schien ein Schleifer zu sein, der Neulinge spüren ließ, dass sie das unterste Glied in der Nahrungskette waren. Die XO war sogar ziemlich nett gewesen, und ihr künftiger Flightleader machte ebenfalls einen verlässlichen Eindruck. Ihr Zimmer musste sie zwar mit einer Pilotin einer anderen Staffel teilen, und die gehörte nicht einmal zu den Kampffliegern, sondern zu den Shuttles, aber auch mit der schien ein gutes Auskommen möglich.
Und als dann Commander Jules Stafford das Kommando über die Angels übernommen hatte, da hatte sie einen zugegebenermaßen nicht ganz rationellen Stolz gefühlt - immerhin hatte er sie ja an die Front abkommandiert. Tja, im Rückblick war das der Moment gewesen, ab dem die Dinge schief gegangen waren.

Lilja hatte die immer noch etwas dezimierte Schar - Sakura Nakakura alias Shoki war noch nicht wieder voll einsatzbereit - schon kurz nach Staffords Auftritt zu einer informellen Besprechung zusammengerufen. In dürren Worten hatte sie die Staffelmitglieder darüber informiert, dass in den nächsten Tagen gelegentlich Knight und Fidai auf den Posten eines Flightführers aufrücken würden, um sie zu testen. Es hatte der Chefin der Fighting Stallions sichtlich an Begeisterung für Commander Staffords Innovation gemangelt, doch sie hatte auch kein kritisches Wort geäußert. Dann, und mit kaum größerem Enthusiasmus, hatte sie fortgefahren: "Also, über die dienstlichen Belange haben wir ja bereits gesprochen, und die Flugpläne liegen Ihnen allen vor. Kommen wir zu den Punkten, die noch offen sind. Wie Sie gehört haben benötigen wir in fünf Tagen zwei ,Fremdenführer' und zwei bis drei Alleinunterhalter, die sich um die zivilen Gäste kümmern." Ihr Tonfall war nüchtern geblieben, aber ihre Wortwahl deutete an, dass man solche Aufgaben auch Mannschaftsdienstgraden der Crew der Columbia hätte überlassen können.
"Was Punkt eins angeht, so melden sich Knight und Kicker als Freiwillige. Punkt zwei - hier sind die Freiwilligen Hellcat, Knight und Marine. Zu den Details..."
Hanna ,Kicker' Lindbergh gab im Rückblick ein Stück weit ihrem ehemaligen Staffelchef und ihrem vorherigen und augenblicklichen Geschwaderchef die Schuld, die sie auf dergleichen nicht vorbereitet hatte. Sie konnte jedenfalls nicht anders, und prustete laut los. Das Lachen schüttelte sie förmlich. Sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass sonst niemand lachte - am wenigsten die Staffelchefin. Bei der XO spielte vielleicht ein kleines, fast mitleidiges Lächeln um die Mundwinkel, aber da musste man schon sehr genau hinschauen. Lilja hingegen zog nur eine Augenbraue hoch: "War irgendetwas komisch an dem, was ich gesagt habe, Second Lieutenant."
Diese Frage, vor allem aber der Tonfall, hatte für ein abruptes Ende des Heiterkeitsausbruches bei Kicker gesorgt. Sie stammelte etwas wie: "Ich, ähm, ich dachte...also, NEIN Ma'm."
Lilja hatte sie von oben herab gemustert - sie konnte das sehr gut, obwohl sie ein paar Zentimeter kleiner als Hanna war. WIE gut, hatte Kicker erst in diesem Moment realisiert.

Liljas Stimme war rasiermesserscharf gewesen: "Das will ich auch hoffen. Sie sind neu hier, also werde ich es ihnen erklären. Punkt eins, Pflichten sind Pflichten, und Pflichten werden erfüllt, auch wenn sie unangenehm, lästig oder nach eigener Auffassung lächerlich sind. Punkt zwei, es ist meine Aufgabe zu wissen, wer für welche Aufgaben am besten geeignet ist, sonst wäre ich für meinen Posten nicht qualifiziert. Punkt drei, es ist immer besser, es heißt, jemand habe sich freiwillig gemeldet, als dass ich ihn oder sie an den Haaren hätte heran schleifen müssen. Sie meinen vielleicht, dass diese Aufgaben nicht ganz der Aufgabenbeschreibung des TSN-Pilotenkorps entsprechen. Aber Sie sollten es viel mehr als Chance verstehen, zu zeigen, dass sie jede Aufgabe problemlos übernehmen können, ohne sich zu beklagen." Offenbar war Lilja der Meinung, dass ihre Untergebene diesen Test nicht gut bestanden hatte. Und sie hatte noch hinzugefügt: "Gerade jemand mit Ihrer Dienstakte sollte sich über so eine Aufgabe freuen." In diesem Moment hatte Kicker den zweiten großen Fehler begangen, hervorgerufen durch noch nicht ganz verarbeitete Frustration über ihr bedauerliches Missgeschick während ihres Dienstes bei den Harpys und dem Gefühl, zu Unrecht getadelt worden zu sein: "Aber ich wurde von allen Vorwürfen..." weiter kam sie nicht mehr, denn eine abrupte Handbewegung der Russin hatte sie unterbrochen.
"Ich rede nicht von dem Abschuss einer Testmaschine. Sondern von Ihrer Prügelei mit einem anderen Piloten, dazu noch einem Zivilisten. Ich hoffe sehr, Sie haben ungeachtet dieser Eintragung in ihrer Dienstakte mehr aufzuweisen, was sie für den Dienst in einer Elitestaffel qualifiziert. Sehen Sie etwa, dass sich Lieutenant Alexander beschwert?" Besagter Lieutenant hatte Kicker für einen Moment mitleidig angegrinst, bevor er wieder eine neutrale Miene aufsetzte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die junge Pilotin bereits hochrote Ohren gehabt, und es kaum fertig gebracht, ihren Kopf zu heben. Sie hatte bereits einige Standpauken erlebt, und das war nicht die Schlimmste. Aber sie stand doch ziemlich weit oben. Denn wo andere brüllten, nutzte Lilja abgrundtiefe Geringschätzung, als würde sie mit einer Dreijährigen sprechen, die quengelte weil sie ihre Medizin nicht nehmen wollte.
Dann hatte Lilja noch ein paar allgemeine Verhaltensweisen zum Besten gegeben, und die Piloten entlassen. In einer anderen Staffel hätte vielleicht jemand Kicker die Schulter getätschelt oder über die ,Alte' gelästert, aber nicht hier. Was vielleicht nicht einmal daran lag, dass alle Liljas Meinung waren. Aber Kicker war sich bewusst geworden, was sie für die anderen Piloten im Moment noch war. Der Neuling, ein Fremdkörper, von dem man nichts wusste, dem man nicht recht traute. Dieses Problem hatte der andere Neuzugang bestimmt nicht - Yànzi hatte einfach schon zu viele Abschüsse aufzuweisen, und war mit den Piloten bereits ins Gefecht geflogen. Und als Überlebende eines praktisch zerschlagenen Geschwaders hatte sie Sympathiepunkte, während Kicker aus einer Reserveeinheit kam.
Und so war sie hier gelandet. Lilja hatte sie auch während der regulären Übungseinsätze schonungslos angetrieben und immer wieder ohne Gnade kritisiert. Auf einem reichen Erfahrungsschatz fußend und offensichtlich bestens mit Taktikleitfäden und Dienstvorschriften vertraut, hatte die Russin immer irgendeinen Fehler finden können. Die paar Male, wo Kicker gegen Staffelmitglieder im Simulator hatte antreten dürfen - stets gegen Lilja oder einen anderen Elitepiloten - war sie mit geradezu beleidigender Leichtigkeit besiegt worden, worauf sich ein weiterer Vortrag anschloss. Abgesehen davon irrte Kicker seit zwei Tagen in ihrer Freizeit durch die Gänge der Columbia, um sich aus dem Gedächtnis zu orientieren - schließlich durfte sie als künftige Führerin für Schiffsbesucher ja auch keine Karte vor der Nase haben. Und dazu musste sie auch noch lautlos singen, und das noch ein wirklich, WIRKLICH schreckliches Lied - denn wenn sie Fremde durchs Schiff führte, so Lilja, würde sie ja auch Ablenkungen ausgesetzt sein. Sie würde Smalltalk betreiben müssen, und wussten die Götter was noch alles schief gehen konnte. Sie hätte natürlich auch mogeln können, aber damit hätte sie insgeheim der Russin Recht gegeben. Und lieber würde sie verrecken, als das zu tun! Sie würde sich von diesem Miststück bestimmt nicht unterkriegen lassen, egal ob die sie auf dem Kieker hatte oder nicht!

***

Zur gleichen Zeit, auf demselben Schiff

"Und du bist nicht der Meinung, dass du es ihr etwas schwer machst? Immerhin bist du ja auch nicht gerade erbaut von den Sonderpflichten, die uns Stafford aufgebrummt hat." Diese Worte - vermutlich zusammen mit dem ,du' - von Knight brachten ihm einen sehr, SEHR schiefen Blick von Lilja ein. Aber sie nahm es hin. Die Staffelchefin hatte erklärt, dass sie die beiden ,Fremdenführer' prüfen würde, und genau das tat sie im Moment. Sie ließ sich von Knight durch das Schiff führen, wobei sie immer wieder das Ziel wechselte, die ,Marschzeiten' überprüfte und ihm zudem in unregelmäßigen aber kurzen Abständen einen sanften Schlag gegen die Schulter verpasste, ihm den Ellenbogen in die Seite rammte oder ihn anrempelte. Bisher hatte der ehemalige Bewährungspilot sich gut geschlagen, aber er war ja schon eine ganze Weile an Bord der Columbia. Was wohl auch der Grund war, dass sie ihm einiges durchgehen ließ.
"Nein, ich glaube nicht, dass ich es ihr über Gebühr schwer mache" erklärte sie im Brustton der Überzeugung. "Eine kleine Übung in Flexibilität kann ja wohl nicht schaden, und dass sie sich an Bord zurechtfindet, auch nicht. Und wenn du meinst, dass ich sie vor versammelter Mannschaft zusammengestaucht habe..." Knight nickte grinsend, was ihm einen zweiten schiefen Blick einbrachte: "Ich bin mir nicht sicher ob MISS ,Kicker' schon ganz verstanden hat, dass ihre Taten Konsequenzen haben. Sie ist für meinen Geschmack etwas billig davongekommen nach dem, was sie sich bei ihrer alten Staffel geleistet hat, und ich will um jeden Preis verhindern, dass sie sich einbildet, das würde immer so gehen. Sicher, Soldaten müssen das Recht haben, zu meckern. Aber das müssen sie sich verdienen, mit der Bereitschaft ihr Blut und das des Feindes zu vergießen - und das hat Kicker bisher noch nicht. Wir können von Glück reden, dass sie bisher kein MENSCHLICHES Blut vergossen hat. Das scheint ihr aber noch nicht ganz klar zu sein."
Liljas Motive waren komplex. Zum einen haderte sie etwas mit dem Schicksal, dass man ihr ausgerechnet eine Pilotin mit zwar guten Leistungsparametern aber auch einigen Flecken in der Akte zugeteilt hatte - als ob es in dem verdammten Harpyiennest nicht auch noch bessere Kandidaten gegeben hätte. Und außerdem...sie hatte immer noch damit zu knabbern, dass sie während der Kämpfe um Sterntor gezwungen gewesen war, einen ihrer eigenen Piloten massiv zu bedrohen, um ihn bei der Stange zu halten. Nicht, dass sie nicht glaubte, dass sie es aus gutem Grund getan hätte. Aber das war nichts, was sie noch einmal erleben wollte. Also hatte sie sich entschlossen, Kicker sehr schnell klar zu machen, wie die Dinge in der Staffel liefen. Das konnte sie aber nicht laut sagen. Im Grunde hatte Knight natürlich Recht, und Imp hatte auf denselben Punkt hingewiesen. Auch Lilja war nicht begeistert, Piloten für die Gäste abzustellen. Nicht, dass sie die ,Auswärtigen' nicht respektiert hätte. Immerhin war ihre Anwesenheit auf der Columbia eine Ehre für die Angels und das Schiff. Aber es gab an Bord nach Liljas Meinung Dutzende wenn nicht mehr Angehörige des nichtfliegenden Personals, die diese Aufgaben mindestens ebenso gut wie die Piloten hätten übernehmen können, wenn nicht sogar besser. Das Geschwader brauchte gerade im Moment nach ihrer Meinung jede Minute, um wieder einsatzbereit zu werden und wieder so etwas wie Korpsgeist aufzubauen. Nachdem so viele Angehörige getötet oder verwundet worden waren, mit all den Neulingen in ihren Reihen, würden die Angry Angels Zeit brauchen, wieder ein voll funktionstüchtiger Organismus zu werden. Aber da sie nun einmal war, wie sie war, würde sie das kaum offen sagen.
Ihre Stimme klang mit einmal sehr ernst: "Wenn etwas gibt, das wir gelernt haben in diesem Krieg - ich, du, und auch die anderen - dann, dass wir für unsere Entscheidungen gerade stehen müssen. Und dass wir einen Preis dafür zu bezahlen haben. Für jeden Fehler, jeden Misserfolg, jede falsche Entscheidung. Und entweder wir bezahlen, oder die Menschen in unserer Nähe. Und besser, Kicker begreift das JETZT, als das es ihr der Krieg beibringt." Und Knight - der wusste, dass seine eigenen Fehlentscheidungen und Misserfolge ihn immerhin einmal ins Gefängnis gebracht und mindestens ein weiteres Mal beinahe umgebracht hätten - nickte zögerlich. Lilja fuhr fort, und es war schwer zu sagen, ob ihr Lächeln boshaft war oder aus ehrlichem Herzen kam: "Deshalb werde ich sie noch ein, zwei Tage so richtig schleifen, auch im Simulator. Und dann, wenn sie schon halb am Verzweifeln ist, werde ich ihr die Hand reichen und ein paar lobende, anerkennende Worte fallen lassen - falls sie sich Mühe gibt." Es war nicht schwer zu erraten, dass Kicker eine ganz persönliche Hölle erwartete, falls sie sich keine Mühe geben sollte.
"Ich halte ja nichts davon, Untergebene zu brechen und neu aufzubauen, wie das Marinekorps es ja gelegentlich macht. Aber sie ein wenig hinbiegen, das kann nicht schaden..."
Knight rieb sich nachdenklich den Nacken. Vermutlich erinnerte er sich an die eine oder andere Lektion von Liljas Erziehungsstrategie, in deren zweifelhaften Genuss er gekommen war. In der Hinsicht waren die Lehreinheiten der Russin wie Lebertran. Letztendlich vermutlich gesund - aber das Runterschlucken war zum Kotzen. Ihm war klar - und der Russin vermutlich ebenso - dass diese ,Erziehungsmethode' etwas von den Praktiken eines Geiselnehmers hatte, natürlich modifiziert und stark abgeschwächt. Man isolierte das Opfer von seinem Umfeld, drangsalierte und erniedrigte es - wenngleich in diesem Fall nur verbal - um ihm zugleich gelegentlich Belohnungen zu offerieren. Solche Methoden wurden im Militär buchstäblich seit Jahrtausenden verwendet. Man musste nur aufpassen, dass dergleichen nicht in blinde Schikane um ihrer selbst Willen umschlug, oder die Grenzen des Erlaubten überschritt.
Knight hatte dergleichen - und Schlimmeres - zur Genüge erlebt, als man ihn aus dem Gefängnis geholt hatte.
Er grinste schief, und weil er ein gründlicher Mensch war, fügte er hinzu: "Und was machst du, wenn sie heulend zu Papa Stafford rennt und ihm beichtet, wie fies die böse Lilja zu ihr ist?" Das war nur zur Hälfte scherzhaft gemeint. Denn natürlich war bekannt, dass gerade Offiziere, die in eine neue Einheit kamen, nicht selten jene bevorzugten, die sie aus ihrem alten Haufen mitgebracht hatten oder von früher kannten. Aus emotionalen Gründen, aber auch, weil sie sich auf diese halbwegs verlassen konnten und wussten, woran sie bei ihnen waren.
Die Russin schnaubte unwirsch: "SO eine schlechte Meinung habe ich von ihr eigentlich nicht. Aber wenn doch...dann ist es besser, ich erfahre jetzt, woran ich bei ihr bin, als im Einsatz. Und das gilt nicht nur für sie - dann weiß ich wenigstens auch, was ich von Stafford zu halten habe." Und das klang tödlich ernst. Zweifellos freute sich Lilja nicht auf eine mögliche Auseinandersetzung mit dem neuen Geschwaderchef, und hatte auch nicht vor, sie gezielt herbeizuführen. Aber ganz ausschließen wollte sie so etwas auch nicht, und war offenbar nicht bereit, von vorne herein klein beizugeben.
Knight nickte nachdenklich. Er verstand die Russin ein Stück weit, auch wenn er selber die Sache vermutlich anders angegangen wäre. Und er war froh, dass ihm solche Probleme erst einmal erspart blieben. Dann lächelte er schief, als ihm noch etwas einfiel: "Und warum hast du mich abkommandiert, sogar zu BEIDEN Einsätzen? Was will unsere Zen-Meisterin ihrem nichtswürdigen Schüler damit beibringen?"

Das brachte ihm wieder einen Rippenstoß ein: "Kannst du es dir nicht denken? Zum einen will ich, dass Commander Stacy der beruhigenden Überzeugung ist, dass ich dich weiterhin schurigele. Deshalb darfst du den Guide spielen. Und was das Unterhaltungsprogramm für die zivilen Gäste angeht...Denk doch einmal nach! Das sind nicht nur irgendwelche gelangweilte Frontbummler, die einmal Pulverdampf schnuppern und sich neben Veteranen ablichten wollen. Eine Ministerpräsidentin, und noch einige von den Medien und was weiß ich noch sind darunter, auch ein paar Senatoren. Was meinst du, warum ich nur diejenigen meiner Junioroffiziere ausgewählt habe, die von Rechts wegen kurz vor der Beförderung zum Senior Lieutenant stehen? Erstens weil ich weiß, dass ihr - will ich zumindest hoffen - ein gutes Bild von der Staffel und meinetwegen auch vom Pilotenkorps bei den richtigen Leuten hinterlasst. Das können wir im Moment dringend brauchen. Ich will nicht, dass uns jemand die Schuld gibt, weil wir Masters nicht besser haben schützen können. Und natürlich kann jedes bisschen Sympathie, jede gute Publicity uns nur nützen. Wir wissen nicht, wohin es als nächstes geht, wer morgen unsere Anforderungen an Nachschub zu unterzeichnen hat oder entscheidet, welche Rekruten zu uns abgestellt - oder wer aus unserem Geschwader abgezogen werden soll. Abgesehen davon...es ist auch eine Chance für euch, ganz persönlich einen guten Eindruck zu hinterlassen. Bei euren Vorgesetzten - lasst ihr sie vor den zivilen Gästen gut dastehen, werden sie das nicht vergessen. Aber auch bei den Gästen selber. Ihr drei - Hellcat, Marine und sogar du - habt nach meiner Ansicht nach die Anlagen, mehr aus eurem Leben zu machen als nur Second Lieutenant zu sein. Sogar mehr als First Lieutenant, WENN ihr weiter an euch arbeitet. Da kommt es nicht nur darauf an, Echsen zu killen. Und da kann jedes bisschen helfen. Wer einmal jemand wichtigem aufgefallen ist..."
Sie führte das nicht näher aus, aber es war natürlich klar, was sie meinte.
"Und was, wenn wir - jemand von uns - Mist baut?" erkundigte sich Knight.
"Dann, tja dann, werde ICH wohl mit den Folgen leben müssen, dass ich den oder die ausgewählt habe, mein Unbehagen darüber den Schuldigen deutlich spüren lassen - und das als Erfahrung verbuchen." meinte Lilja.
"Autsch. Tolle Aussichten." kommentierte ihr Untergebener: "Aber dennoch irgendwie nett, dass du uns das zutraust."
Lilja lächelte beinahe boshaft: "Gern geschehen. Und nun...zum Bug-Gefechtsstand, wenn ich bitten darf." Knight stöhnte theatralisch, als sie ihn mit der neuen Zielangabe in die entgegen gesetzte Richtung ihres bisherigen Weges dirigierte, orientierte sich kurz und machte sich auf den Weg. Lilja blieb dicht hinter ihm: "Die Uhr läuft..."


* Dinka-Fever war und ist ein gerade drei Jahre altes und relativ verbreitetes Lied auf Masters. Es hatte seinen Namen von der Dinka-Orchidee, einer auf Masters entdeckten Blume, die nach einem afrikanischen Volksstamm benannt wurde. Die schwarze, prachtvolle Blüte war bei den Kolonisten in den Subtropen und Tropen seit der Kolonisierung beliebt, und wurde dies umso mehr, als man entdeckte, dass sie in der Parfümindustrie zur Geruchsverstärkung und -Konservierung eingesetzt werden konnte, wobei sie deutlich wirkungsvoller als alle natürlichen Stoffe der Erde und auch viele künstliche Verstärker war. Da die Pflanze sich nicht kultivieren ließ, wurden ganze Areale zu Schutzgebieten erklärt, um die Vorhaben möglichst nachhaltig zu nutzen - was später dem ,aufblühenden' Tourismus sehr zugute kam. In der "traditionellen" Heilkunst, die bei einigen der Einwohnern immer noch praktiziert und um Elemente der neuen Heimat erweitert wurde, schrieb man der Pflanze auch Eigenschaften eines Aphrodisiakums zu, und angeblich wurde sie auch für Zaubersprüche genutzt. Über ihre Rolle in der Folkloristik zu sprechen erübrigt es sich daher wohl... Das Lied ist eine teils rührselige und schnulzig-romantisch, teils eindeutig-zweideutig anzügliche Weise, über deren Inhalt weitere Worte zu verlieren sowohl der Anstand als auch der gute Geschmack verbieten.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:32:

 

„Wie lange willst du unsere Geduld noch missbrauchen, Catilina? Wie lange soll dein Wahnsinn seinen Spott mit uns treiben? Bis wohin soll deine zügellose Frechheit noch führen?“
Der antike römische Politiker, Philosoph und Rechtsanwalt Cicero


Panch’ra

Ein paar Augenblicke herrschte zwischen den uralten Säulen unter der gigantischen Kuppel des Adelsrates Schweigen, während über 500 Ratsmitglieder und weitaus mehr Zuschauer dem Abgang von Kriegsminister Jockham und seiner Gemahlin Prinzessin Linai zusahen. Die von Tobarii Jockham gegenüber Dero Allecar ausgesprochene Herausforderung folgte den geheiligten Traditionen des Imperiums, auch wenn dergleichen an diesem Ort inzwischen reichlich unüblich war. Die letzte Duellforderung in der Ratshalle musste Jahrzehnte zurückliegen, auch weil die Treffen inzwischen meistens nur noch eine Formalität waren und vor allem der Demonstration der imperialen Einheit sowie der Würde des Herrschers dienten.
Doch mit der Tradition des routinierten Sitzungsablaufs, der schon in den letzten Wochen durch den immer offener geführten Kampf um Einfluss, Gefolgschaft und Posten durchbrochen worden war, war es nun endgültig vorbei.
Wenig von dem, was in den letzten Augenblicken geschehen war, entsprach dem Althergebrachten – oder zumindest den Teilen der intrigenreichen, nicht selten blutigen Tradition des Imperiums, die man auch bewahren WOLLTE. Und kaum hatten sich die schweren Türen der Halle hinter dem hoheitlichen Ehepaar geschlossen, explodierte der Saal.
„Schande!“ Lord Timar Katall mochte nicht die Stimme von Tanis Katall dem ‚Alten’ haben, eines berühmten Redners und Politikers der Antike. Und vielleicht auch nicht den legendären Klangs Anku Katalls des ‚Legendenrufes’, der 900 Jahre zuvor als Redner und Rezitator der legendären Akarii-Stücke Ruhm erworben hatte. Aber der alternde Akarii verstand es, seiner hallenden Stimme zur Geltung zu bringen: „Wie tief sind wir gesunken, dass wir eine derartige Frechheit gegenüber dem Thron dulden?! Ist dies das Erbe und die Tradition, auf die sich dieser Rat beruft?! Ist das die Botschaft, die wir dem Volk von Akar, den Provinzen und unseren Feinden senden wollen?!“
„Das Haus Allecar hat ein Anrecht auf den Regentschaftsrat! Und eine stabile Herrschaft darf nicht auf einer Lüge aufbauen!“ schoss der Herzog Allecar zurück, während Protestrufe und Beifall laut wurden. Wieder und wieder ließ Alet Qau seinen Amtsstab auf den Boden sausen, aber die wuchtigen Schläge gingen unter in dem Lärm, der auch seine Stimme zu ertränken drohte: „Ruhe! Ruhe! Das Wort wurde euch nicht erteilt, Lord Katall! Und…“
„Und genauso wenig diesem EMPORKÖMMLING! Wohin sind Sitte, Anstand und Moral verschwunden, frage ich? Allecar redet von Lüge?! Welche Leistung gibt ihm das Recht, Sitz und sogar Vorsitz im Regentschaftsrat zu fordern?“
„Und auf was stützt der Kriegsminister seinen Anspruch, frage ich euch?! Gewiss, man kann ihm wohl kaum Fehlverhalten vorwerfen. Immerhin hat er nie etwas getan!“ Das kam von Ganik Alcor, dessen Linie auf eine Ausgründung der Allecars zurückging. Höhnisches Gelächter zeigte, dass die Ratsmitglieder den Witz verstanden hatten.

Bevor Lord Katall antwortete, warf sich ein anderer Kämpfer in die Bresche. Hager, durch Alter und einen schweren Unfall verkrümmt, verdiente Mukar Nellan seinen Spitznamen ‚Alter Tod’. Skrupel- und hemmungslos war er, immer im Dienst seiner Linie, aber seinem Lehnsherren Thelam treu ergeben. Das machte die Verdächtigungen die sich um den Tod des mit Haus Nellan rivalisierenden Lord Bors glaubwürdig. Mukar Nellan war Gerüchten zufolge nicht einmal die erste Wahl seiner Familie gewesen und galt als bloßer Übergangskandidat, vielleicht weil er niemals geheiratet hatte und damit seinem Haus die Sicherheit einer geschlossenen Erblinie verweigerte: „Und worauf beruft sich Allecar – auf Siege in der Schlacht, den Dienst für das Imperium? Nein! Auf Betrug! Auf Unehre! Ehebruch! Auf Taten und Worte, für die man in einer besseren Zeit mit Ruten aus diesem Saal gepeitscht worden wäre! Wollen wir uns ihm unterwerfen, nur weil sein wertloser Sprössling behauptet, sein Sperma verschleudert zu haben?!“ Das produzierte einen noch lauteren Aufschrei im Rat. Zustimmendes Gejohle und Buhrufe von der Galerie und aus den Reihen der Adligen brandete auf.
„Noch so ein Wort, und Ihr seid es, der aus dem Saal getrieben wird!“ schrie Lord Allecar und schüttelte drohend die Faust, während Alet Qaus Ordnungsrufe völlig unterzugehen drohten. Zwar hielten sich viele Ratsmitglieder immer noch zurück, aber die Zuschauer waren weniger zurückhaltend. Und die Situation heizte sich weiter auf. Ein oder zwei jüngere Ratsmitglieder, die gegen einen der Streitenden vorrücken wollten, wurden von besonnenen Nachbarn zurückgehalten.
„Ich appelliere an die Beherrschung meiner Ratskollegen! Es ist wieder die Ehre dieses Ortes, sich auf diese Art und Weise zu streiten.“ schaltete sich Las Taran ein. Der von offizieller Stelle proklamierte und gefeierte Sieg seines Sohns im Parrak-System verliehen seinen Worten ebenso Gewicht, wie die Jahrtausende alte Geschichte seines Hauses als Diener des Imperiums: „Letzten Endes sollte unser Interesse alleine der Stabilität des Reiches und der Sicherung der kaiserlichen Linie gelten.“
„Auf diese Art und Weise?! Die Ehre dieser Hallen wurde mit Füßen getreten und besudelt! Ich frage das Haus Allecar, ob es aus der Gosse stammt, dass es die Prinzessregentin auf derart unverschämte Weise bloßzustellen trachtet!“
„Die Erbfolge und Herkunft des künftigen Imperators darf und wird nicht hinter verschlossenen Türen besprochen und verheimlicht werden!“ Herzog Allecars Stimme klang scharf und schneidend: „Ich würde EUCH fordern, wenn Ihr den Mut und die Jugend hättet, in den Kreis zu treten! Und was den Anspruch meines Sohnes auf die Vaterschaft des künftigen Imperators und unser Anrecht auf einen Sitz im Regentschaftsrat betrifft – Ich berufe mich auf die Tradition der Herausforderung! Auf das Gesetz der Blutlinie!“ Das führte zu neuen Buhrufen, aber auch Applaus.
„Lassen wir doch diesen Unsinn!“ warf Erzherzogin Zuuni ein, deren Stimme erstaunlich beherrscht blieb, auch wenn sie alles andere als erfreut wirkte: „Jeder kann behaupten, der Vater des künftigen Imperators zu sein. Und beschämt damit nur die Regentin, ihren Gemahl – und sich selbst. Letzten Endes zählt doch nur, wer die MUTTER des Kaisers ist. Es geht um Stabilität und einen ordnungsgemäßen und legitimen Thronwechsel. Wir brauchen, Ruhe, Einigkeit und Stabilität – und einen Regentschaftsrat, der nicht durch persönliche Eitelkeit blockiert wird. Es gibt Präzedenzfälle…
Es wäre angemessen, wenn alle Beteiligten sich besinnen und ihre Worte und Taten mit etwas mehr Bedacht wählen würden.“
„Vielleicht sollten die Streitenden sich etwas zurücknehmen und besinnen, dass die erste Pflicht eines Hauses immer der DIENST am Imperium ist.“ assistierte Lord Taran der Erzherzogin: „Die Ehre muss wiederhergestellt und die Tradition gewahrt werden, das ist gewiss. Aber vielleicht wäre es angemessen, dass – unbeschadet dessen, wie das Duell ausgeht – beide Seiten Ihre Ansprüche zurücknehmen. Ein Ehrenduell sollte kein Kampf hungriger Rewar-Raubechsen um einen Kadaver sein.“
Aber die Stimme der Besonnenheit hatte keine Chance.
„Verzeiht, Königliche Hoheit Zuuni, Lord Taran, aber wollt Ihr das wirklich so einfach abtun?“ Eston Bors, der seinen kürzlich unter so mysteriösen Umständen verstorbenen Vater ersetzt hatte, war aufgesprungen, vermutlich eine Möglichkeit witternd, seine Familie vor dem drohenden Absinken in die Bedeutungslosigkeit zu retten: „Keiner wird mir vorwerfen, dass ich irgendwelche Liebe für Haus Nellan empfinde. Dennoch muss ich ihm zustimmen. Es geht um sehr viel mehr als alte Fehden! Es geht um unser aller Zukunft!
Allecar soll hier von Tradition reden dürfen? Und wenn ich seine verheiratete Tochter schwängern würde, könnte ich dann auch Anrecht auf sein Haus erheben?! Ihr redet von einem Kadaver, Lord Taran? Für Allecar scheint das Reich der Kadaver zu sein, in das er seine fauligen Zähne schlagen will. Er und sein missratener Sohn sind fett geworden von den Privilegien, die ihnen die Regentin gewährte. Doch es ist nicht genug für sie! Die Worte mögen in meinem Mund wie Asche schmecken, wenn ich hier Nellan zustimmen muss. Doch wie Lord Katall und Nellan sage auch ich - Schande!“
Der kurze Augenblick der Ruhe war vorbei. Von irgendwoher flog ein Info-Tab als improvisiertes Wurfgeschoss durch den Saal. Ein Verbündeter des Hauses Allecar, der sich durch die Sitzreihen bewegte, wurde gestoppt, als ihm jemand mehrmals einen Schuh über den Kopf schlug. Natürlich ließ er sich das nicht bieten. Ehrbare Ratsmitglieder, die längst über dem dafür geeigneten Alter hinaus waren, gingen sich an wie betrunkene Rekruten.
Wieder und wieder hämmerte der Kanzler den Amtsstab auf den Boden: „Ruhe! Ich verlange, dass die Ratsmitglieder sich benehmen! Dies ist der Adelsrat und keine Taverne!“
„Würden wir hier über die Kanalisation der Hauptstadt reden, würdet Ihr es für angemessen halten, einen Kübel Scheiße in diesen Saal zu schleppen?! Denn genau das hat Allecar getan!
Und ihr lasst es zu, dass die kaiserliche Familie in diesem Rund derart beschämt wird? Wie tief sind wir gesunken?!“ brüllte Mukar Nellan.
Auch Lord Kallat erhob seine Stimme, anscheinend fest entschlossen, an die legendären Reden seiner Vorfahren anzuknüpfen: „Was bezweckte Allecar mit dieser Provokation, frage ich?! Will er durch Betrug und das Schwert zum Thron? Dann frage ich den Rat, wo das enden soll?! Wann sind wir wieder soweit, dass die Grenzarmeen einen Imperator durch das Schwert ausrufen?! Wann müssen sie dem Kampf gegen die Menschen den Rücken kehren, um das imperiale Zentrum von Verrat, Lüge und Usurpatoren zu säubern?!“

Das rief Beifall, aber noch mehr Buhrufe hervor. Militärputsche und die Proklamation von Soldatenkaisern waren in der Akarii-Geschichte mehrfach vorgekommen – allerdings überwiegend in der vorinterstellaren Ära. Die ‚Säuberung’ eines als korrupt empfundenen imperialen Zentrums durch die Armee hatte manche Revolte und auch die ein oder andere kaiserliche Linie begründet. Im Laufe der letzten Jahrtausende hatte man allerdings angefangen, viele dieser Rebellionen eher negativ zu bewerten. Außerdem stieß Kallats implizite Kritik an der Duelltradition nicht unbedingt bei allen auf Gegenliebe.

„DAS GEHT ZU WEIT!! Ihr redet von Hochvorrat!“, Jetzt verlor Kanzler Qau ebenfalls die Contenance: „Von Rebellion! Ich lasse den Saal räumen…“
„Gegen Verrat muss man rebellieren!“ Niemand wusste, von wo der Ruf kam, aber auf dem Beobachterrund brach eine Prügelei aus, die die wenigen anwesenden Wachen der imperialen Garde überforderte. Ihre Aufgabe war die Verhinderung von Attentaten. Nicht die Aufruhrbekämpfung.

„Ich stimme dem Kanzler zu, dass dies zu weit geht.“ Orani Koo hatte seinen unvergessenen Bruder, Großadmiral Nahil Koo, nach dessen Tod als Haupt eines der ältesten Häuser in der unmittelbaren Umgebung der kaiserlichen Familie ersetzt. Im Gegensatz zu Nahil hatte Orani in der Provinzverwaltung auf Akar Erfahrung gesammelt: „Aber ich muss Lord Katall, Lord Bors und Lord Nellan leider zustimmen, dass diese Herausforderung von Haus Thelam nicht akzeptabel ist. Erst Recht nicht in dieser Form und an diesem Ort. Nicht nur Lord Jockham, auch die Linie der Prinzessin hätte das Recht Satisfaktion einzufordern.“ Vielleicht lag es an dem Ansehen, dass Haus Koo genoss, doch der Tumult ebbte ein wenig ab. Vielleicht lag es aber auch daran, dass nicht alle Ratsmitglieder mehr in dem Alter waren, mehrere Minuten lang zu schreien.
„Selbst wenn Allecar die Wahrheit sagt?“ kam es von der Seite.
„Selbst WENN diese Gerüchte mehr sind als böswillige Verleumdungen. Das Ansehen der imperialen Familie sollte über derartig billige Winkelzüge erhaben sein. Muss es sein – gerade in diesen Zeiten.“
„Und was redet Ihr davon, was der kaiserlichen Linie angemessen sein soll?“ höhnte Lord Alcor: „Die Prinzessregentin hat es vorgezogen zu schweigen. Und wir wissen doch wohl alle, was DAS bedeutet. Ansonsten sehe hier nur noch ein Mitglied des Kaiserhauses, und das…“

Der Verbündete von Lord Meliac Allecar hatte auf das Zuschauerrund gedeutet, dorthin wo Rallis Thelam saß. Nur, dass sich der kaiserliche Prinz jetzt erhoben hatte, während seine Entourage zurückwich und von ein paar kaiserlichen Gardisten unterschützt einen kleinen Freiraum geschaffen hatten. Ein paar Herzschläge sagte oder tat Rallis Thelam nichts, stand einfach nur da, während der Lärm etwas abflaute. Jeden Augenblick mussten die Wogen des Tumultes wieder hochschlagen. Doch bevor es soweit war, handelte der Thronprätendent.
Mit einer jähen Handbewegung streckte er Meliac Allecar den Arm in einer uralten Geste des Protestes und der Abwehr entgegen, die Handfläche senkrecht erhoben. Dann winkelte er den ausgestreckten Arm an, führte ihn zurück zu seinem Nacken und fuhr sich über den Scheitel, so als würde er sein Gesicht verhüllen. Dann wandte sich Rallis jäh ab – und ging.
Doch nicht als einziger. Die Älteste von Haus Otrano war die erste, die sich erhob und Rallis Beispiel folgte, als hätte sie nur auf dieses Zeichen gewartet. Und gleich einer Welle, die durch den Adelsrat ging, standen andere Adlige auf und schlossen sich dem Auszug an. Erst einzelne, dann immer mehr. Dutzende. Einhundert? Noch mehr?
Es waren nicht nur die Vertreter von Häusern, die Rallis Thelams nahestanden. Auch etliche Anhänger von Linai Thelam und Tobarii Jockham folgten dem Beispiel. Und sogar einige Traditionalisten und Expansionisten, die viel lieber jemanden wie Karrek auf dem Thron gesehen hätten. Aber was sie einte, das war das Misstrauen oder die Empörung über Meliac Allecars Coup. Oder vielleicht auch die Neigung zu einem starken Abgang.
Denn sie wussten, was Rallis Thelams Geste bedeutete. Eine Geste, die uralt und allbekannt war, in den Sitzungen moderner Ratsversammlungen aber nur noch sehr sparsam eingesetzt wurde. Rallis hatte Meliac Allecar als Frevler bezeichnet, dessen Gegenwart den geheiligten Boden entweihte und die er deshalb nicht hinnehmen wollte. In der aufgeklärten Gegenwart war das nur noch eine Geste, deren Ursprung viele Akarii nicht einmal mehr begriffen – aber es war dennoch eine mächtige Geste, zu der man nur im äußersten Notfall griff. Und es war eine Drohung.

Der kurz abgeflaute Tumult brandete wieder hoch, als sich Ratsmitglieder gegenseitig anschrien, zum Bleiben oder Gehen aufforderten und erneut handgreiflich wurden. Das Chaos wurde noch vergrößert, als ein Teil der imperialen Gardisten, dem üblichen Protokoll folgend, vor den ausziehenden Ratsmitgliedern salutierten, was von einigen anderen Ratsherren aber als Beifall verstanden wurde.
Auch im Zuschauerrund brach das Chaos wieder los, wurden wütend Beschimpfungen und Schläge ausgetauscht. Erst das verspätete Eintreffen zusätzlicher Gardesoldaten brachte den Aufruhr zum Abflauen.
Eine halbe Stunde später war der Saal leer. Und das würde er auch bleiben, bis sich das Schicksal des Imperiums an anderer Stelle entscheiden würde. In einem Ring aus Sand, Blut und Stahl.

***

Einige Stunden später an selber Stelle

Die Ratshalle lag im Dunkeln, still und verlassen. Normalerweise hätte man um diese Zeit damit rechnen müssen, Reinigungskräfte an der Arbeit zu finden – oder vielleicht auch einen imperialen Gardisten bei einem der in unregelmäßigen Intervallen angesetzten Kontrollgänge. Aber Alet Qau hatte sich Privatsphäre ausgedungen – eines der Vorteile, die sein Amt mit sich brachte.
Der Kanzler des Akarii-Imperiums saß zur Rechten des verwaisten Throns und betrachtete sinnend seinen Amtsstab. Seine Finger ertasteten eine feine Bruchlinie in dem massiven Holzschaft, die heute Morgen noch nicht dagewesen war. Alet Qau verzog den Mund als würde er einen unangenehmen Geschmack auf der Zunge spüren. Er gab sonst nichts auf Ohmen, aber DAS…
„Erhofft Ihr euch Ratschlag von den Geister unserer Ahnen, Kanzler? Dann fürchte ich, Ihr wartet vergeblich. Sie sind verstummt, schon vor langer Zeit. Wir sind allein und müssen selber unseren Weg finden.“
Alet Qau blickte irritiert auf: „Ihr.“
„Ich.“ Ein paar Schritte brachten Rallis Thelam zu dem leeren Thron. Er strich behutsam, fast zärtlich über Holz und Edelmetall, zögerte kurz – und stützte sich dann mit einem süffisant wirkenden Lächeln an die Armlehne.
„Eigentlich hatte ich Weisung gegeben, dass ich nicht gestört werden möchte.“
Der kaiserliche Prinz winkte ab: „Es hat seine Vorteile, ein Thelam zu sein. Auch wenn mein Haus vielleicht nicht mehr in ganz so hohem Ansehen steht wie noch vor kurzer Zeit.“
„Dieser verdammte Narr! Was hat er sich nur dabei gedacht?!“
„Meliac Allecar ist ein Mann, der eine Brücke hinter sich anzündet, um unbelastet vorwärts zu stürmen.“
„Ihr redet von Feuer? Allecar wäre bereit, das Reich in Brand zu setzen, nur um über die Asche zu regieren.“
„Wenn ihn niemand aufhält.“
„Und wer soll das sein? Ihr?!“ Der Kanzler schnaubte kurz: „Dieser Narr treibt uns vor sich her wie Buschfeuer das Wild. Jockham glaubt vielleicht, die Initiative ergriffen zu haben, aber ich frage mich, ob diese blödsinnige Herausforderung nicht genau das war, was Meliac wollte. Und mit eurer…dramatischen Geste gießt Ihr Öl in die Flammen, die er entfacht hat. Ich hätte euch niemals meinen Neffen überlassen dürfen.“
„Dan macht sich gut. Er lernt vom Besten.“ Rallis Thelam litt nicht unter falscher Bescheidenheit: „Und es war ja nicht so, dass ich heute eine WAHL gehabt hätte. Ich musste reagieren – und Ihr wart nicht der einzige, den Meliac Allecars Spielzug überrascht hat. Was also hätte ich tun sollen? Klein beigeben? Die kaiserliche Familie hat schon genug Ansehen verloren. Noch eine Duellforderung? Das wäre ganz einfach LÄCHERLICH gewesen. Ihr solltet mir dankbar sein."
"Dankbar?" Qau lachte bitter auf: "So würde ich das nicht nennen, was ich empfinde."
"Denkt nach! Ihr müsst doch gesehen haben, wo dieser Aufruhr hinsteuerte. Gut möglich, dass eines der alten Häuser gefordert hätte, gegen Allecar eine öffentliche Anklage auszusprechen."
"Das wäre niemals durchgekommen. Linai hatte den Saal schließlich schon verlassen, und Allecar hat ohnehin zu viele Anhänger..." Der Kanzler hielt inne.
"Genau. Und was hätte DAS für das Ansehen von Haus Thelam im Allgemeinen und Prinzessin Linai im Speziellen bedeutet?"
"Erzählt mir nicht, dass Ihr das für sie getan habt!"
"Ich tat es für das Reich.
Und es hätte genauso gut passieren können, dass jemand dieses Chaos genutzt hätte, um die Proklamation eines anderen Thronprätendenten zu fordern. Jemanden, der sich nicht durch eine so...pikante Herkunft auszeichnet wie Linais ungeborener Sohn. Karrek, Navarr..."
"Oder vielleicht auch Ihr? Das hätte niemand gewagt."
"Glaubt Ihr? In dieser Situation? Und ich dachte, Allecar hätte euch eines Besseren belehrt. Wenn es um den Thron geht, ist NICHTS mehr unmöglich."
"Und aus reiner Selbstlosigkeit habt Ihr durch eure...Geste diese Gefahr gebannt?"
"Ihr wisst, was ich will. Doch im Gegensatz zu Allecar bin ich nicht bereit, dafür das Reich in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Und die meisten Adligen sehen es genauso.
Nach meiner 'Geste' überlegt Allecar es sich vielleicht, ob er noch einmal so forsch auftritt. Sogar er muss begriffen haben, dass sein Winkelzug im Adelsrat nicht unbedingt gut angekommen ist.“
„Ihr habt ihn herausgefordert. Schon wieder. Und vor aller Augen. Vielleicht nicht so direkt wie Jockham…“
„Er wusste schon vorher, wo ich stehe. Ich habe es nur noch einmal deutlich gemacht. Und damit jenen einen Weg geboten, die ähnlich empfinden. Oder keinen Allecar auf dem Thron wollen, aber es nicht wagen eine Fehde auszurufen.“
„Verratet Ihr mir, wie Ihr diesen Auszug organisiert habt?“
„Im Grunde war es ganz einfach. Eine kurze Textbotschaft an meine Verbündete im Rat. Und ein Gefühl für die Situation und den richtigen Augenblick.“
„Das Haus Otrano Eurem Vorbild gefolgt ist, war ja nicht überraschend. Katall ist ein gemäßigter Traditionalist mit felsenfesten Ansichten davon, was sich gehört. Aber wie habt Ihr es nur geschafft, dass Bors und Nellan an einem Strang ziehen?“
„Nun überschätzt Ihr mich. Ich habe nicht ALLES in der Hand. Sonst wäre Meliac Allecar heute nicht einmal Nähe des Adelsrates gekommen. Außer damit wir seiner Hinrichtung beiwohnen.“
„Wie traditionsbewusst.“ spottete Kanzler Qau. Es war mehrere Jahrhunderte her, dass die Halle des Adelsrates das letzte Mal für diesen Zweck genutzt worden war. Und das war schon damals von den meisten Adligen als eine etwas geschmacklose Reminiszenz an eine blutigere Vergangenheit angesehen worden.
„Aber diese Vorstellungen hat doch etwas für sich, nicht wahr? Was Bors und Nellan angeht…
Sie fanden sich auf einmal auf derselben Straße wieder, mit dem gleichen Feind - und waren gezwungen, ein paar Meter in eine Richtung zu gehen. Vielleicht kann man sie ja…ermutigen, das noch ein wenig fortzusetzen. Ich habe mir sagen lassen, dass Lord Bors seinen so unzeitig verblichenen Vater nicht unbedingt zu schätzen wusste. Söhne und Väter…
Ich frage mich, ob wohl Meliac Allecar ganz begriffen hat, was er seinem Sprössling für ein ‚Geschenk’ gemacht hat, als er seine Liaison mit Linai derart öffentlich machte.“
„Davon wusste doch jeder.“ Alet Qau winkte ab. Er hatte so seine Vermutung, wer daran beteiligt gewesen war, die Gerüchte über Prinzessin Linai und Dero in Umlauf zu bringen.
„Aber es war nur eine Vermutung. Das konnte man ignorieren. Wir leben schließlich nicht mehr wie vor ein paar tausend Jahren. Sogar Tobarii konnte es übersehen.
Aber jetzt kann sich niemand mehr den Luxus leisten, sich blind zu stellen. Jetzt geht es um mehr als die belanglose Frage, in welchen Betten jemand Zuneigung sucht und findet.
Jetzt…selbst WENN sich Allecar durchsetzen würde, er hat seinem Sohn und seinem…’Enkel’ eine schwere Bürde überlassen. Jedes Fehlverhalten, jeder noch so kleine physische oder psychische Makel des ‚Imperators’ wird an seine fragwürdige Herkunft erinnern. Wir sind kein Volk, das so etwas vergisst. Und sollte Linai gar eine Fehlgeburt haben…“
„Seid vorsichtig mit dem, was Ihr da andeutet.“ Alet Qaus Stimme klang heiser.
„Ich wollte damit nur sagen, meine liebe Cousine sollte in der nächsten Zeit besser auf ihre Gesundheit achten. Dank des Vaters ihres…Bekannten ist sie jetzt in einer sehr viel gefährlicheren Lage als jemals zuvor. Das muss ihr klar sein.“
„Die Prinzessin weiß das und wird dementsprechend handeln.“ ‚Und ich wette, du hast alles getan, um diese Krise anzuheizen. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber…’
„Dann sollte sie sich vielleicht auch daran erinnern, dass der einzelne Baum von einer Böe gefällt wird, wo der Wald dem Orkan widersteht. Sie braucht die Unterstützung ihrer Familie. Diese…delikate Beschuldigung betrifft nicht nur sie, sondern das Ansehen der ganzen Linie. Wer könnte schon gegen die vereinte Macht der Thelam-Linie bestehen?“
„Ich werde Ihr von euren Worten berichten.“ Alet Qaus Stimme klang trocken.
Rallis Thelam lächelte flüchtig, löste sich vom Thron und wanderte langsam an der untersten Sitzreihe des Adelsrates entlang, eine Hand leicht über die Rückenlehnen streifend: „Wenn Allecar schon sonst nichts hat, dann zumindest Mut. Das Imperium hat zwei Herzen – den kaiserlichen Thronsaal und den Adelsrat. Und diese Wände hier haben wahrscheinlich die besseren Reden gehört.“
Alet Qau schnaubte kurz amüsiert: „Für ein Mitglied des Kaiserhauses eine etwas ungewöhnliche Ansicht.“
„Ich schmeichele mir, dass die Fähigkeit zur Selbstreflexion eine meiner liebenswürdigeren Eigenschaften ist.
Aber indem Meliac Linai und Tobarii hier herausgefordert hat, hat er seine Anklage praktisch in die Ewigkeit hinausgebrüllt. Man wird nicht vergessen, dass die Regentin und ihr Gemahl vor dem versammelten Adelsrat blamiert wurden. In den Hallen, die den Tod von Kaisern, den Aufstieg ganzer Dynastien gesehen haben. Dieser Ort hat Macht.“
„Sagt mir nicht, dass Ihr an diesen Unsinn glaubt. Unsere Vorfahren mögen das behauptet haben, aber sie glaubten auch an Ungeheuer, Zauberei und die lebendigen Götter.“
„Ich glaube an die Macht von Symbolen.“
„Dafür wird es jetzt vielleicht ein wenig spät. Und wenn das alles war, weswegen Ihr meine Kontemplation unterbrechen wolltet, Hoheit…“ Der Kanzler erhob sich.
„Hmm? Wollt Ihr schon gehen?“
„Meine Pflichten rufen.“ ‚Und Ruhe und Frieden werde ich hier nicht mehr finden, solange du da bist. Aber ich kann dich wohl kaum wegschicken.’ Rallis Thelam hatte Kanzler Qau wieder einmal Stoff zum Nachdenken gegeben. ‚Ich habe dich schon einmal unterschätzt. Genauso wie Meliac Allecar. Dass du nicht brüllst, macht dich nicht weniger gefährlich.’
„Dann werde ich bleiben und Euren Platz einnehmen. Wer weiß, vielleicht haben mir die Geister unserer Ahnen ja doch noch etwas zu sagen…“

Alet Qau sollte später noch das ein oder andere Mal an Rallis Thelams Worte zurückdenken. An die von Schatten verhüllten Sitzreihen des Adelsrates und dazwischen nachdenklich, täuschend harmlos wirkend, der Thronprätendent – den Kopf mit einem schattenhaften Lächeln leicht zur Seite geneigt, als würde er tatsächlich auf die Stimmen der Ahnen lauschen, die unhörbar zwischen den Marmorsäulen wisperten.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:33:

 

Viele Leute hielten den Schwertkampf für schwierig. Noch viel mehr hielten ihn für antiquierten Unsinn, den die Adelsklasse als vermeintliches Privileg pflegte, ein einfaches Schaulaufen ohne tiefere Bedeutung. Simpel, aufgebauscht, nicht einmal die Zeit wert, die die "Adligen" darauf verschwendeten. Vor allem das Drehh sahen viele als allzu scharfes Spielzeug an.
Dero sah dies ähnlich, und doch anders. Der Schwertkampf war schwierig. Und er war ein Schaulaufen der Adligen. Aber er war weder simpel, noch aufgebauscht. Und er war jede einzelne Stunde wert, die man mit ihm verbrachte.
Das Ziehen der Klinge seines Drehh war eins mit dem Aufwärtshieb nach oben rechts. Der Ziehschlag durchtrennte einen Pfosten aus gebundenem Stroh, der seit viertausend Jahren - meistens - anstelle von Akarii-Körpern verwendet wurde, säuberlich in einem Winkel von siebenundfünfzig Grad. Fünfundvierzig wäre optimal gewesen, aber Dero nutzte den höheren Winkel, um die linke Hand zur Rechten zu führen, nachdem er die Schneide nach unten gedreht hatte, um, als der Griff perfekt war, die Waffe, als hätte sie ein Eigenleben, mit fast seiner ganzen Kraft in den Strohpfosten vor ihm fahren zu lassen und ihn komplett zu spalten. Ein Teil des Holzpfosten wurde mit gespalten. Dennoch bereitete es Dero keinerlei Mühe, die Waffe hervor zu ziehen und für einen Stich auf das letzte Übungsziel zu verwenden. Er ging dort in den Strohpfosten, wo durchschnittlich große Akarii ihre Kehle hatten und durchschlug den Ersatz glatt.
Früher, in den Zeiten ohne Gewissen, als Gefangene und Sklaven nicht einmal so viel wert gewesen waren wie der Dreck unter den Fingerkrallen, war es nicht unüblich gewesen, für diese Übung Akarii zu verwenden, um sich der Schärfe der Klinge zu vergewissern. Gerade nach großen Schlachten, wenn es mehr Gefangene gab als der damalige Sklavenmarkt aufzunehmen vermochten und die Männer eh übrig waren, vor allem die Entzündeten, die Amputierten, die Blinden, waren sie in solchen Übungen niedergemacht worden. Diese Zeiten waren vorbei, und wenn auch mancher Adliger ihnen hinterher trauerte, Dero tat es nicht. Bei einer Übung musste nur eine Sorte Blut fließen: Das desjenigen, der sein Schwert nicht respektierte und die Übung nicht beherrschte.
Als er seine Waffe wieder hervorzog und in ihre Scheide gleiten ließ, erfüllte ihn tiefe innere Ruhe. Er war die Ruhe.

Manche mochten diese Übungen gegen Ziele, die sich nicht wehren konnten, für sinnlos halten. Das bedeutete aber nur, dass sie keine Ahnung von dem hatten, was hier geschah. Nur, wenn man permanent trainierte, wenn man jede Bewegung perfektionierte, wenn das was man tat, keine Abfolge von Bewegungen war, sondern das Malen eines Bildes, dann erst war man dem nahe, was manche heiser als "Perfektion" bezeichneten.
Dero ging auf die Knie und setzte sich auf die Beine. Die Terraner hatten eine ähnliche Sitzhaltung, die sie Seiza nannten. Die akariische Bezeichnung war Heklar, wie die Sprache der Soldaten. Diese Sitzhaltung sowie die Sprache gab der obersten akariischen Klasse seine Erhabenheit, trennte sie vom Volke, machte die wenigen Krieger gegenüber der Masse der Arbeiter und Bauern zur Elite. Denn das mussten sie sein, um ihren Platz im Adel behalten zu können: Elite.
Dero konzentrierte sich aufs Atmen. Er schloss die Augen. Aber er nahm seine Umgebung immer noch wahr. Die dünne Sitzmatte, auf der er hockte, den leichten Leinenmantel, den er über dem nackten Körper trug, das Drehh in seiner Scheide an seiner Seite, die Holzpfosten, zum Teil zerschlagen, die kleine Trainingshalle, und die vier schwer bewaffneten Bodyguards, die vor den Türen standen und Wache hielten, um sein Leben zu beschützen, so wie sein Vater Meliac es wollte. Zumindest bis zum Duell. Dero wusste, dass sein Vater Kopf stand, weil sein Sohn, seine Hoffnung - beinahe hätte er aufgelacht und die tiefe Ruhe zerstört - in dieser unbedeutenden Trainingshalle irgendwo in der Provinz trainierte, anstatt in der Hauptstadt zu bleiben oder gleich in einem Raum des Allecar-Anwesens zu trainieren. Aber dort hätte er keine Ruhe gefunden, keinen inneren Frieden. Zu viele Gedanken wären ihm durch den Kopf gegangen. Zwar war es ausgerechnet gegen einen Untrainierten wie Tobarii Jockham nicht notwendig, mit voller Kraft zu kämpfen, aber es war eine Frage des Respekts ihm gegenüber. Dero erwartete keine Schonung und wollte auch keine gewähren. Er würde mit seiner vollen Kraft kämpfen und entweder in dem Duell sterben oder Tobarii töten. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Einen anderen Ausgang konnte und durfte es nicht geben. Nicht, weil Dero blutdürstig war, nicht, weil er sich nicht zu zügeln gewusst hätte, sondern weil sein Vater Anspruch auf den Thron erhoben hatte. Indirekt zwar, aber er hatte nach dem Thron gegriffen. Diese Ungeheuerlichkeit musste mit Blut fortgewaschen oder mit Blut zu Recht geschmiedet werden. Alles andere als ein toter Gegner wäre nicht nur respektlos gewesen, sondern hätte dazu geführt, dass es ein zweites, ein drittes, ein viertes Duell gegeben hätte. Vielleicht sogar eine endlose Abfolge von Duellen zwischen Jockhams und Allecars, bis hin zum Bürgerkrieg. Der Streit musste entschieden werden, beendet werden, mit einem Toten. Die Frage war nur, wer sollte gewinnen?

Kurz drifteten seine Gedanken ab, zurück in jene Zeit, als er den Palast "terrorisiert" hatte. Er war der Anstifter einer Gruppe Jugendlicher gewesen, die sich aus dem Palast, ja, aus dem sicheren inneren Viertel geschlichen hatten, um in den verruchteren Vierteln - nicht in den ganz verruchten, man hatte schließlich ein klein wenig Verstand - bis in die frühen Morgenstunden zu feiern. Ein paarmal hatten sie sogar Linai mitgenommen, die damals gerade erst zur Frau erblühte. Niemals hatte er es ihr abgeschlagen, sie mitzunehmen. Stets hatten sie gemacht, was Linai "vorgeschlagen" hatte. Nicht, weil es niemand gewagt hätte, der Prinzessin zu widersprechen, nicht, weil er keinen eigenen Willen gehabt hätte, sondern weil sie alle Linai von Herzen lieb gehabt hatten. Sie hatten alle gewusst, welches Leben auf sie warten würde, welche Mühen sie würde auf sich nehmen müssen, darum hatten sie ihr alle die kurzen, spannenden Stunden außerhalb des Palasts gegönnt. Zumindest, bis der alte Eliak dahinter gekommen war, die Personenschützer Linais in die dunkelste Provinz versetzt und einen komplett neuen Personenschutz für sie aufgebaut hatte, dem sie nicht mehr hatte entkommen können. Ihr Leben im goldenen Käfig hatte sie schnell wieder eingefangen. Ein Seufzer drohte sich Deros Kehle zu entringen, aber er rang ihn nieder. Die Erinnerungen jedoch konnte er nicht niederringen.
In diesen jungen Jahren war ihm die Ehre zuteil geworden, der erste Schlafpartner der Prinzessin zu sein, was nicht unbedingt eine große Sache war, denn nur einer von zehn ersten Schlafpartnern wurde schließlich auch der Ehepartner; das sahen die Akarii, gerade die von Adel, erstaunlich gelassen, wenn man sich andere, stark verknöcherte und "heilige" Traditionen ansah. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sie damals gerochen hatte, wie sich das Kleid ihrer Schuppen unter seiner rauen Hand angefühlt hatte, hörte noch immer ihr ekstatisches Atmen, die kleinen Lustschreie, die ihr im Akt immer wieder entkamen... Und als sie ihn neulich verführt hatte, war es genauso gewesen wie damals. Jene Nacht, in der sie ihren Sohn gezeugt hatten, der einstmals Imperator werden sollte und auf dem Meliac, der alte Narr, Anspruch erhoben hatte, um als Kindsvatersvater Kanzler zu werden und die Macht von Linais Familie auf die Allecars zu übertragen. Aber war dies wirklich wahr? Die Genprobe, die Vaters Agenten "besorgt" hatten, war so eindeutig, dass man sich keinen Zweifeln zu stellen brauchte. Es gab definitiv ein noch ungeborenes Kind, das seine Gene trug, so viel war sicher. Aber war es das, das Linai jetzt gerade austrug? Die akariische Medizin kannte nicht nur Mittel und Wege, um die DNS eines Kindes zuzuordnen. Sie war auch sehr fortschrittlich im Bereich der Invitro-Zeugung. Aber das war Spekulation. In einer Zeit, in der eine Dienerin oder auch nur eine Hure von der Straße nur ein wenig Speichel, Sperma oder auch nur ein paar Schuppen eines Adligen brauchte, um aus dessen und ihrer DNS ein Kind "machen" zu lassen, um Anspruch auf den Adelstitel des Vaters zu erheben, war die Erbfolge strikt geregelt. Das Kind, so es denn seines war, würde Eliaks Linie zugerechnet und hatte keinerlei Anspruch auf die Güter und Besitztümer der Allecar-Familie. Er als erstgeborener Sohn und potentieller Vater hätte damit einen Erben gezeugt, der nach Meliac und ihm nicht nur das ungeheure Mega-Vermögen der Allecar geerbt hätte, sondern auch Macht, Ansehen und Sitz im Rat. Dies hätte beide Familien unweigerlich vereinigt und die Allecars alles gekostet - außer, fortan würde der Allecar-Zweig die Geschäfte führen. Das Duell wurde also nicht nur um das Kind geführt, sondern auch darum, ob es zuerst ein Allecar war, oder zuerst Eliaks Linie zuzuordnen war. Ein Allecar mochte auf dem Thron sitzen und der neue Kaiser sein, aber Eliaks Erbe würde nicht die Allecar beerben. Vater spielte hoch und hoffte alles zu gewinnen, indem er das Kind anerkannte, bevor es überhaupt geboren worden war. Und all dies ruhte nun auf dem Duell, auf seinen Schultern.

Deros Gedanken schweiften weiter. Er hatte immer den Schwertkampf trainiert. Nicht, weil es sich für einen Adligen so gehörte, sondern weil die Kunst, das Drehh zu führen mehr war als ein scharfes Stück Stahl zu schwingen. Es war Erwartung, Meditation und die Schärfung aller Sinne. Eine solche Waffe zu hantieren, zu wissen, dass man damit Tod bringen konnte, die Verantwortung zu akzeptieren, anzunehmen, sich nicht korrumpieren zu lassen und die Kontrolle zu behalten hatte ihn aus den Schülerrängen schnell in die Meisterränge befördert, auch wenn seine Schule klein war und er es nicht auf große Schiffshüllen gemalt hatte. Wie sinnvoll dieses Training hatte werden sollen, hatte sich alsbald gezeigt, als er nach dem Willen seines Vaters "Demut" hatte lernen sollen. Es war allgemein üblich, dass die männlichen Nachkommen von Adel, so sie nicht wie sein alter Freund Taran gleich ins Militär wechselten, zumindest die Grundausbildung durchliefen und Seite an Seite mit den geringeren Soldaten die Grundwehrzeit durchliefen. Natürlich hatte man die besonderen Sprösslinge wie ihn, einen Erben der Allecars und andere in eine gemeinsame Einheit gesteckt. Und diese Einheit hatte auch nur einmal Aktion gesehen, während andere Rekrutenkompanien für die Praxiserfahrung in Bürgerkriegen und in Assimilationen eingesetzt worden waren. Dieses eine Mal war allerdings einmal zu viel gewesen, denn seine Einheit war bereits beim Anflug abgeschossen worden; irgendjemand schien gewusst zu haben, was der mittlere von fünf Transportern geladen hatte und gezielt vom Himmel geholt. Nach dem Aufprall hatte sich das Gelände als Hinterhalt erwiesen, und die Offiziere und Unteroffiziere, die die fünf Dutzend Adelssöhne kommandierten, waren ausgeschaltet oder gleich getötet worden. Auch einige seiner Kameraden waren erschossen worden, was seine Hoffnung, als politische Gefangene zu enden, effektiv zunichte gemacht hatte. Also hatte er das einzig Richtige in der Situation getan. Er hatte Oberleutnant Vashh sein Sirash abgenommen und anschließend das Kommando über die Rekruten übernommen, weil es sonst niemand tat. Sie hatten, unter Dauerfeuer liegend, geduckt unterhalb der Grasnarbe kleine Gräben ausgehoben, sich verschanzt, das Feuer erwidert und den Feind so gut es ging auf Distanz gehalten. Einen langen Tag und eine noch längere Nacht war dies so gegangen, und alleine in der Nacht hatte der Feind zu fünf Sturmläufen und unzähligen Schleichattacken angesetzt. Dabei war das Häuflein weiter geschrumpft. Tote, Verletzte, dumme Jungs, die den Druck nicht mehr ausgehalten hatten, aufgesprungen waren und von den Scharfschützen liquidiert worden waren... Mit dem Morgen kam die Verstärkung. Anscheinend hatte irgendjemand im Hauptquartier doch noch gemerkt, warum vor dem Einheitsnamen ein Stern geklebt worden war und wen man hier mitten im Feindesfeuer im Stich gelassen hatte. Schließlich, mit siebzehn Toten und neununddreißig zum Teil schwer Verletzten, hatte man sie rausgehauen. Die anschließende Eliminierung des Gegners nahm weitere zwei Tage in Anspruch, und in all dieser Zeit hatte nie jemand Deros Kommando über den nun kläglich zusammengeschmolzenen Rekrutenhaufen in Frage gestellt.
Alleine mit dem Sirash hatte er neun Rebellen getötet, zumeist in der Nacht, wenn sie sich angeschlichen hatten. Mit der Waffe waren es mehr gewesen, zu viele, um sie zu zählen. Das hatte er getan, um zu überleben. Sie alle hatten getötet, um zu überleben. Auch die Rebellen hatten getötet, um zu überleben. Aber der Atem der kaiserlichen Truppen war länger gewesen als jener der Rebellen. Und am Ende hatte man Dero dafür belobigt, ihm einen Haufen Orden an die Brust geheftet und ihm die Promotion zum Offizier angetragen. Dies hatte er ablehnen müssen, denn Offizier zu werden hätte bedeutet, Karriere im Militär zu machen, anstatt sich auf die Übernahme des Wirtschaftsimperium der Allecars zu konzentrieren. Um das Gesicht zu wahren hatte das Militär ihm eine andere Promotion gegeben, die zum höchstrangigen Unteroffizier, und der Kriegsminister hatte ihn "ermuntert", diese anzunehmen, weil dies bedeutete, dass er sich eben nicht verpflichtete. Eine Lösung, die allen Seiten gefallen hatte.

Nur nicht seinem Vater. Meliac war wütend geworden, ausgerastet, mit schleimigen Geifer vor dem Maul, als er seinen Sohn gefragt hatte, ob er wahnsinnig geworden war. Wie konnte ein Unteroffizier nur jemals - JEMALS - das Erbe der Allecar antreten? Darauf waren Verbannung, Enterbung und Entehrung gefolgt. Deros Leben hatte in Scherben gelegen. Aber da er trotzdem ein Allecar war, hatte er privates Vermögen, auf das sein Vater keinerlei Einfluss hatte. Es war genug gewesen, um zu studieren, als Anwalt zu promovieren und sich in der ruhigen Provinz niederzulassen, weitab der Hauptstadt, weitab seines Vaters, für den der Sohn "nun nutzlos" geworden war. Damals hatte ihm der Schwertkampf immer geholfen. Vor allem hatte er ihm dabei geholfen, sich zu fokussieren und dem Drang zu widerstehen, sich mit der Klinge die Arme aufzuschlitzen, was ihm damals oft durch den Kopf gegangen war.
In der kleinen Schule, in der er damals trainiert hatte, war er eine große Nummer gewesen, wie er sich erinnerte. Nicht, weil er Dero Allecar war, oder gar der einzige Anwalt im Ort, sondern weil er mit dem Sirash getötet hatte. Seine Klinge hatte Blut gesehen. Er hatte Vashhs Klinge immer noch, bewahrte sie an einem Ehrenplatz auf, obwohl er versucht hatte, sie seiner Familie zurückzugeben. Aber Vashhs Eltern hatten keine Bedenken gegen einen Unteroffizier gehabt und ihn geehrt und noch mehr geehrt, weil er die Klinge ihres Sohnes in Feindesblut getränkt hatte. Daher hatte er das Schicksal des Sohnes geerbt und damit die Klinge. Ach, und ein weiterer Grund war es, der seinem Meister bemerkenswert erschienen war: Dero war Drehh-Kämpfer, hatte aber nur das kürzere Sirash gehabt und dennoch überlebt.
Es waren friedliche Zeiten gewesen. Zu friedlich für seinen Geschmack, meistens, aber nicht unangenehm. Das hatte nicht zuletzt daran gelegen, dass Linai ihm wieder und wieder versichert hatte, dass ihr sein Unteroffiziersrang nichts ausmachte, dass er immer das bleiben würde, was er für sie war, ihr erster Bettpartner. Dies war sogar so weit gegangen, dass eines Nachts der Geheimdienst sein Haus gestürmt hatte - Linai hatte geträumt, er hätte sich etwas angetan und sofort die Kavallerie losgeschickt.
Linai... Für ihre Zuneigung, ihre Freundschaft, für ihre Liebe würde er alles tun. Alles. Denn Linai bedeutete ihm alles. Ihnen beiden war klar gewesen, dass es eine gemeinsame Zukunft niemals hatte geben können, niemals hatte geben dürfen. Denn selbst als der Narr Jor noch gelebt hatte, hätte die Verbindung der Kaiserfamilie mit den Allecar zuviel Macht konzentriert, und das hätten die anderen Adelshäuser sehr übel genommen. Nun aber, mit dem Thron vakant und dem Reich in Unruhe, gab es nicht wenige, die eine Okkupation des Throns durch die Macht und das Ansehen der Allecars guthießen. Zumindest als Zwischenlösung. Denn egal, was man über einen Allecar denken mochte, sie waren Adlige durch und durch, sich ihrer Verantwortung für den Kaiser, das Reich und die Akarii vollends bewusst. Das Familienmotto war: "Herrsche, um zu dienen." Und das war, was allen Allecars von kleinauf in die Herzen geprügelt wurde. Deshalb hatte Dero es nicht hinnehmen können, im Feindesfeuer einfach zu sterben. Deshalb hatte er sich auch nicht einfach ergeben können.
Und deshalb... Und deshalb griff er nach der verschwindend kleinen Chance, der Gelegenheit, Tobarii zu töten und als Kindsvater des ungeborenen Kaisers anerkannt zu werden. Dann, vielleicht dann, konnte er Linai wieder näher sein, vielleicht gar sie heiraten, eine Familie mit ihr und dem Kind sein und ein flüchtigen Funken Glück einfangen.

Aber er hatte sie zu lieb, um ihr seine Wünsche und Hoffnungen aufzudrängen. Wenn sich ihre Wünsche deckten, würde er das hinnehmen, und die Hoffnungen mit Leben füllen, so gut er es vermochte. Deckten sie sich nicht, dann... Dann würde er tun, was immer getan werden musste, um Linai zu schützen. Notfalls auch vor Meliac, seinem Vater. Notfalls vor ganz Akar.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:33:

 

An Bord der Columbia
Sterntor-System

„Humpf, Humpf, Huuumpf…“
„Komm schon, Donnie, einen schaffst du noch!“
„Huuuummmpppffff.“
Gerade noch so und nur mit Hilfe von Titan schaffte es Stuntman, die knapp 100 Kilo schwere Langhantel auf den Halterungen der Schrägbank abzusetzen. Er ächzte schwer unter dieser Belastung, auch weil das gesamte Training mit seiner Trainingspartnerin so anstrengend war. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht und seine Arme brannten vor Anstrengung. Aber trotz – oder vielleicht gerade wegen - des fordernden Trainings fühlte er sich gut.
Langsam kam er wieder zur Puste. „Mann, vor ein paar Wochen hab ich nicht mal die Hälfte an Gewicht geschafft.“
„Ja, du machst gute Fortschritte, aber ich denke wir sollten fürs Erste wieder an der Anzahl der Wiederholungen arbeiten und nicht mehr am Gewicht, Donnie.“
„Nenn mich nicht immer Donnie, sonst nenn ich dich Bevie!“
„Ich bin deine Sektionsleiterin, also darf ich dich nennen, wie ich will, Lakai…!“ Sie grinste ihn herausfordernd an.
Donovan lächelte säuerlich. „Nicht mehr lange!“ Er spielte damit auf den Konkurrenzkampf zwischen Titan, Too-Tall und ihm selbst an. Stafford hatte allen drei Piloten mitgeteilt, dass er sie allesamt als für den dritten Sektionsführer geeignet ansah und das Titan im Augenblick die Nase vorn gehabt hatte. Aber eben nur im Augenblick.
Und damit war der Wettstreit zwischen den drei Piloten voll entbrannt. Zum Glück waren sie alle inzwischen miteinander befreundet und trainierten zusammen, so dass ihre Rivalität eher einem gegenseitigen Anspornen und Necken entsprach statt einem offenen Konflikt. Und irgendwie hatte Donovan so eine Ahnung, dass das genau die Absicht ihres neuen CAG und Staffelführers gewesen war.
Donovan konnte Stafford noch immer nicht genau einschätzen. Aber in zwischenmenschlichen Belangen schien er – vielleicht mit Ausnahme von Darkness – alle seine früheren Staffelführer locker in die Tasche stecken zu können.
„Pah, träum weiter.“ Titan hatte die Kilozahl nur unwesentlich auf 80 Kilo reduziert, machte aber dabei fast mühelos doppelt so viele Pushes wie Cartmell. Donovan musste Grinsen, vielleicht hatte sie Recht, vielleicht träumte er nur. Aber er musste zugeben, dass ihm der Gedanke sich mit Titan und Too-Tall zu messen irgendwie gefiel.
Der Hüne, der hinter Titan an der Schrägbank stand um einzugreifen, wenn es nötig gewesen wäre, schaltete sich nun auch in die Diskussion ein. „Wenn zwei sich streiten, freut sich ja bakanntlich der Dritte. Vergesst nicht, dass Cowboy mir mindestens genauso viele Aussichten auf die dritte Sektion gemacht hat, wie euch beiden Traumtänzern!“
„Pff, und ich dachte Donnie hier würde halluzinieren…“
Donovan hob abwehrend die Hände. „Hey, solange du keinen Mist baust, wirst du Sektionsführerin bleiben, wir werden dir den Posten schon nicht abluchsen.“
„Sprich nur für dich selbst, Alter Mann.“ Too-Tall grinste schief und hob entschuldigend die Hände in Richtung Titan. „Natürlich will ich in erster Linie überleben, aber ich werde auch weiter an meiner Karriere arbeiten und das bedeutet nun mal Sektionsführer, XO und irgendwann Staffelführer…“
„Und dann CAG?“
Too-Tall zuckte mit den Schultern. „Wenn´s geht, klar! Aber das dauert noch ein paar Jahre, eins nach dem anderen.“
Donovan nickte. „Genau, so sieht´s aus, Bev. Wie gesagt, im Augenblick gehört dir Sektion Drei und solange das der Fall ist, sind wir hinter dir und halten dir den Rücken frei, nicht war mein Großer?“
Too-Tall nickte. „Jepp! Aber das heißt nicht, dass wir nicht versuchen werden, dir den Posten durch Leistung wegzuschnappen.“
Beverly Carrs schaute ihre beiden Rivalen und gleichzeitigen Freunde an. „Dann werde ich mal etwas für mich absolut untypisches tun und euch trauen, dass ihr mir auch nicht in den Rücken fallen werdet. Wenn es nur nach Leistung geht, habt ihr beide eh nicht den Hauch einer Chance.“ Wieder grinste sie breit, es schien ihr offensichtlich Spaß zu machen ihre beiden Kollegen zu ärgern.
Doch dann war da noch ein anderer Blick, sie hatte dieses kurze scheue Lächeln um den Mund und einen kleinen Seitenblick, der Donovan stutzen ließ. So einen Blick hatte ihm Jean Davis auch immer zugeworfen, wenn sie mit ihm geflirtet hatte. Die Erinnerung an Jean versetzte ihm einen Stich und gleichzeitig wurde er Rot als er es bemerkte. Obwohl Jean noch an Bord der Columbia war, war er ihr jetzt seit einiger Zeit aus dem Weg gegangen. Und sie hatte es ihm auch nicht noch unnötig schwer gemacht und war zum Glück auch von ihm fern geblieben. So würde er sie langsam aber sicher vergessen können. Und auch wenn es schwer war, fing er an seine Emotionen so langsam etwas besser in den Griff zu kriegen.
Doch ausgerechnet jetzt konnte es doch nicht sein, dass Bev mit ihm flirtete. Nicht so offen und dann auch noch vor allen Leuten. Sie hatte doch gesagt, er sei nicht ihr Typ. Und sie war auch nicht seiner.
Oder?
Plötzlich ganz verlegen, schaute Donovan weg und half Too-Tall bei seinen Übungen. Und auch als Beverly ihm im nächsten Satz half, schaute er lieber angestrengt an die Decke, als direkt in Titans Gesicht.
Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Romanze. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war Gefühlschaos. Er wollte einfach nur mit Titan befreundet bleiben.
War das denn zu viel verlangt?
Er beschloss in nächster Zeit ein wenig Abstand zu Titan zu halten, nur um sicher zu gehen. Und so zog er den Rest des Trainings fast wortlos zurück und falls Titan seinen plötzlichen Stimmungswandel mitbekam, so ließ sie es sich zunächst einmal nicht anmerken.

***

Eine halbe Stunde später machten sich die drei Piloten frisch geduscht auf den Weg zur nächsten Einsatzbesprechung ihrer Staffel.
„Ach ja, ich hätte es fast vergessen.“ Titan schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Heute bekommen wir endlich unseren Ersatzpiloten.“
„Und das sagst du uns erst jetzt?“ Too-Tall schüttelte den Kopf. „Du solltest an deiner Kommunikationspolitik arbeiten, Bev. Wer ist es denn?“
„Irgend so ein Jaygee vom Flying Circus. Scheint so, dass Kali ihre Beziehungen hat spielen lassen und jemanden von dort freibekommen konnte.“
Jack Grayson kräuselte die Stirn. „Also keinen Frischling?
„Nun zumindest jemanden, der die Masters-Schlachten überlebt hat. Kann also nicht so schlecht sein, oder?“
„Shorty hat Masters auch überlebt!“
Titan nickte nachdenklich. „Auch wieder wahr..! Naja, hoffen wir einfach das Beste.“
„Na immerhin. Wundert mich, dass der Flying Circus es sich leisten kann, weitere Piloten gehen zu lassen.“
„Kali ist ja auch gegangen. Und das Geschwader muss eh wieder neu aufgebaut werden während die Derflinger wieder flott gemacht wird. Und das kann noch Monate dauern. Wir sind da sicher nicht die einzigen, die sich aus diesem Pool von Piloten bedienen werden.“
„Stimmt auch wieder.“ Grayson drehte sich zu Cartmell um. „Und, was hältst du davon?“
Donovan zuckte nur gedankenversunken mit den Schultern.
„Welche Laus ist dir denn jetzt über die Leber gelaufen?“
„Nichts. Ich… Keine Ahnung.“
Donovan schwieg, er hatte keine Lust sich auf irgendwelche Spekulationen bezüglich eines neuen Piloten zu beteiligen, den er noch nicht einmal kannte.
Seine Gedanken kreisten um Beverly und um Jean Davis. Er musste bei der ersten wohl aufpassen, dass sie sich keine falschen Hoffnungen machte. Und bei der zweiten…
Naja, so sehr er sich auch bemühte, aber er bekam sie einfach nicht aus seinem Kopf.
Seit der letzten Schlacht um Masters waren er und Jean sich aus dem Weg gegangen so gut es ging. Sie hatten sich zwar ein paar Mal aus der Ferne gesehen, doch nur kurz gegrüßt und nicht mehr miteinander gesprochen. Jedes Mal wieder war ihm ein Stich durchs Herz gefahren. Doch er wusste, dass die Stiche nur tiefer gewesen wären, wenn er auch noch mit ihr gesprochen hätte.
Donovan war erst einmal in seinem Leben verliebt gewesen und er erinnerte sich noch sehr gut an die seelischen Schmerzen, die ihm der Verlust seiner ersten Liebe bereitet hatte. Im Laufe der Zeit und der Jahre hatte das Gefühl der Trauer stetig abgenommen. Aber es hatte eben Jahre gebraucht bis er darüber hinweg war. Wie lange würde es wohl bei Jean dauern, bis sie wieder ein normales Gespräch würden führen können ohne dass es ihm wehtun würde?
Jean hingegen würde sicher keine solchen Probleme haben. Warum sollte sie auch, sie hatte ja auch auf unmissverständliche Weise klar gemacht, dass sie für ihn nicht dasselbe empfand wie er für sie.
Und nun musste er sich auch noch Gedanken um Beverly machen, das zehrte ihm auf unerklärlicherweise ebenfalls am Nervenkostüm.
Doch noch bevor er sich darüber noch weitere Gedanken machen konnte, hatte sie den Gang zu ihrem Staffelbesprechungsraum erreicht.

Und irgendwas ließ Donovan gleich die Stirn runzeln. Vor dem Raum hatte sich eine kleine Menschentraube bestehend aus dem Rest seiner Staffel gebildet. Seine Staffelkollegen standen alle vor einer einsamen Person, die Titan, Too-Tall und ihm im Augenblick den Rücken zuwandte.
Der Flightoverall war ein klares Zeichen, dass es sich bei dem Neuankömmling wohl um den neuen Piloten handeln musste.
Doch als Donovan näher kam, erkannte er an den Kurven, die sich trotz des Flightoveralls abzeichneten, dass es sich um eine Frau handeln musste. Und zwar um eine ziemlich gut gebaute.
Was ihm als nächstes auffiel, waren die Gesichtsausdrücke der übrigen Piloten. Die männlichen Piloten, vor allem The Kid, Sunnyboy und Dog hatten förmlich ein debiles Dauergrinsen im Gesicht. Cabbie und Tulip waren da schon etwas reservierter, doch auch ihr Starren war auffällig.
Artist und Kali waren zwar weniger hypnotisiert, doch auch die beiden lächelten wohl über irgendetwas das die Blondine mit den schulterlangen glatten Haaren ihnen gerade erzählte.
Als sie die Gruppe gerade erreicht hatten, verebbte gerade das Lachen über einen Witz, den die drei Neuankömmlinge nicht gehört hatten.
Kali nahm die Pilotin am Arm und drehte sie sanft herum. „Ah und hier sind die noch fehlenden Piloten der Red Sun Spirits. Titan, Too-Tall und Stuntman.“
Die Blondine dreht sich um und jetzt erkannte Donovan sofort, warum die anderen männlichen Piloten so faszinierte Blicke geworfen hatten. Die Pilotin sah außergewöhnlich gut aus. Die blonden Haare, tiefblauen Augen und der olivbraune Teint ihrer makellosen, jugendlich frisch wirkenden Haut schlugen auch ihn sofort in den Bann. Dazu kamen noch ihre offensichtlich perfekte Figur und ihr hinreißendes Lächeln.
Doch es brauchte nur ein paar kurze Augenblicke in denen sich die Pilotin brav bei Titan und Too-Tall vorstellte, da runzelte Donovan schon die Stirn. Er hatte ein unbändiges Deja-Vu und er wusste sofort, dass er sie kannte. Aber woher?

Noch bevor er darauf gekommen war, wandte sie sich schon an ihn. „Hallo Süßer, da bist du ja endlich!“ Mit einem breiten Lächeln kam die hübsche Blondine auf ihn zu, nahm ihn in den Arm und küsste ihn, noch bevor er irgendwie reagieren konnte.
Donovan war komplett verwirrt und viel zu perplex um sich zu wehren. Zumal er zugeben musste, dass das Gefühl, der Geruch und der Geschmack ihres Kusses sehr angenehm war. Lächelnd trennte sie sich von ihm.
„Nana, was ist denn das für ein Empfang? Scheint ja fast so, als ob dir unsere gemeinsame Nacht auf Seafort nicht in Erinnerung geblieben ist.“
Donovan blickte die blonde Schönheit immer noch verwirrt an, doch dann traf ihn der Donnerschlag und er erinnerte sich an die scharfe Braut, die ihn in der Piloten-Bar in Neu-Kapstadt aufgerissen hatte. Nur hatte sie damals in der Bar durchaus weniger angehabt. Dass sie ihm damals zum Abschied ein Rufzeichen als Namen gesagt hatte, hatte ihn zwar stutzig gemacht, doch irgendwie hatte er dennoch gedacht sie wäre ein Flight-Groupie gewesen und nicht selbst eine Pilotin. Er brauchte trotzdem ein paar Augenblicke ehe ihm ihr Name wieder einfiel.
„Ähmm, Bobcat???“
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, er hatte schließlich auch nur ein paar Stunden mit ihr verbracht und war zudem ja auch nicht gerade nüchtern gewesen.
„Na siehste, geht doch.“
„Ähemm…!!!“ Kali räusperte sich verärgert und ihre verschränkten Arme und ihr missbilligender Blick zeigte klar, dass ihre gute Laune mit einem Schlag dahin war. „Seid ihr fertig mit turteln?“
Bobcat hakte sich bei ihm ein und flötete ganz honigsüß. „Entschuldige, Kali, aber du kennst mich doch. Donovan und ich haben schließlich auf Seafort die Nacht…“
Kali ging barsch dazwischen. „Keine Einzelheiten, Sharon. Spar dir das für die Jungfüchse hier auf.“ Und dann wandte sie sich an Donovan. „Das gilt auch für dich, Stuntman.“
„Ich? Was hab ich jetzt denn gemacht?“.
„Das weiß ich nicht genau und ich will es auch nicht im Detail wissen.“
„Wir schon…!“ Das kam von Dog und die anderen Jungspunde mussten nun laut losprusten und konnten ihr Lachen nicht mehr unterdrücken.
So laut, dass auch Kali Mühe hatte ihre ernste Miene aufrecht zu erhalten. Leicht grinsend schüttelte sie den Kopf. „Ich hätte sowas schon ahnen müssen, als ich dich angefragt habe, Sharon. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du sooo schnell loslegst. Du bist noch nicht mal richtig an Bord und fängst schon wieder…“ Sie stockte, als sie merkte, dass der Rest der Staffel an ihren Lippen hing. Weiter wollte sie das Thema nicht vertiefen. Dann hob Kali mahnend den Zeigefinger. „Vorsicht, Lieutenant Rogers, hier bei den Angry Angels genießt du keine Narrenfreiheit, verstanden? Hier zählt nur deine Leistung als Pilotin und sonst nichts, habe ich mich klar ausgedrückt?“
Schlagartig war Bobcat wieder Ernst und löste ihren Arm von Donovan. „Keine Sorge, Commander! Sie wissen, dass sie sich da draußen jederzeit auf mich verlassen können.“
„Gut! Und jetzt genug geturtelt, Cowboy kann jeden Moment hier auftauchen. Lasst uns im Besprechungsraum auf ihn warten.“
Donovan schaute sich noch schnell um, bevor der Rest der Staffel in den Besprechungsraum ging. Der Großteil der übrigen Piloten blickte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an, die älteren Piloten wie Artist oder Too-Tall schüttelten eher die Köpfe. In dem Blick der jüngeren Piloten hingegen schien eher so was wie Respekt und auch ein gewisser Neid.
Der letzte Blick den Donovan auffing war von Titan. Und obwohl Donovan sie kurz und flüchtig anlächelte, erwiderte sie das Lächeln nicht, sondern blickte ihn nur ausdruckslos an. Nun, darüber dass sie sich keine unnötigen Sorgen machen sollte, musste er sich wohl keine weiteren Gedanken machen müssen.
Aber warum fühlte er dann dennoch einen Stich des schlechten Gewissens?



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:34:

 

„Treu zu sein, heißt ein bitteres Brot zu essen.“
Der antike Akarii-General Rikata

Pan’chra,

Die Strahlen der untergehenden Sonne überzogen den Park der Siegreichen Schlachten mit Feuer und schien die Statuen der Toten-doch-Unvergessenen in Blut zu tauchen. Yelak Taran war dafür zwar nicht so empfänglich wie sein zu philosophischen Anwandlungen neigender Bruder. Aber Yelak erkannte ein Omen, wenn er es sah.
Und er bemerkte natürlich die beiden Bewaffneten, die ihm den Weg versperrten. Allerdings reichten ein paar kurze Worte, und die beiden Wachmänner des Hauses Parin ließen ihn passieren.
Yelaks Ziel lag in einem von einem schmalen Bach durchzogenen Wäldchen, das zwei der zahllosen Standbilder verbarg, die an die siegreichen Feldherren der glorreichen Vergangenheit erinnerten.

Prinz Taku war nicht nur Sohn des legendären gleichnamigen Kaisers aus der ersten Blütezeit des antiken Akarii-Imperiums gewesen. Er war auch ein berühmter Feldherr, der sich durch Siege über mehrere Barbarenvölker einen Platz in diesem Park verdient hatte. Nach dem Tod seines Vaters war der junge Prinz mit seiner persönlichen Eliteeinheit, der legendären 15. Karrg, irgendwo auf dem Rückmarsch aus der Wildnis der Barbarenländer verschollen. Kein Mann, keine Frau, kein Reit- oder Trosstier war jemals wieder aufgetaucht. Genauso wenig wie die Standarten und Waffen der Einheit, deren Verschwinden bis heute ein ungelöstes Mysterium der Geschichte war, das immer noch Historiker und Schatzsucher in seinen Bann zog. Die Statue stellte den Prinzen als einen breitschultrigen, gepanzerten Fußkämpfer ohne Helm dar. Das Dreeh-Schwert zum Hieb erhoben, schien er sich seinen Weg aus den ihn umzingelnden Bäumen freikämpfen zu wollen.
Rana E’Kor, auch bekannt als die ‚Blitzträgerin’, war des Prinzen fähigste Kavallerieoffizierin gewesen. Sie hatte viele Siege überhaupt erst ermöglicht und Taku den Jüngeren in allen Feldzügen begleitet. Nur nicht auf seinem letzten, verhängnisvollen Marsch, als sie eine Verletzung daran hinderte. Viele behaupteten, dass den Prinzen und die Offizierin aus einem armen Grenzlandhaus mehr als nur Loyalität verbunden hatte. Nach seinem Verschwinden hatte die kaum Genesene das Kommando über die Grenztruppen übernommen und sich den auf das Territorium des Reiches vorstoßenden Barbaren und den im Hinterland rebellierenden Provinzadligen entgegengestellt. In fünf Jahren hatte sie drei Barbareneinfälle abgewehrt und zwei Usurpationen gnadenlos niedergeschlagen. Dann war sie –ob aus eigenem Willen oder auf Befehl des Regentschaftsrates, dem sie zu mächtig wurde – mit ein paar hundert Reitern auf die hoffnungslose Suche nach dem Prinzen aufgebrochen. Ihre Schar war ebenso verschwunden wie Taku und seine Armee. Danach war die Grenzverteidigung endgültig zerbrochen, der Kampf um den Thron völlig außer Kontrolle geraten und die blutigste Phase der ‚Zwölf Jahre ohne Kaiser’ begann. Ranas in der Mitte der kleinen Lichtung errichtete Statue zeigte sie als berittene Kriegerin, die Nuron-Reitechse mit den Schenkeln lenkend, in der einen Hand eine Tarm-Streitaxt, die andere nach dem Prinzen ausgestreckt.

Normalerweise war das Wäldchen ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare. Er wurde aber auch für weniger unschuldige Zwecke verwendet. Viele erlaubte und noch mehr illegale Duelle waren hier ausgefochten worden. Und heute schien es wieder soweit zu sein, wenn man die Gruppe junger Adliger betrachtete, die sich – von Wachleuten des Hauses Parin abgeschirmt – versammelt hatten. Yelak Taran kannte sie. Die meisten kamen aus den Streitkräften, ein paar hatten Posten bei den Sicherheitsorganen oder der Zivilverwaltung. Fast alle stammten aus Häusern, die ihre Geschichte tausende Jahre zurückverfolgen konnten – oder das zumindest behaupteten.
Und alle hatten zu der Verschwörung gegen Prinz Jor gehört. Und es verband sie noch mehr. Sie und eine Reihe anderer, junger Akarii hatten Jors Macht nicht nur einschränken wollen. Sie hatten eine Verschwörung in der Verschwörung gebildet und waren willens gewesen, weiter als ihre Mitverschwörer zu gehen. Viel weiter.
Doch bevor sie den höchsten Einsatz wagen konnten, war die Offiziersfronde gescheitert und hatte viele ihrer fähigsten Köpfe verloren. Es hatte lange gedauert, die zerschnittenen Verbindungen neu zu knüpfen – und noch bevor sie erneut versuchen konnten, Jor aufzuhalten, war dieser heldenhaft im Kampf gestorben.

„Nur so wenige?“ Yelak hatte leise gesprochen, aber seine Worte blieben nicht unbemerkt. Eine hagere, junge Akarii drehte sich zu ihm um: „Du weißt genau, warum. Zu viele von uns sind immer noch in der Verbannung. Oder an der Front. Und andere…diesmal geht es nicht gegen Jor.“
„Einige haben sich auch gefragt, ob du überhaupt kommen würdest. Und ob wir dich einladen sollten.“ warf einer der beiden Schwertträger spöttisch ein, der in dem Duellkreis stand und nachlässig die Klinge seines Sirash prüfte.
„Warum, Dical? Wegen irgendwelchen alten Familiengeschichten über unsere Verbindungen zu den Allecars? Die haben wir zu mehr als einer kaiserlichen Linie, auch den Thelams. Und das hat mich damals nicht davon abgehalten, bezüglich Prinz Jor die richtige Entscheidung zu treffen.“
Der Fechter zuckte mit den Schultern: „Weiß jemand, dass du hier bist?“
„Mein Vater glaubt, ich besuche die Verlobte meines Bruders.“
„Und die?“
„Ihr habe ich gesagt, dass ich etwas ziemlich Dummes machen will. Was ja auch stimmt.
Aber vermutlich denkt sie sie eher, dass ich bei einem illegalen Duell assistieren oder einen Abstecher in eines der Vergnügungsviertel machen will.“
„Dann hoffe ich mal, dein Vater fragt nicht bei ihr nach. Wenn sie nicht lügen kann…“
„Sie ist eine Frau.“ spottete einer der Zuschauer, was ihm einen Schulterstoß von seiner Nachbarin einbrachte.
„Es würde meinen Vater vermutlich nicht überraschen, wenn ich ihn anlüge. Wir…momentan verstehen wir uns nicht so gut.“

Yelak Taran führte das nicht weiter aus, aber das brauchte er auch gar nicht. Jeder, der den kürzlichen Eklat im Adelsrat verfolgt hatte – und das hatten alle Anwesende – wusste, dass der alte Lord Taran zu vermitteln versucht hatte.
Yelak hingegen hatte mit seiner Meinung zu Lord Allecar – und zu Lord Jockham – nicht hinter dem Berg gehalten. Sein Vater hatte mit einem längeren Vortrag über Yelaks Verpflichtungen seinem Haus und der Tradition gegenüber reagiert. Da sein älterer Bruder auf absehbare Zeit an die Peripherie verbannt bleiben würde, sei es seine Pflicht, Mokas Rolle zu übernehmen. Immerhin würde sein Vater auch nicht jünger, und irgendjemand würde ihn eines Tages im Adelsrat vertreten müssen. Die Zeit sei endgültig vorbei, da seine Söhne sich in der hohen Politik wie Traumtänzer verhalten konnten, die nach ein paar Übungsrunden mit Holschwertern glaubten, in einem echten Kampf bestehen zu können. Mut und Patriotismus sei eine schöne Sache. Aber zu versuchen, einen Kronprinzen, Großadmiral und Kriegsminister zu stürzen...
Und so war es noch eine Weile weitergegangen.
Als Yelak daraufhin anmerkte, dass Hochverrat momentan offenbar in Mode sei, hatte das sein Vater höchst ungnädig aufgenommen. Aber Las Taran war im Gegensatz zu manchen seiner Standesgenossen ein Mann, der zwar aus der Haut fahren konnte, aber selten zubiss. Zumindest wenn es um seine Söhne ging.
Dennoch dachte Yelak nur ungern an die Konfrontation zurück. In solchen Augenblicken vermisste er seinen Bruder besonders.

Aber Mokas war nicht hier – und angesichts seiner Yelak etwas unverständlichen Freundschaft mit Dero Allecar war das wohl auch besser so. Yelak verdrängte den Gedanken: „Und, weswegen soll unser ‚Duell’ stattfinden? Hoffentlich nicht schon wieder irgendeine angebliche Frauengeschichte. Das wäre einfallslos.“
Dical Katall lachte. Ein Zweikampf war ein guter Vorwand für ein Verschwörertreffen. Man konnte die Anzahl der ‚Zuschauer’ und ‚Teilnehmer’ kontrollieren, die Öffentlichkeit ausschließen und den Treffpunkt an einen verschwiegenen aber zugleich ‚öffentlichen’ Ort verlegen, ohne dass es Verdacht erregte: „Mengar da drüben hat behauptet, dass die neueste Adaption des Zyklus ‚Der blutige Himmel’ endlich mit den antiquierten Manierismen der Vergangenheit aufräumt und das moderne Theater aus der Bedeutungslosigkeit stupider Repetitionen herausholt.“
„Du meinst die Aufführung, bei der das Bühnenbild für die Erstürmung des Palasts von Vilani aussah, wie eine moderne Konzernzentrale? Die Aufführung, die abgesetzt werden musste? Der Darsteller des Königs trat in einer Zwangsjacke auf…“
„Und musste ärztlich behandelt werden, nachdem ihm jemand ein Kristallglas an den Kopf geworfen hat. Ein toller Erfolg, findest du nicht?“
Yelak schnaubte mäßig amüsiert: „Wenn mein Bruder hier wäre, hätte er Mengar auch gefordert. Aber nicht nur zum Spaß. NACHDEM er den Stückeinterpreten verprügelt hätte. Manches sollte ganz einfach verboten bleiben.“
„Sein Kunstgeschmack ist ein wenig antiquiert. Aber ich will mich nicht beschweren, immerhin geht es dabei auch um die Ehre meiner Familie.“ Aus den Reihen der Katalls stammten einige der anerkannten Interpreten antiker Akarii-Dramen – auch wenn die ‚jüngste’ dieser Adaptionen immerhin schon mehr als achthundert Jahre alt war: „Wir können übrigens von Glück reden, dass wir uns diesen Platz sichern konnten. Es hat nicht viel gefehlt, und wir hätten uns in eine Warteliste eintragen müssen. Nachdem Allecar seine verbale Bombe im Adelsrat hochgehen ließ, soll es alleine in Pan’chra zwanzig Duelle gegeben haben. Von denen ich gehört habe.
Anhänger der Allecars, Linais – sogar von Jockham, auch wenn ich nicht wusste, dass die überhaupt kämpfen können. Von ihrem Lehnsherren können sie es jedenfalls nicht gelernt haben.“
Das rief Gelächter hervor, auch wenn es ein böses und feinseliges war. In dieser Runde war der Kriegsminister nicht gerade beliebt.

„Ich habe gehört, dass die Sicherheitsbehörden erwägen, ein totales temporäres Duellverbot auszusprechen.“ warf Yelak Taran ein.
„Da wünsche ich aber viel Glück.“, spottete Mengar: „Das haben schon Kaiser und sogar diverse Kirchen versucht. Bisher immer vergeblich. Warum lässt der Palast nicht gleich noch öffentlich den Göttern opfern, um dem Adelsrat Weisheit zu schenken. Das hätte ungefähr die gleich Aussicht auf Erfolg.“
Yelak Taran schüttelte den Kopf: „Wenn du von den Kirchen sprichst, solltest du sie besser nicht unterschätzen. Der Glauben hat immer noch Macht. Bei den einfachen Leuten – aber nicht nur dort. Viele der Traditionalisten im Adelsrat nehmen den Willen der Priesterschaft nicht auf die leichte Schulter. Falls sie nicht teilweise sogar selber einen mehr oder weniger hohen Rang in der Kirche innehaben. Und dann gibt es natürlich auch noch die…moderneren Spielarten des Glaubens. Prinz Jors Expansionisten sind nicht die einzigen, die sich auf die Götter berufen. Das ganze IMPERIUM und die Doktrin Borelliaris beruht auf dem Glauben an unsere göttliche Auserwähltheit. Dann sind da noch die verschiedenen Orden und Geheimgesellschaften, auch wenn viele von denen inzwischen nur noch bessere Freizeitlogen sind. Hm. Ich frage mich, was die Kirchen von Rallis Schachzug halten, Allecar als Frevler zu bezeichnen.“
„Nun natürlich das, was für ihre Pfründe das Beste ist“ spottete Dical Katall. „Aber vermutlich müssen sie erst einmal in einem Nachschlagewerk nachsehen, was Rallis überhaupt gemeint hat. Ich glaube ja, er hält sein Publikum für etwas zu gebildet.“
„Diejenigen, die ihm bei seinem Auszug aus dem Adelsrat gefolgt sind, schienen es zu wissen.“
„Falls sie nicht einfach dem Herdentrieb folgten. Einige unserer hochedlen Ratsmitglieder würden auch in einen Abgrund marschieren, solange nur ein kaiserlicher Prinz den Weg weist“ spottete Dical. „Deswegen stecken wir ja in dieser Krise.“

„Finden Sie, dass das alles nur ein Witz ist? Und unterschätzen sie niemals den Adelsrat. Dieser Rat hat das Geschick des Imperium schon mitbestimmt, bevor wir ein stehendes Heer und eine Marine hatten.“ Die Stimme klang leise, verschaffte sich aber mühelos Gehör. Yelak Taran war nicht der einzige, der sich umdrehte und salutierte: „Marschall.“
Marschall Parin erwiderte den Salut mit der Routine mehrerer Jahrzehnte Armeedienst, erlaubte sich dann aber seinerseits ein dünnes Lächeln: „Stehen Sie bequem. Wir sind hier nicht im Generalsstab. Oder dem Flottenkommando.“
„Und das ist das Problem“ merkte eine junge Armeeoffizierin an. „Wir müssen diese Scharade veranstalten, während Allecar die geheiligten Traditionen des Imperiums missbraucht, um seinem Sohn den Weg auf den Thron freizuräumen.“
„Tobarii Jockham hat die Herausforderung ausgesprochen“ präzisierte Dical. „Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
„Selbst wenn ihn jetzt nicht doch noch der Mut verlässt, glaubst du wirklich, er hat eine Chance? Vielleicht wenn sich Dero beide Hände auf den Rücken binden lässt.“ Yelak hielt nichts von Dero Allecars Charakter. Aber er war gerne bereit zuzugeben, dass er besser kämpfen konnte als Linais Ehemann.
„Vielleicht sucht er sich ja einen Ersatzmann. Freiwillige gäbe es genug“ bemerkte Renik, ein Leutnant der kaiserlichen Garde und sah sich suchend um. Er war einer der rangniedrigsten der Versammelten. Die meisten anderen gehörten zur Flotte, der Armee oder deren Geheimdiensten. Dazu kamen einige Vertreter der Sicherheitskräfte und Zivilverwaltung. Die Garde hingegen stellte sich normalerweise über das politische Hauen und Stechen. Und hielt – notfalls zähneknirschend – der kaiserlichen Familie die Treue. Es hatte Ausnahmen gegeben, aber an die dachten nur wenige Akarii gerne zurück. Die Treue der kaiserlichen Garde war etwas, auf das man sich verlassen wollte. Selbst wenn manche Herrscher sie nicht wert gewesen sein mochten.
Jetzt erntete Renik mit seinem Vorschlag Gelächter und mehrere Meldungen – es gab mindestens drei oder vier, die sich zu Recht oder nicht in der Lage glaubten, Dero Allecar in einem Duell zu besiegen.
„Du meinst, wo er sich schon bei seiner Gemahlin vertreten lässt?“ ätzte Dical Katall. „Da kann er es sich wohl kaum leisten, auch das Duell zu delegieren. Wenn er nicht endgültig als Feigling dastehen will. Dazu ist die Sache zu persönlich. Und was sollte er tun, wenn auch sein Ersatzmann scheitert? Künftig bei den Stelldicheins seiner Gattin den Zaungast spielen? Er würde sich völlig lächerlich machen. Das Exil oder der Selbstmord wären der einzige Ausweg. Wenn er so viel Ehre im Leib hat.“

Parin schnalze ob der groben Wortwahl mit der Zunge, enthielt sich aber eines Kommentars, was Yelak zum Anlass nahm, seine Meinung beizusteuern: „Genauso gut könnten wir darauf hoffen, dass jemand wirklich FÄHIGES Dero vor seine Klinge fordert, bevor der sich seinen Weg zum Thron durch Jockhams Eingeweide freischneiden kann. Es wäre schön, es gäbe genug Freiwillige – aber es wird nicht geschehen.“

Im Gegensatz zur Stellung eines Ersatzmanns galt eine Herausforderung, die einem bereits verabredeten Duell zuvorkommen sollte, als kommentwidrig. Man konnte sie problemlos ablehnen oder zumindest einen Aufschub erzwingen.

„Jockham kommt da nicht mehr raus. Es sei denn, dass Dero einen Unfall erleidet.“
Marschall Parin nickte knapp: „Und genau deshalb lässt Herzog Allecar seinen kostbaren Sohn von einer ganzen Armee Leibwächter bewachen. Er will kein Risiko eingehen. Das Anwesen der Familie ist eine Festung. Vielleicht kämen die Cha’kal an ihn heran…“

Die Cha’kal waren die berüchtigten Attentäter und Kommandos des Imperators. Die Garde stellte die Elite der Streitkräfte, beschützte die Person und Familie des Kaisers. Die Cha’kal waren Werkzeug in den Schatten. Ihre Aufgabe war der Angriff und die Zerstörung, ihre Treue galt dem Imperator – und nur ihm. Legenden und Mythen umgaben die nach gestaltwandlerischen Dämonen der Akarii-Antike benannte Einheit, deren Mitglieder sich angeblich unsichtbar machen, auf dem Wind und den Wellen laufen, und jede Verteidigung überwinden konnten. Angeblich waren einige von ihnen nicht einmal Akariis – oder jedenfalls nicht mehr. Vernünftige Akariis hielten das natürlich nur für einen Mythos, um Feinde, potentielle Rebellen und Verschwörer einzuschüchtern.

„Wir bräuchten jedenfalls ein Bataillon, um dort einzudringen.“
„Und hat jemand so viele Soldaten zur Hand?“ das kam von Yelak, der einen Teil seiner Frage sofort selber beantwortete: „Keines der Adelshäuser. Sie haben ihre Leibwächter – und viele heuern jetzt zusätzliche Sicherheitskräfte an. Aber das sind vor allem Defensivmaßnahmen, weil niemand weiß, wie es weitergeht. Es ist nicht mehr üblich, eigene Verbände aufzustellen. Und wenn, dann höchstens auf den Kolonialplaneten. Aber nicht auf Akar. Und erst recht nicht in Pan’chra.“

Leutnant Renik von der imperialen Garde schüttelte den Kopf: „Und wir haben Weisung, in den Kasernen zu bleiben und die kaiserliche Familie zu beschützen. Das ist alles.“
„Vielleicht ist sich Tobarii Jockham nicht sicher, wo seine liebe Gemahlin in der Sache steht. Er ist nur ein Angeheirateter. Wenn jemand der Garde etwas befehlen könnte, dann Linai.“
„Oder einer ihrer Cousins. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie darauf verzichtet hat. Sie könnte sich nicht völlig sicher sein, ob die Garde ihr gehorcht.“ Katall ignorierte den bösen Blick von Renik und fuhr unbeirrt fort: „Und wo stünde sie dann? Es ist schon mehr als ein Kaiser gestürzt worden, weil er sich der eigenen Truppen zu sicher war. Und sie ist nicht mal ein Kaiser. Nur Prinzessregentin.“
„Und wären Marschbefehle an eine der in der Nähe der Hauptstadt stationierten Verbände gegangen, dann hätte ich davon gehört.“ Marschall Parin schüttelte den Kopf: „Die Garde oder die Armee gegen die Allecars einzusetzen, hieße einen Bürgerkrieg riskieren. Das wird Linai nicht wagen. Und Jockham erst recht nicht.“
„Und wer dann? Einer von Linais Cousins vielleicht?“ Yelak Taran verabscheute den leicht ratlosen Unterton in seiner Stimme. Sie alle hier hassten den Abwärtskurs, den das Imperium genommen hatte. Aber das Problem zu identifizieren und es zu beheben waren zwei verschiedene Sachen: „Liani hat sich Karrek vom Hals geschafft. Dort wo er momentan ist, kann er nichts tun, ohne dass Admiralin Rian davon erfährt. Und das ist auch gut so, denn was wir auf keinen Fall brauchen, ist ein zweiter Jor.
Navarr Thelam ist momentan bei einer mobilen Sturmbrigade im Manöver. Das wäre genau die richtige Position um etwas zu bewirken – aber wäre er dazu bereit? Und würden die Truppen auf ihn hören? Er ist nur ein Kadett.“
„Er ist ein kaiserlicher Prinz. Und wenn sich die richtigen Leute hinter ihn stellen, würden die Truppen ihm folgen.“ Dical Katall sah Marschall Parin an, der jedoch bedauernd den Kopf schüttelte: „Ich habe den jungen Prinz kennengelernt. Ich fürchte, für das was uns vorschwebt, stünde er nicht zur Verfügung. Und er ist zu prinzipienfest und willensstark, um nur eine…Standarte zu sein, die man auf dem Marsch zum Palast vor sich herträgt.“

Diese deutlichen Worte riefen unruhiges Murmeln und einige betretene Gesichter hervor, was der alte Marschall mit einem knappen Lächeln quittierte: „Beruhigen sie sich, ich bin nicht der Meinung, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Aber wenn wir Wunschträume unser Handeln bestimmen lassen, finden wir uns ALLE in der Verbannung wieder.“
„Oder vor einem Erschießungskommando.“ warf Gardeleutnant Renik ein.
„Das gilt vielleicht für dich.“ spöttelte Yelak Taran. „Uns Adligen steht das Recht auf den Tod durch die eigene Hand zu.“ Allerdings kam dieser unbehagliche Witz nicht bei allen an. Dical Kallat wandte sich an Marschall Parin: „Was ist mit Rallis? Er ist kein Militär, aber er hat Rückhalt in Flotte und Armee. Und im Adelsrat. Ihr kennt ihn, Marschall. Sogar gut, nach allem was man hört.“
Parin schnaubte kurz: „Das macht aber schnell die Runde. Und zweifellos ist es genau das, was er will. Aber ich bin nicht so dumm, mir zu viel darauf einzubilden, dass Lianis Cousin meinen Rat sucht. Er hat auch noch andere Eisen im Feuer. Ich werde mit ihm reden – noch bevor dieses lächerliche Duell stattfindet. Und er wird mir zuhören, die Lage klug analysieren – und mich mit dem Gefühl fortschicken, dass ich mehr gesagt habe, als ich sollte. Und er weniger, als ich wollte. Wenn er nicht etwas zu gewichtig dafür wäre, könnte man ihn für ein Gibit-Kind halten…“

Der Gibit war ein boshafter Kobold aus den Akarii-Sagen, der Leichtgläubige mit Trugbildern narrte und für seinen schwarzen Humor berühmt war.

„Und niemand KENNT Rallis wirklich. Vielleicht nicht einmal er selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er die Unberechenbarkeit zu einer Kunstform erheben will.
Will er Imperator werden? Oder doch nur ein allmächtiger Kanzler hinter einem Herrscher, ob das nun Navarr ist oder Linais ungeborener Sohn? Oder ist das nur eine Etappe auf dem Weg zum Thron? Es wäre nicht das erste Mal…
Aber vielleicht will er auch etwas ganz Neues versuchen. Er hat den meisten Rückhalt bei den Modernisierern und Progressiven im Adelsrat. Aber nach allem was ich gehört habe, votieren dort inzwischen einige mehr oder weniger heimlich dafür, dass der Adelsrat künftig sehr viel häufiger tagen sollte. Vielleicht sogar in Permanenz. Und mit deutlich mehr Machtbefugnissen. Und so ein neuer Adelsrat bräuchte natürlich einen starken Vorsitzenden.“
„Er ist ein Thelam! Er würde doch niemals die Macht seines Hauses derart beschneiden wollen. Und kein Imperator würde so etwas dulden.“
„Aber wir haben momentan keinen Imperator. Und wer auch immer das Rennen macht – gut möglich, dass er Zugeständnisse machen muss.“ Natürlich wussten sie das alle. Und das war auch einer der Gründe dafür, dass sie sich hier trafen. Wer auch immer am Ende den Thron einnehmen würde, er würde jenen dankbar sein, die ihm den Weg dazu geebnet hatten. Und das würde diesen Männern und Frauen erlauben, die Geschicke des Imperiums entscheidend mitzubestimmen.
Parin nickte ungewöhnlich zögernd: „Es stimmt, es spricht vieles für Rallis. Er kennt seine Schwächen – besser als einige andere Prinzen und Thronprätendenten, die ich benennen könnte. Und das macht ihn stärker, als es seine Fähigkeiten vermuten lassen. Er ist kein Kriegsheld, kein strahlender junger Prinz - und vielleicht etwas zu geistreich für den Geschmack des Volkes.
Aber er ist auch klug, politisch wendig und ein erfahrener Schattenkämpfer in dem Dschungel des kaiserlichen Hofes. Aber ist das genug, um unser aller Schicksal mit ihm zu verknüpfen?“
„Und wenn er alles ist, was wir bekommen können?“ fragte Dical Katall.
„Da wäre immer noch Lisson.“, warf Renik ein: „Auch wenn er immer wieder vergessen wird. Vielleicht ist das seine Chance. Er gäbe einen guten Imperator Clodus ab.“
„Dann sollten wir hoffen, dass er niemals heiratet.“ bemerkte Parin abschätzend.

Imperator Clodus war in einer der eher…turbulenten Phasen des spätantiken Akarii-Imperiums auf den Thron gekommen, weil er nach einer blutigen Palastrevolte der einzige männliche Überlebende der herrschenden Kaiserlinie war. Die aufständischen Mitglieder der kaiserlichen Garde hatten den Gelegenheitshistoriker und Freizeitgelehrten ganz einfach vergessen. Als loyale Verbände die Überhand gewannen, fanden sie Clodus versteckt in der Palastbibliothek und erhoben ihn umgehend zum Kaiser. Er hatte seine Sache dann erstaunlich gut gemacht, indem er sich mit fähigen Beratern umgab und dem Reich zwanzig Jahre dringend benötigten Frieden bescherte. Nur seine Familienpolitik erwies sich als katastrophal. Clodus aus zwei verschiedenen Ehen stammende Söhne hatten das Reich sofort nach seinem Tod in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt, aus dem am Ende der Sohn von Clodus Schwester siegreich hervorgegangen war. Als Xias der Blutige war er als ebenso ruhmreicher und militärisch erfolgreicher wie grausamer Herrscher in die Geschichte eingegangen. Sein Ende durch die eigenen Adligen und Truppen hatte er gefunden, als sein Blutdurst in Wahnsinn umschlug. Das Haus Allecar und Taran hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt…

„So faszinierend solche historischen Reminiszenzen sind, wir werden unseren Weg schon selber finden müssen. Auch wenn er über sehr dünnes Eis führt.“
„Und wenn wir Rallis haben…dann haben wir vielleicht auch Navarr.“ warf Yelak ein: „Also werdet Ihr mit ihm sprechen, Marschall?“
Marschall Parin zuckte mit den Schultern: „Das sagte ich bereits. Aber wir sollten uns auch überlegen, was wir tun sollten, falls wir auf uns allein gestellt bleiben.“
Yelak Tarans Stimme klang leise aber entschlossen: „Wir müssen handeln. Ob mit Rallis und Navarr, oder ohne sie. Wir haben schon zu oft gezögert und abgewartet.“

„So meint Ihr. Aber einen hoffnungslosen Kampf zu wagen mag ehrenhaft sein. Aber es kann auch sehr…endgültig sein.“ Er blickte sich kurz um und seufzte leise. Wahrscheinlich war er sich darüber im Klaren, dass seine Warnungen in dieser Runde auf wenig fruchtbaren Boden fielen: „Doch ich gebe euch Recht, wir müssen darauf vorbereitet sein, notfalls auch alleine loszuschlagen. Allecars Schachzug hat die Dinge in Bewegung gebracht. Wir dürfen uns nicht noch einmal überraschen lassen.
Dical Katall gab einen Laut von sich, der wie ein unterdrücktes Lachen klang. Marschall Parin wandte seine Aufmerksamkeit einmal mehr dem jungen Adligen zu: „Und was erheitert euch diesmal, Katall?“
„Ich fragte mich nur gerade, an wie vielen Orten auf Akar – und vermutlich auch auf anderen Planeten – jetzt in diesem Augenblick ähnliche Treffen stattfinden. Vielleicht nicht mit demselben Ziel, aber doch ähnlich…weitreichenden Plänen und Absichten. Herzog Allecar ist ein Narr, der einen Orkan entfesselt hat. Im Augenblick meint er ja vielleicht, dass er den Sturm reiten kann. Oder sogar, dass er der Sturm IST…“
Yelak Taran schnaubte kurz: „Dann sollten wir ihn daran erinnern, dass sein Schiff leck ist. Und die Mannschaft sich an den Möchtegern-Kapitän heranschleicht, um ihn über Bord zu stoßen und so den Herrn der Schwarzen Woge zu besänftigen. Renik, wie viele Gardisten kennt ihr, auf die wir uns verlassen könnten?“

Der Lieutenant der kaiserlichen Garde zuckte unbehaglich mit den Schultern: „Das kommt darauf an, wofür.“
„Dafür, einen Hochverräter zu töten. Auch wenn er die Gunst der Prinzessregentin besitzen sollte.“ antwortete Marschall Parin. Der alte Feldherr sprach Dero Allecars Namen nicht aus. Das war auch nicht nötig.
„Nicht allzu viele. Aber genug. Zumindest, wenn sie Hilfe haben. Eine kleine Gruppe zu allem entschlossener Männer und Frauen kann problemlos in den Palast geschleust werden.“
Dical Katall grinste raubtierhaft: „Die Allecars scheinen zu meinen, dass sie den Weg zum Thron mit dem Schwert freischneiden können. Als wäre das alles irgendeine dumme alte Geschichte aus der Zeit des Ersten Imperiums. Es wäre nur gerecht, wenn er durch das Schwert scheitern würde. Und wenn Dero dieses Duell gewinnen sollte…
Wenn er sich dann wirklich im Palast einnistet…“
Parin nickte: „Das würde den Kreis schließen, gewissermaßen. Dort wäre er am Ziel seiner Wünsche. Aber gleichzeitig auch verwundbar. Außerhalb des gesicherten Anwesens der Allecars.
Aber ein solcher Schritt kann nur der Anfang sein. Da ist auch noch Deros Vater und seine Gefolgsleute. Wenn erst einmal Blut im Palast fließt…“
Noch vor wenigen Jahren wäre es für die meisten der jungen Männer und Frauen undenkbar gewesen, derart kaltblütig über die Ermordung anderer Akarii zu sprechen. Aber mehr als fünf Jahre Krieg hatten alles verändert. Es hatte zu viele Tote gegeben, zu viele Niederlagen. Den Untergang des Imperiums vor den Augen, gab es keinen Platz mehr für Skrupel.

Renik zuckte mit den Schultern: „Je dichter das Gras, desto leichter das Mähen. Aber wir brauchen dann natürlich auch mehr Leute. Ein solcher Schlag gegen verschiedene Ziele muss simultan erfolgen. Und die…Säuberung muss abgesichert werden. Ich kann nicht für die Kommandeure der Palastgarde sprechen. Oder für die Sicherheitskräfte der Hauptstadt und die Truppen der Garnisonen rings um Pan’chra. Bricht erst einmal das Chaos aus, könnten…andere Kräfte die Gunst der Stunde nutzen wollen. Oder einfach gegen das nächste sich bietende Ziel losschlagen, weil sie nicht wissen, was zu tun ist. Die Garde, die Polizei, die Garnisonstruppen – sogar die Sicherheitskräfte einiger Adelshäuser. Und dann ist da noch die Zivilbevölkerung. Kann sie mobilisiert werden – und von wem? Würde sich ein Mob bilden – ob organisiert oder spontan? Es könnte Unruhen geben, Aufruhr, Plünderungen…Im schlimmsten Fall schlägt jeder gegen jeden los und Pan’chra brennt. Das hat es alles schon gegeben...“

Der Marschall nickte knapp. Das war das Risiko und das Dilemma jedes Putsches. Von zu Wenigen ausgeführt, konnte er scheitern und ins Chaos umschlagen. Nichts war gefährlicher, als bewaffnete Männer und Frauen voller Angst und Unwissenheit.
Gab es aber zu viele Mitwisser, drohte Verrat. Die meisten der Putsche und Palastrevolten in der langen und blutigen Vergangenheit des Akarii-Imperiums waren vorzeitig bekannt geworden. Und viele waren daran gescheitert. Tod, Schande, Verbannung und Kerker waren der Lohn der Verschwörer gewesen.
Aber dennoch würden sie dieses Risiko eingehen müssen, wenn sie Erfolg haben wollten. Marschall Parin ließ seinen Blick über die versammelten Offiziere wandern. Es waren wenige, fast zu wenige. Und kaum einer von ihnen hatte ein eigenes Kommando inne. Stabsoffiziere, Mitglieder von Verwaltung-, Ausbildungs-, Nachschubs- und Planungsstellen. Subalterne, die zweite Garnitur gewissermaßen. Und dennoch wusste er, dass das genügen musste. Sie würden losschlagen. Und sei es auch nur, um ein Zeichen zu setzen. Und wenn er sich nicht an die Spitze dieser jungen, ungeduldigen Offiziere setzte, die an dem Schicksal des Imperiums zu verzweifeln meinten, würden sie auf eigene Faust handeln: Er seufzte kurz: „Es gibt also viel zu tun. Und wir haben nur wenig Zeit. Aber es ist ein Anfang. Machen wir uns daran, einen Mord zu planen.“
Es war Dical Katall, der mit seinem typischen Zynismus die abschließenden Worte fand: „Keinen Mord. Eine Hinrichtung. Oder vielleicht…vielleicht auch eine Opfergabe für das Wohl des Imperiums.“



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:34:

 

Assimilation war vielleicht das falsche Wort, doch Jules fand es passte. Seinen Cowboyhut tragend saß er in einem zivilen Hemd an Hungry Joe’s Pokertisch. Ihm gegenüber saß Red Cooper, der Airboss und blickte missmutig zu dem Stapel Chips in der Mitte. Zwischen ihnen saßen rechter Hand Hungry Joe und Lieutenant Commander Grover. Linker Hand Kicker Lindstrom und The Kid.
Die Runde wirkte etwas bunt: Cooper hatte seinen gelben Rollkragenpulli an, Joe seine Dienstuniform und Grover den Flightsuit. Kicker trug wie er ein ziviles Oberteilt, während The Kid die khakifarbene Diensthose trug, sein Uniformhemd jedoch gegen seine Pilotenjacke ausgetauscht hatte. Dazu hatte der junge Heißsporn eine verspiegelt wirkende Pilotenbrille aufgesetzt, die aber doch keinen Einblick in seine Karten gewährte.
Selbst in der Dreckige-Hemden-Messe auf dem dritten Vorderdeck der Columbia, sorgte diese Runde für einige hochgezogene Brauen. Hin und wieder gesellten sich andere Piloten oder dem Geschwader angehörige Offiziere an den Tisch und blickten kurz zu, quittierten Hungry Joe’s Siege mit einem wissenden schnauben und zogen sich wieder zurück.
Man überließ sie weitgehend ihrem Spiel.
Abgesehen von Joe und Cooper war die Rangfolge am Tisch glasklar. Mangelnde Erfahrung und bei Kicker vielleicht auch mangelndes Interesse verfrachteten sie und The Kid ganz ans Ende. Wobei Letzterer einen Funken Talent erkennen ließ.
Grover wusste was er tat und konnte gut die Fähigkeiten seiner Mitspieler einschätzen. Für einen Semiprofi taktierte er ziemlich gut. Wenn er als Offizier eine ähnlich gute Figur machte, war es ein Wunder, dass er noch keine eigene Schwadron befehligte.
Sich selbst schätze Jules durchaus als besser ein aber weder Hungry Joe noch Redford Cooper auf Augenhöhe befindlich.
„Also, Skipper, entweder Sie gehen mit oder Sie passen“, The Kid lehnte sich mit aufgesetzt coolen Gesicht zurück, legte den Kopf schief.
„Sie haben es wirklich eilig ihr Geld los zu werden, was Junge?“ Jules warf einige blaue Chips in die Mitte des Tisches und zwei Rote hinterher, „und ich erhöhe um zwanzig.“
Billy Laramy warf ebenfalls zwei rote Chips in die Mitte und wandte sich dann wortlos Cooper zu.
„Sie bluffen, Cowboy“, Cooper warf fünf rote auf den Stapel.
„Meinen Sie, Red?“ Jules warf genügend Chips in die Mitte um mit Cooper mitzuhalten und dann noch vier blaue, „und ich erhöhe nochmal um zwanzig.“
The Kid knallte seine Karten auf den Tisch: „Mist.“
„Na Cooper, nur noch wir beide. Wie möchten Sie es haben?“
Dieser blickte nochmal in seine Karten: „Ich sagte doch Sie bluffen, doch ich halte sie für zu abgeklärt, um sich noch großartig von mir abziehen zu lassen. Machen wir es schnell und dreckig: Zwanzig zum Sehen.“
Jules legte seine Karten auf den Tisch und sah zu, wie ein grinsender Cooper seinen Gewinn einzog, während The Kid aschfahl wurde.
„So eine verdammte Scheiße! Ich hatte mehr auf der Hand als ihr beiden Rentner zusammen!“
Grover fixierte den jüngeren Piloten und hob fragend eine Augenbraue.
„Ich meine natürlich mit allen gebührenden Respekt, Sirs.“
Cooper schnaufte: „Geschenkt Junior, solange Du so fleißig zu meiner Pensionskasse beiträgst, kannst Du mich HIER an diesem Tisch auch Rentner nennen.“
The Kid blickte zu Jules hinüber, der gerade seinen Scotch leerte: „Ich bin privat hier, wenn Du mir zu frech wirst, hau ich Dir einfach was auf’s Maul.“
Hungry Joe verschluckte sich an seinem Bier und brauchte eine Weile um sich von seinem Erstickungsanfall zu erholen: „Scheiße, sie sind ein echtes Original, wissen sie das?“
„Finden sie?“
„Oh, ja und ich habe alle ihre Vorgänger kennen lernen dürfen. Aber sowas habe ich noch keinen zu einem Piloten sagen hören.“
Jules zuckte mit den Schultern, während er sich nachgoss.
„Ja, sowas wäre man eher von der Eisprinzessin gewohnt“, Red Cooper schüttelte den Kopf, während er Chips aufstapelte.
„Wem?“
„Lilja“, antwortete Grover und hielt Jules sein eigenes Glas entgegen.
„Die hat ja auch echt einen Schatten“, platzte es aus Kicker heraus und lief rot an, als Cooper, Grover und Jules sie schräg anguckten.
„Lieutenant, sowas sollte sie mir gegenüber nur erwähnen, wenn ich auch die Chance habe, so zu tun als ob ich nichts gehört habe.“
„Äh, äh ich dachte, alles was hier am Pokertisch passiert bleibt am Pokertisch.“
Hungry Joe fing an die Karten zu mischen: „Tja, Kleine, das ist das Militär. Wären wir hier alle nur kleine Lieutenants, würde niemand petzen und Du könntest Dir, zu Recht oder zu Unrecht, das Maul zerreißen.“
„Zumindest solange wie niemand am Tisch wäre, der nicht grundlegend anderer Meinung ist“, ergänzte The Kid.
„Aber mit zwei Lieutenant Commanders am Tisch“, fuhr Hungry Joe fort, „kann der CAG es sich eigentlich nicht leisten, derartige Kommentare zu überhören.“
Vielfaches Nicken.
„Verstehe, sorry Boss, wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
Jules machte ein verständnisloses Gesicht: „Bitte, ich habe gerade nicht zugehört, die Art wie Commander Cooper mein Geld da vor sich aufgestapelt hat, hat mich irgendwie abgelenkt.“
„Aber ich habe dann doch noch eine Frage, an diejenigen, die die Eisp… Commander Pawlitschenkow schon länger kennen“, musste Kicker jetzt doch nachschieben, „warum ist sie so gemein? Sie hält mir Sachen von meinem letzten Dienstposten vor, die selbst meiner Dienstakte nach nicht meine Schuld waren?“
Cooper und Grover blickte sich kurz an, ehe Grover antwortete: „Warum frisst ein Löwe einen Wasserbüffel?“
Kicker zuckte verständnislos mit den Schultern.
„Weil es sein Naturell ist“, antwortet Hungry Joe, „Lilja ist so, weil es ihr Naturell ist. Skipper, könnten sie nochmal kurz weghören?“
Jules nahm noch einen Schluck von seinem Scotch und erhob sich: „Auch wenn es gerade vielleicht zu interessant ist aber ich verdrücke mich vielleicht wirklich mal. Gute Nacht. Und Red, gewöhnen sie sich nicht zu sehr an ihren neugefundenen Reichtum, ich hole mir mein Geld wieder.“
„Träume sind Schäume.“

Hungry Joe wartete bis der neue CAG die Messe verlassen hatte: „Sieh mal Kicker, wir haben hier an Bord viele verschiedene Charaktere als Staffelführer. Die meisten davon kann ich einschätzen und wirklich alle respektiere ich. Und auch wenn ich wohl nicht wirklich unter Lilja dienen möchte, wüsste ich niemanden, den ich lieber als Jagdschutz beim Angriff auf eine feindliche Flotte dabei hätte. Lilja ist hart. Hart zu ihren Leuten, zu ihren Maschinen und zur Bodencrew. Doch in allererster Linie ist sie hart zu sich selbst und sie wird dir nichts abverlangen, was sie sich nicht selbst abverlangt.
Du hast da eine harte, bösartige und unerbittliche Löwin als Staffelführerin. Leg dir besser ein dickes Fell zu und harte Arbeit solltest du besser auch nicht scheuen, dann sollte es keine Probleme geben und wenn du Widerworte hast, solltest du besser im Recht sein, sonst verspeist sie dich mit Haut und Haaren.“
„Fantastisch, ich bin ja so ein Glückspilz“, murmelte Kicker.
„Es könnte Dich schlimmer erwischt haben“, The Kid knuffte sie, „ich habe jetzt eine XO vor der Nase, die echt sauer ist keine eigene Staffel zu führen.“
„Ich bin sicher, wenn Kali es wirklich drauf angelegt hätte, würde sie jetzt die Butcher Bears befehligen, wäre zwar echt scheiße für Kano aber im Krieg und der Karriere ist ja bekanntlich alles erlaubt“, Hungry Joe fing an die Karten auszuteilen.
„Stimmen da also die Gerüchte?“ wollte The Kid wissen.
„Kein Kommentar“, sagten Grover und Cooper unisono.

***

Der nächste Tag war für das Geschwader praktisch ein Ruhetag, da nur die Stalking Jaguars an der Flottenparade teilnahmen, die zur Indienststellung der Liberty abgehalten wurde.
Während der Rest des Geschwaders unter den wachsamen Augen einiger Marines-Sergeanten, Formationen auf dem Flugdeck übten verbrachte Jules den Vormittag damit weiter im Papierkram aufzuholen. Den großen Moment jedoch verbrachte er an der Seite von Admiral Girad auf der Brücke der Columbia. Für jeden Unbeteiligten war so eine Parade einfach kein großer Anblick. Es war halt viel anschaulicher, wenn auf dem Champs-Élysées Truppen zu Musik paradierten als wenn Blechbüchsen in einfallsloser Formation durchs Weltall schwebten.
Von seiner Zeit als Ensign auf einem Zerstörer wusste Jules jedoch, dass für die Brückencrew solche Manöver alles andere als Routine waren.
Es wäre zwar ein Einfaches gewesen, einen Kurs, Abstand und Wegpunkte in den Navigationscomputer einzugeben und dann die Flotte auf Autopilot fliegen zu lassen, das war aber nicht Teil der Tradition der Flotte.
Bei einer Flotte dieser Größe waren zum Glück alle nötigen Daten an die Navigationsabteilungen der beteiligten Schiffe durchgegeben worden, dennoch wurden die Schiffe per Hand gesteuert und die Ruderkommandos wurden immer noch vom Wachoffizier ausgerufen.
Manchmal jedoch ließen Geschwaderführer ihre Schiffe ohne diese Angaben auf Befehl solche Manöver durchfliegen. Auf dem Zerstörer Bainbrige hatte die Kommunikationsabteilung so den Captain geschasst. Als der Geschwadercomodore am dritten Wendepunkt hart Backbord durchgegeben hatte, war an den Captain der Bainbrige dreißig Grad Steuerbord durchgegeben worden.
Es macht sich nicht wirklich gut, wenn drei Schiffe der Division nach links fahren und das eigene nach rechts. Drei Funkgasten hatten später bestätigt, sie hätten an den Leiter der Kommunikationsabteilung den richtigen Befehl durchgegeben. Die Bainbrige hatte keine zwei Wochen später einen neuen Chef der Kommunikationsabteilung und einen neuen Kommandanten.
Die Parade der dritten Flotte jedoch verlief ohne Zwischenfall. Die Fregatten, Zerstörer und Kreuzer passierten das neue Flaggschiff in simpler Viererformation, grüßten es mit ihren Signallampen und die jeweiligen Brückenbesatzungen nahmen beim Vorbeiflug Haltung an.
Wäre man noch eine seefahrende Marine gewesen, hätte man an Deck die Besatzung in Paradeuniformen antreten lassen, alle Flaggen und Wimpel gesetzt und nach Jules persönlicher Meinung wäre alles viel anschaulicher gewesen. Die gute alte Zeit, als man mit Cruise-Missiles aufeinander geschossen hat und die Midshipmans noch eine Tracht Prügel bekommen haben.
Andererseits, wenn man Offiziere wie Charles Stacy bedachte, war es gut, dass manche Sitten nicht mehr in Mode waren.

***

Das Geschwader war vollzählig angetreten und als Irons ihren Blick über die geschlossenen Reihen wandern ließ, war das gestrige Exerzieren nicht nur wirkungsvoll sondern auch notwendig gewesen. Außerdem hatte diese kurz vor zwölf anberaumte Änderung des Dienstplanes wohl einigen Leuten noch gezeigt, dass der neue CAG eben nicht nur der nette Onkel aus der Reserve war.
Die erste Stunde lang war die Aufstellung der Angry Angels schlicht und ergreifend saumäßig gewesen. Die Techniker des Geschwaders hatten noch schlechter abgeschnitten als die Piloten. Was drei Stunden Gebrüll durch ein paar Affen in Marinesuniform doch so bringen konnten.
Heute zeigten sich die Angels aber von ihrer besten Seite, als sie auf dem hinteren Landedeck Formation eingenommen hatten. Das einzige was störte war, dass nicht alle Frauen des Geschwaders zur Paradeuniform einen Rock trugen. Dafür konnte sie selbst aber niemanden einem Rüffel verpassen, da auch sie eine Uniformhose dazu geordert hatte aber das war einfach nur viel praktischer an Bord eines Kriegsschiffes. Noch dazu war es einfach nur zum Schießen gewesen, wie sich Huntress in Rock und hochhackigen Schuhen die steile Treppe runtergequält hatte.
Schließlich wurde das erste Shuttle von einem Ehrengast von der Landerampe mit einem Traktor herangezogen.
Die Tür schwang auf und die Rampe landete genau auf dem eigens für den Anlass ausgerollten roten Teppich. Die Lautsprecher übertrugen das Trillern von Bootsmannspfeifen und Senior Master Chief Petty Officer Atti kündigte den ersten Besucher an: „Kommandant Dritte Flotte kommt an Bord!“
Die angetretene Ehrenwache der Marines riss zum Empfang die Gewehre in Präsentiert-Haltung vor die Brust. Gestern einstudiert und aus der Entfernung einfach nur perfekt.
„ACHTUNG! Geschwader STILLGESTANDEN!“
Jules Stafford, dessen Ehrenzeichen und Ordensbänder verglichen mit ihren eigenen etwas sparsam wirkten, hatte den natürlichen Klang eines Vorgesetzten drauf.
Er, Irons und die anderen Staffelführer, die vor der Front standen, nahmen wie die Piloten und Techniker hinter ihnen Haltung an. Das Donnern auf das Stahl knallender Halbschuhe jagte ihr einen kleinen Schauer über den Rücken.
Als Admiral Auson das Shuttle verließ senkte die Fahnenwache die Flaggen von Navy und Marinecrops, während das Banner der Republik erhoben blieb.
Hinter dem Admiral folgte eine kleine Schar von Stabsoffizieren und Adjutanten.
Auson ging den roten Teppich entlang, salutierte kurz den gesenkten Flaggen und blieb dann vor Admiral Girad stehen und erst als die beiden Admiral militärische Ehren ausgetauscht hatten, wurde wieder Rührt euch befohlen.
Ein Offizier aus Girads Stab führte den Stab von Auson vom Flugdeck, während dieser neben Girad Platz vor den Stabsoffizieren der Columbia einnahm.
Ausons Shuttle wurde dann vom Traktor zur Bereitschaftszone gebracht, während ein zweites Shuttle von der Landerampe herangezogen wurde.
Auch hier wurde von Atti wieder Meldung gemacht: „Die Ministerpräsidentin von Masters kommt an Bord!"
Erneut wurde das Geschwader von Stafford ins Achtung befohlen, die Flaggen gesenkt und die Marines präsentierten ihre Gewehre. Doch diesmal wurde zusätzlich die Nationalhymne von Masters aus den Lautsprechern gespielt als Hanifa Jergian dem Shuttle entstieg und über den Roten Teppich den Admiralen entgegen schritt. Vor den gesenkten Flaggen neigte die Ministerpräsidentin kurz aber angemessen den Kopf. Auch ihr folgte ein nicht ganz unbeträchtlicher Stab.
Girad und Auson begrüßten Jergian und ein weiterer von Girads Stabsoffizieren trat hervor um die Würdenträger Masters vom Flugdeck herunter zu begleiten.
Die Ministerpräsidentin jedoch reihte sich nach kurzem Gespräch bei den beiden Admiralen ein, während ihr Shuttle ebenfalls in den Bereitschaftsbereich gezogen wurde.
Eigentlich hätte sich jetzt der Admiralsstab zurückziehen müssen, Irons blickte hinüber zu Stafford, der in ruhiger Rührteuchhaltung dastand. Eigentlich hätten sie doch jetzt wegtreten müssen.
Da kam ein drittes Shuttle von der Landerampe an.
Irons kiebitzte zu den Admiralen rüber, also weitere Ehrengäste aber für wen würde man noch den großen Pomp machen.
Die Tür schwang auf, die Ausstiegsrampe landete auf dem roten Teppich und Atti kündigte an: „Mr. und Mrs. Pawlitschenko!“
„ACHTUNG! Geschwader STILLGESTANDEN!“
So gern Irons auch nach links geguckt hätte um Liljas Reaktion zu sehen, nahm sie Haltung an und legte die Hand zum Gruß an. Während die ersten Klänge der russischen Nationalhymne aus den Lautsprechern drang, half ein junger Lieutenant Commander zwei Zivilisten beim Aussteigen und begleitete die beiden Pawlitschenkos den roten Teppich entlang zu der Ministerpräsidentin und den Admiralen.
Während der junge Offizier vor den gesenkten Flaggen zackig salutierte blickten sich die beiden Zivilisten der gebannten Aufmerksamkeit mehrere Hundert angetretener Soldaten eingeschüchtert um.
Nach der Begrüßung an Bord wurde rührt Euch befohlen.
Irons wagte den kurzen Blick nach links und so sehr Lilja es versuchte zu verbergen, man konnte ihr die Überraschung an der Nasenspitze ansehen.
So konnte sie auch Staffords vergnügtes Funkeln in den Augen sehen als dieser sich nach rechts wandte: „Lieutenant Commander Pawlitschenko, raustreten, sie sollten ihre Eltern begrüßen. Lieutenant Richter übernehmen sie.“
„Aye, aye, Sir“, war Imps zackige Antwort, die sofort vortrat und Lilja quasi leicht an schubsen musste um deren Platz einnehmen zu können.
Da die Flying Stallions nach der Nummerierung im Geschwader an zweiter Stelle kamen blieb es Lilja erspart die Front der Piloten abzuschreiten.
Die Begrüßung der Familie Pawlitschenko verzögerte das Wegtreten noch einen Augenblick, dann zogen sich der Admiralsstab und alle Gäste zurück. Captain Ahn wartete dann nicht mehr all zulange und ließ die angetretene Front wegtreten.
Irons sammelte nochmal die abgestellten Fremdenführer der verschiedenen Staffeln und wies diese noch ein letztes Mal kurz ein, ehe sie zu dem wartenden Stafford herüber schlenderte.
„Sie wussten davon?“
„Ja, Admiral Girad setzte mich in Kenntnis das Liljas Eltern extra von Terra rüber gekarrt werden. Ich bat dann um Geheimhaltung. Ich hoffe die Überraschung ist gelungen.“
„Das hat man ja genau gesehen.“



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:35:

 

Palais Dechanara war für Linai nie ein Ort der Freude gewesen, obwohl ihre Mutter hier aufgewachsen war. Hier wurde einer der vielen wenig bekannten akariischen Sprachen gesprochen, eine Sprache die Linai zu ihrem Bedauern nie gelernt hatte.
Nevach Dechanara, ihr Cousin, war der dritte Erzherzog von Dechanara den sie erlebte und mit dem sie sich mittels drei verschiedener Sprachen unterhalten konnte und dennoch war sie hier im Palais auf einen Übersetzer angewiesen, der das gesagte ins Ichnir übersetzte.
Und während man auf allen Welten des akariischen Reiches das imperiale Hofprotokoll schon fast als bindend ansah, hielt ihre königlichen Hoheiten von Dechanara an ihrem eigenen Hofprotokoll fest und sahen auf jene herab die ein wenig patzten.
Wie eitel und stolz und wie verletzt ein Haus sein kann, dass nicht einmal in der Lage gewesen war dem Haus Thelam militärisch entgegenzutreten. War es so demütigend gewesen das große Haus Thelam als Lehensherren zu akzeptieren um die militärische Niederlage gegen Haus Voan’Cha abzuwenden?
Nein, diese Episode war fast vergessen. Es war eine andere Erniedrigung, die Nevach Dechanara umtrieb. In einem Moment der Schwäche war Eliak Thelam, Imperator des Sternenreiches von Akarr, seiner Frau Joala Dechanara untreu gewesen. Schlimm genug, doch dieser Moment hatte Kern Ramal hervorgebracht.
Und auch wenn Haus Dechanara eines von vielleicht zehn Adelshäusern war, dass die finanziellen Mittel, die Macht und den Einfluss hatten, dem Hause Zuuni zu trotzen um Haus Ramal unter dem eigenen Stiefelabsatz zu zerquetschen, so hatten keiner der vorangegangenen Erzherzöge auch nur einen Schritt in dieses Richtung unternommen.
Immer wenn Eliak Thelam eine Gefälligkeit oder Dienste des Hauses Dechanara einfordern wollte, war als Antwort immer eine Forderung gekommen: Nirasch de Vora Kern Ramal oder auf Sekur: Gebt uns den Kopf von Kern Ramal.

Als Linai, begleitet von zwei Offizieren der imperialen Garde in den Roten Saal von Palais Dechanara geführt wurde, erwartete ihr Cousin sie.
Nevach erhob sich aus dem Thronartigen Sessel, der am Kopfende eines zierlichen Teetisches stand. Flankiert wurde er vom Waffenmeister seines Hauses, einem greisen Akarii der zuvor schon seinem Vater und seinem Großvater in dieser Position gedient hatte und einem jüngeren Offizier seiner persönlichen Garde. Dem Übersetzer.
Ihr Cousin sprach sie natürlich auf Ichnir an und im Gegensatz zu seinen Vorgängern war es kein heiseres Krächzen sondern ein angenehmer Singsang. Nevach war einige Jahre jünger als Linai.
„Seine Königliche Hoheit heißt seine Cousine die Prinzessin aufs herzlichste willkommen und ist über alle Maßen geehrt, dass sie in ihrem Zustand die beschwerliche Reise auf sich genommen hat“, übersetzte der jüngere Offizier ohne sich vorzustellen, „bitte nehmt doch Platz.“
„Vielen Dank, Lieber Cousin, immer wieder komme ich gerne in das Haus meiner Mutter zurück. Leider geben mir meine Verpflichtungen dieser Tage dazu kaum Gelegenheit, Euch zu besuchen.“
Wieder wurde der Übersetzer tätig und ihr Cousin antwortete ihr.
„Seine Königliche Hoheit weiß um die vielen Pflichten der Prinzessin und erkennt ihre Erfolge als Regentin seiner Majestät voller Bewunderung an.“
Linai nickte huldvoll in Nevachs Richtung und probierte von dem Tee, den Bedienstete ohne Aufforderung serviert hatten.
„Königliche Hoheit“, sprach sie ihren Cousin an, „wie Ihr sicherlich schon vermutet habt ist dieser Besuch, so vergnüglich er auch sein mag, auch Teil meiner Pflichten als Regentin und als Mutter des zukünftigen Herrschers von Akarr.“
„Seine Königliche Hoheit ist sich dieses Umstandes sehr wohl bewusst“, lautete die übersetzte Antwort.
„Mein Gemahl, seine Lordschaft Tobarii Jokham, Kriegsminister seiner Majestät wird in wenigen Tagen ein Duell fechten, in dem es um seine und auch um meine Ehre als auch die Zukunft unseres Reiches geht. Im Anschluss daran wird er sein Recht als Prinz und angeheirateter Sohn seiner Majestät Imperator Eliak des Dreizehnten einfordern und ihm auf den Thron folgen.“
Der junge Offizier übersetzte und die Mine ihres Cousins wurde nachdenklich. Er blickte sie einen Augenblick an und begann dann einen längeren Singsang auf Ichnir.
„Seine Königliche Hoheit möchte die Prinzessin daran erinnern, dass der Kontrahent seiner Lordschaft durchaus einen Ruf genießt, der ihn als Duellant überlegen erscheinen lässt und selbst sollte seine Lordschaft diesen Allecar-Emporkömling besiegen, wird dies vielleicht nicht der große militärische Sieg sein, der bedürftig ist, einen Schwiegersohn auf den Imperialen Thron Platz nehmen zu lassen.“
„Prinz Tobarii hat einige große Adelshäuser als Unterstützer, abgesehen von seinem eigenem.“
„Darf seine Königliche Hoheit erfahren, welche Unterstützer?“
Linai öffneten den Mund zur Antwort, doch ihre erste Antwort wäre für Nevach eine Beleidigung gewesen. Darüber hinaus würden alle Anwesenden inklusive ihres Cousins eher sterben, als ein Wort über diese Unterredung nach draußen zu tragen.
„Die Häuser Zuuni und Rian, sowie verschiedene Vasallen des Hauses Thelam und ich hatten die bescheidene Hoffnung, dass das Haus meiner Mutter meinem Ehemann seine Unterstützung zukommen lassen würde.“
Nevach sagte etwas zu seinem Waffenmeister, woraufhin dieser seinem Herren kurz zunickte, sich dann vor Linai tief verbeugte und zurückzog. Dann wandte sich ihr Cousin wieder dem Übersetzer zu.
„Seine Hoheit fühlt sich geehrt ob dieser Nachfrage und er ist davon überzeugt, dass seine Lordschaft dem Imperialen Thron besser dienen würde als die Anwärter aus der direkten Linie seiner Majestät. Doch befürchtet er, dass es um die Ansprüche seiner Lordschaft nicht so gut aussieht.“
„Ich verstehe Eure Bedenken lieber Cousin, doch die Sorge um das Wohl des Imperiums lässt meinem Ehemann keine andere Wahl als diese Ansprüche geltend zu machen. Darüber hinaus wird der Imperiale Thron unter Prinz Jockham dem Haus Dechanara sehr dankbar und sehr verpflichtet sein.“
An die Tür, durch die der Waffenmeister verschwunden war, wurde angeklopft.
Doch statt darauf zu achten, sprach ihr Cousin auf seinen Übersetzer ein.
„Seine Königliche Hoheit möchte nicht unerhört erscheinen und bittet seine Cousine die Prinzessin vielmals und untertänlichst um Verzeihung, aber wie würde sich die Dankbarkeit des Imperialen Throns ausdrücken?“
„Mein Gemahl Prinz Jockham wird viele neue Minister bestellen. Es wird viele einflussreiche Stellen mit loyalen Anhängern zu besetzen geben. Ich hörte der Sohn eines Lehensmanns bat um Aufnahme in die Imperiale Garde und vieles mehr.“
Nevach hörte seinem Übersetzer zu und rief dann ein Wort in Richtung der Tür.
Seine Waffenmeister trat wieder ein, einen metallenen Speer in der Hand. Der greise Akarii knallte die Waffe mit dem Knauf auf den Fußboden, dass Linai zusammenzuckte und ihre beiden Leibwachen sich anspannten.
Nevach Dechanara beugte sich vor und sprach sie mit einer ähnlich heiseren Stimme an, die sein Vater gehabt hatten: „Nirasch de Vora Kern Ramal!“

***

Der Hangar der Columbia war hergerichtet worden. Ein Podium, bunt geschmückt in den traditionellen Blau und Gold der Marine. Links und rechts des Podiums standen je ein Falcon Abfangjäger der Flying Stallions, die Maschinen von Lilja und Imp. Chief Dodsons Mannschaften hatten beide Maschinen auf Hochglanz poliert, doch jeder Kenner konnte sagen, dass beide im aktiven Flugbetrieb standen. Wenn die Angry Angles ein besonderes Farbschema wie die Ravens, Flying Tigers oder Red Arrows führen würden, hätte man da etwas machen können. Doch das Navy Grau wirkte schlicht und ließ halt manche Scharte nicht mehr verschwinden.
Vier Meter vor dem Podium standen zwei Reihen Stühle für die Ehrengäste, einen Meter hinter den Stühlen hatte das Geschwader mit komplettem Stab in Paradeuniform Aufstellung genommen.
Jules konnte sich nicht entscheiden, ob die Navy zu viel oder zu wenig Rummel veranstaltete. Jedenfalls hatte man es auf der Zielgeraden vermasselt. Man hatte eine Staatscheffin eingeladen und die Eltern von Commander Pawlitchenko eingeflogen und trotzdem war man nicht in der Lage gewesen eine Militärkapelle zu organisieren.
Aber ein paar einfache Worte von Hanifa Jergian hatten dafür gesorgt, dass die Band der Masters National Space Guard zur Verfügung stand.
Die gesamte Vorstellung begann damit, dass eben jene Band nach dem Antreten des Geschwaders Eternal Father spielte. Danach folgte eine kleine Predigt des Bordkaplans der Columbia. Jules hatte Richard Schönberg nur kurz kennen gelernt und konnte ihn noch nicht ganz einschätzen. Ein Geistlicher konnte eine Bereicherung als auch ein Schaden für jedes Schiff sein und nach Jules persönlichen Erlebnissen mit dem Bordiman der Shiloh lag seine Messlatte für einen Schiffsgeistlichen sehr hoch.
Und obwohl Lieutenant Commander Achmed Sylaiman ein wirklich herausragender Offizier und Seelsorger gewesen war, war irgendwann der Zeitpunkt eingetreten an dem Jules den Predigten und Gebeten nicht mehr hatte folgen können. Auch dieser Beitrag zur Zeremonie vermochte dies nicht zu ändern, nach den einleitenden Worten des Kaplans schaltete Jules geistig ab und kehrte erst beim Amen wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er hoffte, dabei nicht aufgefallen zu sein oder zumindest nur Charles Stacy und niemanden sonst, dessen schräger Blick machte nämlich deutlich, dass er sehr wohl bemerkt hatte, dass bei Jules zwar alle Lichter an waren aber kurzzeitig niemand zuhause gewesen war.
Nach der einleitenden Predigt kam Jules große Stunde. Um genau zu sein, durfte er die Bonbons verteilen. Die Orden, die automatisch vergeben wurden, wenn der Zeiger eine gewisse Marke überschritt. Raumkampfabzeichen, Raumdienstabzeichen, Flying Cross gingen wie beim Karneval über den Tresen. Allein seine neue Schwadron wurde viermal beschenkt.
Dann folgten die höheren Orden. Jules durfte zwar noch die Verleihungsurkunde verlesen, doch die eigentliche Verleihung der vier Bronce Star, einer davon postum, wurde durch Viceadmiral Girad vorgenommen. George Ausons Zurückhaltung war für den neuen Geschwadercommodore eine erfrischende Überraschung.
Der nächste und abschließende Posten auf der Liste würde alle anderen in den Schatten stellen und auf dem kleinen Beistelltisch auf dem Podium war nur noch eine unscheinbare Schatulle übrig geblieben.
„Lieutenant Commander Pawlitschenko bitte treten Sie vor“, begann Jules den abschließenden Akt.
Während Lilja aus der Formation ausbrach und zu ihm von rechts auf das Podest stieg, erhob sich ebenfalls Hanifa Jergian von ihrem Platz in der ersten Reihe und stieg von links hinauf.
Jules wandte sich Lilja entgegen, erwiderte ihre militärische Ehrbezeugung mit der gleichen Präzision, die er schon den ganzen Abend über an den Tag legte. Heute war es wichtig, den lebendigen Traditionen und den Gebräuchen der TSN Respekt zu erweisen.
Viel wichtiger, es war Respekt, den er seinen Untergebenen zeigte und wahrscheinlich hatte es sich schon bis in die Bilge durch geschwiegen, dass der neue wenig auf Formalitäten gab.
Nach dem er mit Lilja den Salut ausgetauscht hatte, wendete er sich wieder zum Rednerpult zu und mit einem kleinen Wischer auf dem Datapad war ein neuer Text zu lesen; proforma, Jules kannte ihn auswendig: „Vom Parlament der Bundesrepublik Terra an alle Einheiten, Besatzungen, Schiffe und Einrichtungen der Streitkräfte.
Hiermit wird Lieutenant Commander Tatjana Pawlitschenko durch das Parlament der Republik die Medal of Honor verliehen.
Lieutenant Commander Pawlitschenko zeichnete sich am 22. Mai 2636 durch Handlungen weit über den Ruf der Pflicht hinaus aus.
Lieutenant Commander Pawlitschenko bestieg einen Raumjäger, um trotz vorangegangener eigener Verwundung bei der Raumschlacht in Karraschin ihre Kameraden zu unterstützen und ihr Trägerschiff TRS Columbia CV 44 zu verteidigen.
Lieutenant Commander Pawlitschenkos Handlungen und Leistungen, ihr herausragendes Heldentum und ihre Hingabe an die Pflicht stehen im Einklang mit den höchsten Standards der Terranen Streitkräfte und sind eine Zierde für sie persönlich, ihr Geschwader und die Terran Space Navy.
Gezeichnet Ibrahim Ashobi, Präsident des Parlaments der Bundesrepublik Terra.“
Jules trat zurück, nahm die letzte Ordensschatulle vom Beistelltischchen und hielt sie geöffnet Hanifa Jergain entgegen.
Diese entnahm der Schatulle die Medal of Honor und trat auf Lilja zu: „Bitte nehmen Sie diesen Orden als Zeichen der Dankbarkeit einer stolzen Nation entgegen.“
Lilja neigte leicht ihr Haupt und Jergian hängte ihr den Orden um den Hals.
Die Masters Space Guards Band ließ sich dann dazu herab Anchors aweigh zu spielen. Girad und Auson erhoben sich und applaudierten, worin erst die übrigen Ehrengäste einfielen und nach und nach das gesamte Geschwader.
Jules lief es eiskalt über den Rücken, als er nach Jergain obligatorisch mit Lilja für Fotos posierte und das Inferno von über sechshundert Männern und Frauen noch andauerte.

***

Jules stand im Raucherbereich der um drei Abteilungen erweiterten Admiralsmesse und zog genüsslich an einer Zigarre. Nur mit halbem Ohr hörte er zu, wie Black Hawk einen Adjutanten aus Jergains Staab mit einer uralten Marineanekdote auf die Schippe nahm.
Eigentlich war die Geschichte nicht wirklich witzig aber an Tagen wie diesen konnte er dennoch darüber schmunzeln.
Der neue CAG der Angry Angels war glücklich. Der Tag war soweit gut verlaufen. Keiner seiner Offiziere hatte sich irgendwie blamiert. Jeder hatte es geschafft seine Fliege richtig zu binden, die richtige Uniform anzulegen, niemand hatte sich bekleckert, auch er selbst nicht. Das Galadinner war ausgezeichnet, er würde sich später bei der Küchencrew der Columbia bedanken müssen und mit einem Handschlag wäre die Sache nicht getan.
Und zum Glück hatten sich die Reden in Grenzen gehalten.
Hinter ihm räusperte sich Girads persönlicher Steward, der die Organisation der Kellner übernahm, als hätte er nie etwas anderes getan. Chief Petty Officer Hellingers Ordensspangen wiesen ihn jedoch als erfahrenen Veteranen aus.
„Mr. President“, Hellinger verzog bei der Anrede nicht die kleinste Mine, „die Küche wäre jetzt soweit den Nachtisch zu servieren, Sir.“
„Könnten Sie vielleicht alle Gäste schon mal wieder an die Plätze zurück bitten und den Nachtisch noch zehn Minuten nach hinten verschieben.“
„Natürlich, Mr. President.“
Da dies eine Feier des Geschwaders war, war Jules der Präsident der Messe und ihm gebührte der rechte mittlere Platz am Ehrentisch. Die Wahl seiner First Lady war dem Anlass entsprechend schwierig. Er hatte sich schließlich für Admiral Girad entschieden und als weitere Ehrengäste saßen an seinem Tisch selbstverständlich Lilja, Hanifa Jergain und Admiral Auson. Den sechsten Platz hatte Captain Ahn erhalten.
Mit einem Anflug von Bedauern legte er seine Zigarre in einem der Aschenbecher ab: „Nicht weglaufen, ich komme wieder.“
Die Kellner hatten keine Schwierigkeiten, die Gäste wieder an die Tische zu bekommen. Die meisten bekamen von selbst mit, wie er Girad einsammelte und zurück zum Ehrentisch geleitete. Da er nicht der ranghöchste Offizier im Rahmen des Dinners war, hatte man Teile des Protokolls im Hinblick auf Jergain außer Kraft gesetzt, dennoch warteten alle rangniederen Offiziere stehend bis er sich wieder gesetzt hatte.
„Eigentlich hatte ich der Küche mitteilen lassen, man möge doch der weihnachtlichen Tradition folgen und uns nur alle drei Stunden etwas zu essen servieren, doch wir werden wohl ohne Rücksicht auf Verluste weiter gemästet.“
Höfliches Lachen antwortete ihm.
Charles Stacy ließ ein leichtes Räuspern erklingen und erhob sich: „Mr. President, ich fürchte ich habe Meldung zu machen.“
Jules legte die Serviette beiseite: „Können wir darauf heute nicht verzichten, Commander?“
Einige der anwesenden Offiziere blickten sich schon neugierig um, waren solche Anlässe doch immer mal wieder dazu genutzt dem eigenen Humor Auslauf zu gewährleisten. Andererseits hatte sich Commander Stacy nicht als sehr humorvoller Mensch dargestellt.
„Ich fürchte nicht, Mr. President“, antwortete der XO der Columbia lakonisch.
„Nun, gut, Commander, dann machen sie Meldung.“
„Mr. President, zwei ihrer Piloten sind nicht in ordnungsgemäßer Uniform erschienen.“
„Tatsächlich, Um wen handelt es sich?“
„Mr. Nakakura und Mr. Davis, Mr. President.”
Jules richtete sich in seinem Stuhl etwas auf: „Mr. Nakakura, Mr. Davis, vor die Front!“
Die beiden Offiziere nahmen knapp zwei Meter vor Jules Tisch Haltung an. Kano konnte man ansehen, dass der kleine Scherz gerade total an ihm vorbei ging und dementsprechend etwas irritiert war.
Davis sah aus, als würde er etwas ahnen.
„Ich sehe was sie meinen, Commander, leider hat die Navy die angemessene Form von Bestrafung, die administrative Bestrafung, niemals eingeführt.“
„Mr. President“, meldete sich Girad von links.
„Ja, Madam Vice?“
„Unter Umständen könnte ich etwas dazu beitragen, was man als mildernde Umstände für die beiden Gentlemen ansehen könnte.“
Jules bedeutete der Admiralin weiterzusprechen.
„Ich habe die beiden Urkunden heute zwischen Tür und Angel Admiral Auson zur Unterschrift vorgelegt und konnte diese noch nicht an sie weiterleiten, Mr. President, daher wissen die beiden Lieutenant Commander noch nicht von ihrer Beförderung.“
„Das kann man fast gelten lassen, Madame Vice“, Jules erhob sich und nahm von Chief Hellinger zwei Dokumentenmappen entgegen und öffnete die erste: „Auf Befehl des kommandierenden Admirals fünfte Flotte wird Lieutenant Kano Nakakura mit heutigen Datum zum Lieutenant Commander befördert. Einhergehend mit dieser Beförderung wird er als Kommandierender Offizier VF zwölf-siebenundsiebzig mit allen dazugehörigen Rechten, Privilegien und Pflichten bestätigt. Gezeichnet George Auson, Admiral.“
Jules nickte Irons zu, welche sich zusammen mit dem Count erhob, ein Paar Rangabzeichen hervorzauberte und Kano mit diesen ausstaffierte.
Jules öffnete die zweite Dokumentenmappe: „Auf Befehl des kommandierenden Admirals fünfte Flotte wird Lieutenant Clifford Davis mit heutigen Datum zum Lieutenant Commander Befördert. Einhergehend mit dieser Beförderung wird er als Kommandierender Offizier VF zwölf-vierundsiebzig mit allen dazugehörigen Rechten, Privilegien und Pflichten bestätigt. Gezeichnet George Auson, Admiral.“
Irons und der Count statteten auch Ace mit den nötigen Rangabzeichen aus.
„Meinen Glückwunsch Gentlemen und mögen die Götter an die sie Glauben ihren Seelen gnädig sein.“
„Auch von mir meinen Glückwünsch“, Girad warf Jules einen bitterbösen Blick zu, „damit habe ich hoffentlich endlich Ruhe von ihnen.“
Jules blickte unschuldig zurück: „Meine Anforderungsliste ist lang, Madame Vice.“
Womit er diesmal ein paar ehrliche Lacher auf seiner Seite hatte.
„Aber kommen wir aufs eigentliche Thema“, Jules blickte Nakakura und Davis direkt an, „für das nicht ordnungsgemäße Erscheinen hier verurteile ich sie beide der Staffel des jeweils anderen eine Kiste Bier auszugeben. Sie können abtreten, Commanders.“
Er erwiderte den Salut seiner beiden Staffelführer und setzte sich; gerade rechtzeitig für den Nachtisch fertig geworden.



Geschrieben von Ironheart am 15.11.2015 um 14:36:

 

Wenn Träume wahr werden

TRS Columbia, Sterntor-System

Ein Stück weit fühlte sich Lilja, als wäre sie in einem Traum gefangen - ein ihr inzwischen nur zu vertrautes Gefühl, auch wenn es diesmal ein Wunsch- und kein Alptraum war. Die Glückwünsche, die auf sie herabregneten, die lächelnden Gesichter, die Uniformen, teilweise von Orden übersät, alles das wirkte so unwirklich. Nicht, dass sie nicht in den letzten Jahren schon mehrfach an vergleichbaren Veranstaltungen teilgenommen hatte. Nur hatte sie noch nie so im Mittelpunkt gestanden. Auszeichnungen wie der Bronce Star, aber auch Beförderungen und "höhere" Orden waren eine Sache, lagen im Bereich des Mach- und Erreichbaren. In einem Geschwader wie den Angry Angels kam so etwas immer mal wieder vor.
Aber heute war alles anders. Denn die höchste Auszeichnung der Republik erhielt nur einer unter Zehn- wenn nicht Hunderttausenden, und natürlich nur einmal im Leben. Sie musste deshalb ständig darum kämpfen, die ihr soeben verliehene Parlamentary Medal of Valor nicht prüfend zu betasten, oder zumindest den Kopf zu verrenken, um auf die Auszeichnung auf ihrer Brust zu schielen. Als müsste sie sich überzeugen, dass dieses Stück Metall, Stoff und Kunststoff Wirklichkeit war, das alles nicht nur eine schillernde Seifenblase, tanzend und wunderschön anzusehen, aber sofort zerplatzend, sobald man sie berührte. Und jeder Moment in dem es kein böses Erwachen gab, steigerte das Gefühl der Unwirklichkeit. Bisher war es ihr gelungen sich zu beherrschen, aber sie wartete immer noch halb darauf, dass sie sich doch noch selbst zum Affen machte, so töricht-glücklich und aufgekratzt, wie sie im Moment war. Woran nicht zuletzt Anteil hatte, dass die Handvoll Leute, die ihr außerhalb der Angels am meisten bedeuteten, anwesend waren - ihr Bruder und ihre Eltern. Vor allem ihre Eltern, denn egal ob Lilja nun den ersehnten Orden erhalten hätte oder nicht - die Möglichkeit, Vater und Mutter nach so langer Zeit wiederzusehen, war schon ein Stück Glückseligkeit.

Hin und wieder kostete sie genussvoll die Erinnerung an den großen Moment aus, rief sich die entscheidenden Minuten zurück ins Gedächtnis. Jede Sekunde erschien ihr, als hätte sie sich unauslöschbar in ihre Seele gebrannt, und allein der Gedanke daran erfüllt sie geradezu mit einem schon fast rauschhaften Gefühl des Stolzes.
Es gab mit Sicherheit Menschen, die andere Definitionen und Vorstellungen vom "schönsten Tag ihres Lebens" hatten. Manche hätten den Tag ihrer Hochzeit so bezeichnet, die Geburt eines Kindes oder dergleichen. Für Lieutenant Commander Tatjana ,Lilja' Michailowa Pawlitschenko, Tochter von Michail Grigorewitsch Pawlitschenko und Ljudmilla Nikolajewna Pawlitschenko, Schwester von Lieutenant Commander Walentin Michailowitsch Pawlitschenko, die Frau, die manche mit Eisprinzessin, Eisoma oder schlimmer titulierten, war wohl kein schönerer Moment vorstellbar als dieser. Außer vielleicht der ferne Tag, an dem sie zusehen durfte, wie die Truppen der Republik ihr Banner auf dem zerschossenen kaiserlichen Palast auf Akar hissten, die Hauptstadt der Imperiums in Schutt und Asche legten und zwischen den Trümmern Salz säten.

Sie war natürlich entsprechend herausgeputzt gewesen. In der weißen Galauniform mit den goldenen Ziernähten und Ranginsignien bot die Russin einen wahrhaft prachtvollen Anblick, obwohl man sich bei der Vielzahl ihrer Auszeichnungen - Orden, vor allem aber Kampagne- und Dienstabzeichen - fragen konnte, wo sie überhaupt noch eine weitere Medaille unterbringen sollte. Was nicht immer recht dazu gepasst hatte, war vielleicht ihre Miene. Denn die wechselte zwischen angemessen ernst und würdevoll über ungläubig bis hin zu einem törichten Grinsen, das vielleicht für eine Lottogewinnerin angemessen gewesen wäre, vor allem wenn ihr Blick zu ihren wenigen Freunden oder ihren Angehörigen wanderte. Der Effekt war denkwürdig, zumindest für einen aufmerksamen Beobachter. In solchen Momenten sah man der Staffelchefin der Fighting Stallions an, dass sie entgegen ihres abgebrühten Gebarens und der zur Schau gestellten Kaltblütigkeit und Todesverachtung noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Nach Kriegsmaßstäben war sie freilich eine Greisin - und so fühlte sie sich manchmal auch - eine von den zunehmend weniger werdenden Veteranen, die die ersten Stunden des Konflikts an vorderster Front miterlebt hatten. Aber daneben war sie eigentlich noch immer eine junge Frau, es brauchte freilich schon einiges, um dies so deutlich zu Tage treten zu lassen.

Glücklicherweise hatte sie es geschafft, sich weder vor noch während der Ordensverleihung lächerlich zu machen. Es war ihr in den entscheidenden Augenblicken sogar gelungen, ihre Miene unter Kontrolle zu behalten. In solchen Momenten gab sie wirklich ein tolles Bild für die Kamera ab, zumindest wenn man vom Leben - oder eher von der Schlacht - gezeichnete ,Kriegshelden' zu schätzten wusste. Sie hatte ihre sogar ihre Dankesrede flüssig vorgebracht, frei dazu, worauf sie nicht wenig stolz war:
"Hier aus diesem Anlass vor Ihnen zu stehen, erfüllt mich mit Stolz und mit Demut. Ich hatte nie damit gerechnet, dieser Ehre für würdig befunden zu werden. Nicht, dass ich nicht davon geträumt hätte - wie man bei mir zu Hause sagt, ein schlechter Soldat ist, wer nicht träumt, General zu werden. Aber Träume und Realität sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Das Träume tatsächlich wahr werden können, nun, das ist etwas, was wir uns alle hin und wieder in Erinnerung rufen müssen. Denn das gehört zu den Dingen, die uns antreiben." Sie lächelte schmal. Sie hatte natürlich gut reden, wo sie den Orden schon um den Hals hatte.
"Eine Ordensverleihung ist meistens ein Tag, an dem man einen bestimmten Menschen, oder einige wenige feiert. Wir ehren, was er oder sie geleistet haben, was uns als besonders, als außergewöhnlich erscheint. Manchmal wird dabei vergessen, dass nichts von einem Menschen allein vollbracht werden kann. Damit meine ich nicht nur den Beitrag der Kameraden, der Untergebenen, Vorgesetzten und Waffenbrüder. Denn was es uns ermöglicht, Taten zu vollbringen, die Auszeichnungen würdig sind, ist oft viel mehr als nur unsere Staffel, unser Schiff, unsere Flotte. Es ist auch das, was hinter uns liegt, was uns antreibt, uns den Mut gibt, nicht zu weichen, dem Tod ins Auge zu sehen, ungeachtet der feindlichen Übermacht. Was uns die Angst überwinden lässt, den Schmerz, die Erschöpfung und Verzweiflung. Die Dinge, für die zu kämpfen es sich lohnt - und das sind nicht nur Ruhm und Ehre, schon gar nicht die Aussicht auf eine gute Bezahlung. Es ist die Familie, es ist das woran wir glauben und was wir lieben, alles was uns ausmacht - kurz, die HEIMAT. Unsere Mutter, die Heimat, die kleinen und großen Städte, die Wälder und Seen, nicht nur auf der Erde sondern auch all den anderen Planeten, sie hat uns hervorgebracht, sie hat uns geformt, sie ist alles was wir waren, was wir sind, was wir je sein können und wollen. Es war die Heimat, die mir den Mut gab, mit einem gebrochenen Bein in den Jäger zu steigen. Es war die Liebe zur Heimat, die den Verteidiger von Masters die Entschlossenheit gab, sich mit ihren zum Teil veralteten Maschinen einer feindlichen Übermacht zu stellen, und seine Schiffe sogar im direkten Sturzflug zu treffen. Es ist die Heimat, davon bin ich fest überzeugt, die uns die Kraft und den Mut geben wird, diesen Krieg durchzustehen bis zum Ende - einem SIEGREICHEN Ende."
Das Gesicht der Russin glühte förmlich vor Begeisterung bei ihren Worten. In solchen Momenten, spöttelten manche hinter vorgehaltener Hand, spielte es eigentlich keine Rolle wie Liljas Worte bei den Zuhörern ankamen. Die Russin nahm sie sowieso kaum wahr, sondern trank gierig ihren eigenen Pathos. Dass sie selber jedes Wort glaubte, machte die Worte nur umso wirksamer.
"Dass ich hier heute stehen kann, dass ich fähig war Dinge zu tun, die man dieser Ehre für würdig erachtete, das verdanke ich vielen. Den Menschen, die MEINE Heimat sind..." Sie strahlte ihre Eltern und ihren Bruder an: "...und natürlich auch meiner zweiten Familie, meinen Kriegsbrüdern und Schwestern auf der Columbia. Einige von ihnen sind heute hier, andere aber, viel zu viele, fehlen - sie sind gefallen, verschollen, verwundet. Ihnen allen kann ich nicht genug danken. Ich hoffe, keiner wird es mir verübeln, wenn ich namentlich vor allem vier Menschen danken möchte, von denen leider keiner heute hier sein kann. Meine Eltern und Großeltern haben mich großgezogen und mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin, aber diese vier haben mich zu der SOLDATIN gemacht, die heute vor Ihnen steht."

Für einen Moment schien die Russin nach innen zu blicken, dann fuhr sie fort: "Lieutenant Commander Alexej Petrowitsch Surkin, wir alle nannten ihn nur Sytsch, das Käuzchen. Wir waren für ihn ,seine' jungen Falken. Er war Kommandeur der ersten Einsatzstaffel, in der ich diente, noch vor dem Krieg. Ich war noch ganz grün, frisch von der Akademie. Er brachte mir, uns allen bei, wie wir als Einheit agieren müssen, was es heißt, Soldat zu sein - in einem kleinen Außenposten am Rand der Republik, im Frieden, und dann auch im Krieg. In zwei Stunden lernte ich vieles, was wesentlich war, und was ich nicht vergessen habe.
Als der Feind uns überfiel, führte Sytsch die Falken in die Schlacht - obwohl wir in der Unterzahl waren. Kapitulation kam für ihn nicht in Frage, und damit gab er uns den Mut, den wir so dringend brauchten, lehrte uns, anzugreifen, auch wenn die Chancen gegen uns standen. Keiner hatte mit diesem feigen Angriff gerechnet, aber dank ihm taten wir unsere Pflicht. Er fiel am ersten Tag des Krieges, so wie acht weitere meiner Kameraden, wie zehntausende. Aber er gab mir die Kraft, weiterzukämpfen. Ich danke auch Commander Lucas ,Lone Wolf' Cunningham, der heute nicht hier sein kann, weil er in der letzten Schlacht schwer verwundet wurde. Er war der Mann, der aus den Angry Angels ein Elitegeschwader formte, der bereit war, Piloten zu vertrauen, die er kaum kannte, Piloten wie mir. Mit ihm trugen wir das unsere dazu bei, das Kriegsglück zu wenden und die imperiale Bestie zurückzuwerfen. Er war...er IST ein Kommandeur, der allen eine Chance gibt, wenn sie zeigen, dass sie eine verdienen. Ich habe meine Chance genutzt. Lieutenant Commander Diane Parker, Lightning, brachte mir bei, mehr als eine Pilotin zu sein. Von ihr habe ich gelernt, eine Staffel zu führen. Wie Commander Cunningham war sie bereit, mir zu vertrauen und an mich zu glauben. Niemand kann etwas im Leben erreichen ohne Menschen, die ihm die Möglichkeit dazu geben. Commander Parker war solch ein Mensch, der in jedem Menschen das Beste sah, und das Beste hervorrief. Was ich als Offizierin und Staffelführerin weiß und erreicht habe, verdanke ich ihr. Wie Commander Cunningham wurde sie schwer verwundet, in der Schlacht, in der wir Prinz Jor seiner gerechten Strafe zuführten. Inzwischen geht es ihr besser, und ich freue mich auf den Tag, an dem wir gemeinsam wieder gegen die Akarii kämpfen - auf demselben Schiff, in derselben Flotte oder am entgegen gesetzten Ende der Galaxis. Und schließlich Commander Samantha Burr alias Raven. Sie übernahm das Kommando über die Angels in einer der schwersten Stunden dieses Krieges und führte uns durch die blutigsten Monate des Geschwaders, seit wir die Redemption verloren haben." Lilja lächelte traurig: "Und sie hat mich für diese große Ehre vorgeschlagen, also wäre ich unfassbar undankbar, würde ich ihr heute nicht danken. Sie ist verschollen, vielleicht tot, vielleicht gefangen. Wenn sie tot ist, werden wir sie rächen, ist sie gefangen, werden wir sie befreien, wie all die anderen, die wir auf die eine oder andere Weise verloren haben."
Sie straffte sich, und war mit einem Mal wieder ganz im Hier und Jetzt: "Und ich möchte noch einer Person danken. Und das nicht nur, weil sie letzten Endes darüber entschieden hat, ob ich die Parlamentary Medal of Valor erhalten soll. Sondern weil sie, auch in den dunkelsten Stunden und unter höchstem Druck, nicht aufgegeben hat, sondern uns alle durch diesen Krieg geführt hat bis zum heutigen Tag. Ich rede natürlich von Patricia Birmingham, unserer Präsidentin und Oberkommandierenden." Das sorgte vermutlich für ein oder zwei hochgezogene Augenbrauen, und nicht nur bei eingefleischten Republikanern. Lilja war keine Soldatin, die die leider nicht einmal so seltene Verachtung einiger Militärs auf den politischen Apparat kultivierte. Sie meckerte zwar gelegentlich, weil ihr die Politik nicht radikal genug war, aber in solchen Momenten war sie den Streitkräften gegenüber kaum weniger kritisch. Und was ihre Ansicht über einige führende Vertreter der Wirtschaft anging, darüber schwieg man lieber. Aber sie hatte bisher eher selten solch deutliche Bekenntnisse für eine Partei abgegeben.
"Der Verrat der Colonial Confederation hat uns einmal mehr gezeigt, was Führungsstärke ist, und was ihr Fehlen bedeutet. Ich bin froh, dass wir so viel mehr Glück haben, als die Konföderierten - und ich bin dankbar, dass unsere Präsidentin den wahren Patrioten unter unseren ehemaligen Verbündeten erlaubt, ihren Kampf fortzusetzen. Aber..." und jetzt grinste sie: "damit genug der Dankes- und Lobesworte. Auch des Lobes über mich, sonst werde ich noch übermütig. Ich möchte nur noch eines sagen - es ist nicht nur eine Ehre, eine solche Auszeichnung entgegenzunehmen. Es ist ebenso eine Ehre, dies als ein Angry Angel zu tun, und als ein Angehöriger der TSN. Denn das ist etwas, worauf man wahrlich ebenfalls stolz sein kann..."

Ja, selbst jetzt im Rückblick war die Russin doch mit sich zufrieden, wie sie ihren großen Auftritt absolviert hatte. Vielleicht hätte sie es noch besser machen können, aber sie wusste nicht recht, wie. Und jetzt genoss sie einfach, einmal wirklich wenn schon nicht die einzige, so zumindest eine der Hauptattraktionen zu sein.
Ein Stückweit freilich trugen die Umstände dazu bei, dass ihre Euphorie nicht vollkommen an die Decke stieg. Sie brauchte sich nur ein wenig umzuschauen, und schon floss Wasser - und nicht nur ein kleines Rinnsal - in den süßen Wein des Triumphes. Ihre Worte waren durchaus ernst gemeint gewesen. Es schmerzte sehr, wie viele, viel zu viele von denen fehlten, die sie vor ihrem inneren Auge gesehen hatte, wann immer sie von einem Tag wie diesem geträumt hatte. Kameraden, Untergebene, Vorgesetzte - Menschen, die sie geachtet, respektiert, ja Freunde genannt hatte. In ihrer Vorstellung waren es stets Lightning, Cunningham oder Raven gewesen, unter deren Kommando sie diesen modernen ,Ritterschlag' verliehen bekam. Nicht aber ein Mann, den sie nicht kannte und - und das wog deutlich schwerer - dem sie zumindest vorläufig auch nicht wirklich vertraute. Nicht, oder nicht nur, weil er ein ,Fremder' war, jemand der den Angels von außen vorgesetzt worden war. Das war schon schlimm genug, denn es suggerierte, dass es im Geschwader niemanden gab, dem das Flottenkommando zutraute, den Eliteverband zu führen. Soldaten waren ebenso abergläubisch wie ehrpusselig, und viele Einheiten legten eine gewisse Primadonnenhaftigkeit an den Tag. Nicht generell gegen Neueinsteiger - bei den hohen Verlusten dieses Krieges war ein ständiger Zustrom von Piloten unvermeidbar. Aber wenn Staffel- oder gar der Geschwaderchef ohne vorherige Dienstzeit im Geschwader eingesetzt wurden, gab es eigentlich IMMER Murren. Und wenn dann noch der Neuling aus der Etappe kam...
Und als wäre das nicht schlimm genug, war der neue Chef auch noch Konföderierter. Lilja hatte großen Respekt vor den ,Keffs', die gegen das Imperium weiterkämpften, egal wie sehr ihre Regierung und militärische Führung vor den Echsen krochen. Aber so einen gleich zum Geschwaderchef der Angels zu befördern, wo man doch nicht wissen konnte, ob es nicht demnächst Gefechte mit seinen Landsleuten geben würde...
Hätte man ihn nicht besser zur CAV abstellen können? Und dann war da auch noch der persönliche Hintergrund dieses Stafford - kaum das, was man von einem Offizier erwartete oder wünschte. Notwehr hin oder her, der Tod eines Offizierskameraden war wohl kaum eine Qualifikation für den Chef eines Elitegeschwaders. Umso mehr, wenn der Verstorbene gute Verbindungen hatte - es fehlte noch, dass das auf das Geschwader abfärbte. Lilja, die selber auf manche militärische Vorschriften pfiff, konnte bei anderen erstaunlich kleinlich sein.
Die Chefin der Stallions gehörte zwar nicht zu den Menschen, die vor Kollegen oder gar Untergebenen über Vorgesetzte jammerten, aber diesmal war sie doch sehr in Versuchung gewesen. Darum biss sie sich im Umgang mit dem neuen Geschwaderchef vorerst auf die Lippen, um nur nichts falsches zu sagen, verbarg ihres Missmut unter militärischer Zackigkeit und fürchtete den Moment, an dem Staffords Mankos - oder was sie dafür hielt - zum Ausbruch kommen oder Wirkung zeitigen mochten. Sie hoffte, dass der ,Neue' sie nicht durchschaute. Ihr war natürlich klar, dass dies alles keineswegs die beste Grundlage für eine gute Zusammenarbeit war, aber sie konnte ihre Befürchtungen und Ressentiments einfach nicht beiseiteschieben. Und zu allem Überfluss oblag es auch noch ihrer Verantwortung, ihre Herde von zum Teil doch eher schwarzen Schäfchen daran zu hindern, irgendeine Dummheit zu begehen, wie etwa im falschen Moment eine launige Bemerkung über Staffords Herkunft und Vergangenheit zu machen. All das reichte, um ihr Magengeschwüre zu bescheren. Aber heute war sie zumindest teilweise in der Lage, diese Sorgen zu vergessen.
"Lieutenant Commander? Darf ich Ihnen gratulieren?" Die Frage war in einem geradezu ehrerbietigen Tonfall gestellt. Nichts wie darauf hin, dass die Gesprächspartner sich kannten, und die junge Frau, die Lilja angesprochen hatte, wäre von einen ungeübten Beobachter als simpler Gratulant abgetan worden, dazu noch jemand, der sich als Außenstehende und Nichtmilitär bescheiden zurückgehalten hatte. Aber wie so oft war sie das alles nicht, auch wenn das amüsierte Funkeln in ihren Augen nicht leicht zu entdecken war.
Lilja musste sich dazu zwingen, nicht zumindest etwas reserviert zu reagieren. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Als ausgerechnet Ace sie angesprochen hatte, bezüglich eines Treffens mit zwei Frauen, die offenbar ,Wahlhelfer' für die Demokraten suchten - er hatte zumindest etwas in der Richtung angedeutet - war sie zunächst versucht gewesen, abzusagen. Nicht unbedingt aus rationellen Gründen. Manchmal fragte sie sich wirklich, warum sie schon rein prinzipiell dazu tendierte, ,runter' zu kommandieren, wenn Clifford Davis ,rauf' rief, abgesehen davon, dass sie bei einigen Dingen wirklich anderer Meinung als er war. Seit der Mission im Medusa-System und dem, was dort passiert war, war sie auf Abstand zu dem anderen Piloten gegangen. Aber dann hatte sie sich doch zu einem unverbindlichen Treffen breitschlagen lassen. Das war vor knapp einer Woche gewesen. Eleni Yantais und Francesca Mateoli hatten sich als erstaunlich umgänglich erwiesen, für Leute, die sich in ganz anderen gesellschaftlichen und militärischen Kreisen bewegten als Lilja - Mateoli hatte ihr einiges im Rang und Einfluss voraus, von Yantais mit ihren gesellschaftlichen Verbindungen, ihrem Reichtum und Status ganz zu schweigen. Und ihr Anliegen hatte vernünftig geklungen. Lilja neigte zu politischem Pragmatismus, hatte kaum eine feste Bindung an irgendeine Partei, sondern entschied nach konkreten Neigungen und Forderungen. Deshalb wäre die Friedensbewegung für sie niemals in Betracht gekommen, obwohl sie mit einigen ihrer gesellschaftlichen Forderungen durchaus übereinstimmte. Den Republikanern trug sie etwas ihre Haltung vor Kriegsausbruch nach, als die Partei einige Rüstungsprojekte ausgebremst hatte, immer in dem Glauben, der Staat solle nicht zu übermächtig werden. Außerdem hatten einige Republikaner die Kontrollverordnungen, mit denen Präsidentin Birmingham die Kriegswirtschaft etwas an die Kandare genommen hatte, kritisiert. Andererseits sagte einiges an der bellizistischen Art und Weise der Republikaner Lilja zu.

Die beiden Frauen hatten nicht lange gebraucht, um die Chefin der Stallions zu gewinnen. Man mochte es kaum glauben, wenn man Liljas raue Schale betrachtete, aber im Grunde war die Russin nicht einmal schwer zu manipulieren, wenn man wusste wie. Man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen. Ein wenig wohl dosiertes Lob, nicht zu übertrieben natürlich, hatte das Eis gebrochen.
Dann war das Gespräch schnell konkret geworden. Lilja war relativ leicht zu überzeugen gewesen, dass ein Regierungswechsel mitten im Krieg nicht die beste Idee war, auch wenn sie die Ansichten einiger Demokraten bezüglich eines gemäßigten Friedensangebotes gegenüber dem Imperium gewiss nicht teilte. Aber sie empfand Achtung gegenüber Birmingham und ihrem Stab, weil sie bisher durch- und Kurs gehalten hatten. Und dann war es persönlich geworden. Die Russin hatte ein feines Gespür für individuelle Loyalität, wohl auch, weil sie insgeheim nach Anerkennung hungerte und in ständiger Angst lebte, zu versagen. Lob, Bestätigung und Förderung vergaß sie nie, und so verfehlte der Hinweis, dass die Präsidentin in diesem Moment vielleicht gerade ihre Verleihungsurkunde für die PMV in Händen hielt, nicht ihre Wirkung. Nicht, dass man angedeutet hätte, die Frage über Auszeichnung oder nicht hinge mit Liljas Entscheidung zusammen. Aber wenn man Lilja daran erinnerte, dass sie nun einmal eine Loyalitätspflicht gegenüber der Oberkommandierenden der Streitkräfte hatte, war dies ein starkes Argument.
Mateoli war noch ein Stück weiter gegangen: "Natürlich, Commander, Sie brauchen keine Förderung. Was Sie erreicht haben - Rang, Auszeichnungen, Ansehen - haben sie sich ehrlich verdient." Aus dem Mund einer Frau, die selber eine ganze Brust voller Orden aufweisen konnte und mehrere Feldbeförderungen, war das kein kleines Lob: "Aber denken Sie nur daran, was sie noch alles erreichen können. Denn machen wir uns nichts vor, egal ob wir das nun bereitwillig akzeptieren oder nicht, aber im Militär wie im zivilen Leben ist es leider oft so, dass man gesehen werden muss, damit man bekommt, was einem zusteht. Natürlich, niemand mag Schaumschläger und Angeber - aber die Gefahr besteht bei Ihnen ohnehin nicht. Sie haben eine Botschaft, an die sie glauben, und sie können vorweisen, dass sie nicht nur reden, sondern auch handeln. Wir brauchen Leute wie Sie, wenn es darum geht, dem Krieg ein Gesicht zu geben." Hier hatte die Russin etwas unfein geschnauft - das Gesicht, das der Krieg IHR verliehen hatte, war gewiss kein makellos schöner Anblick.
"Wenn es darum geht, die Leute zum Durchhalten aufzufordern, ihnen die nötigen Opfer zu erklären, dann kann das niemand besser als jemand wie Sie. Ihren Argumenten kann man sich schwer verschließen, nicht behaupten, sie hätten leicht reden. Und natürlich..." hier hatte die ältere Offizierin etwas schief gelächelt: "Ich will gar nicht verschweigen, dass es auch Vorteile hat, Medienpräsenz zu haben - so lange man die auch verdient. Hohle Vorbilder werden meistens schnell geknackt, und dann bleiben nur Scherben." Sie war nicht ins Detail gegangen, aber das brauchte sie auch nicht. Eine Perspektive für die Zeit nach dem Krieg, vielleicht ein paar positive Berichte in den Medien, vielleicht auch noch etwas mehr Ansehen zu Hause, unter den Landsleuten. Und damit auch die Möglichkeit, Freunden und Bekannten hin und wieder mit einer Empfehlung zu helfen...
Lilja war gegen solche Sirenengesänge viel weniger immun, als sie sich möglicherweise vorgaukelte. Und so war die kampfgestählte Russin - halb unwissentlich, halb willentlich - Wachs in den Händen der beiden ,Headhunters' gewesen. Keine Stunde brauchte es, und man war sich einig. Nur um ihre Unabhängigkeit zu betonen hatte die Russin scherzhaft klargestellt, der Tag, an dem man sie für die kommerzielle Werbung einspannen wolle, sei der, an dem sie den Schleudersitz betätigen würde.
Die drei waren übereingekommen, dass Lilja sich nicht vor der möglichen Ordensverleihung äußern würde, damit nicht einmal der Verdacht aufkommen könnte, sie sei praktisch ,gekauft' worden. Die Russin hatte sich peinlich genau an die Vorgaben gehalten, und ihr erstes Statement in dem Moment abgegeben, in dem sie die PMV in Händen hielt.

Insgeheim hatte sie sich gefragt, wie viel von ihrer so genannten Integrität sie auf diese Weise verspielt hatte. Nicht, dass sie die generelle Abneigung einiger ihrer Kameraden gegenüber ‚den Politikern’ teilte. Doch wenn die Russin erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann stand sie dazu, durch dick und dünn. Und deshalb schluckte sie ihre Bedenken herunter, und lächelte Eleni Yantais strahlend an: "Natürlich dürfen Sie - und vielen Dank auch. Es fühlt sich zwar alles noch ein bisschen unwirklich an..." Die andere Frau lächelte etwas breiter: "Oh, das gibt sich, glauben Sie mir. Und da Sie schon eine Heldin sind, sollte der offizielle Lohn dafür sie eigentlich nicht aus der Fassung bringen."
Lilja räusperte sich - auch weil sie sich nicht ganz sicher war, ob die Frau sie nicht insgeheim ein wenig verspottete: "Ich denke, wir sehen uns dann in ein paar Tagen - ich nehme an, Sie wollen die gute Gelegenheit nicht verstreichen lassen, solange die Columbia noch in Reichweite ist."
Die gebürtige Griechin nickte: "Sie und ihr Kamerad Ace, das dürfte sich schon sehen lassen. Wir melden uns." Sie registrierte, dass die Begeisterung der Russin anscheinend etwas nachließ, aber die junge Offizierin nickte. Nicht begeistert, aber sie nickte. Eleni war mit sich selbst recht zufrieden. Sie hatte es den beiden Piloten natürlich verschwiegen, aber nicht jeder Rekrutierungsversuch war so erfolgreich verlaufen wie bei Ace und Lilja. Martin ,Razor' Durfee zum Beispiel, Träger die Fliegerkreuzes in Gold, hatte ihr und ihrer Begleiterin eine ziemlich barsche Absage erteilt, und war keinem Argument zugänglich gewesen. Der Teufel hole die Leute, die irgendwelche Skrupel oder Komplexe mit sich herumschleppten!
Und auch auf Masters hatten sie nicht viel Glück gehabt. Die Unzufriedenheit vieler Einwohner mit dem Verhalten der politischen und militärischen Führung während der Schlacht wirkten sich auch auf die Leute aus, die mit Fug und Recht als Helden und Vorbilder galten. Manche Menschen meinten ja, dass sie es waren, die die öffentliche Meinung prägten, aber oft genug war es genau umgedreht. Denn auch sie waren nicht nur Bürger ihrer Welt - sie wurden auch durch die öffentliche Meinung beeinflusst.
Wie dem auch sei, solche Rückschläge schmerzten natürlich, aber besser ein paar Pfeile im Köcher, als gar keine Munition. So gesehen, konnte man mit der Ausbeute ganz zufrieden sein.

Lilja blickte der entschwindenden Wahlkampfkriegerin mit leichten Zweifeln nach. Ein Auftritt mit Ace zusammen...na ja. Es gab mit Sicherheit Schlimmeres, einige andere Staffelchefs der Angels - unbeweint verstorben oder verschollen - kamen ihr in den Sinn. Aber denen hätte natürlich auch kein Mensch mit einem Funken Verstand einen Mikrophon in die Hand gedrückt und eine Kamera vor die Visage gehalten.
,So lange mir Kali nicht wieder ins Gesicht springt.' dachte sie gallig, in Erinnerung an einen lang, LANG zurückliegenden Zwischenfall. Manchmal konnte die Russin SEHR nachtragend sein. Seinerzeit war sie noch ganz frisch hier im Geschwader gewesen. Das waren noch Zeiten gewesen! Damals hatte die Inderin offenbar geglaubt, Lilja habe ein romantisches Interesse an Ace. Oder er an ihr, was ja mindestens ebenso unglaubwürdig klang. Und sie hatte seinerzeit noch nicht erkannt, dass sie selber mit Kano nach Liljas unmaßgeblicher Meinung um einiges besser dran war. Gut, wenn man es genau betrachtete - so einen Blödsinn wie damals hörte man immer mal wieder. Auch später noch.
,Als könnten ein Mann und eine Frau nicht mal - sagen wir - gemeinsam auf eine Sondermission gehen, ohne gleich anschließend oder schon währenddessen in einem Bett zu landen. Die Leute schauen einfach zu viele miese Holovids...'
Aber beim Militär wurde ohnehin schlimmer geklatscht als irgendwo sonst.
Apropos Klatsch...das erinnerte sie an gleich mehrere unangenehme Dinge. Behutsam peilte sie die Lage und musterte ihre ,Kinderchen' - nicht, dass sie ihre Untergebenen jemals offen so genannt hätte. Und natürlich musste sie zugeben, dass sie für die Staffel weniger eine Mutter, als eher eine besser wissende und besserwisserische große Schwester mit einer mitunter, wozu das leugnen, tyrannischen Ader war. Die meisten Piloten schienen sich prächtig zu amüsieren. Die zwei neuen Pilotinnen hielten sich natürlich zurück, sei es aus Naturell oder aus Vorsicht, aber der Rest...Imp konnte natürlich nicht umhin, ihrer Freundin und Vorgesetzten zuzuprosten, ihr immerhin noch halbvolles Glas mit einem Mal hinunterzuschütten, sich Ersatz zu schnappen und das Manöver zu wiederholen. Marine strahlte ob ihrer frischen Beförderung zum First Lieutenant, die sie wohl auch zum Gutteil Liljas Fürsprache zurechnete. Ähnlich ging es Hellcat. Für beide war der Senior Grade überfällig gewesen. Was Lilja eher Sorgen machte, war Knight. Der Second Lieutenant - seine Beförderung war bisher noch nicht durch gewunken worden - sah geradezu mustergültig in seiner Uniform aus, auch wenn er neben seinen Kampagnenbändern nicht viel Lametta aufzuweisen hatte. Das lag daran, dass ihm einige frühere Abzeichen nach seiner Verurteilung aberkannt worden waren. Aber bei aller demonstrierter militärischer Zackigkeit, sogar Lilja sah dem Piloten an, dass er mit Gedanken woanders war. Und er vermied es peinlich, einen Blick in Richtung der Schwarzen Staffel zu werfen, und wann immer man die Stimme von ihrer königlichen und kaiserlichen Majestät Huntress II. hören konnte - die Frau wusste wirklich, wie man sich in den Mittelpunkt jeder Party platzierte, auch wenn es nicht die eigene war - zuckte er kaum merklich zusammen. Aber wenigstens schien er sich halbwegs im Griff zu haben. Im Moment. Lilja nahm sich vor, den Piloten im Auge zu behalten, mindestens bis zum Ende der ,Bewährungsfrist', am besten noch etwas länger. Das fehlte noch, dass er noch einmal mit ,Miss Stacy' oder einem anderen Offizier aneinander geriet...

All diese Gedanken führten sie über einige Umwege zu einem weiteren Problem, oder besser, einer unangenehmen Verpflichtung. Sie würde zweifellos mit Ace zusammenarbeiten müssen, wenn sie ihren - kleinen, man sollte ja nicht übermütig werden - Beitrag zur Wiederwahl von Präsidentin Birmingham leisten wollte. Und natürlich war er ein Offizierskollege, und als solcher mochte er in den nächsten Wochen und Monaten noch von einiger Bedeutung sein. Zum Beispiel, wenn Stafford seine Sache als Geschwaderchef nicht gut machte...
Und wenn sie ehrlich war, so hatte sie ihn nach der Medusa-Mission etwas unfair behandelt. Nicht, oder besser nicht in erster Linie, weil er sich wieder einmal beklagenswert weichherzig gegenüber den verdammten Echsen gezeigt hatte. Nein, Lilja hatte ihn auch deshalb mehr als einmal etwas rüde abgebürstet, weil sie nicht an einiges erinnert werden wollte, was sich während dieser Mission ereignet hatte. Sicher, es hatte später auch noch andere Gründe gegeben. Ihre unterschiedlichen Dienstauffassungen, seine Mentalität, auf sie aufzupassen, ob sie ihn darum gebeten hatte oder nicht - sie hatte natürlich NICHT.
Aber das änderte nichts daran, dass sie ihm bei Lichte und mit einigem Abstand betrachtet das eine oder andere schuldete, wofür MÖGLICHERWEISE ihre harschen Kopfwäschen und sonstigen Ratschläge nicht ganz die geeignete Art des Dankes waren. Und inzwischen, so glaubte sie, hatte sie sich wieder etwas besser unter Kontrolle, etwa was diese verdammten Alpträume anging, so dass der Grund wegfiel, ihn auf Abstand zu halten. Schob man das beiseite - und das war ja nun wirklich kein guter Grund - dann blieb die Tatsache unter dem Strich, dass sie ihn...vielleicht...möglicherweise...irgendwie...ge legentlich...hin und wieder...ungerecht behandelt hatte. Und das bedeutete, sie schuldete ihm etwas. Nicht gerade eine Entschuldigung - denn darin war sie noch nie gut gewesen, und so etwas hätte eigentlich auch einer genaueren Erklärung bedurft, und die wollte sie weder sich noch ihm antun. Aber IRGEND ETWAS sollte sie schon tun. Da aber Lilja nun einmal Lilja war, hatte sie sich mit dieser Frage ziemlich lange herumgequält, bis sie zu einem Entschluss gekommen war.

Es fiel ihr nicht schwer, Clifford Davis aufzustöbern. Egal wie er das angestellt hatte, bei den verbleibenden Piloten der Blauen Staffel war er beliebt, und so waren sie, wo er war, und umgedreht. Nicht zuletzt aber stach Ace wegen seiner Haartracht, genauer gesagt deren Farbe, wie eh und je unter den Piloten hervor. Und er hob sich noch in anderer Hinsicht von den meisten seiner Untergebenen ab. Auch wenn Lilja es niemals offen zugegeben hätte, und gelegentlich auf sehr unschöne Weise auszudrücken pflegte, Ace bot schon einen recht beeindruckenden Anblick. Da waren natürlich die ganzen Kampagnenbänder und die ,automatischen' Abzeichen, die man in einer längeren Dienstlaufzeit nun einmal ansammelte - die Schwingen des Piloten, die Raumfahrtabzeichen in Bronze und Silber, das Raumkampfabzeichen. Fast ebenso automatisch erhielt ein Pilot, der lange genug durchhielt, den Verwundeten Löwen in Silber, und oft - wie auch in diesem Fall - das Distinguishing Flying Cross in Bronze für mindestens fünf bestätigte Abschüsse. Die Prisoner of War Medal war da schon ein anderer Fall, auch wenn Lilja persönlich von so einer Auszeichnung nicht viel hielt. Immerhin war sie ja an keine Bedingungen gebunden, außer sich vom Gegner schnappen zu lassen. Und dann natürlich noch die WIRKLICHEN Auszeichnungen für besondere Leistungen, im Fall von Ace den Bronce Star und die Defense Meriotourios Service Medal und andere Auszeichnungen. Alles in allem eine Menge Metall und Lack, weit mehr als sonst jemand in Reichweite. Wenn Ace sich nur ein bisschen mehr angestrengt hätte, auch wirklich der Vorzeigesoldat zu sein, als der er rein optisch durchgehen konnte...aber sie verstand schon, warum die demokratischen Rattenfänger ihn angesprochen hatten. Sogar bevor sie es bei ihr versucht hatten.

Für Ace war das zweifellos auch ein großer Tag, wenn auch einer, auf den er lange gewartet hatte - zu lange, wie einige meinten, auch wenn Lilja nicht unbedingt zu diesen gehörte. Er war endlich aus der Masse der Lieutenants ,ausgerissen', und damit war ihm die Führung seiner Staffel erst mal sicher, so er nicht grobes Unheil anrichtete. Und selbst wenn man ihn versetzen würde - er würde mit Sicherheit mindestens eine Staffel kommandieren. Dass es so lange gedauert hatte, musste ihn etwas gewurmt haben. Nicht, dass sie ihm Neid auf seine glücklicheren Kameraden unterstellt hätte. Bei allem, was sie an ihm zu bekritteln hatte, Missgunst gehörte nicht zur langen Liste seiner Charakterfehler. Wenn er im Moment nicht GANZ glücklich wirkte, dann sicher nicht, weil die Beförderung so lange auf sich hatte warten lassen. Aber er hatte in den letzten Wochen eine Menge durchmachen müssen. Seine Schwester hatte sich versetzen lassen, das zum einen. Gut, er hatte schon mehr Glück als die meisten gehabt, dass er so lange mit ihr zusammen hatte dienen können, aber das machte den Abschied sicher kein bisschen leichter. Und zum anderen... sein Bruder war schwer verletzt worden. Ace hatte außerdem eine ganze Reihe Untergebener, Bekannte und/oder Freunde durch Tod oder Verwundung verloren. Das war nichts, was man leichthin wegsteckte. Aber als er bemerkte, das Lilja ihn zielsicher ansteuerte und dabei den Schwarm von feierfreudigen Untergebenen verscheuchte, hatte sich der Pilot gut im Griff. Er reagierte sogar mit einem Lächeln auf ihr Erscheinen: "Herzlichen Glückwunsch, Lilja. Das hast du dir wirklich hart genug verdient."
Die Russin grinste spöttisch: "Ich bin ja geneigt, dir zuzustimmen, solange man mir das nicht als Eitelkeit auslegt. Auch wenn ich vermute, nicht jeder wird das genau so sehen wie du..." damit spielte sie darauf an, dass ein Teil der Taten, die man für auszeichnungswürdig befunden hatte - nämlich ihr Gefechtsflug mit einem gebrochenen Bein - zu einer Auseinandersetzung mit dem damaligen Chefarzt der Columbia geführt hatte, der kaum weniger verbissen gewesen war als ein Kurvenkampf mit einer Bloodhawk.
Doch dann riss sie sich zusammen: "Danke. Und ich will mal nicht so sein und das Kompliment ehrlich zurückgeben. Und ich danke dir nicht nur für deine Gratulation - wenn in Medusa nicht alles glatt gelaufen wäre, wenn wir da nicht so gut zusammengearbeitet hätten, dann wäre der Orden meinen Eltern wohl stellvertretend überreicht worden, während ich möglicherweise in einem Gefangenenlager versauert wäre." Sie sprach es nicht aus, aber sie und Ace wussten, der Tod im Gefecht wäre wohl die deutlich wahrscheinlichere Variante gewesen. Der Pilot tat überrascht: "Das klingt ja fast wie ein wirkliches Dankeschön von deiner Seite." spottete er milde. Lilja kniff die Augen zusammen. Ihr Lächeln verwandelte sich zu einer Art Zähne fletschen: "Einfach annehmen ist wohl nicht? Soll ich dir meinen Dank demnächst mit dem Messer eingravieren?" Als der Pilot darauf etwas betreten dreinblickte - er hatte so seine Erfahrungen, wie leicht Lilja mitunter etwas in die falsche Kehle bekam, lachte sie mit einmal auf, um zu zeigen, dass sie es DIESMAL nicht ernst gemeint hatte: "Freut mich, dass ich dich immer noch drankriegen kann..."
Dann packte sie ihn unvermittelt am Ärmel: "Komm mit, ich will dir jemand vorstellen."
Ohne sich um die halbherzige Gegenwehr zu kümmern, oder die Proteste seiner Untergebenen - ein hoher Rang und die Narrenfreiheit einer soeben Geehrten waren doch was tolles - zerrte sie den Piloten mit.

Ihr Ziel waren drei Personen, die sich inmitten der übrigen Teilnehmer und Gratulanten etwas für sich hielten, wohl vor allem, weil sie hier kaum jemanden kannten. Lilja strahlte unverkennbar übers ganze Gesicht: "Darf ich vorstellen - Mutter, Vater, das hier ist, seit Neuestem zumindest, Lieutenant Commander Clifford Davis, alias Ace. Urgestein der Angry Angels seit der Neuaufstellung, Chef der Blauen Staffel. Er hat mir schon mindestens ein-, zweimal die Haut gerettet, wie ich auch ihm." Ihre verschiedenen Auseinandersetzungen überging die Russin großmütig: "Ace, das ist mein Vater Michail, er sorgt dafür, dass in meiner Heimatstadt alles läuft, sprich, er arbeitet in der Lokalverwaltung. Zweifellos habe ich von ihm meine Verwaltungsfähigkeiten, dank derer ich meine Staffel überhaupt am Laufen halten kann. Und hier ist Mutter, will sagen Ljudmilla Pawlitschenko. Sie ist Physikerin für das Heer, also zweimal so clever wie ihr Töchterchen, das vor allem Dinge auseinander nimmt, anstatt zu verstehen, wie sie funktionieren, und außerdem arbeitet sie an so geheimen Projekten, dass sie mich vermutlich umbringen müsste, wenn ich davon wüsste..."
Viele hätten es vermutlich Lilja nicht zugetraut, oder es von ihr erwartet, aber die Russin - hoch dekorierte und kampfgestählte Kriegsheldin mit inzwischen 42 Abschüssen aller Klassen, Staffelführerin, Schrecken einer ganzen Reihe rangniederer Offiziere und Mannschaftsdienstgrade - diese Frau war unverkennbar stolz auf ihre Eltern, ja schien direkt mit ihnen anzugeben. Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, sich selbst und ihre Leistungen für wichtiger zu halten. Und trotz aller Gefühlskälte, die sie sonst an den Tag legte, der Schroffheit und Unnachgiebigkeit anderen und sich selbst gegenüber, liebte sie ihre Eltern aufrichtig und zeigte das auch offen. Ein fast schon rührend anmutender, ganz und gar untypisch erscheinender Charakterzug.

Doch ehe Ace mehr als ein paar Worte mit den beiden wechseln konnte, schubste Lilja ihn schon in Richtung der dritten Person, einem jungen Mann etwa in Liljas Alter. Der Lieutenant Commander der terranischen Flotte trug eine Galauniform, die unter anderem Raumkampf- und Raumfahrtabzeichen in Bronze und Silber, den Silbernen Löwen und das Abzeichen der Husar-Kampfgruppen aufwies. Ehe Lilja noch etwas sagen konnte, nahm der Offizier sie wortlos in die Arme und küsste sie - was sich eine Weile hinzog. Lilja entging nicht nur, dass der eine oder andere Zuschauer grinste, teils anzüglich, teils wissend, sogar den einen oder anderen Pfiff nahm sie nicht wahr, oder dass Ace beinahe peinlich berührt schien angesichts dieses Gefühlsausbruches.
Dann löste sie sich von dem jungen Mann: "Ace - das ist Walja, will sagen Lieutenant Commander Walentin Pawlitschenko vom CAV-Kreuzer Tatanka Yotanka, Chef der Bug-Waffenabteilung."
Ace starrte sie etwas verdattert an. Er hatte seine eigene Vermutung über den Offizier gehabt, den er das erste Mal auf Seafort mit Lilja gesehen hatte - auch damals in inniger Umarmung.
"Du meinst...er ist dein BRUDER?"
Lilja schnaubte: "Natürlich. Was dachtest du denn? Mein Ehemann etwa? Sag bloß nicht, du hast ihn für meinen SOHN gehalten, denn dann setzt es was, Freudentag hin oder her!"
Walja kommentierte diese Worte mit schallendem Gelächter, während Ace dazu etwas zu verdattert war um mehr herauszubekommen als: "Ähm...nein, natürlich nicht. Ich wusste nur nicht, dass du einen Bruder hast." entgegnete er, zugegebenermaßen etwas lahm. Jetzt verstand er auch, was Lilja in einem ihrer letzten Gespräche - nun ja, es war natürlich fast wieder ein Streit gewesen - gemeint hatte, als sie sagte, sie hätte auf der Tatanka einen Menschen gehabt, den sie liebte.
Lilja begnügte sich mit einem sarkastischen Kichern: "Ja, es gibt tatsächlich mehr als einen von meiner Sorte - auch wenn mein Bruder kein Pilot werden, sondern lieber gleich mit den ganz großen Kanonen spielen wollte. Aber das kennst du ja."
Sie nickte ihren Eltern und ihrem Bruder - und Ace - zu: "Ich gehe dann mal noch ein paar Hände schütteln. Hol mir noch ein paar Lobhudeleien und Glückwünsche ab. Immerhin bekommt man diese nicht so oft." Das war natürlich nicht ganz aufrichtig, denn obwohl die Russin darüber spottete, genoss sie es ungemein, einmal so im Rampenlicht zu stehen. Aber pflichtbewusst wie immer fügte sie hinzu: "Und ich passe besser auf, dass meine Jungs und Mädchen sich nicht daneben benehmen. Wir sehen uns dann." Auch wenn sie nicht viel Zeit hatte, wenigstens ein oder zwei längere Landgänge hoffte sie mit ihren Eltern verbringen zu können, bis die Columbia aufbrach, zu welchem Ziel auch immer. Man musste die Feste feiern, wie sie fielen, sei es eine Ordensverleihung oder ein Wiedersehen mit den Angehörigen nach so langer Zeit...

Eine viertel Stunde später beobachtete Ace, wie Lilja ihren Rundgang langsam beendete. Die Russin schien zumindest halbwegs einen klaren Kopf bewahrt zu haben. So eine frische Auszeichnung war trefflich geeignet, Eindruck zu schinden, alte Kontakte zu pflegen und neue zu knüpfen - vielleicht auch diejenigen zu ärgern, denen man schon immer eins auswischen wollte. Lilja jedenfalls hatte es sich nicht nehmen lassen, ihrerseits einigen Leuten persönlich zu gratulieren, weil sie ohne diese den Orden niemals hätte erringen können. Eine erstaunlich hochherzige Geste, bei der man sich nicht sicher sein konnte, wie viel davon Kalkül und wie viel ehrliche Bescheidenheit war. Ein paar Gratulanten waren von der Russin ebenfalls zu ihrer Familie gelotst worden. Da waren natürlich Imp und Sokol, die seit langem als Liljas beste und möglicherweise einzigen Freunde an Bord galten. Sie waren den Pawlitschenkos offensichtlich bereits von früher bekannt, oder zumindest aus Liljas Briefen nach Hause. Aber sie hatte auch Kano Nakakura angesprochen und ihren Angehörigen vorgestellt. Der japanische Pilot war natürlich zurückhaltend geblieben - was man etwa von Imp nicht gerade sagen konnte - aber es war ihm anzusehen gewesen, dass er sich für seine ehemalige Wingkameradin ehrlich freute. Beide hatten ihre ersten Abschüsse bei den Angels gemeinsam erzielt und waren monatelang in derselben Staffel geflogen, so etwas verband.
Das Gespräch mit den anderen Pawlitschenkos war Ace jedenfalls erstaunlich leicht gefallen - nicht nur Liljas Eltern, auch ihr Bruder waren ganz anders, als er vermutet hätte. Dass sie stolz auf ihre Tochter und Schwester waren, hatte er erwartet. Aber insgeheim hatte er gedacht, sie wären ähnlich harsch, abweisend und oft verbissen bis fanatisch, wie sich die Russin oft präsentierte. Davon war aber wenig zu spüren.
Doch etwas blieb ihm im Gedächtnis. Als er Walja gegenüber erwähnte, er habe Lilja noch nie so glücklich gesehen, hatte der gleichaltrige Offizier nur gelächelt: "Das glaube ich gerne. Nicht nur, weil sie gerade die höchste militärische Auszeichnung der Republik erhalten hat. Es ist auch das, wofür der Orden steht - dass sie ihre Sache gut gemacht hat. Tanjuschka ist...nun, sie war eigentlich schon immer so, aber seit dem Krieg merkt man es noch deutlicher. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, wirklich hinter einer Sache steht, dann gibt es für sie nichts anderes. Dann ist keine Entbehrung zu groß, kein Furcht, kein Hindernis unüberwindlich - und sie wird niemals aufgeben. Alles andere hat dann zurückzustehen, selbst die Freunde, die Familie, alles. Ein Befehl, und schon ist sie weiß Gott wo, je nachdem wohin man sie schickt. Sie hat sich im ganzen Krieg nicht EINMAL wirklich darum bemüht, zusätzlichen Urlaub auf der Erde zu bekommen - nur, wenn ihr Dienst es erlaubte oder ihre Gesundheit ihr keine andere Wahl ließ. Ich mache ihr natürlich keinen Vorwurf, wie könnte ich? Aber es ist manchmal schon ein wenig einschüchternd - aber das dürfte man als Geschwaderkamerad mitbekommen haben, oder? Sie ist nicht nur Soldatin, manchmal glaube ich, für sie ist es mehr als das. Manchmal erscheint sie mir eher wie eine echte Aktivistin, eine Berufsrevolutionärin, oder wie eine Gläubige, das hier ist ihr Kreuzzug, ihr heiliger Auftrag. Und da möchte man ihr lieber nicht im Wege stehen..."

Imp hatte daraufhin spöttisch gekichert und mit den Augen geklimpert: "Ich wette, das wissen alle hier, stimmt's nicht, Ace?" wobei sie natürlich offen ließ, WAS sie genau meinte. Dass man Lilja besser nicht im Weg stand, oder dass es für die Russin kaum etwas anderes als ihren Auftrag gab. Ace hatte in der Vergangenheit gelegentlich den Verdacht gehabt, dass ein Viertel bis die Hälfte der Gerüchte über ihn und Lilja gezielt von deren bester Freundin in die Welt gesetzt worden waren, weil sie sich an den Reaktionen auf solche Anspielungen ergötzte. Kano hatte natürlich nicht reagiert, aber seine Dienstauffassung ähnelte der Liljas ohnehin in vielen Punkten. Mit dem Unterschied, dass es für ihn etwas, oder besser jemanden gab, der ihm vermutlich mehr bedeutete als die Pflicht. Aber vermutlich war er insgeheim froh, noch nie in einer echten Entweder-oder-Situation auf die Probe gestellt worden zu sein.
Liljas Mutter war an der Stelle noch einmal ernst geworden. Sie hatte die vier jungen Piloten gemustert: "Tanja hat natürlich Recht gehabt, als sie sagte, ohne viele andere hätte sie es nie so weit gebracht. Ich nehme an, sie hat ihrerseits auch anderen sehr geholfen, wie das eben so ist im Krieg. Das mag jetzt sehr viel verlangt sein, und oft liegt es außerhalb der Macht des Einzelnen...aber würden Sie, bitte, versuchen, auf unsere Tochter aufzupassen." Ace hatte natürlich genickt, wie auch Imp und Sokol, und Kano ebenfalls, mit einer angedeuteten Verbeugung. Liljas Bruder aber...
Der hatte mit einem Blick auf die inzwischen wieder näher kommende Lilja hinzugefügt: "Tja, fürs erste solltet ihr wohl aufpassen, dass euer Schützling in spe nichts davon mitbekommt. Denn könnt ihr euch ausmalen, was Tanjuschka von Leuten hält, die auf sie achtgeben sollen...?" Und dem war natürlich nichts mehr hinzuzufügen gewesen.


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