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Ace Kaiser Ace Kaiser ist männlich
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Anime Evolution: Past

Episode eins: Das Urvolk

1.
Das war es also. Ich war einen Tag auf dieser Welt, nicht einmal zwanzig Stunden im Turm der Arogad, dem Stammsitz der Familie meiner Mutter und meiner Großmutter, und schon war ich regelrecht begraben unter einem Dutzend Leiber.
„Lasst ihn nicht wieder hochkommen!“ „Wir haben ihn! Drückt ihn runter!“ „Ich habe seine Füße!“ „Gib auf, Aris! Gib auf!“
Das Gewicht der Leiber drückte mich auf den weichen Boden herab. Schwer spürte ich es auf mir lasten. Ich atmete stoßweise, bis zu diesem Moment hatte ich mich sehr bemüht, mich nicht zu Boden ringen lassen. Doch nun war es passiert. Ich spürte meine Kraft aus mir weichen. Sie hatten gewonnen.
Nein, nein, noch nicht, noch lange nicht! Wütend stemmte ich mich hoch, konnte die Rechte fest auf den Boden aufsetzen!
„Er bewegt sich! Lasst euch nicht abwerfen!“
Mit einem urwütigen Schrei stemmte ich mich in die Höhe, bekam ein Knie unter meinen Körper. Dann sprang ich auf und warf die anderen von mir.
„Raaaaah!“
„Autsch! Du liegst auf meiner Hand, Lem.“ „Und du liegst auf meinen Beinen, Joran.“
Triumphierend sah ich mich um. „Na? Gebt Ihr auf oder wollt Ihr es noch mal versuchen?“
Leises Stöhnen und ächzen antwortete mir.
„Nee, lass mal, Aris. Du bist zu stark für uns.“
Ich lachte und ging vor Rian in die Hocke. Die kleine Zwölfjährige war so etwas wie die Anführerin der kleinen Kinderbande, mit der ich herumgetollt hatte. Dabei tätschelte ich ihren Kopf. „Ihr habt mich tatsächlich zu Boden gerissen. Respekt.“
Rian lächelte über das Lob. Und auch die anderen waren plötzlich sehr aufgeregt.

„Akira. Es wird Zeit“, erklang Mutters Stimme in der Turnhalle.
„Oooch, muß Aris wirklich schon gehen? Haben wir nicht noch fünf Minuten?“, meckerte Soraris, ein Neffe von mir.
„Oren hat nach ihm verlangt. Ihr wisst, dass man ihn besser nicht warten lassen sollte.“
Die Kinder murrten ärgerlich.
Mutters Hologramm entstand neben mir. „Willst du vorher schnell duschen?“
Ich nickte. Wenn ich Oren unter die Augen trat, sollte ich besser einen guten Eindruck hinterlassen. Oren war der Vorsitzende des Familienrates, Oberhaupt der Arogad und außerdem direkter Erbe der Linie. Nebenbei war er zweitausend terranische Jahre alt und ich hatte mir sagen lassen, dass das nicht gerade dazu beigetragen hatte, seine Geduld zu vergrößern.
Ich winkte in die Runde. „Ich muß jetzt leider. Spielt ihr schön, ja?“
„Aris, wann kommst du wieder?“
Resignierend schüttelte ich den Kopf. Die Kleinen hatten einen wahren Narren an mir gefressen. Das konnte man allein daran sehen, dass sie ständig meinen Naguad-Namen benutzten anstatt mich Akira zu nennen. In ihren Augen war ich kein Viertelblut, sondern ein vollwertiges Mitglied des Hauses. Schlimmer noch, sie verehrten mich als Helden.
Auch wenn es keine direkte Datenverbindung zum Kanto-System gab, mit dem überlichtschnell Informationen übermittelt werden konnten, gab es doch einen permanenten Frachtschiffverkehr zwischen den Systemen. Ein ausgeklügeltes Prinzip erlaubte so eine Nachrichtenübertragung, die mit Hilfe springender Schiffe geschah. Für die geringen Möglichkeiten eine der effizientesten Lösungen, die ich mir vorstellen konnte.
Das bedeutete, die Kinder, Heranwachsenden und Erwachsenen waren relativ früh über die Vorgänge im Kanto-System informiert worden. Und nachdem erste Bilder von mir übertragen worden waren, hatten sie nur eins und eins zusammenzählen müssen.
Nebenbei gab es eine Menge Aufzeichnungen meiner Kämpfe. Vor allem meine Beinahe-Schlacht mit der Fünften Banges-Division, eigentlich einer Arogad-Hauseinheit, genoss hier kultische Verehrung. Ein einzelner Pilot gegen fünfhundert Gegner, das war Stoff, aus dem Legenden bestanden.
„Sobald ich kann“, sagte ich ernst. Ich wusste nicht, wann dieses Sobald eintreten würde, denn nachdem Haus Arogad mich und Joan Reilley am Raumhafen in Empfang genommen hatten, hatte das Haus dafür bürgen müssen, mich und Joan im Gewahrsam zu behalten, bis mein Prozess begann. Nein, bis meine Anhörung begann. Und diese Anhörung würde entscheiden, ob sie mich erschießen würden oder nicht.
Es tat mir Leid, den Kids nichts Besseres erzählen zu können. Aber in die Zukunft sehen gehörte nicht zu meinen Fähigkeiten.
„Macht es gut, ja?“ Die Kinder winkten und schickten mir Abschiedsgrüße hinterher.

Ich verschwand in der Umkleidekabine und nahm eine kurze – sehr kurze – Dusche. Danach ließ ich mich von einem Turbogebläse trocknen, bevor ich in eine brandneue weiße Uniform der UEMF schlüpfte. Es war die Sonntagsvariante. Und wieder waren an der linken Brust sämtliche Orden angebracht, die mir jemals verliehen worden waren. Nur auf der rechten Brust prangte nicht Akira Otomo auf der Namensleiste. Dort stand nun Aris Arogad.
Die weiße Schirmmütze mit dem goldenen Emblem der UEMF verstaute ich in der linken Armbeuge.
Mutter, beziehungsweise ihr Hologramm empfing mich vor der Umkleidekabine.
Missmutig sah ich sie an. „Willst du mir weismachen, du kannst nicht in die Umkleidekabine sehen? Oder sogar unter die Dusche?“
Für einen Moment wirkte sie verlegen. „Nun, es war ein langer Tag für dich und Joan-chan. Natürlich kann ich in die Duschen sehen, das gehört im Turm zu meinen Pflichten. Aber ich wollte dich nicht mit noch mehr Stress belasten. Immerhin bist du jetzt ein erwachsener Mann. Und Männer sind ja so leicht beleidigt.“
„Mom“, mahnte ich.
Das Hologramm bewegte sich neben mir, während ich auf den nächsten Fahrstuhl zuging. Dabei bewegte das Hologramm die Beine, um mir die Illusion zu vermitteln, sie würde tatsächlich neben mir sein. Ich registrierte es irritiert. Beinahe mehr irritiert als ihre Anwesenheit an diesem Ort. Und der Widerspruch in ihrer Existenz. Es war nicht jedermanns Sache, Jahrelang zu glauben, die eigene Mutter sei tot. Nur um festzustellen, dass man rein technisch recht hatte. Nur nicht bis ins Detail.
Der Fahrstuhl würde uns zur nächsten Hauptebene bringen, in der wir in einen Expresslift steigen konnten, der gleich Dutzende Etagen überbrückte. Ein einfaches und effektives System, um im riesigen Turm voran zu kommen.
Unser Ziel lag ganz oben, in der Spitze, im Raum des Rates.

Als wir nebeneinander im Fahrstuhl standen, umgeben von etwa einem halben Dutzend anderen Arogad und einem Logodoboro-Gast – leicht zu erkennen, weil die genetische Reprogrammierung der Logodoboro-Familie hellgrünes Haar bei samtbrauner Haut propagierte – machte ich mir meine eigenen Gedanken.
Man hatte uns freundlich empfangen, mir und Joan Wohnungen im oberen Drittel des Turms zugewiesen. Na ja, Wohnungen, es waren halbe Schlösser. Nie hatte ich solchen Komfort, so viel Platz erlebt. Drei Mitglieder der Familie Arogad, aus den Unterhäusern Litov und Wonn standen abwechselnd bereit, um mir zur Seite zu stehen. Daran hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt… Aber ich war auch erst einen Tag hier.
„Was?“ Irritiert sah ich auf.
„Schon gut, Akira. Ich habe dich nur gefragt, ob du träumst“, sagte Mutter sanft.
Der Fahrstuhl hielt, wir kamen in eine große Halle. Genauer gesagt, in die Empfangshalle des Rates. Die letzten hundert Etagen wurden vom Familienrat, den engsten Mitarbeitern und einigen Angehörigen eingenommen. Hier wurden Entscheidungen von kosmischer Tragweite getroffen. Hier wurde ein ganzer Planet verwaltet, namentlich Planet Arogad, der vierte des Systems. Und begehrte Urlaubswelt, hatte ich mir sagen lassen.
Hierher kamen all die Naguad, Fremdweltler und Mitglieder anderer Familien, um mit den Arogad zu verhandeln. Im Moment war wirklich viel zu tun, die Halle brodelte geradezu. Die Kräfte an den Schaltern hatten alle Hände voll zu tun und die Wachen, die überall in Bereitschaft standen und die drei Expresslifte zur Spitze verteidigten, wirkten überspannt und nervös.
Mit Mutter voran schritt ich auf einen der Expresslifte zu. Die Wachen dort nickten und winkten mich durch. Es hatte seine Vorteile, mit dem Geist des Hauses unterwegs zu sein.

„Und?“, fragte Helen mich leise. „Wie geht es Yohko?“
„Das hast du mich gestern schon gefragt. Beinahe als erstes, schon vergessen?“
„Wie könnte ich jemals wieder etwas vergessen?“, hauchte sie ernst und senkte den Blick.
„Sorry. Ich habe nicht dran gedacht.“
Sie sah auf, lächelte mich an. „Schon gut, Akira. Es ist halt nur so, dass ich mich auch nach acht Jahren noch nicht dran gewöhnt habe, so zu existieren. Aber das ist immer noch besser als im Koma dahin zu driften.“
„Es geht ihr gut. Sie ist seit drei Jahren mit Yoshi Futabe zusammen.“
Das Hologramm runzelte die Stirn. „Yoshi Futabe? Der kleine blonde Futabe, der immer zum spielen rüber kam? Geht es ihm gut? Oder hat Eikichi schon versucht ihn umzubringen?“
Ich prustete lachend als ich das hörte. „Oh, ein- zweimal hat Eikichi es versucht. Aber eher halbherzig. Ich glaube, er ist mit Yoshi ganz zufrieden. Aber ich finde ja auch, dass sie gut zusammen passen, die zwei.“
„Hast du ihn denn leben lassen?“, fragte Mutter mich schmunzelnd.
Beteuernd hob ich die Hände. „Er ist mein bester Freund, der mir bis in die Hölle folgen würde. Ihm das Leben meiner Schwester anzuvertrauen ist mir sehr leicht gefallen.“
„So. Wann heiraten die beiden?“
„Mom, meinst du nicht, dass das noch etwas Zeit hat?“
„Findest du? Wenn man wie ich in einem Biotank liegt, künstlich am Leben gehalten und geistig vernetzt mit dem Hauscomputer, dann erscheint einem jede Sekunde, die man atmend, fühlend und schmeckend verbringen kann, als kurz und wertvoll. Wenn die beiden ihre Liebe vollführen sollen, dann…“
„Äh, Mom, sie tun es schon.“
„Tun was?“
„Die… Liebe vollführen. Seit ungefähr drei Jahren…“
Irrte ich mich oder wurde Mutters Hologramm rot. „Äh… Du meinst… Meine kleine Yohko? Mit Yoshi? Ohne verheiratet zu sein?“
Ich nickte knapp.
Verlegen legte sie eine Hand an die Stirn. „E-entschuldige, Akira, aber ich stamme aus den Zwanzigern. Wir waren damals schon ziemlich liberal, aber ich bin irgendwie immer konservativ gewesen. Um es mal auf den Punkt zu bringen, war dein Vater der Erste, mit dem ich…“
„Schon gut, so genau will ich es gar nicht wissen.“
„Was bist du denn plötzlich so peinlich berührt, Akira? Hätten Eikichi und ich nicht…“
„Schon klar, dann würde es mich gar nicht geben.“
Sie lachte leise. „Du klingst aber auch nicht sehr liberal, junger Mann.“
Ich zuckte die Schultern. „Wenn du meinst.“
Verlegen sah sie mich an. „Akira, sag mal, hast du schon… Ich meine, hast du…“
Ich spürte, wie ich rot wurde. Die Erinnerungen überfielen mich, Erinnerungen an den Sex mit Joan, an die vielen Nächte, die ich mit Megumi geteilt hatte, mein persönliches Paradoxon. Und mittlerweile ein Riesenproblem für mich.
„Ja, Mom, habe ich. Und ich werde es sicherlich irgendwann bitter büßen müssen.“
„Büßen? Wieso?“
„Das erkläre ich ein andernmal.“

Die auf gleitenden Fahrstuhltüren enthoben mich einer Antwort. Ich sah in eine riesige Etage hinein – und ich meine riesig.
Die transparente Decke wölbte sich in vielleicht zwanzig Metern über mir, und rund um die Außenwände waren Emporen aufgebaut, auf die man bequeme Sitzgelegenheiten aufgestellt hatte. Im Innenraum gab es Dutzende Nischen, in denen Konferenztische standen, davor und dazwischen, jeweils mit wirklich bequem viel Abstand, gab es weitere Sitzgelegenheiten, in dessen Tischen Kommunikationsgeräte steckten.
Ich trat hinaus, Mutter neben mir. Der Fahrstuhl befand sich im Zentrum, neben ihm zum Fünfeck angeordnet endeten vier weitere Schächte hier. Regionallifte, die nur in den obersten Etagen verkehrten.
Bei dreihundert Metern im Rund verloren sich die Konferenztische, die Erholungsmöglichkeiten und die kleineren Büros vollkommen, ebenso wie die anwesenden Naguad. Es waren wohl fast einhundert, aber sie verschwanden bei diesen Dimensionen vollkommen.
„Komm“, meinte Mutter und führte mich zu einem fast durchsichtigen Treppenaufgang. Eine vier Mann starke Ehrenwache in der Uniform der Arogad-Familie stand dort parat.
Die transparente Treppe führte über zehn Meter in die Höhe. Dort, im Zentrum der Kuppel, schimmerte ein allerletztes Stockwerk, dreißig Meter im Rund, vollkommen transparent und großzügig möbliert.
Mom nickte den Wachen zu. Die vier Männer nahmen Haltung an und salutierten ehrerbietig.
Halb erwartete ich, dass sie mich aufhalten würden, durchsuchen oder irgendwelche Ausweise verlangten. Aber die vier Männer, von denen einer mich an meinen Kumpel Marus Jor erinnerte, ließen auch mich anstandslos und mit einem Salut – den ich klassisch terranisch erwiderte – passieren.
Am Ende der Treppe kamen wir in einen Vorraum, in dem eine junge Frau saß. Erstaunt registrierte ich, dass sie Fioran-Blut haben musste. Die helle Haut und die grünen Augen gepaart mit den hellblonden Haaren sprachen da Bände.
„Helen Arogad. Danke, dass Sie Aris Arogad so schnell vorbei gebracht haben.“
Mom seufzte. „Übersetzt heißt das, bleib doch bitte draußen. Oder?“
Die Empfangsdame legte verlegen eine Hand in den Nacken. „Tut mir Leid. Meister Oren will ihn alleine sprechen. Ich würde dir gerne in der Zwischenzeit etwas anbieten. Starkstrom vielleicht?“
„Ich sollte dich mal unter Starkstrom setzen, Varel Guizo“, tadelte Mom mit eiskaltem Grinsen.
Ich räusperte mich vernehmlich, als es in den Augen der Fioran zu glimmen begann. Bevor dies zu einem längeren Schlagabtausch wurde, suchte ich besser mein Heil in der Flucht. „Wenn mich die Damen entschuldigen würden… Ich scheine einen Termin bei Meister Oren zu haben.“
Ich verbeugte mich leicht und ging dann auf die Tür des gigantischen Büros zu. Na ja, ging, es war mehr ein marschieren, weil ich dem vollkommen transparenten Boden nicht traute und mit dem Mut der Verzweiflung voran schritt.
Bevor ich die Tür erreichte, wandte ich mich um und meinte: „Mann, an so einem Arbeitsplatz sollten Frauen besser keine Röcke tragen, was?“
„Wieso nicht?“, fragte die Fioran irritiert. „Wenn jemand gucken will, dann lass ihn doch.“
„Äh, ja…“

Mit geröteten Wangen betrat ich das Büro. Und tauchte ein in eine andere Welt. Der Raum, die Atmosphäre, sogar das Glimmen der ersten Abendsterne, alles schien sich unterzuordnen. Alles schien sich respektvoll zu verneigen. Vor dem Mann, der am südlichsten Rand seines Büros stand und hinaus sah, auf die Sonne Nag, die gerade auf dem letzten Zehntel ihrer Bahn um Prime war.
„Transparenter Stahl, ungefähr zwei Meter stark. Zusätzlich verstärkt durch ein eingelassenes Sensornetzwerk, um Manipulationen und Beschädigungen aufzuspüren. In den letzten dreihundert Jahren wurde es einundneunzig Mal versucht, bis auf diese Etage zu kommen. Nur ein einziges Mal hat es einer geschafft. Bis in dieses Büro noch keiner.“
Der Mann wandte sich um, musterte mich streng. Oren Arogad war fast zwei Meter groß, breitschultrig und wie ich mir hatte sagen lassen, Admiral im Ruhestand.
Der große Mann sah mich streng aus seinen wässrig blauen Augen an. Seine Haare waren grau, aber er hatte noch einen vollen Schopf. Von seinen zweitausend Jahren konnte man locker tausendneunhundert abziehen, fand ich.
Unwillkürlich nahm ich Haltung an. „Sir. Akira Aris Otomo-Arogad. Ich melde mich wie gewünscht.“
Herrisch wischte der alte Mann mit der Rechten durch die Luft. „Das müssen wir abstellen, Aris. Du bist ein Arogad, kein Otomo.“
„Bei allem Respekt, Sir, aber ich bin was ich bin, und nicht das, was Sie wollen, dass ich bin.“
Sein strenger Blick wurde zwingend, versuchte mich niederzuringen. „Trotz verschafft dir hier keine Freunde, Aris. Du hast noch einen weiten Weg, bevor du dich als vollwertiges Mitglied des Hauses Arogad betrachten kannst. Und du solltest es dir dabei nicht mit dem mächtigsten Mann des Hauses verscherzen.“
Ich spürte die Bedrohung, die von Oren Arogad ausging, als wäre es eine sichtbare Flutwelle, die alleine mich zum Ziel hatte und über mir zusammen schlug.
„Mit Verlaub, Sir, aber Sie gehen davon aus, dass ich ein Arogad werden will. Das ist falsch. Alles was ich will ist, hier so schnell wie möglich zu verschwinden und nach Lorania oder der Erde zurückzukehren.“
„Du willst was?“ Ungläubig sah der Naguad mich an. „Du willst auf diese Provinzwelten zurück? Wenn du Prime haben kannst? Wenn du Arogad haben kannst? Was bist du doch naiv.“
Wut brodelte in mir. „Und wennschon. Die Heimat ist da, wo das Herz ist. Und Naguad Prime hat mein Herz nicht gerade erobert. SIR!“ Das letzte Wort hatte ich laut und bitter gezischt.
„Ich kann mich nicht erinnern, dir diese Wahl gelassen zu haben, Aris“, zischte der Alte zurück. Langsam kam er auf mich zu. „Und du scheinst auch nicht im klaren zu sein, dass auf dich eine Anhörung wartet, die über dein Leben entscheidet.“
„Wollen Sie mich bestechen, Sir?“, fragte ich geradeheraus.
Oren blieb stehen, fixierte mich erneut. „Hat dir Helen nichts gesagt?“
„Was? Das sie nach dem Autounfall im Koma lag und keine Chance hatte, jemals daraus zu erwachen? Das Aris Taral sie nach Naguad Prime zurück brachte, um ihr wenigstens diese Form von Leben zu geben? Ja, das hat sie.“
„Nein, das meinte ich nicht, Aris. Hat sie dir nicht gesagt, wer du bist?“
Abfällig schnaufte ich. „Ich bin ein halber Mensch. Mein Vater ist Eikichi Otomo. Die andere Hälfte setzt sich aus Eris Arogad-Erbgut und Michaels Fioran-Erbgut zusammen. Sagt das nicht genug darüber aus wer ich bin?“
„Verdammt, Aris, du bist mein Großenkel!“
Für einen Moment glaubte ich, man würde mir den Boden unter den Beinen wegziehen. Tatsächlich landete ich hart und schmerzvoll auf meinem Hintern. Der transparente Boden war definitiv da – und hart. „Was?“
„Helen ist meine Enkelin. Und du bist ihr erstes Kind. Du bist mein direkter Nachfahre, Aris. Damit bist du Anwärter auf einen Platz im Rat der Arogad, vielmehr Anwärter auf das Amt des Vorsitzenden. Oder um es mal in deiner primitiven menschlichen Ausdrucksweise auszusprechen: Du sitzt auf einem Schleudersitz, der dich auf meinen Job katapultieren kann, Aris Arogad!“
„Heilige Scheiße.“ Ich fühlte wie mir schwindlig wurde. Ich hatte den Turm gesehen, die Stadt drum herum. Den Empfang am Raumhafen. Die… Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
„Du bist mein Erbe, Aris, so lange Helen in diesem Tank bleiben muß. Und es sieht nicht so aus, als würde sich das in den nächsten tausend Jahren ändern.“
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, drehte sich zur Seite und musterte die Sterne.
„Ehrlich gesagt möchte ich, dass jemand aus meiner direkten Linie diesen Posten übernimmt, für eine gewisse Zeit oder die nächsten tausend Jahre. Eri ist nicht da. Helen in einem Tank gefangen. Bleiben nur noch du und deine Schwester Jarah.
Ich weiß nicht, ob du oder Jarah das Haus so gut führen könnten wie ich es getan habe. Und ich weiß, dass es sehr fähige Leute im Rat gibt, die diesen Job wirklich gut können und auch dazu bereit sind. Aber ich will nicht der Erste in der Erblinie der Hauptfamilie sein, der das Amt nicht an einen direkten Nachfahren weitergibt. Seit dem Vorallan-Massaker waren es immer direkte Arogad auf diesem Posten.“
Ich rappelte mich wieder hoch, kam auf die Beine. „Moment, noch mal zum mitschreiben. Du bist mein Urgroßvater? Und du willst, dass ich diesen Schuppen hier leite?“
Oren schmunzelte. Es war das erste Mal, dass ich solch eine Regung bei ihm sah. „Den Schuppen, die ihn umgebende Stadt, den Nachbarplaneten, die Kolonien und die Operationen des Hauses Arogad in fünf Systemen, die Wirtschaftskraft und die Militärmacht. Kurz gesagt: Das mächtigste Haus des Imperiums. Den größten Unterstützer für Militär und den Rat. Den besten Schutz gegen die Iovar.“
Oren erhob sich wieder, kam um den Schreibtisch herum. „Das ist das, was Oren Arogad von Aris Arogad erwartet. Und Aris Arogad wird das auch erfüllen, darauf kannst du dich verlassen.“
Er ging auf mich zu, bis er direkt vor mir stand. Dort wich die grimmige Miene aus seinem Gesicht. Der alte Mann sah mir in die Augen, während er eine verirrte Träne aus dem Augenwinkel wischte. Spontan riss er mich an sich und drückte mich fest.
„Und jetzt spricht einmal Oren Arogad, dein Urgroßvater. Willkommen Zuhause, Aris. Wie lange habe ich mich auf diesen Moment gefreut. Ich hätte längst eine Expedition ausgerüstet und nach dir suchen lassen, nach dir und Jarah, aber Helen meinte, ihr würdet schon von alleine kommen.“
Er hielt mich ein Stück von sich. „Lass dich ansehen. Du bist so groß. Und deine Aura ist so ausdrucksstark. Du bist auch ein KI-Meister, habe ich Recht? Und, laufen dir die Frauen nach? Bei einem Burschen wie dir. Oder ist dieses Sternchen deine Freundin? Ein nettes Mädchen, wirklich. Ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen und…“
„Moment. Du hast mit Joan vor mir gesprochen?“
Verlegen sah der Mann, der mir vor einer knappen Minute noch als herrischer, unnahbarer alter Mann erschienen war, zur Seite. „I-ich musste üben. Ich hatte Angst, dir in die Augen zu sehen. Verzeih einem alten Mann, dem die Aufregung zu schaffen macht.“

„Meister Oren, sie ist jetzt hier“, erklang die Stimme der Vorzimmerdame im Raum und beendete für meinen Uropa den peinlichen Moment.
„Ist gut, Guizo. Du kannst sie und Helen nun einlassen. Wir hätten gerne Zuma, und dazu leichtes Gebäck. Wir haben uns viel zu erzählen.“
„Ja, Meister Oren.“
Die Tür glitt auf, und Mutter kam zusammen mit Joan Reilley herein.
Oren deutete auf eine bequeme Sitzecke, direkt an der Südwand des Büros. „Kommt, Mädchen, nehmt Platz. Es gibt einiges, was ich Aris und Joan erzählen muß. Damit er versteht, wie wichtig es ist, dass er meinen Platz einnimmt.“
„Gibt es dazu wieder Zuma, Onkel Oren?“, fragte Joan mit leuchtenden Augen.
„Natürlich, mein Schatz“, erwiderte der Anführer der Arogad schmunzelnd. „Ich habe doch gemerkt, wie gut dir der Tee schmeckt.“
Mit leuchtenden Augen sah sie zum fast zwei Meter großen Mann auf. „Oooh, Onkel Oren, du bist so gut zu mir.“
Uropa hüstelte verlegen, als Joan zur Sitzgruppe ging. „Wickelt sie alle so leicht um den Finger?“
„Die meisten“, erwiderte ich schmunzelnd. Wobei ich nicht eine Sekunde daran zweifelte, dass ihre leuchtenden Augen tatsächlich aus ihren Gefühlen entsprungen waren.

2.
Es war das Jahr Dreitausendeinhundertsieben nach Kolonisierung. Oder auch 3107 nK genannt. Die neun großen Familien gab es schon, sie stellten zu gleichen Teilen den Rat, wenngleich die Fraktion der Familienlosen und Söldner immer größer wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, und diese Naguad würden ebenso ihren Sitz im Rat verlangen, wie es die großen Familien so selbstverständlich taten.
Dieser Gedanke gefiel Oren Arogad irgendwie. Auch wenn dies weniger Macht für seine Familie bedeutete, so würde die Bindung der Familienlosen an das Imperium enger werden. Und damit würde ihre Bereitschaft, ihr aller Leben zu verteidigen, größer.
Schweigend sah Oren das tiefe Loch hinab. Die Strahlenwerte waren künstlich reduziert worden, sodass sich ein ungeschützter Mensch dem Rand nähern konnte, ohne den Tod zu riskieren. Aber länger als zehn Minuten durfte auch ein Oren Arogad hier nicht stehen, wenn er sich nicht einer langen Heilungsprozedur mit fremdem und körpereigenem AO unterziehen wollte.
Der Krater hatte eine Tiefe von zweihundert Metern. Aber eine Weite von anderthalb Kilometern. Hier waren fast einhundert Naguad gestorben, vielleicht etwas mehr, wenn es in der Kleinstadt Besuch gegeben hatte.
Oren runzelte die Stirn. Ohne die mächtigen Schirmfelder des Fioran-Turms und ohne das beherzte Eingreifen der Neunten Banges-Division wäre dieses Ding in der Hauptstadt eingeschlagen. Dann hätte es ein paar Millionen Tote gegeben.
Dennoch schmerzte ihn dieser Anblick. Tote Naguad waren tote Naguad. Von diesen hier blieb nicht einmal genügend übrig, um sie zu begraben.
Unwirsch wandte er sich wieder ab. „Bericht!“, schnarrte er.
Luka Maric, sein Adjutant im Range eines Commanders nickte und trat neben ihn. „Die Neunte Flotte konnte die Raider der Iovar abdrängen, dreißig von ihnen zerstören.
Die restlichen achthundert sind bereits auf der Flucht, aber die Zweite, die Zehnte und die Neunzehnte Flotte befinden sich auf Abfangkurs. Zudem wird die Siebte Flotte zurückerwartet. Voraussichtlich wird sie an einer Position das System erreichen, welche ihr erlaubt, ebenfalls Jagd auf die Raider zu machen.“
„Unsere Verluste?“ „Wir haben neunzehn Schiffe verloren, vor allem Fregatten und Zerstörer. Leider ist auch die KUMA in der Verlustliste. Sie hat sich in die Atomwaffen der Raider geworfen. Hätte sie das nicht getan, wären hier zwanzig Raketen eingeschlagen und nicht drei. Dann hätte auch der Schirm des Fioran-Turms nicht viel genützt.“
Oren dachte nach. „Bitte Logg Fioran um einen Termin. Ich will mehr über ihre Schirmtechnik erfahren. Und wenn wir sie teuer bezahlen müssen, ich denke, wir sollten sie Imperiumsweit einsetzen.“
„Notiert, Admiral. Beteiligen wir uns auf der Jagd nach den Raidern?“
„Was ist mit der Raumstation?“
„Die Orbitalplattform AROGAD I hat nur wenige Schäden erlitten. Ich dachte, ich hätte das bereits erwähnt.“
„Nein, hast du nicht“, erwiderte Oren ernst. „Was ist mit den anderen Planeten? Was ist mit den Umformern auf Arogad?“
„Der zweite Stoßkeil zielte wie wir wissen, auf den vierten Planeten Arogad, der dritte auf Daness. Die Abwehrriegel über beiden Welten hielten, die angreifenden Truppen waren nicht stark genug. Wir nehmen an, dass sie nur detachiert wurden, um weitere Truppen von Prime abzuziehen oder die dortigen Flotten zu binden.“
„Was sie ja auch geschafft haben. Das Ergebnis ist dieser Krater.“ Unschlüssig drehte sich Oren Arogad im gehen noch einmal um und betrachtete die hässliche Narbe inmitten der Landschaft. Neunzehn Schiffe, ein kleiner Ort, war das ein annehmbarer Preis für den abgeschlagenen Angriff?
„Wie geht es Jonn?“
„Ihr Sohn ist wohlauf. Sein Schiff, die BENST, wurde schwer beschädigt, erreicht das Dock aber aus eigener Kraft. Die Analytiker bestätigen Jonn ausdrücklich Tapferkeit und Wagemut.“
„Was übersetzt heißt, der Halunke ist wieder mal vorgeprescht, ohne auf die Sicherheit seines Schiffes oder eine stabile Formation zu achten.“
„Ja, so könnte man es auch sehen. Aber in diesem Fall war es ein Befehl von Admiral Conno Racus aus dem Haus Elwenfelt. Die Attacke des Kreuzers brachte die Raider-Linien in Unordnung und half so maßgeblich, den Raid auf Daness abzuwehren.“ Der junge Mann räusperte sich. „Mitne Daness hat sich bereits nachdrücklich bei Admiral Racus und bei Captain Jonn Arogad bedankt. Außerdem hat er bereits großzügige Unterstützung für die Hinterbliebenen der Toten versprochen.“

Sie erreichten den wartenden Gleiter. Zwanzig Wachsoldaten umstanden ihn in offener Phalanx und trugen ihre Gewehre entsichert. Iovar waren nicht dafür bekannt, dass sie sich lebend fangen ließen. Aber das sie bis zur letzten Sekunde kämpften und notfalls so viele Gegner wie möglich in den Tod mit sich rissen. Es hatte genügend Schiffe der Raider erwischt, um vermuten zu lassen, dass sich ein paar hatten auf diese Welt retten können. Grund genug, um die Sicherheit für den Admiral und Angehöriger des Rates der Arogad-Familie maßgeblich zu erhöhen. Egal wie gering die Wahrscheinlichkeit war, dass eine der Raider-Piloten ausgerechnet hier auftauchen würde.
„Haben wir Gefangene?“, fragte Oren, einer Eingebung folgend.
„Drei hirnlose Drohnen, die wir daran hindern konnten, sich selbst zu töten. Dazu dreiundvierzig Leichen. Einen echten Iovar haben wir bisher nicht erwischt.“
Oren runzelte die Stirn, als er in den wartenden Gleiter einstieg. Zwei Schwebepanzer erhoben sich rechts und links von dem gepanzerten Wagen und nahmen ihn zwischen sich. Die Infanterie zog sich geordnet zurück und bestieg einen Mannschaftstransporter.
Als Luka Maric als Letzter einstieg, setzte sich die Kolonne in Bewegung.

Die Fahrt in die Hauptstadt war kurz, viel zu kurz. Es bereitete dem Arogad erhebliches Magengrimmen, dass nur ein paar lausige Landmeilen gefehlt hatten, um das Zentrum des Imperiums zu treffen.
Der Angriff hatte sie wieder einmal überrascht. Ebenso wie die Vehemenz, mit der er geführt worden war.
Die Ziele dieses Angriffs waren zweifellos die orbitalen Plattformen und die Bevölkerungszentren gewesen. Die Iovar hatten sie da treffen wollen, wo es wehtat. Und es wäre ihnen auch gelungen, zumindest erhebliche Verwüstungen anzurichten, wenn nicht ein ziviler Frachter einige Stunden vor den Raidern ins System gesprungen wäre, um von der sich sammelnden Streitmacht zu berichten.
Der nächste Schritt würde es sein, nach Logar ins Nachbarsystem zu springen und der dortigen Garnison beim aufräumen zu helfen, falls es sie noch gab. Die Iovar neigten nicht gerade dazu, Zeugen oder lästige Hindernisse zurück zu lassen.
Oren detachierte in Gedanken dafür fünf Flotten. Drei Flotten, die er per Kurier zu Beginn der Angriffe in Heimatsystem beordert hatte, zwei der Flotten, die gerade erst das Kerngebiet um die Welten erreichte. Die vier Flotten, welche versuchten, die Iovar-Raider zu stellen, würden nach dieser Schlacht erst einmal die eigenen Wunden lecken müssen. Ein Raider-Schiff war technologisch überlegen, und im Verbund waren die nervigen Zecken brandgefährlich.
Nur diesem Frachter, nur einem einzigen beherzten Kapitän und seiner mutigen Crew verdankten sie das Wissen um die Bedrohung, und einen Vorteil von einigen Stunden, um die Flotten im System auf Verteidigungsposition zu bekommen und in den Orbit der Planeten zu ziehen.
Oren Arogad gedachte, den Kapitän und die Mannschaft der JOFUR ausdrücklich zu belobigen, falls der schwere Frachter noch existierte. Das wusste Oren leider im Moment nicht. Zu turbulent waren die letzten Tage gewesen.

Sie erreichten die Stadt, fuhren in die Straßen der Koromando-Stadt ein. Darauf folgten mehrere Viertel Familienloser, die sich nie verpflichtet hatten und es voraussichtlich auch nie tun würden. Warum von Naguad zweiter Klasse zu Naguad Dritter Klasse in einer Familie absteigen?
Oren verstand diese Einstellung. Aber er sah auch das Problem, dass die Zahl der Familienlosen immer größer wurde.
Die heutige, hastig einberufene Sitzung des Rates würde zu weit mehr führen, als den abgeschlagenen Angriff der Iovar zu besprechen.
Der Tagungssaal des Rates war ein flacher Bunker im exakten Schnittpunkt der neun Türme der neun Familien. Genauer gesagt ein unterirdischer Gebäudekomplex in achthundert Metern Tiefe. Der angeblich sicherste Ort auf diesem Planeten.
Die kleine Kolonne stoppte vor dem Bunker, die Panzer und der Infanterietransporter glitten auf Ruheflächen zu einer der zahlreichen Kasernen. Die Mannschaften würden hier eine warme Mahlzeit, eine Mütze Schlaf und eine Dusche bekommen, während für Oren und seinen Adjutanten noch lange kein Feierabend sein würde.

Der Schweber fuhr ein, erreichte einen Fahrstuhl, der das Fahrzeug in die Tiefe brachte.
Auch hier hatten die Ausmaße gigantische Dimensionen, sodass sie den Schweber weiterhin benötigten.
Nach diversen Sicherheitschecks ließ man sie ein in eine gigantische Kaverne, die dreimal so stark verstärkt worden war, wie die Statiker es empfohlen hatten, um einem Angriff mit der schwersten Bombe der Raider zu überstehen.
Eine künstliche Sonne hing an der Decke, weite Parklandschaften erschufen zusammen mit einem holgraphischen Himmel die Illusion, nicht achthundert Meter in der Tiefe des Erdmantels zu sein. Die kleine Stadt im Herzen beherbergte weitere Truppen, Verwaltungsgebäude und das Ratshaus.
Vor diesem Gebäude hielt der Schweber an. Oren Arogad und Luka Maric verließen den Schweber, gingen die letzten dreihundert Meter zu Fuß. Die Presse erwartete sie schon, insbesondere natürlich Admiral Arogad, der maßgeblich die Abwehr der Raider geplant und ausgeführt hatte.
Dutzende Rufe und Fragen erklangen, die Oren aber abtat. „Kein Kommentar. Warten Sie die offizielle Presseerklärung ab.“
Nachdem sie das Ratshaus betreten hatten und die Türen hinter ihnen zufielen, entspannte sich Oren sichtlich. Und erstarrte, als er bemerkte, dass in den Gängen zum eigentlichen Ratssaal mehrere hundert Naguad standen und sie beide anstarrten. Nein, korrigierte er sich. Sie starrten ihn an, Oren Arogad.
„Hm“, kommentierte der Admiral und setzte sich in Bewegung.
Er passierte die ersten Naguad, die wie in einem Spalier aufgereiht schienen. Als er mit Luka elf, zwölf Meter weit gekommen war, hörte er hinter sich leises Klatschen. Das Geräusch wurde lauter, schneller, schien wie ein Lauffeuer nach vorne zu schnellen und umhüllte die beiden Naguad. Während Oren mit seinem Adjutanten weiter voran ging, explodierte die Stimmung, es wurde gejubelt und begeistert gepfiffen.
Als die beiden den Saal erreichten, erwartete sie dort ebenfalls Applaus. Die Abgeordneten, Mitarbeiter und Ratsmitglieder hatten sich erhoben und klatschten.
Verlegen steuerte der Admiral seinen Platz am Tisch des Rates an. Er ließ sich dort nieder, aber der Applaus wollte nicht enden. Also erhob er sich und salutierte streng und exakt.
Erst dann verebbte das Geräusch nach und nach.
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„Was wollen Sie uns da weismachen, Admiral? Das sich die Familienlosen mehr angestrengt hätten, wenn sie in einem Familienverband wären? Einen Sitz im Rat hätten?“ Korris Elwenfelt atmete hastig ein und aus. Der Spezialist für Demographie schüttelte mehrfach den Kopf.
„Tatsache ist, dass da oben im Orbit nicht ein Familienloser gestorben ist. Tatsache ist auch, dass die Kolonien, die keiner Familie angehören, keine Hilfe geschickt haben. Denn wer garantiert ihnen, dass wir ihnen in einem ähnlichen Fall zu Hilfe kommen, wenn ihre Schiffe bei der Verteidigung der Heimat zerstört werden? Wer garantiert es?“
„Unsere Gesetze und dieser Rat.“
„Was sind diese Gesetze und dieser Rat wert? Ich frage das laut und ernsthaft. Was sind sie wert?“
„Bei meiner Ehre, Oren Arogad, ich sterbe um mein Wort zu halten!“, blaffte Korris Elwenfelt. Zustimmendes Gemurmel der anwesenden Flottenoffiziere erklang.
„Und wer glaubt Ihnen das? Ich, weil ich Sie kenne, Korris. Aber ein Familienloser vielleicht? Glauben Sie das wirklich? Für die sind wir doch nur eine elitäre Gruppe, ein geschlossener Verein, der sie als minderwertige Naguad betrachtet. Und sie haben ja auch Recht, so zu denken. Gibt es einen einzigen Familienlosen, der eines unserer Schiffe kommandiert? Und ich meine unsere Schiffe, nicht die von den Kolonien. Gibt es einen höheren familienlosen Bodenkampf-Offizier als Colonel? Meines Wissens nach nicht.“
Wütend stierte Korris den Bekannten, ja, Freund an. Dann sah er blicklos zu Boden. „Ich verstehe Ihren Standpunkt, Oren. Aber was wollen wir dagegen tun?“
„Als Erstes sollten wir eine offizielle Belobigung für die JOFUR aussprechen. Ohne die Warnung durch diesen zivilen Frachter wären die Verwüstungen weit schlimmer ausgefallen. Viel schlimmer. Falls der Frachter es geschafft hat.“
Ein leises Raunen ging durch den Saal.
„Dann sollten wir dafür sorgen, dass sich die Familienlosen organisieren. Wir brauchen Ansprechpartner, mit denen wir verhandeln können. Die uns sagen, was die breite Masse will. Erst dann macht es Sinn, ihnen mehr Beteiligung an der Regierung zu zusprechen.
Und dann sollten, nein, müssen, eindringlich sämtliche Beschränkungen für Familienlose bei Beförderungen innerhalb der Flotte und der Feldtruppen aufgehoben werden!“
Wieder ging ein erschrockenes Raunen durch den Saal.
„Sie sind radikal!“, rief ein Vertreter des Hauses Daness.
„Radikal ist mein dritter Vorname“, konterte Oren. „Mein zweiter ist Realist!“
„Stellen wir diese Frage doch bitte etwas zurück, meine Damen und Herren“, ermahnte Gero Arogad die Anwesenden. Der Vorsitzende des Rates war alt genug, um den ersten Vergeltungsangriff der Iovar mit eigenen Augen gesehen zu haben. Vielleicht hatte er das sogar. „Ein anderes Thema interessiert im Moment wesentlich mehr. Die Warnung durch die JOFUR war maßgeblich daran beteiligt, dass wir vergleichsweise geringe Verluste erlitten haben. Wenn ich Sie an andere Raids erinnern darf, normalerweise verursachen wir mehr Schaden bei den Raidern als sie bei uns, was uns hilft, eine gewisse Überlegenheit zu bewahren. Aber in diesem Fall waren unsere Verluste verschwindend gering. Können wir diesen Zustand nicht beibehalten? Die Angriffe so teuer machen, dass sie es irgendwann einmal lassen?“
„Sinnlos“, widersprach Mitne Daness, Oberhaupt des Hauses Daness. „Wir haben das bereits durchgerechnet. Wir bräuchten dafür eine ganze Flotte an Schiffen, die permanent an den Rändern der Systeme zum Sprung bereit ist. Alleine die Personalkosten würden ausreichen, einen zehnten Turm zu bauen. Von den Schiffen, die wir binden, ganz zu schweigen. Vergessen Sie nicht, alles was kleiner als eine Fregatte ist, kann nicht springen.“
„Nun, ich dachte nicht an Militärschiffe. Und ich dachte auch nicht an ein Stakett, welches die Warnung von System zu System transportiert. Wem gehört die JOFUR, wissen wir das?“
Ein Adjutant trat leise an den alten Mann heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„So, so. Die JOFUR ist Privatbesitz. Ein Familienloser kommandiert sie. Kapitän ist ein gewisser Arsla Mande. Wir sollten ihn vor den Rat zitieren, damit er uns ein paar Antworten geben kann. Denn das Schiff hat es durch die Wirren des Angriffs sicher nach Daness geschafft.“
„Was für Antworten erwarten Sie von dem Familienlosen, Meister Arogad?“
„Nun, zum Beispiel, warum er sich so untypisch für einen Familienlosen verhalten hat, zum Beispiel.“
Oren Arogad nickte dazu. „Und ich denke, er kann uns noch viel mehr sagen.“
**
Eine Stunde später betrat ein schlanker, kleiner Mann den Raum. Seine Statur und seine Bewegungen, die plump und ungeschickt wirkten waren, deuteten auf jemanden hin, der viel Zeit im freien Raum verbrachte, bei reduzierter künstlicher Schwerkraft. Für viele Schiffe gehörte halbierte Schwerkraft zur Energiepolitik.
„Sie stehen dem Rat der Naguad Rede und Antwort, Kapitän Mande. Sind Sie sich dessen bewusst?“
Die Augen des Mannes leuchteten vor Ehrfurcht. „Auch wenn ich keiner Familie angehöre, so bin ich mir des Ernstes und auch der Ehre bewusst, Meister Arogad.“
Oren runzelte die Stirn. Das hatte er nicht erwartet.
„Nun, zuerst wollen wir Sie belobigen, Kapitän Mande. Sie haben ein paar Millionen Leben gerettet. Wir werden diesen heroischen Akt beizeiten entsprechend zelebrieren. Und das ganze Imperium soll erfahren, dass es einen neuen Helden und eine neue tapfere Crew hat.“
„Meister, das ist zuviel der Ehre. Ich habe nur meine Pflicht als Raumfahrer und Naguad getan.“
Ein leises Raunen ging durch den Rat. Korris Elwenfelt beugte sich zu Oren herüber. „Solche Familienlose gibt es also auch, was?“
„Nun, manche wollen dienen, mit ihrem ganzen Herzen. Es zeigt ihnen nur keiner, wie. Und meistens wollen sie allen Naguad dienen, nicht nur einer Familie. Sollen wir dieses Potential wirklich verschwenden?“
„Hm“, machte der Rat nachdenklich.
„Berichten Sie, Kapitän Mande. Was ist geschehen?“
„Nun, wir waren gerade auf dem Sprung, wollten das Logar-System Richtung Prime verlassen, als uns ein Notruf erreichte. Die Garnison auf Logar IV, Borrok, wurde von den Raider-Schiffen überraschend angegriffen. Kurz bevor wir in das Wurmloch eintraten, erreichte um ein umfassendes Datenpaket, welches der Stützpunktkommandeur eigentlich zu einem Kurierschiff senden wollte. Dies war zu diesem Zeitpunkt aber bereits zerstört. Also sahen wir es als unsere Pflicht an, stattdessen, das Datenpaket weiter zu reichen, auch wenn es zu dem Zeitpunkt, an dem wir es empfingen, bereits etliche Stunden alt war.
In unserem Sonnensystem angekommen haben wir die Daten sofort weiter geschickt. Zuerst wurden sie nicht akzeptiert, ja, man warf uns sogar Störung des militärischen Ablaufs vor – etwas in der Art, bis hin zu Sabotage. Nur das Siegel der Logar-Garnison im Datenpaket ließ sie das Militär letztendlich akzeptieren.
In den folgenden Vorbereitungen und der eigentlichen Schlacht schalteten wir alle relevanten Energieverbraucher ab und ließen uns treiben. Der Gedanke, dass die Iovar sich vielleicht bei uns bedanken würden, weil wir das Heimatsystem gewarnt hatten, gefiel mir überhaupt nicht. Auf diese Weise erreichten wir relativ unbeschadet Daness und heute Morgen, kurz nach der Abwehrschlacht, Prime.“
Der zivile Kapitän sah in die Runde. „Dies ist unsere Geschichte. Dies ist, wie wir unseren bescheidenen Anteil an der Schlacht beigetragen haben.“
Gero Arogad nickte dem Kapitän zu.
Der verbeugte sich leicht und nahm auf dem ihm angebotenen Sitz Platz, auch wenn es ihm sichtlich nicht behagte, ebenfalls im Rat zu sitzen.
„Was wir hier erlebt haben“, begann der Vorsitzende des Hauses Arogad, „ist ein Musterbeispiel für Opferbereitschaft, Mut und Verantwortung. Kapitän Mande, verbringen Sie Ihr Schiff auf die AROGAD I. Die Familie Arogad wird Ihr Schiff kostenlos auf den neuesten technischen Stand bringen. Das ist das Mindeste, was wir großen Familien für Sie tun können.“
Verlegen sah der Kapitän zur Seite.
„Arsla Mande“, sagte Oren deshalb mit lauter Stimme, „haben Sie immer noch nicht verstanden, was Sie für uns getan haben? Unser größtes Problem war bisher die Kommunikation zwischen den Systemen. Eine Lösung mit Kurierbooten macht die Kommunikation langsam, und sollten wir wirklich einmal den glücklichen Zufall haben, dass ein Kurier mitten in einen Raid-Aufmarsch gerät, kann es unglücklich zerstört werden. Wie wir erlebt haben. Sie, Arsla Mande, haben uns zwei wertvolle Werkzeuge in die Hand gegeben. Das erste ist ein effektives Frühwarnsystem, mit dem wir hoffentlich jeden weiteren Raid so teuer und blutig machen können, dass die Iovar irgendwann keine Kraft mehr haben, uns anzugreifen. Das zweite Werkzeug ist eine enorm verbesserte Kommunikation zu unseren Kolonien.“
Verwirrt sah der Kapitän der JOFUR auf. „Admiral?“
Oren Arogad ließ sich nicht beirren. „Hiermit empfehle ich dem Rat, ein Gesetz zu beschließen, dass alle zivilen und militärischen Schiffe, die ein System verlassen verpflichtet, ein Datenpaket kurz vor dem Sprung zu empfangen und mitzuführen, um es im Zielsystem direkt an die Behörden weiter zu leiten.
Dadurch, schätze ich mal, wird die Kommunikationsgeschwindigkeit vervierfacht.
Nebenbei bekommen wir auf diese Art unser Frühwarnsystem.
Es kommt jetzt also nur noch darauf an, ein funktionierendes System zu schaffen, damit die Hauptquartiere in den Systemen diese Datenpakete permanent zu springenden Schiffen senden, solche von ankommenden Schiffen empfangen und auswerten sowie ein elektronisches Siegel, welches das Datenpaket als authentisch identifiziert, um Missbrauch vorzubeugen. Ich empfehle, das Erweiterte Kommunikationsgesetz so schnell wie möglich zu beschließen.“

Stille antwortete dem Admiral.
Nur langsam hob Meister Daness die Hand. „Bei unserer derzeitigen Fluktuation an Frachtschiffen, die wesentlich höher als die der Militärschiffe ist, gebe ich Ihnen Recht, Admiral. Die JOFUR hat uns da vielleicht nicht nur ein Frühwarnsystem in die Hand gegeben, sondern auch eine Möglichkeit, den Datenaustausch und damit die Stabilität des Imperiums entscheidend zu verbessern.“
„Dann ist es beschlossen. Wir lassen das Ministerium für Kolonisation ein System ausarbeiten, welche Gesetzesänderungen, welche Installationen und welches Fachpersonal benötigt werden. Zeitrahmen bis zur Vorstellung sind maximal zwei Wochen. Zeit bis zum Inkrafttreten des Verfahrens veranschlage ich mit zwei Jahren.“
„Meister Arogad, ist das nicht etwas zu hastig? Wollen wir Stückwerk oder ein vernünftiges System haben?“
„Meister Grandanar, ich verstehe Ihre Sorge. Auch ich will ein effizientes System, welches dem Imperium zur Verfügung steht, und keinen Flickenteppich. Aber ich sehe hier die klare Notwendigkeit, zumindest anzufangen. Verbessern können wir es immer noch.“
Jorg Grandanar runzelte die Stirn, nickte dann aber. „Jemand aus dem Rat sollte der Kommission vorstehen, damit unsere Vorstellungen und Wünsche bestmöglich umgesetzt werden, und wir so wenig wie nötig an der Planung verändern müssen. Immerhin werden Ressourcen verplant und Fachleute ausgebildet werden, je weniger wir mit diesen Faktoren jonglieren, desto besser für den Rat, für die interstellare Kommunikation, für das Imperium. Und damit für jeden einzelnen Naguad.“
„Gut.“ Der alte Arogad sah in die Runde. „Gibt es weitere Stimmen zu diesem Thema? Nein? Dann erwarte ich Sie alle wieder, um in zwei Wochen bei der Vorstellung des Konzepts dabei zu sein. Die Sitzung ist geschlossen.“

Oren erhob sich von seinem Platz und ging zum Skipper der JOFUR herüber. „Auf ein Wort, Kapitän Mande.“
Der kleinere Raumfahrer erhob sich hastig, als der Admiral zu ihm trat. Auch wenn diese Welt bereits vor über dreitausend Jahren besiedelt worden war, gab es noch immer alte Verhaltensmaßregeln und Bande, die noch immer griffen. So wie es in Oren leise wisperte, den Familienlosen nicht zu freundlich zu behandeln und sich selbst als Elite zu verstehen, so schien Arsla Mande nur zu bereit, ihn als Elite zu behandeln.
„Admiral Arogad, welche Ehre, ich…“
„Schweigen Sie und hören Sie zu. Ich weiß nicht, ob es eine Belohnung oder eine Beleidigung für Sie ist, aber ich will Sie zu mir holen, Arsla Mande. Sie und Ihre Crew.“
Für einen Moment leuchteten die Augen des Mannes auf. Dann aber sah er ein wenig traurig zu Boden. „Es tut mir Leid, Admiral, aber ich und meine Leute sind einfach nicht zum Söldner geschaffen. Als freie Raumfahrer haben wir zwar niemandem die Treue geschworen, aber uns haftet auch nicht der ruchvolle Nachruf an, für Geld alles zu tun. Nicht dass Haus Arogad seine Söldner nicht immer vorbildhaft behandelt und sie dem Haus immer treu ergeben sind, für mich und die Crew der JOFUR ist das nichts.“
„Sie haben mich missverstanden, Arsla. Ich will Sie nicht als Söldner für die Familie Arogad anwerben. Was ich will ist, Sie in die Arogad aufzunehmen. Falls Sie sich mit dem Gedanken anfreunden können.“
„Was? A-aber ich bin Familienloser in der neunten Generation! Einige aus meiner Crew noch länger. Wie käme eine Familie dazu, uns aufzunehmen? Ich meine, ich…“
Gero Arogad trat hinzu und legte eine Hand auf die Schulter seines Großneffen Oren. „Du meinst es gut, mein Junge, das weiß ich. Aber du darfst nicht so mit der Tür ins Haus fallen. Arsla Mande, alle Naguad, ob Teile eines Clans oder Familienlose stammen alle von den neunzehn Schiffen des Exodus. Wir haben alle die gleiche Vergangenheit und wir haben auch alle die gleiche Genetik. Das vergangene Schicksal und ein paar engstirnige Räte haben sie geformt, aufgeteilt in neun große Familien und in jene ohne Familie. Ich weiß nicht, ob die Familien nach diesem Tag und nach den Erkenntnissen, die wir heute gewonnen haben, noch viel Wert haben werden, aber für die Arogad kann es nur gut sein, wenn wir fähige Leute in unsere Reihen holen.“
Arsla Mande lächelte dünn. „Danke für das Angebot, Meister Arogad, aber auch das wäre auch eine Form von Söldnertum. Ich wäre ein Arogad Zweiter Klasse.“
„Nur wenn Sie sich zu einem machen lassen, Arsla Mande“, erwiderte der alte Naguad ernst.
„Das bin ich doch alleine durch die genetische Schranke und…“
„Nein. Das Adoptionsverfahren ist ausgereift und vor dem Angriff vom Rat verifiziert worden.“
„Das…Adoptionsverfahren? Ich hielt es für ein Gerücht. Mit Hilfe von Retroviren bestimmte genetische Merkmale eines Hauses in den genetischen Code des Empfängers zu kopieren klang immer so illusorisch.“
„Dennoch ist es wahr. Wir sind in der Lage, Ihnen und Ihren Leuten einen Teil der Arogad-Gene aufzuprägen, was Sie eindeutig zu Kindern unseres Hauses macht. Aber ohne auf die genetische Vielfalt zu verzichten, welche Sie mitbringen“, sagte Oren Arogad freundlich. „Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, dann erwarte ich Ihre Antwort.“
Als er die sprachlose Miene des tapferen Frachtschiffers sah, fragte er leise: „Oder doch besser zwei Wochen?“
„Ich muß meine Crew informieren!“, brachte Kapitän Mande hervor und verbeugte sich hastig vor den beiden Arogads, nur um sich umzudrehen und mehr zu laufen als zu gehen, um den Saal zu verlassen.
„Er weiß selbst noch gar nicht, wie tapfer er war. Wie tapfer seine Crew war. Wie viel das Imperium ihnen verdankt“, murmelte Gero amüsiert. „Und vor allem sieht er nicht das, was wir beide sehen. Sein Potential ist enorm. Auch ohne die kosmetische Makulatur, die wir ihm anbieten, würde er in der Familie Arogad schnell herausragen.“
Oren schmunzelte. „Es ist doch eigentlich ein schlechter Witz, wenn du mich fragst, Onkel. Neunundneunzig Komma neun Prozent der Gene sind bei allen Naguad identisch. Am restlichen Zehntel nehmen wir bestenfalls an einem Tausendstel Variationen vor, an der Augenfarbe, der Haarfarbe, korrigieren ein paar synaptische Verbindungen, einige organische Resistenzen gegen große Krankheiten… Im Prinzip bleiben sie doch so wie sie vorher waren. Sie verändern sich kaum.“
„Aber es ist dieses kaum, dass den Unterschied ausmacht. Es ist dieses kaum, das in Zukunft Bürgerkriege verhindert. Und es ist dieses kaum, dass die Familien vielleicht noch ein paar Jahrhunderte existieren lässt, bevor sie unnötig werden. Wenn jeder Familienlose einem Clan beitreten kann, genetisch ein Teil der Familie werden kann, dann wird dies einiges vom Stigma der Familienlosen entfernen.“
Oren Arogad nickte dazu. Er legte seinem Onkel eine Hand auf die Schulter. „Wir werden sehen, in welche Richtung sich die Adoption entwickelt. Ich muß jetzt gehen. Auf mich wartet die Nachbearbeitung der Schlacht.“
„In Ordnung. Nimm deine Pflicht wahr.“
Wieder nickte der Admiral, dann verließ er ebenfalls den Ratssaal. Sein Adjutant war sofort wieder an seiner Seite.

3.
Nach zwei Wochen waren die Nachwirkungen der Schlacht noch immer nicht behoben, aber das Konzept für das Erweiterte Kommunikationsgesetz wurde vorgestellt und von einer breiten Mehrheit angenommen. Selbst die Vertreter der neun stellaren Kolonien stimmten dafür, da die verbesserte Kommunikation allen zugute kam.
In den Medien wurde die Schlacht bereits als Meilenstein bezeichnet, als größten Sieg der rebellierenden Naguad gegen ihre alten Herren, die Iovar. Manche Berichte setzten sich kritisch mit dem Thema auseinander, warnten davor, dass die Konflikte nicht immer so glimpflich ablaufen würden, das Glück nicht erneut so eindeutig auf ihrer Seite sein konnte, andere wiederum prophezeiten bereits das Ende des Iovar-Konglomerats und die endgültige Etablierung des Naguad-Imperiums als eigenständiges Reich, vor allem nachdem vier Flotten der Naguad den Raidern auf dem Flug zum Sprung noch weitere, erhebliche Verluste zugefügt hatten.
Oren selbst stand irgendwo zwischen diesen Standpunkten. Insgesamt hatten die Raider über zweihundert Schiffe verloren, weitere einhundertzwanzig hatten mehr oder weniger schwer beschädigt den Sprung gewagt. Man konnte dies ohne Zweifel als den schwersten Aderlass bezeichnen, den die Iovar jemals bei einem Vergeltungsangriff auf ihre untreuen Kinder erlitten hatten.
Normalerweise gab es zwischen den Raids ein oder zwei Jahre Pause, in der die Flotte ihrer Gegner sich neu aufbaute. Die Verluste bei den schnellen Angriffen mit Überraschungsfaktor hatten selten mehr als zehn Prozent Verluste eingebracht und auch in den Naguad-Flotten meistens nur geringe Verluste erzielt. Die Angriffe waren meistens gegen die Symbole der Familien gerichtet gewesen, die Eckpfeiler des Imperiums, oder militärische Einrichtungen der Flotte. Selten nahmen sich die Iovar genügend Zeit, um richtigen Schaden anzurichten. Verwirrung zu säen und Material zu vernichten, dazu die schmerzhafte Erkenntnis wie leicht ihnen diese Angriffe fielen, hatten ihnen jedes Mal gereicht.
Nur der heftige Widerstand bei dem letzten Angriff erklärte, warum die Iovar diesmal so weit gegangen waren, die Hauptstadt ausgerechnet mit atomaren Waffen zu attackieren.
Was nach erheblichen Verlusten auch beinahe funktioniert hätte, wenn sich ein tapferes Schiff nicht dazwischen geworfen hätte.
Oren rieb sich die müden Augen. Miera Bilas war eine gute Freundin von ihm gewesen. Ohne ihr Opfer, ohne ihre KUMA im Kurs der meisten atomaren Raketen, wäre das Herz des Imperiums ausgelöscht worden. Und damit vielleicht sogar das Imperium selbst.
Das machte es aber nicht leichter, mit ihrem Verlust umzugehen.
Verdammt, Naguad sollten tausend Jahre und länger leben. Wieso gab es so etwas wie die Konflikte mit dem Mutterreich, die junge Naguad in ihren ersten hundert Jahren zwangen, ihre Leben zu riskieren und so früh zu sterben?

„Admiral Arogad“, meldete sich Luka Maric zu Wort.
Oren betätigte einen Sensor auf seinem Schreibtisch. „Sprich.“
„Admiral, wir haben eine Meldung aus Gonderva erhalten. Demnach durchquert ein Iovar-Schiff ihren Raum. Es ist ein Schlachtkreuzer der Mordet-Klasse, soweit wir sagen können modernste Technik. Kein Begleitschutz. Der Kurs ist klar: Naguad Prime.“
„Ein Selbstmordkommando?“, murmelte Oren ernst und freute sich gleichzeitig, dass das Erweiterte Kommunikationsgesetz bereits erste Früchte trug.
„Kaum. Außer, Selbstmordkommandos fliegen seit neuestem unter Parlamentärsflagge.“
„Parla… Unterhändler?“
„So sieht es aus. Ihre Befehle, Admiral?“
„Sorgen Sie für eine angemessene Eskorte, Commander. Ich will, dass mindestens eine Flotte dieses Schiff begleitet, wenn es in unser System kommt.“
„Heißt das, wir gewähren freies Geleit?“
„Ja, verdammt, wir gewähren freies Geleit.“
„Verstanden, Admiral.“
Die Verbindung erlosch. Oren Arogad lehnte sich zurück und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Es würde mindestens drei Wochen dauern, bevor der Iovar-Kreuzer über Prime stand. Drei Wochen, in denen ihm die Zeit unter den Nägeln brennen würde.
**
Ein Parlamentär der Iovar – das war nicht mehr vorgekommen, seit die Heimatwelt das Naguad-System entdeckt und massive Vergeltung für den Verrat angekündigt hatte, den die Naguad auf den neunzehn Fluchtschiffen begangen hatten.
Nun, für die einen war es Verrat. Für die anderen eine Notwendigkeit. Aber um über diese Frage zu streiten würden sie mehr als genug Zeit haben, sobald der Parlamentär eingetroffen war.
Der riesige Schlachtkreuzer war mit deaktivierten Waffen bis in den Orbit um Prime geflogen und hielt nun in tausend Kilometern Höhe eine stabile Position über der Hauptstadt ein. Die gesamte Erste Flotte umgab das Schiff, teils als Ehrenformation, teils als Schutz. Auch die Waffen der Naguad-Schiffe waren deaktiviert und konnten nur vom Schiffskapitän freigegeben werden. Zu lange dauerte schon der Konflikt, zu viele Raumfahrer hatten Freunde und Familie im Kampf verloren, als dass nicht irgendein Bordschütze auf Rache aus war und die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Naguad in eine Feuerhölle verwandelte.
Eine Fähre hatte das Mutterschiff verlassen, genauer gesagt ein Frachtpendler, groß genug um eine Kompanie Panzer aufzunehmen. Die Fähre funkte den offiziellen Diplomatencode, sodass ihr auf dem größten Raumhafen ein Landefeuer zugewiesen wurde.
Oren selbst und einige Mitglieder des Rates warteten am Rande des Landeplatzes auf den Auftritt des Diplomaten.

Die gigantische Fähre setzte auf, ohne das die mächtigen Düsen Feuer spuckten oder ein wahrnehmbarer Ruck durch das Schiff ging. Antigravitation beherrschten die Iovar noch immer weit besser als ihre ehemaligen Fronarbeiter, stellte Oren ein wenig neidisch fest.
Dann öffnete sich das Hauptportal der Fähre, und ein Gigant trat daraus hervor.
Genauer gesagt eine riesige Rüstung, über zwölf Meter hoch, mit einer Handfeuerwaffe im Arm, mächtigen Schulterschilden und zwei tiefrot glühenden Augen im weit ausladenden, Helmbewährten Schädel. Der Gigant stapfte die Rampe hinab, setzte seinen Fuß auf den Boden des Raumhafens. Seine Armwaffe war die ganze Zeit auf den Boden gerichtet. Ihm folgte ein zweiter dieser Giganten, ein dritter. Es wurden insgesamt sechs, die in drei Zweierreihen vor der Fähre Aufstellung nahmen.
Dann rissen alle sechs ihre Waffen gen Himmel, und Oren Arogad befürchtete schon, dass ein übernervöser Geschützoffizier die Hafenbatterien freigab, um die sechs Maschinen mit schwerem Feuer einzudecken.
Oben auf der Rampe erschien eine schlanke, groß gewachsene Gestalt, begleitet von zwanzig teils uniformierten, teils zivil gekleideten Leuten, Männern wie Frauen.
Sie selbst trug das militärische Cape der Iovar-Admiralität, ein purpurner, bodenlanger Umhang, an dessen Kragen die Abzeichen eines Vize-Admirals befestigt waren.
Dazu trug die Frau einen engen Hosenanzug, der nicht wirklich viel mit einer Uniform zu tun hatte, aber ihren Körperbau gut zur Geltung brachte. Es dauerte einen Augenblick, bis Oren erstens den Blick von ihrer Oberweite nehmen konnte und zweitens erkannte, dass dieser Hosenanzug eine Art Schutzbekleidung darstellte. Sein geschulter Blick erkannte ein Drucksystem sowie Anschlussmöglichkeiten am Kragen, eventuell für einen Helm.
Dennoch, die Bekleidung war in mehr als einer Hinsicht vorteilhaft.
Die Frau verzog die vollen Lippen zu einem Schmunzeln, warf ihr schulterlanges, braunes Haar mit einer Kopfbewegung nach hinten und setzte sich in Bewegung. Ihr Gefolge… Nun, folgte ihr.

Oren räusperte sich vernehmlich und richtete sich gerade auf. Dies würde eine diplomatische Zusammenkunft werden, in der es Protokolle gab, die sie ziemlich gängeln würden.
Die Frau schritt näher. Die gigantischen Maschinen wandten ihre Köpfe und Leiber hinter ihr her, stumme, mächtige Wächter mit glühenden, bedrohlichen Augen.
Oren salutierte, als die Frau mit ihrem Gefolge nur noch fünf Meter entfernt war. Ob sie den grünen Teppich, auf dem sie schritt, zu würdigen wusste? Grün wie der Friede, eine Geste, über die im Rat lange gestritten worden war.
„Willkommen auf Naguad Prime, Botschafter der Iovar. Ich sichere Ihnen hiermit im Namen des Rates und im Namen des Volkes freies Geleit und Gesprächsbereitschaft zu.“
Die Frau erwiderte den Salut nicht, aber sie neigte den Kopf leicht, um die Begrüßung zu erwidern. „Mein Name ist Aris Ohana Lencis. Ich bin Vize-Admiral der Iovar-Heimatflotte, für die Dauer der Mission außer Dienst gestellt. Ich bedanke mich im Namen des Kaisers für die freundliche Aufnahme auf Naguad Prime. Ich…“
Weiter kam sie nicht, denn Commander Maric, sein Adjutant, lief plötzlich los, schneller als ein Naguad dies eigentlich können durfte, zog im Sprint seine Waffe und stürzte auf Aris Lencis zu.
Oren hob eine Hand, wollte etwas rufen, aber es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bis Luka die Strecke überwunden hatte. Er wirbelte herum, die Linke griff Lencis in die Hüfte und drückte sie hinter sich, während die Rechte eine Serie von Schüssen abgab.
Hinter ihnen, auf dem Dach eines Terminals fiel ein getroffener Soldat kopfüber in die Tiefe.
Ein anderer setzte mit einer Scharfschützenwaffe an, deutlich erkannte Oren ein illegales Neutronengewehr. Oren wollte eine Warnung brüllen, aber es war zu spät dafür. Auf dem Dach hetzten Wachleute und Soldaten heran, um den Schützen zu stoppen, lieferten sich bereits Feuergefechte mit zwei weiteren Verrätern, da schoss der Mann, den Oren zu Recht als Attentäter einstufte.
Die Warnung kam zu spät. Jeder der sich im Radius von einem Meter vom Schuss entfernt bestand würde sterben, das eigentlich getroffene Ziel zu Wasserdampt vaporisiert werden.
Deshalb war das Neutronengewehr ja auch illegal.
Oren konnte den Waffenstrahl nicht sehen; dafür aber, wie um Luka plötzlich eine Aura aufleuchtete, die mehrere Sekunden flackerte, bevor sie wieder verschwand.
Der Arogad blinzelte mehrfach, um die Flecken der Lichtexplosion zu vertreiben, bevor er wieder zu den Iovar herübe sah. Luka und Aris Lencis standen noch immer dort, unbeschadet. Aber nun waren auch die Iovar aus der Begleitung des Admirals hervor getreten und sicherten die Diplomatin mit ihren Leibern. Luka Maric nahmen sie dabei wie selbstverständlich in die Phalanx auf.
Die sechs gigantischen Rüstungen verteilten sich um die Admirälin und ihr Gefolge. Nun waren die Waffen nicht gen Boden oder Himmel gerichtet. Außerdem hatten sich auf den Oberkörpern bisher verborgene Segmente geöffnet, hinter denen die Sprengköpfe von Raketen zu sehen waren.
Als mehrere Sekunden danach kein weiterer Angriff erfolgte, traf Oren eine Entscheidung. Er lief zu der Iovar-Gruppe herüber, drängte sich durch die Phalanx der Beschützer, an Luka vorbei und angelte nach der Hand der Diplomatin. Als er ihre sanfte Hand in seinem harten Griff spürte, zog er nachdrücklich. Sie folgte ihm wie selbstverständlich, ebenso das Gefolge, während Luka wie selbstverständlich die Rückendeckung übernahm, während die Gruppe Schutz im Terminal suchte.
„Das war nicht geplant“, sagte Oren ernst und ohne nach dem kurzen Spring außer Atem zu sein. „Ein Attentäter hätte niemals so nahe an das Flugfeld kommen können. Ganz davon abgesehen, dass niemand auf Sie und Ihre Leute schießen sollte, Admiral Lencis.“
Die Frau sah ihn erstaunt an, winkte aber ab. „Dank Ihres AO-Meisters ist ja alles gut ausgegangen. Es war eine sehr gute Idee, ihn mitzunehmen. Ich und mein Gefolge verdanken ihm unsere Leben.“
„Ja, es… War eine gute Idee.“ Er musterte Luka Maric mit einem neutralen Blick, was diesen betreten zu Boden sehen ließ. AO, was war das?
„Wie dem auch sei, ich entschuldige mich im Namen des Rates für diesen Angriff auf Ihr Leben. Wir werden jetzt entgegen des Protokolls nicht direkt in die Ratskammer fahren. Stattdessen brechen wir zum Turm Fioran auf. Er hat die stärksten Abwehrschirme und die am besten ausgebildeten Abwehr-Agenten. Dort sollten wir alle sicher sein, bis das Attentat aufgeklärt ist und die Hintermänner gefangen sind. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
„Wenn Sie dafür meine Hand loslassen wollen, Admiral Arogad“, tadelte die Frau.
Erstaunt sah Oren, dass er noch immer die Hand der Frau fest umschlossen hielt. Nur widerstrebend ließ er sie fahren. Es hatte sich gut angefühlt. Etwas zu gut.
„Wie dem auch sei. Folgen Sie mir nun, bitte.“
Luka Maric kam wie immer an Orens Seite. Der Admiral musterte seinen Adjutanten mit ärgerlichem Blick. „AO-Meister? Du wirst mir einiges erklären müssen, Luka.“
Verlegen sah er beiseite.
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„Ich habe alles soweit es ging mit Marcela Fioran geregelt“, berichtete Luka Maric seinem Vorgesetzten und Freund, während er ihn in die Zimmerflucht begleitete, die auf unbestimmte Zeit sein Zuhause sein würde. „Marcela ist für die Sicherheit im Turm verantwortlich, jetzt wo Keene seine abgeschossenen Beine regeneriert.“
Luka deutete auf die schwarz uniformierten Wachen, die in unregelmäßigen Abständen im Gang verteilt waren. „Sie hat die Attentäter freigegeben. Über eine Kompanie nur für diese Etage. Die Schilde des Turms wurden aktiviert und die Personenkontrollen wurden verschärft.
Des Weiteren hat sie großzügige Appartements für die Iovar des Begleitkommandos freigegeben. Ich habe dafür gesorgt, dass du das Appartement neben Admiral Aris Lencis bekommst.“
Hinter den beiden schloss sich die Tür. Oren nahm die Schirmmütze ab und warf sie auf den Tisch einer bequemen Couchecke. Seufzend ließ er sich ins weiche Polster fallen. „Diese Giganten, wie nennen die Iovar sie?“
„Banges. Es sind semimobile Kampfrüstungen mit einem Mann Besatzung. Sie sind raumtauglich, flugtauglich – wenngleich die Aerodynamik wirklich beschissen ist, entschuldige bitte – und schwer bewaffnet. Gesteuert werden sie über ein Interface durch eine Künstliche Intelligenz, die direkt mit dem Gehirn des Piloten verbunden ist. Was die Banges während des Attentats gezeigt haben ist nicht einmal ein Hundertstel ihres Könnens. Ich habe nach Absprache mit Marcela den sechs Banges-Piloten gestattet, sich der Wachtruppe um den Turm Fioran anzuschließen. Ich sage dir, du hast noch nie so viele staunende Gesichter gesehen, Oren.“
„Ich habe selbst schon genug gestaunt. Vor allem am Raumhafen. Verdammt, Luka, du bist seit dreißig Jahren mein Adjutant. Aber seit wann kannst du einen Schuss aus einem Neutronengewehr aufhalten? Seit wann?“
Luka Maric trat an die Schrankbar heran, suchte aus den ungeöffneten Flaschen die Beste heraus, nahm zwei Gläser und füllte sie großzügig. „Das muß man dem alten Logg Fioran wirklich lassen. Seine Gäste kriegen nur den guten Stoff.“
Mit beiden Gläsern in der Hand und die Flasche unter dem Arm aufgerichtet festgeklemmt, kam er ebenfalls zur Couch, setzte Gläser und Flasche ab und nahm ebenfalls Platz.
„Weißt du, Oren, du hast ja überhaupt keine Ahnung.“
„Ahnung von was?“
„Habe ich schon erzählt, dass das Appartement von Aris und dir mit einer Sicherheitstür verbunden ist, die ich entriegeln ließ? Wenn sie also etwas Inoffizielles vor den Gesprächen sagen will, mach einfach die Tür auf.“
„Weich mir nicht aus, Luka.“
Der Adjutant seufzte schwer. „Oren, weißt du überhaupt, wer wir damals waren? Was wir damals waren, auf Iotan?“
Der Arogad erschauderte, als der Name der alten Hauptwelt fiel.
„Du erwartest jetzt sicher wieder die alte rührselige Geschichte von den unterdrückten Arbeitern oder den Sklaven, die sich erhoben und geflohen sind. Leider ist diese Geschichte erst eintausend Jahre alt. Wir brauchten nur fünf Generationen, um die Wahrheit zu unterdrücken und zu vergessen. Es stimmt, wir sind geflohen. Beziehungsweise unsere Vorfahren. Aber sie waren keine Arbeitssklaven. Sie waren nur… Anders.“
„Anders?“ Oren griff nach seinem Glas und nippte daran. Lacmisch, ein ziemlich guter Jahrgang.
„Sie sind AO-Nutzer. Wir sind es nicht. Das heißt, wir waren es nicht. AO ist eine Kraft in unserem Körper, neben Blut und Lymphe, die uns permanent durchspült. Sie… Nein, das führt zu weit und erklärt zuwenig.
Jedenfalls bedeutet das AO zu beherrschen über eine gute Gesundheit zu verfügen. Oder um es auf den Punkt zu bringen, es gibt auch eine gute Waffe ab.
Wir, die Naguad, waren damals eine sehr arrogante Rasse, die auf Iotan einen eigenen Kontinent hatte. Wir waren führend in der Technik, führend in den Wissenschaften und führend in der Militärtechnologie. Wir fühlten uns unangreifbar und wollten die Welt erobern.
Der andere Kontinent unserer Heimatwelt, der weitaus Größere, zu dem Zeitpunkt in drei Nationen gespalten, erschien uns ein leichter Gegner. Wir irrten uns. Konflikte auf diesem Kontinent wurden schon lange nicht mehr mit Kriegsgerät geführt. Stattdessen fochten AO-Meister die Kämpfe aus. Dies ließ sie uns schwach erscheinen. Bis sie auf unseren Eroberungsvorstoß damit reagierten, dass sie uns eroberten.
Was danach geschah kann ich dir nicht sagen, aber wir lebten Jahrhunderte unter ihrer Regentschaft und verfolgten als Menschen zweiter Klasse mit, wie die Iotan-Rassen das Weltall eroberten. Unsere Vorfahren fassten einen Entschluss – und einen kühnen Plan. Wir schufen uns Möglichkeiten, eigene AO-Meister auszubilden, hielten diese aber zurück, im Verborgenen. So machen wir es noch immer, Oren.
Und als die Zeit reif war, eroberte eine auserlesene Schar Naguad neunzehn Kriegsschiffe der Iotan-Rassen und Dutzende Frachtschiffe. Mit Ausrüstung für ein Jahrzehnt und zehn Millionen Naguad an Bord verließen wir das Iotan-System. Wir wurden verfolgt, bekämpft und waren gezwungen, uns zu wehren. Einige taten mehr als das und verwüsteten weite Teile Iotan mit den Waffen, die wir erobert hatten.
Einhundertsiebzig Lichtjahre entfernt ließen wir uns nieder und lebten zweitausend Jahre in relativer Ruhe und einigermaßen im Frieden. Dann fanden uns die Iotan-Völker, die sich nun Iovar nannten, wieder. Dies war der Beginn der permanenten Angriffe. Ein Racheakt für zwei Gräuel, die wir ihnen antaten.
Wir… Wir haben es nie geschafft, einen Dialog mit den Iovar zu beginnen. Nicht bei dem Hass, mit den sie uns begegneten, nicht bei der Zerstrittenheit der Häuser, von denen einige einen ewigen Krieg guthießen. Anscheinend tun das einige heute noch, wie du am Attentat gesehen hast.“
„Weiter“, bat Oren.
„Ich will nicht zu weit ausführen, denn Dinge wie Dämonenwelt, AO-Schild und AO-verstärkte Waffen werden dir ohne lange Erklärungen nichts sagen. Nur soviel. Unsere eigenen AO-Meister gab es weiterhin, sie bildeten damals und bilden auch heute noch Leute aus. Da AO in unserer Gesellschaft aber eher mit Angst begegnet wurde, taten sie dies im geheimen, vom Rat gefördert, aber im Mantel der Dunkelheit. Okay, das ist eine pathetische Formulierung. Über die Jahre vergaßen die Naguad den negativen Klang, den AO hatte. Aber dennoch blieben wir im Verborgenen, weil wir den Nutzen erkannten, der sich daraus ergab. Sie gründeten einen Orden, der sich einfach und alleine nur dem Schutz der Naguad verschrieben hatte. Ja, ich gehöre diesem Orden ebenfalls an. Und damit du es genau weißt, ich arbeite nicht mit dir, weil es mein Auftrag ist. Meine Aufträge erledige ich während meines Urlaubs. Dein Adjutant bin ich aus freien Stücken geworden.“
„Sag mal“, begann Oren gedehnt, „darfst du mir das alles denn überhaupt erzählen?“
„Eigentlich nicht, aber die kleine Handvoll Zeugen kriegen wir schon in den Griff und du hast nichts davon, wenn das AO in die Medien kommt. Lass uns weiter im Verborgenen tätig sein, und wir sind öfters solche Überraschungen wie heute.“
„Verstehe.“ Oren Arogad sagte es, aber er war nicht ganz sicher, wie viel Wahrheit dahinter steckte. Er erhob sich, trat ans Aussichtsfenster, welches auf einen der Innenhöfe führte. „Sind wir die Bösen in diesem Spiel? Haben die Iovar alles Recht der Welt, uns anzugreifen?“
„Was ist deine Meinung, Oren Arogad?“
„Das wir Frieden machen sollten. Wir sind mittlerweile achthundert Millionen Naguad, verteilt auf elf Welten und sieben Systeme. Wir haben nichts mehr mit unseren Vorfahren gemeinsam, die von Iotan flohen. Und auch die Iovar haben absolut nichts davon, uns weiterhin über einhundertsiebzig Lichtjahre hinweg anzugreifen.“
„Das ist vielleicht der Grund für die Anreise von Admiral Lencis. Vielleicht bringt sie uns Frieden.“ Nachdenklich nippte der junge Mann an seinem Getränk. „Vielleicht war sie es heute wert, gerettet zu werden.“
„Ja, vielleicht.“

Oren riss sich aus seiner Starre, trank das Glas hastig in mehreren Zügen leer und stellte es wieder auf den Couchtisch. „Die Tür, ja?“
„Die Tür. Soll ich mitkommen?“
„Ich gehe sie etwas fragen. Ich erwarte keinen Kampf und auch nicht, dass du einen Stab deiner Leute zusammenstellen musst.“
Luka Maric seufzte halb beleidigt, halb erleichtert. „Das harte Leben der Adjutanten, der verkannten Helden des Imperiums.“
„Du kriegst deinen Orden schon noch, Junge“, schmunzelte Oren Arogad und öffnete die Verbindungstür.

„Admiral Lencis. Darf ich eintreten?“ Oren wartete die Antwort nicht ab und schloss die Verbindungstür hinter sich. Das Appartement war ebenso aufgebaut wie seines und besaß ebenfalls eine großzügige Fensterfront in den Innenhof. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier Attentäter lauerten, war wesentlich geringer als bei einem Fenster, das an die Außenwand grenzte.
Alles andere würden die Attentäter von Haus Fioran regeln. Nun, sie waren nicht wirklich Attentäter. Sie trainierten die Attentatsprozeduren nur bis zum umfallen, entwickelten neue Methoden und im gleichen Atemzug Gegenmaßnahmen. Sie waren die besttrainierten Abwehrtruppen, die eines der Häuser haben konnte. Leider machte sie das eben auch zu sehr effizienten Attentätern und Oren Arogad zweifelte nicht daran, dass sie auch in dieser Funktion zum Einsatz kamen. Nicht umsonst sagte man in der Bevölkerung zu einem plötzlichen Todesfall Fioran-Tod.
Deshalb machte sich Oren auch keine Gedanken, als er die junge Frau am Fenster stehen sah.
Sie hatte ihren Umhang abgelegt und sah hinaus in den Innenhof, der zu dieser Uhrzeit vor Leben nur so brodelte. Auf der Sohle des Hofs, der sich gut einen Kilometer über dem Boden befand, war ein Schwimmbad installiert, dass gut frequentiert war.
„Admiral?“
„Gehen Sie, Oren Arogad.“
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören, Aris Lencis. Ich wollte Sie nur etwas fragen, bevor wir den offiziellen Part wieder aufnehmen und der Rat zusammentritt.“
„Fragen Sie, Oren Arogad“, antwortete sie mit leiser Stimme. Es klang aber so als würde ein dann aber raus mitschwingen.
„Nun, es stört mich schon eine gewisse Zeit, deshalb bin ich neugierig. Aris ist bei uns ein Jungenname, und so frage ich mich…“
Die Schultern der Frau bebten. Oren zuckte zusammen. Erst das Attentat gleich nach der Landung, dann seine harsche Behandlung, mit der er sie hinter sich hergeschleift hatte, die Zwangseinquartierung im Fioran-Turm. Hatte er sie zu allem Überfluss nun auch noch beleidigt?
„Admiral, ich bitte um…“, begann er, wurde aber vom lauten Lachen der Frau unterbrochen. Sie legte eine Hand an die Stirn und lachte aus vollem Herzen minutenlang.
Atemlos sagte sie: „Ich hatte erwartet, dass Sie etwas über meine Mission fragen, wegen dem Attentat oder den Banges. Aber nein, Sie fragen nach meinem Namen. Oren Arogad, Sie sind wunderbar.“
Der Admiral runzelte die Stirn. „Wenn ich Sie beleidigt habe, Aris Lencis, dann…“
Sie wandte sich um. Ihre Wangen waren fleckig, ein Beweis, dass sie vor kurzem geweint hatte. Aber im Moment strahlte sie über das ganze Gesicht. „Nein, das haben Sie nicht, Oren Arogad. Im Gegenteil. So herzhaft lachen zu können war genau das, was ich brauchte.“
Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf die Couchecke. Bis auf die Farbe war sie mit der in seinem Raum identisch. Also musste auch die Bar identisch sein, fand Oren und bediente sich. Mit zwei Gläsern Irquim, einem leichten, süßen Frauengetränk ging er zum Tisch. Ungefragt stellte er der Iovar das Getränk vor den Platz und setzte sich.
Aris Lencis griff danach und nahm einen langen Schluck. „Wissen Sie, Oren Arogad, ich habe mein Testament gemacht, bevor ich hierher kam. Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal damit gerechnet, es bis in den Orbit von Prime zu schaffen, geschweige denn auf die Oberfläche. Ich war nicht wirklich bereit zu sterben, aber ich habe jede Sekunde damit gerechnet, dass es passiert. Als ich dann mit der Neutronenwaffe beschossen wurde, da…“
Sie nahm noch einen Schluck und leerte das Glas in einem Zug. „Haben wir auch was Stärkeres, Oren Arogad?“
„Oren. Sagen Sie einfach Oren. Erinnern Sie mich bitte nicht dauernd daran, wer ich bin.“
Das Ratsmitglied erhob sich und hatte die Wahl zwischen dem schweren Lacmisch-Wein und Lacschar-Schnaps. Er entschied sich für den Wein. Dann kehrte er zurück und goss ihr ein.
„Danke.“
„Sie haben damit gerechnet, noch vor unserem Orbit abgeschossen zu werden? Für wen halten Sie uns?“, tadelte Oren leise.
Aris Lencis warf ihm einen schiefen Blick zu. „Für ein Volk, dass seit dreitausend Jahren mit uns verfeindet ist und seit eintausend Jahren permanent angegriffen wird und dabei sehr schwere Verluste hinnehmen musste.“
„Wenn man es so sieht…“
„Was ich sagen will, Oren Arogad – Oren! Was ich sagen will ist, dass ich meinen Tod einkalkuliert hatte. Es erschien mir so richtig zu sein, als die fast unbesiegbare Neutronenwaffe auf uns schoss. Dass Ihr AO-Meister eingriff, lange bevor die AO-Meister meiner Leibwache eingreifen konnten, bemerkte ich erst, als ich im Terminal stand und Sie meine Hand hielten. Und erst jetzt habe ich gemerkt, was überhaupt passiert ist. Ich habe gerade erst gemerkt, dass ich noch am Leben bin.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Wein und keuchte erschrocken auf. „Himmel! Was ist das denn?“
„Es gibt dieses Getränk auch als Branntwein.“
„Was? Das geht noch stärker? Dann setze ich das auf die Liste der Erfahrungen, die ich niemals machen will. Gleich nach, auf dieser Mission zu sterben.“
Oren schmunzelte. „Ich werde mein Bestes geben, damit Sie diesen Vorsatz einhalten können, Admiral.“
„Aris. Nennen Sie mich Aris.“
„Gut. Aris.“

Nachdenklich drehte Oren sein Glas in der Hand, nahm ab und an einen Schluck. „Wenn man uns hier so sehen könnte, würde niemand denken, dass wir eigentlich zwei Todfeinde sind, die sich eher an die Kehle gehen sollten als gemeinsam etwas zu trinken.“
„Wollen Sie mir an die Kehle gehen, Oren? Jetzt wäre eine sehr gute Gelegenheit. Ich empfehle die Druckpunkte auf der linken Halsschlagader. Wenn Ihnen erwürgen lieber ist, können Sie entweder meinen Kehlkopf zertrümmern oder eindrücken, bis ich keine Luft mehr kriege.“ Aris reckte den Hals, damit er die beschriebenen Stellen besser sehen konnte.
Oren Arogad winkte ab. „Keine Lust, Sie zu töten, Aris. Abgesehen davon habe ich schon zuviel Mühe in Sie investiert, um Ihnen jetzt Ihren schönen Hals umzudrehen.“
„Danke.“
„Danke wofür, Aris?“
„Danke für den schönen Hals, Oren. Ich fasse das als Kompliment auf. Ebenso, dass Sie mich gerade nicht töten wollen.“
„Ich werde Sie auch in zehn Minuten noch nicht töten wollen, Aris.“
„Oh“, erwiderte sie, wie großzügig.“ Sie spielte mit dem Rand ihres Glases, bewegte den rechten Zeigefinger gegen den Uhrzeigersinn darauf. „Sie haben Recht. Selbst wenn man unsere Konversation belauschen könnte, würde niemand glauben, dass wir eine Iovar und ein Naguad sind. Man könnte uns eher für alte Freunde halten, die miteinander scherzen, Oren.“
„Was uns wieder zum Thema bringt, Aris. Ihr Name.“
„Ach, das.“ Die schlanke Frau winkte ab. „Streiten Sie mit meinem Vater darüber, Kalma Lencis. Er war ja unbedingt der festen Auffassung, sein zweites Kind müsste auch ein Sohn werden, darum ließ er den Namen vor der Geburt festlegen. Da er sich aber nicht ganz sicher war, wählte er einen Namen, den bei uns auch Frauen tragen.“
Aris atmete heftig aus. „Wissen Sie, was es in unserer Kultur bedeutet, als Frau Aris zu heißen? Frauen die diesen Namen bekommen gelten automatisch als Hitzköpfe, Raufbolde und halbe Jungen. Es erscheint unmöglich, sie in Kleider oder andere typische Frauensachen zu stecken. Sie verbringen lieber ihre Zeit in einem Rudel Ballspielender Jungs als mit ihren Haustieren und Puppen. Und es versucht auch niemand sie zu bändigen, denn einige unserer besten und temperamentvollsten Kriegerinnen trugen diesen Namen. Kein Wunder also, dass man nie versuchte, mich typische Mädchendinge machen zu lassen. Als wäre es von vorne herein aussichtslos.“ Sie seufzte gedankenverloren. „Okay, ich gebe es ja zu. Ich HABE lieber mit den Jungs Ball gespielt als mit meinen Puppen. Ja, ich hatte Puppen. Ab und zu fand ich es herrlich, sie anzuziehen, zu kämmen und zu frisieren. Aber meistens war ich im Matsch zuhause und auf meiner Stirn stand dick und fett geschrieben: Bitte an die nächste Kadettenakademie oder eine Sportschule schicken. Ist dann halt die Kadettenakademie geworden.“
„Das war jetzt etwas mehr, als ich wissen wollte“, schmunzelte Oren. „Und wie sieht Ihre Kultur Männer mit dem Namen Aris?“
„Hm. Sie erwarten jetzt vielleicht, dass Männer mit diesem Namen als weibisch gelten oder so was. Nein, eigentlich nicht. Sie gelten als flexibel, selbstsicher, geborene Anführer mit wachem Verstand und sicherem Auge. Leg dich nicht mit einem Aris an, das ist eines unserer Mottos. Der Name wird selten vergeben, weil leider auch die Messlatte für diese Menschen entsprechend hoch gehängt wird. Von einem Aris wird immer mehr erwartet als von anderen Iovar.“ Sie senkte den Blick. „Und oft genug sterben sie daran. Einer meiner Vettern hieß Aris. Er starb vor einhundertsieben Jahren bei einem Angriff auf diese Welt, als er den Rückzug seiner Schiffe deckte. Es heißt, er hatte einen tollen Abgang und hinterließ einen phantastischen Krater. Außerdem nahm er noch ein paar Feinde mit sich.“
„Einhundertsieben Jahre? Hm. Das könnte das Vollahran-Massaker gewesen sein. Eine weit unterlegene Raider-Einheit hat das Doppelte an Schiffen und Naguad vernichtet, bevor ein Viertel der ursprünglichen Truppen entkommen konnte. Bei dem Angriff hat es meinen Großonkel erwischt, der damals unser Haus leitete. Seitdem hat mein Zweig der Familie das Amt inne. Auch bei uns ist dieser Angriff legendär, wenngleich unter etwas anderen Beweggründen. Wir verehren ihn weniger, erkennen aber die Brillanz und das Genie der Strategie.“
„Das haben Sie schön über einen Feind gesagt, der achttausend eigene Soldaten in den Tod geführt hat.“
„Vergessen wir nicht die knapp vierzigtausend Toten und Verletzten, die es auf unserer Seite gegeben hat, einschließlich von siebenundzwanzig Kampfschiffen.“
„Können wir das Thema wechseln? Im Moment ist mir der Tod von Aris doch etwas zu nahe an der Gegenwart.“
„Wie Sie wünschen, Aris. Entschuldigung, das war jetzt nicht spöttisch gemeint.“
Die Iovar schmunzelte. „Schon in Ordnung. Das ist der Fluch der Namen. Geht es Ihnen mit Oren genauso?“
„Eigentlich nicht. Oren ist ein Allerweltsnamen ohne besondere Bedeutung. Er geht auf die Schneiderkunst zurück und bezeichnet einen Lehrling oder Gesellen am Anfang seiner Karriere – zum Glück in einem Dialekt, den heute niemand mehr spricht.“
„Ich frage mich gerade, was besser ist: Einen Namen, den jeder tragen könnte, oder ein Name, der von vorne herein mit unmöglichen Erwartungen verbunden ist.“
„Keine Ahnung. Ich bin mit Oren jedenfalls sehr zufrieden.“
Oren trank einen Schluck aus seinem Glas. „Aris hat bei uns übrigens auch eine Bedeutung. Sie lautet Beschützer, Garde oder Wache. Aris ist der, der über andere wacht.“
„Das kommt in etwa hin. Die Definition muß noch auf Iotan-Zeiten zurückreichen.“
Die beiden sahen sich über den Rand ihrer Gläser hinweg an. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einem Naguad so eine zwangslose Konversation halten könnte. Vor allem nicht bei dem Grund, der mich hierher führt.“

Wieder musterten sich die beiden lange Zeit. Oren trank sein Glas leer, wischte sich über den Mund und sah ihr in die Augen. „In Ordnung. Ich habe verstanden. Ich frage Sie, Aris: Welcher Grund hat Sie hierher geführt?“
„Ich will eine Geisel nehmen. Dafür lasse ich Ihnen die Pläne für die Banges hier.“
„Ein Geisel?“
„Eine Geisel“, bestätigte die Frau. „Am besten ein Ratsmitglied. Erscheint Ihnen das ein zu hoher Preis für die Möglichkeit, eigene Banges zu bauen?“
„Es juckt mir in den Fingern, nach den Hintergründen zu fragen.“
„Warum tun Sie es nicht, Oren?“
Der Arogad schmunzelte. „Weil ich wissen will, ob Sie es bis zur Ratssitzung aushalten, dieses Wissen für sich zu behalten.“
„Sie tun ja gerade so, als würde ich darauf brennen, Ihnen dieses Wissen anzuvertrauen.“
„Ist es etwa nicht so? Alleine schon aus dem Grund, dass ein zweites Attentat Erfolg haben könnte, drängt alles in Ihnen danach, sich mir mitzuteilen. Deswegen und weil…“
„Weil?“, hakte sie nach und zog eine Augenbraue hoch.
„Schon gut“, erwiderte Oren und schenkte sich nach.
„Weil?“, forderte sie mit Nachdruck.
Der Arogad zuckte die Achseln. „Weil Sie mich anscheinend mögen, Aris.“
„In Ihren geheimen Wünschen, Oren.“
„Oh, meine geheimen Wünsche Sie betreffend sehen anders aus, Aris.“
„Oren Arogad, flirten Sie etwa mit mir? Ich bin zweihundert Ihrer Jahre alt.“
„Und ich bin zweihundertzehn Jahre alt. Was meinen Sie, wie ich sonst Admiral sein könnte? Und ja, ich flirte mit Ihnen. Ich mag Sie nämlich auch.“
„Machen Sie eigentlich allen überirdisch schönen feindlichen Frauen, in die Sie sich auf den ersten Blick verlieben unsittliche Anträge?“
„Nein, Sie sind die erste. Und die unsittlichen Anträge kommen erst später, Aris.“
Aris Lencis sah in ihr Glas und lachte prustend. „Oren Arogad, Sie sind ein merkwürdiger Mann. Aber Sie haben Recht, ich mag Sie. Aber bilden Sie sich darauf nicht mehr ein als…“
„Als?“, hakte der Admiral nach.
„Als ohnehin schon.“ Sie leerte ihr Glas und erhob sich. „Guten Abend, Admiral Oren Arogad.“
„Das ist ein Rauswurf, richtig?“ Oren erhob sich ebenfalls.
„Was erwarten Sie von mir. Vor einem Tag war ich bereit, beim Anflug auf Ihre Heimatwelt zu sterben. Vor vier Stunden hat mich Ihr AO-Meister davor bewahrt als diffundierende Wasserdampfwolke zu enden. Vor einer Stunde wäre ich unter dem Druck beinahe zusammengebrochen. Ich habe nun wirklich besseres zu tun, als ausgerechnet mit einem hochrangigen Vertreter des Rates meiner Todfeinde in ewige Liebe zu fallen.“
„Müssen Sie immer gleich in Extreme verfallen, Aris?“
„Nur, wenn die Extreme da sind.“ Wortlos schob sie den Arogad vor sich her, öffnete die Verbindungstür und drückte ihn in sein Appartement. Dann schloss sie die Tür wieder. Es klickte vernehmlich, als sie verriegelt wurde.
„Oren?“
„Ich bin noch da, Aris.“
„Können Sie einen Boten kommen lassen, der den Schlüssel für diese Tür abholt? Es ist mir nicht sicher genug.“
„Aris, ich versichere Ihnen, dass ich meinen Schlüssel nicht benutzen werde.“
„Ich rede von meinem Schlüssel.“
„Autsch. Müssen Sie alles derart übertreiben, Aris?“
„Müssen Sie so sein, wie Sie sind, Oren?“
Der Arogad sah schmunzelnd zu Boden. „Ich lasse einen Boten kommen, Aris.“
„Danke. Guten Abend, Oren.“
„Gute Nacht, Aris.“

Langsam und zögernd zog er den Schlüssel von seiner Seite der Tür ab. Er wandte sich um warf ihn seinem Adjutanten zu, der ihn aus großen, sehr großen Augen ansah.
„Wenn dein Mund noch länger offen steht, mein lieber Luka, kommen noch Vazil-Fliegen und bauen da drin ein Nest. Hier, nimm den Schlüssel an dich und gib ihn Marcela. Ich habe sonst Verwendung für ihn.“
Langsam und nachdrücklich klappte der Adjutant den Mund wieder zu. „Was bei allen neun Türmen hast du da drin getrieben, Oren?“
Der Arogad trat an den Tisch und schenkte sich sein altes Glas voll. „Würdest du mir glauben, dass ich mich Hals über Kopf verliebt habe? Und dass ich dir den Kopf abreiße wenn du versuchst, dich als ihren Retter zu profilieren?“
„Was? Was bitte? Oren, kannst du das wiederholen? Es klang gerade so für mich, als würdest du mich als Konkurrenten in der Gunst einer feindlichen Admirälin in diplomatischer Mission sehen!“
„Genau das.“
Luka Maric schlug sich eine Hand vor den Kopf. „Himmel, Sterne und bei meinem Großvater. Oren Arogad, du treibst mich in den Wahnsinn.“
„Das heißt natürlich nicht, dass ich dich nicht immer noch liebe, Luka. Du bist wie ein kleiner Bruder für mich und…“
„Bitte, bitte, Oren Arogad, immer nur ein Schock pro Stunde.“ Er erhob sich. „Ich gehe zu Marcela und lasse sie einen Boten zu Admiral Lencis schicken. Soll ich sicherheitshalber die Balkontüren verriegeln lassen, damit du dich nicht von Fenster zu Fenster hangelst?“
„Wäre vielleicht besser.“
„Oren, du bist über zweihundert Jahre alt. Aber im Moment wirkst du auf mich wie ein verliebter Vierzigjähriger Halbstarker!“ Grinsend ließ Luka Maric die Schultern sinken. „Streich den letzten Satz wieder. Das sollte mich wirklich nicht wundern. Ist immerhin das erste Mal, seit wir uns kennen, oder?“
Luka ging zur Tür. „Bevor ich dein Appartement verlasse, soll ich ein paar Attentäter in diesem Zimmer platzieren, damit du weder über den Gang noch über die Fensterfront zu deinem Schatz zu kommen versuchst?“
Oren brummte unverständlich zur Antwort.
„War das ein ja?“
„Nun geh endlich. Und komm gefälligst schnell wieder, bevor ich bis zur Decke schwebe.“
„Bevor dich deine Gefühle vollkommen überwältigen und ich dir laut ins Ohr schreie, dass sie der Feind ist: Was wäre so schlimm dran, wenn du dem Gefühl nachgibst?“
„Du bist eine Gefahr für die Allgemeinheit, Luka Maric, weißt du das?“
„Das hat meine Mutter auch immer zu mir gesagt. Ich brauche fünf Minuten. Schenk dir noch ein Glas ein und warte bis es alle ist, bevor du Dummheiten machst, ja?“
„Nun geh endlich!“

Luka verschwand und Oren schenkte sich wie gewünscht sein Glas wieder voll. Er ging zur Verbindungstür. „Aris?“
„Ich bin noch hier, Oren.“
„Dann hast du alles gehört.“
„Ja. Das Leben kann ironisch sein, oder?“
„Ist es das nicht immer?“
Sie antwortete nicht darauf. Oren lehnte sich gegen die Tür und ließ sich daran herabsinken.
„Was wäre schlecht daran? Da hat er vielleicht recht.“
„Wer? Dein kleiner Bruder? So weit habe ich noch gar nicht gedacht, Oren Arogad. Außerdem… Ich bleibe nicht lange. Darf nicht lange bleiben. Es… Es tut mir Leid.“
„Ja. Vergessen wir das Thema.“
„Okay.“
„Okay.“
„Oren?“
„Ich bin hier.“
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“
„Soll ich die Tür aufmachen?“
„Zwecklos. Im Moment habe ich nicht mal genügend Kraft um aufzustehen. Ich zittere am ganzen Leib. Du darfst mir nicht solche Sachen sagen, Aris.“
„Was? Du auch? An den Schlüssel wäre ich ja noch gekommen, nur die Tür hätte ich nicht aufgekriegt.“
Oren Arogad lachte leise. Dann trank er einen Schluck aus seinem Glas. „Wie ist das nur passiert?“
„Du hast mir auf den ersten Blick gefallen. Und als du nach meiner Hand gegriffen hast, als du mich hinter dir her gezogen hast… Weißt du, von einer Aris erwartet man so viel Selbstständigkeit. In dem Moment habe ich mich einfach fallengelassen. Habe mich führen lassen. Ich bin vollkommen gefallen. Und du?“
„Es ist dieser Hosenanzug. Ich konnte eine geschlagene Minute nicht atmen. Du warst auf den ersten Blick so süß… Und dann deine Stimme… Als ich dazu auch noch gemerkt habe, dass du Grips in deinem hübschen Kopf hast und als dieser Attentäter auf dich gefeuert hat, da hat es so laut klick gemacht, dass ich fast taub geworden wäre.“
Oren schlug mit der geballten Faust auf den Boden. „Himmel, was braucht Luka nur so lange?“
Sie antwortete nicht darauf.
„Aris?“
„Der Bote ist an der Tür. Ich lasse ihn eintreten.“
Oren Arogad klopfte leise mit seinem Hinterkopf gegen die Verbindungstür. „Chance vertan.“
„Ja“, hauchte sie zur Antwort.

5.
„Der letzte Angriff“, sagte Aris Lencis ernst und mit weit tragender Stimme, „wurde nicht von uns Iovar geführt. Übrigens auch der Angriff davor. Und der Angriff davor. Es ist schwierig zu erklären, aber wir haben einen Riesenfehler gemacht. Und Sie sind nun die Leidtragenden.“
Diese Eröffnung ließ die Versammlung erschrocken aufkeuchen. Die Räte starrten die Admirälin an wie einen Geist.
„Aber es waren Ihre Schiffe, Raider-Schiffe!“
„Richtig, Meister Daness. Unsere Technologie, um genau zu sein. Es fällt mir schwer das zuzugeben, aber unter uns Iovar gibt es mehrere Fraktionen. Eine dieser Fraktionen… Hat einen etwas ungewöhnlichen Plan erarbeitet, um die Angriffe auf die Naguad effizienter zu machen. Sie haben… Mobile Cores entwickelt. Eine hyperkomplexe Künstliche Intelligenz, gefüttert mit allen Grunddaten unserer Technologie, unserer Wissenschaften und ausgestattet mit automatischen Minifabriken. Dazu kommen Genproben. Trifft ein solcher Core auf Ressourcen, ist er in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Um es auf den Punkt zu bringen, diese Fraktion hat sieben Cores abgeschossen. In den letzten achthundert Jahren haben diese Cores eigene Welten besiedelt, die sie ihrem Programm gemäß ausbeuten. Weiter dem Programm gemäß entwickeln sie eine eigene Industrie und eigene Werften. Aus den Genproben züchten sie mobile Drohnen für den Einsatz auf den Schiffen, die ihre Werften ausspeien. Ein Großteil der letzten Raids gehen auf diese sieben Cores zurück. Nicht alle, zugegeben. Aber die meisten. Wir kamen ihnen eher zufällig auf die Spur, entdeckten ihre Existenz und ihre Verbindung zu dieser… Iovar-Fraktion. Und mussten feststellen, dass ihre KI noch einen Auftrag haben, neben den Raids gegen die verhassten und verräterischen Naguad.“
Aris Lencis sah in die Runde. „Bitte nehmen Sie meine letzte Bemerkung nicht persönlich. Die Cores bilden eine Art autonome Gesellschaft im Niemandsland zwischen unseren beiden Reichen. Und nur eines ist sicher: Die Naguad sind für sie ebensolche Feinde wie wir Iovar – bis auf die Fraktion, die sie erschaffen hat. Wir befinden uns im Krieg mit ihnen.“
Wieder wurde erschrocken geraunt.
„Wir schätzen diese Gefahr recht hoch ein. Hoch genug, um einen Vize-Admiral mit einem unserer neuesten Kampfschiffe auf eine Selbstmordmission mitten ins Kerngebiet eines Imperiums zu schicken, mit dem wir bis aufs Blut verfeindet sind. Wir haben einfach nicht die Zeit, um uns weiterhin mit den Raids zu befassen. Stattdessen bieten wir den Naguad an, sich mit uns zu verbünden oder zumindest einen Waffenstillstand mit uns zu schließen. Sagen wir für die nächsten hundert Jahre. Bis wir die Bedrohung durch die Cores eingedämmt oder beseitigt haben. Als Gegenleistung bietet Ihnen meine Regierung die Pläne für die Banges an. Sie sind sowohl im Weltall, in der Luft, an Land als auch unter Wasser sehr effizient und beweglich. Mit diesen mobilen Waffenplattformen konnten wir den Cores bereits empfindliche Schläge versetzen. Aber die KIs der Cores sind auf einem sehr hohen Stand. Sie entwickeln zweifellos eigene Banges für den Kampf gegen uns. Noch ein Grund, warum die Naguad den Waffenstillstand annehmen sollten. Beim nächsten Raid setzen die Cores vielleicht schon diese Banges ein. Und sie abzuwehren ist schwer, wenn die Naguad das Waffensystem nicht kennen.“
„Wenn wir den Waffenstillstand für einhundert Jahre annehmen und die Pläne für die Banges akzeptieren, was fordern die Iovar als Sicherheit, Admiral Lencis?“
„Nun, Meister Arogad. Wir fordern eine Geisel aus dem Rat. Wir garantieren für die Sicherheit dieser Person, solange der Waffenstillstand eingehalten wird.“
„Das ist doch verrückt! Wer würde von uns freiwillig einhundert Jahre im Feindesland verbringen? Wer geht auf einen Planeten, auf dem ihm das Leben schon schwer gemacht werden wird, nur weil er ein Naguad ist?“
Oren Arogad erhob sich. „Ich werde es tun. Wenn der Rat entscheidet, das Angebot der Iovar anzunehmen!“
„Oren…“, murmelte Aris Lencis erschrocken.
„Sind Sie sich da sicher, Oren Arogad?“, fragte Meister Elwenfelt nach. „Wenn es nach mir ginge, würde ich diese Iovar lieber wie einen geprügelten Mavir vom Planeten und in Schimpf und Schande nach Hause jagen! Ich traue diesem Volk nicht einen einzigen Schritt weit.“
Oren sah zu Aris herüber, die sich gerade setzen musste, weil ihre Beine zu sehr zitterten. „Ich bin mir absolut sicher.“
„Wir beraten darüber“, mischte sich Logg Fioran ein.
Aber Oren hörte ihn kaum. Er sah Aris in die Augen und versank darin…

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Anime Evolution: Past
Episode zwei: Der Core

Prolog:
Die Unwirklichkeit meiner Situation war mir sehr bewusst. Ich befand mich über fünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt in einem Sonnensystem, das ich eigentlich als feindlich betrachten musste, wurde im Turm der mächtigsten Familie beherbergt und lauschte den Worten eine zweitausend Jahre alten Naguads mit einem Eifer, der mich selbst verwunderte.
Dieser Naguad war Oberhaupt der Familie Arogad, und mein Urgroßvater. Zudem wollte er mich als Erben seiner Position einsetzen – mich, den er nie zuvor gesehen und von dem er bestenfalls durch meine Mutter gehört hatte. Abgesehen von den militärischen Berichten über den Verrückten, der im Kanto-System gewütet hatte…
Das mit Mutter war auch so ein Fall. Acht Jahre meines Lebens dachte ich, sie wäre tot. Toter ging es gar nicht. Ich war sogar regelmäßig mit meiner Familie an ihrem Grab gewesen.
Und nun fand ich heraus, dass sie dennoch lebte, wenn man es leben nennen konnte, wenn der eigene Körper in einem Biotank ruhte und mit einem Supercomputer vernetzt war.
Das war so gut wie tot, aber ohne die Biotank würde sie wirklich sterben, ohnehin war sie dem Tod seit dem Autounfall auf der Erde näher gewesen als dem Leben. Und sie würde den Tank auch wohl nie wieder verlassen.
Das bedeutete, ich würde sie nie wieder umarmen können. Nie wieder ihre Hände spüren, wenn sie mir lobend über das Haar strich. Nie wieder ihre wirkliche Stimme hören dürfen.
Nur die künstliche Stimme, welche das Hologramm generierte, in dessen Gestalt sie durch den Turm der Arogad wandelte.
Und dennoch: Ich saß hier und hörte dabei zu, wie mir Oren Arogad aus seiner Vergangenheit erzählte. Aus seiner tiefsten Vergangenheit, über tausend Jahre zurück. Ich lauschte fasziniert, vor allem, da ich mir diesen großen, grauhaarigen Mann auf den ersten Blick gar nicht verliebt hatte vorstellen können, so imposant und mächtig hatte er auf mich gewirkt. Erst als er aufgetaut war, mich mit den Augen eines stolzen Vaters angesehen hatte, war er für mich näher in den Begriff Mensch gerückt.
Aber das, was ich leichtfertig eine Liebesgeschichte nannte, war weit mehr. Es ging um Liebe, um eine unmögliche Liebe. Aber zugleich war es auch der Grundpfeiler der Geschichte eines ganzen Imperiums, eines ewigen Streits, in den zuerst die Anelph aus dem Kanto-System hinein gezogen worden waren, und dann wir Menschen.
Ich sah zu Joan Reilley herüber, die ebenso fasziniert an Orens Lippen hing. Zu Mutter, deren Hologramm genau mit der Miene des Wissenden lächelte, die man von jemanden erwartete, der die Geschichte schon kannte, und dennoch nicht genug davon bekam.

Oren hatte eine kleine Pause eingelegt, die Nacht war über uns hereingebrochen und der Turm wurde in Dunkelheit gehüllt. Hier oben, fast drei Kilometer über dem Boden, bekamen wir nicht viel von der Lichterflut mit, welche die Hauptstadt mit ihren abertausenden Lichtquellen veranstaltete. Sie bildeten einen fernen, faszinierenden Teppich, der kaum kompakter als der Sternenhimmel wirkte, der nun ebenfalls über uns leuchtete.
Ich konnte verstehen, warum das Büro des Oberhaupts der Arogad ausgerechnet in die oberste Spitze des Turms eingelassen worden war.
Nur zwei kleine Lichter erhellten den Raum notdürftig, um das Licht der Sterne nicht zu beeinträchtigen. Eines stand auf Orens Schreibtisch, an dem er Platz genommen hatte, um einen letzten wichtigen Anruf zu tätigen. Die andere auf unserem Tisch, zwischen Tee und Gebäck.
Endlich kam Oren Arogad, Oberhaupt der Familie und ehemaliger Flottenadmiral wieder zurück. Er lächelte in die Runde. „Gute Neuigkeiten, Aris Arogad.“
„Akira“, erklärte ich beharrlich. Ich hatte bis vor kurzem nicht einmal gewusst, dass ich ein Arogad war, geschweige denn, dass mir bei meiner Geburt der Naguad-Name Aris gegeben worden war. Die letzten zwanzig Jahre war ich als Akira durch die Weltgeschichte geschritten, und Opa würde sich dran gewöhnen müssen, dass ich von mir selbst noch immer als Akira dachte.
Der alte Mann verzog die Miene zu einem tadelnden, mürrischen Blick. „Aris“, sagte er stur.
Ich seufzte und zuckte mit den Schultern.
Dies erhellte seine Miene wieder. Er setzte sich auf seinen Platz und begann erneut. „Wie ich schon sagte, es gibt gute Neuigkeiten. Ich habe gerade mit dem Rat gesprochen. Vorerst wird es keine Anklage gegen dich geben, mein Junge. Die Elwenfelt haben einen solchen Antrag eingereicht, aber die Mehrheit im Rat hat dies abgelehnt. Dennoch wird es eine Untersuchung geben und du wirst der Kommission Rede und Antwort stehen müssen.
Danach kann es immer noch sein, dass du als Kriegsgefangener inhaftiert wirst – außer, du gibst deinen Rang auf, wirst Privatmann und trittst in den Rat der Familie Arogad ein.“
„Opa!“, tadelte ich.
„War einen Versuch wert“, brummte er amüsiert. „Was dich angeht, Joan, so wirst du als Zivilistin behandelt. Es liegen keine Anklagen gegen dich vor, aber eine zeitweilige Verfügung. Du darfst nicht ausreisen und musst der Untersuchungskommission ebenfalls Rede und Antwort stehen.“
„Das… klingt gut“, sagte sie vorsichtig.
Oren seufzte leise. „Mehr konnte ich nicht für euch tun. Obwohl es mir ganz recht ist, dass Ihr nicht nach Lorania zurückkehren könnt.“
Er sah auf, lächelte. „Aber was rede ich hier. Ich war mitten in einer Geschichte. Eigentlich ist es auch eure Geschichte, denn letztendlich seid Ihr genauso betroffen, involviert wie wir auf Prime. Wie mache ich weiter? Hm. So? Dann lasse ich aber eine Menge aus. Dennoch, es würde vieles besser erklären.
Okay, also so rum. Ich mache jetzt einen kleinen Zeitsprung von neunzig Jahren. Neunzig Jahre in die Zukunft meiner Geschichte. Und gehe mitten ins Geschehen hinein!“

1.
„Schwere Explosionen auf den Kontinenten Angor, Lepass und Pylis!“, meldete der Commander ernst.
Oren Arogad nickte schwer. Das Bombardement war für den Plan unvermeidlich; es zerstörte die Infrastruktur wichtiger Ressourcen des Gegners.
„Verluste, Commander Ryonan?“
Der Iovar sah kurz auf seinen Bericht. „Die KUPULVAR hat sich schwer beschädigt aus dem Gefecht mit den vier Drohnenfregatten zurückgezogen. Sie wird nicht verfolgt. Die QUAPESCH hat schweren Schaden genommen, drängt die Drohnen-Korvetten aber wie geplant bis hinter den Mond ab.“
Oren Arogad verschränkte die Hände hinter dem Rücken und faltete sie ineinander. Dann ballte er sie. Das knirschende Geräusch, das dabei entstand, erinnerte an knarzendes Leder.
Diese Operation war sein Kind, seine Idee gewesen. Er hatte es mit einem eigens zusammengestellten Generalstab der Iovar von vorne bis hinten durchgeplant. Verluste waren darin vorgesehen, aber Oren wollte im Innern einer Sonne verglühen, wenn er auch nur den Tod eines einzigen Iovar vorsätzlich oder aus Nachlässigkeit verschuldete. Dies war weit mehr als eine Mission, die er für die Feinde des Imperiums plante. Dies war seine Möglichkeit, die Reputation der Naguad in den Augen der Iovar entscheidend zu verbessern. Den Krieg würde er damit nicht beenden können, gewiss nicht, aber die Gnadenlosigkeit würde er vielleicht herausnehmen können. Zudem kamen die Ziele dieses Angriffs auch dem Imperium zugute, nicht nur dem Kaiserreich.
„Was macht die Siebte Banges-Division?“
Zwei Flotten, also zwanzig Schiffe aller Klassen waren an der Operation beteiligt. Dazu begleiteten sie zwei Divisionen Banges, absolute Elite-Einheiten. Die Vierte Division schützte die Flotte vor den feindlichen Drohnen-Banges, aber die Siebte führte die Vorbereitung für die Landeoperation aus. Ihnen würden drei Brigaden Bodentruppen folgen, ebenfalls mit das Beste, was die Iovar aufzubieten hatten. Sie würden den Banges helfen, jeden Widerstand niederzukämpfen.
Und alles nur für ein Ziel, für den Kern der Hauptstadt. Für einen Tiefenbunker in einem Kilometer Tiefe, bestens gegen orbitale Bombardements geschützt und Dutzendfach abgesichert.
Aber für ihre Mission verbot sich ein orbitales Bombardement sowieso. Sie wollten sich die Zugänge in die Tiefe ja nicht selbst verbauen. Was sie wollten, war der Core.
„Die Siebte ist bereit. Von Admiral Ohana Lencis soll ich Ihnen Grüße bestellen. Sie führt den Angriff mit ihrer Befehlskompanie an.“
Wieder ballte Oren die Hände zu Fäusten. Natürlich hatte es sich Aris nicht nehmen lassen, den Angriff selbst zu führen. Immerhin galt sie als beste Banges-Pilotin des Kaiserreichs. Und die übrigen neun Piloten der Bestenliste gaben ihr Geleitschutz.
Dennoch… Da unten erwartete sie nicht einfach nur der Core der Villass, der verräterischen Bevölkerungsgruppe der Iovar, sondern auch das, was der Core in über einhundert Jahren an Militär, Industrie und Abwehrmaßnahmen hatte aufbauen können.
„Dann los“, sagte Oren mit tonloser Stimme und bildete sich ein zu spüren, wie sein Herz explodierte.
Der Plan war simpel gewesen. Seit er zu den Iovar gekommen war, als Geisel, um einen instabilen Frieden zwischen ihren Reichen zu erhalten, war das Erbe der Villass über die Iovar gekommen. Die ersten dreißig Jahre, die er mit seinem Stab in Aris Lencis´ Familie gelebt hatte, waren ihm unendlich lange erschienen, er hatte nichts tun dürfen außer sich frei auf dem Landgut und dem Planeten bewegen zu können, beschützt und begleitet von Iovar-Aufpassern und den Naguad, die ihm in diese gefährliche Fremde gefolgt waren.
Im einunddreißigsten Jahr hatte er es gewagt, der Admiralität Tipps zu geben – was dazu geführt hatte, dass man ihn geschlagene zehn Jahre ignorierte. Im einundvierzigsten Jahr aber hatte Aris auf den Tisch gehauen und die Admiräle gezwungen, sich mit ihm hinzusetzen.
Die Strategien der Naguad waren daraufhin in die Verteidigungstaktiken der Iovar eingeflossen und waren eine üble Überraschung für die Drohnen des Core geworden.
Natürlich hatten die Kaiserlichen diese Strategien von ihren Raids her schon gekannt, ihnen war nur nie in den Sinn gekommen, sie mit ihren eigenen zu kombinieren. Es sollte zwanzig weitere Jahre dauern, bevor man ihm einen Beraterposten in der Admiralität zugestand, und noch einmal vierzehn Jahre, bevor ihm selbst der Kaiser zuhören wollte.
Dann war dieser Plan entstanden, ein Plan, der schon vor fünfzig, nein, hundert Jahren hätte erfolgen müssen. Sie wollten sich einen der neun Cores der Villass holen, die Technologie analysieren und damit noch effizientere Abwehrmaßnahmen gegen die Drohnen entwickeln.
Außerdem würde ihnen diese Beute dabei helfen, zukünftige Verbesserungen in der Technik der Drohnen zu erkennen und deren Abwehr vorzubereiten, lange bevor sie eingesetzt wurden. Aber das war noch Zukunftsmusik. Noch waren sie nicht mal auf Yossha gelandet, einer einsamen Sauerstoffwelt, die in den Katalogen der Iovar als unbewohnt, rohstoffarm, schlechtes Klima geführt wurde – und seit ihrer Entdeckung vor achthundert Jahren nicht wieder besucht worden war.
Sie hatten diese Welt eher zufällig entdeckt und gehofft, ihrerseits nicht entdeckt worden zu sein. Und nun standen sie im Orbit dieser Welt, drängten die Verteidiger ab und bereiteten den Diebstahl des Cores vor.
Was für ein Plan.

Oren Arogad starrte auf das große Hologramm auf der Brücke der KAISER ARIS. Es zeigte die beginnende Landeoperation der Siebten. Sechshundert Banges, die Besten der Besten würden sich in die Atmosphäre stürzen, die verteidigenden Drohnen-Banges vernichten und dann die Verteidigungsstellungen eine nach der anderen vernichten. Danach würde die Infanterie landen und in den Tiefenbunker eindringen.
Ab hier betraten sie Neuland. Die äußeren Anlagen zu eruieren, die Schiffe zu zählen und zu klassifizieren war einfach gewesen. Aber sie hatten eine menschenleere Welt nicht infiltrieren können, geschweige denn den Bunker selbst. Sie hatten keine Ahnung, ob der Core einfach in den Planeten einbetoniert worden war oder ob sie ihn überhaupt nach oben schaffen konnten. Und vor allem wussten sie nicht, wann und wie viel Verstärkung kommen würde.
Es hatten genügend Schiffe das System verlassen um den Verdacht nahe zu legen, dass zumindest eines bei einem der anderen acht Cores Hilfe holen würde.
Nun, für die gesamte Operation hatten sie einundzwanzig Tage veranschlagt. Neun für den Anflug, neun für den Rückflug und drei für diese Attacke.
„Bodenstellungen feuern, Admiral. Wir haben erste Verluste bei den Banges.“
Oren runzelte die Stirn. Natürlich hatten sie versucht, alle erkannten Stellungen mittels Präzisionsbeschuss auszuradieren, sofern das aus dem Orbit möglich war. Aber hunderte kleinere Stellungen mussten sie einfach übersehen haben, ganz einmal davon abgesehen, dass das Areal um den Tiefenbunker geschont worden war. Und seine Frau Aris war nun mittendrin.
Außerdem war sein Sohn Jonn da draußen. Er hatte seinen Vater nicht alleine zu den Iovar gehen lassen wollen, ebenso wenig wie sein langjähriger Freund Luka Maric und Dutzende weitere Offiziere und Naguad des Hauses. Aber nur Jonn hatte es letztendlich auf ein Kommando geschafft. Sein Schiff hieß BENST, und Oren hoffte, dass sich der junge Mann der Ehre dieser Namensgebung bewusst war.

Oren ließ das Hologramm zoomen, bis hinunter in die Stratosphäre. Tausende von Raketen, Energieimpulsen und Drohnen-Banges sausten dort herum und versuchten reiche Ernte unter den Banges der Siebten zu halten. Aber diese Piloten gehörten nicht umsonst zur absoluten Elite. Und Computerprogramme waren der Erfahrung und den Instinkten langjähriger Kämpfer nicht gewachsen.
„Neunzehn Verluste.“
Hinter den beweglichen Banges, die stellenweise noch immer vom Orbitalbombardement der Flotte unterstützt wurden, kamen die schnellen, schwer gepanzerten Infanterietender herab, bereit, ihre drei Brigaden der besten Infanterie dieses Teils der Galaxis zu entlassen.
Bis sie in effektive Schussreichweite der verbliebenen Waffen kamen, würden die Banges bereits alles was feuern konnte, ausradiert haben.
„Dreiundzwanzig“, meldete der Commander ohne Ton in der Stimme. Etwas wärmer fügte er hinzu: „Der Admiral ist nicht dabei.“
Kurz und fauchend atmete Oren aus. Er hätte ihr verbieten sollen, in einen Banges zu steigen, diesen Angriff anzuführen. Er hätte sie fesseln und in ihre Kabine sperren lassen sollen. Er hätte… Er hätte ihr niemals die Chance genommen, bei ihren Leuten zu bleiben. Ihnen Vorbild zu sein, das gleiche zu riskieren wie sie.
Oren verstand die Frau nur zu gut. Das machte es nicht leichter, aber wenigstens stolz.

Die Banges tauchten nun in die Troposphäre hinab, die meisten lang reichenden Abwehrstellungen waren ausgeschaltet worden. Aber nun würden die Nahkampfwaffen eingesetzt werden. Schnellfeuerwaffen mit panzerbrechenden Geschossen, Anti Banges-Minen, Clusterraketen, und was der Schweinereien mehr waren.
Und nicht jede Stellung würden seine Schiffe im Orbit rechtzeitig vernichten können, um Leben, wichtige Leben zu retten.
Dann würden die Drohnensoldaten kommen. Wesen, die äußerlich wie Iovar aussahen, es aber nicht waren. Zuviel fehlte ihnen, abgesehen von Verstand und einem funktionsfähigen Gehirn. Zu einfach waren diese Roboter gestrickt. Sie waren eigentlich nur da, um einige bestimmte Bewegungen auszuführen, die ein vollautomatischer Computer nicht verrichten konnte. Davon abgesehen waren sie nur schwer zu töten, sehr schnell und konnten mit einem Gewehr und einem Bajonett umgehen. Das war aber auch schon alles, was sie einem Iovar ähnlich machte. Genauso gut hätte man Steine und Säugetiere miteinander vergleichen können.

Die ersten Banges landeten, schufen eine sichere Zone, die sie weiträumig sicherten. Die Hauptstreitmacht war noch gut fünf Kilometer vom Tiefenbunker entfernt; der Plan sah nicht vor, ein unnötiges Risiko einzugehen.
In der sicheren Zone setzte zuerst Aris auf. Danach ihre Begleiter. Ihnen folgte der erste Infanterietender, entließ Panzerfahrzeuge.
Die Perspektive im Hologramm änderte sich, rechnete nun auch die Bilddaten der Bodenstation hinzu, zeigte das Gelände aus der Waagerechten.
Die Fahrzeuge, bewegliche Schwebewagen, schossen hervor, und rasten, flankiert von für den Nahkampf konfigurierten Banges, auf die ferne Drohnenstadt und den Tiefenbunker zu.
Natürlich waren etliche Gebäude Fallen, natürlich dienten andere Gebäude als Waffendepots oder Munitionsdepots für die Drohnen-Banges, welche die Stadt verteidigten.
Natürlich war jeder Meter von den eigenen Banges hart erkämpft. Aber schließlich brachen sie bis zum Bunker durch. Ab einem bestimmten Punkt bedeutete dies, ohne die großen Mechas auszukommen, zu klein waren die Hallen und Gänge innerhalb des Bunkers.

Dies war die große Stunde der Infanterie. Der AO-Infanterie, um genau zu sein. Die Iovar konnten nicht aus jedem Menschen einen AO-Meister machen, das war auch gar nicht nötig. Aber die Fähigkeit, seine Selbstheilung in einem gewissen Maß zu beeinflussen, seine Leistungsfähigkeit kurzfristig zu steigern oder sogar eine Art Schild aus dem AO zu bilden machten die Infanteristen jeder Armee überlegen, die Oren je gesehen hatte.
Er stellte sich vor, wie drei, vier dieser Divisionen über Naguad Prime herfielen und die Hauptstadt eroberten. Eine Zeitlang würden sie sich sogar halten können, Jahre vielleicht, bevor die schiere Masse der Naguad sie erdrücken würde.
Die Helmkameras der Kompanieführer lieferten verschiedenste Bilder von der Aktion, als die mächtigen Landefähren neben dem Bunker aufsetzten und ihre Fracht entließen. Sturminfanterie, Pioniere, mobile Artillerie, Scharfschützenkommandos, Sanitäterteams, alles war vertreten, alles lieferte Bilder für die riesige Bildschirmwand in Oren Arogads Taktikzentrum.
Den Infanteristen traten Drohnen entgegen, sobald die Tore des Bunkers eingerissen waren. Aber sie waren nur… Ein kleines Ärgernis.
Auf Dutzenden Bildschirmen sah er erfahrene AO-Kämpfer Partikelwaffenschüsse abwehren – ein Bild, dass ihn frappierend an den ersten diplomatischen Besuch einer Iovar auf Naguad Prime seit Jahrtausenden erinnerte. Und in ihm einen Verdacht, einen Zusammenhang keimen ließ, der ihn erschaudern ließ.
Er sah einen Offizier, aufgenommen von einem anderen, der mit einem traditionellen Schwert, welches von seinem AO umgeben war, auf einen Granatwerfer zu sprang, mehrere der im schnellen Rhythmus abgefeuerten Granaten spaltete und dann über der Stellung niederfuhr.
Wenn er je Hemmungen gehabt hatte, intelligentes Leben zu vernichten, bei den Drohnen brauchte er keine zu haben. Sie waren weniger als Leben. Notdürftig organisierte organische Materie mit dem leidlichen Aussehen von Iovar. Gesteuert von einem Riesencomputer in den Eingeweiden dieser Welt, vielleicht vom Core selbst.

Die Pioniere stürmten vor, gedeckt von Snipern, sprengten die Rampen auf, die weiter in die Tiefe führten.
Abwehrfeuer schwerer Panzer schlug ihnen entgegen, aber die gepanzerte Infanterie setzte sofort nach. Dutzende Männer fielen aus, manche starben. Doch die Besten der Besten erledigten die Panzer mit erschreckender Leichtigkeit.
„Wundert mich, dass Ihr bei euren Raids nie mit Infanterie gekommen seid“, sagte Oren und knirschte mit den Zähnen.
„Was? Und ein paar Tausend Mann auf einen Planeten bringen mit dem zwingenden Hintergrund, sie auch wieder evakuieren zu müssen?“ Ryonan grinste breit. „Nicht unser Stil. Unsere Raids waren immer darauf ausgelegt…“
„Immer darauf ausgelegt, uns unsere eigene Verletzlichkeit vor Augen zu führen und vom Kaiserreich fern zu halten“, schloss Oren Arogad den Satz.
„Moment mal, nein, das können Sie doch nicht tun!“, hörte der Admiral einen der Kommoffiziere fluchen.
„Was ist denn, Gordian?“
Der Mann wandte sich um. „Sir, Admiral Lencis hat ihren Banges verlassen. Sie folgt den anderen Soldaten in die Tiefe!“
„Bei allem was mir heilig ist! Geben Sie sie mir, schnell!“
„Verbindung steht, Admiral.“
„Aris, hörst du mich? Aris?“
„Laut und deutlich, Oren. Was willst du mir sagen? Dass ich den Zeitplan durcheinander bringe? Das jederzeit eine Flotte der Cores im System auftauchen könnte? Das die Evakuierung nur unnötig verlängert wird, je tiefer ich in den Bunker gehe? Das ich ein viel zu großes persönliches Risiko eingehe, je tiefer ich komme? Keine Sorge, Luka ist bei mir.“
„Mit dem werde ich noch sprechen. Wie kann er dich so eine Dummheit begehen lassen?“
„Er hatte die Wahl, schmollen und oben bleiben oder auf mich aufpassen. Seine Antwort siehst du ja.“
„Luka, komm du mir nach Hause.“
Ein leises Lachen antwortete. „Er sagte gerade, er kommt lieber mit einer lebendigen Aris nach Hause als auf eine Leiche zu warten.“
„Er ist ein Mistkerl. Du bist ein Mistkerl!“
„Mistfrau, bitte. Soviel Zeit muß sein. Außerdem liegen wir weit vor dem Zeitplan. Dein Plan, mein Liebling, sah vor, nach vier Stunden den Bunker zu erreichen. Wir liegen bei dreieinhalb. Für die unterste Ebene mit dem Core haben wir weitere acht Stunden. Ich verspreche dir, wir packen es in fünf. Umso schneller können wir hier wieder verschwinden.“
Oren Arogad seufzte tief und verzweifelt. „Tu was du nicht lassen kannst. Hast du wenigstens einen Grund dafür, deinen Hintern zu riskieren?“
„Wie wäre es mit dem guten alten: Lass deine Leute nie tun was du selbst nicht zu tun bereit bist?“
„Gutes Argument“, stellte Oren widerstrebend fest.
Er deaktivierte die Verbindung von seiner Seite wieder, um sich der Gesamtsituation zu zu wenden.

„Wie ich das sehe, Sir, war die Aktion bisher ein Erfolg“, ließ sich der Commander vernehmen. „Der Core und die Villass, die ihn steuern, wurden von uns vollkommen überrascht. Und wenn nicht zufällig gerade eine Flotte auf dem Weg hierher ist, dann sind wir schon zwei Wochen weg bevor Verstärkung eintrifft.“
„Richtig“, stimmte Oren zu. „Es gibt nur die Möglichkeit, einem der springenden Schiffe eine entsprechende Botschaft mitzugeben. Und das erste Schiff, das nach unserer Ankunft gesprungen ist, tat dies vor vier Tagen. Eigentlich müssten wir mehr als genügend Zeit haben. Leider steckt der Teufel im Detail.“
„Selbst wenn die Truppen der anderen Cores in diesem Moment das System betreten würden, wir hätten neun Tage, bevor sie hier sind. Dann hängt es von Anflugwinkel und unserem Fluchtkurs ab“, fügte der Commander beruhigend hinzu.
Oren ließ sich von diesen Worte beruhigen. Für vielleicht zehn Minuten.

Sechs Stunden später, die Sanitäter hatten Dutzende Toter und Verletzter geborgen und zurück an die Oberfläche gebracht, meldete die Sturmspitze, die letzte Sohle erreicht zu haben.
Oren Arogad sah auf. Nun würde es vielleicht die schwersten Kämpfe geben. „Alarmbefehl für das Naguad-Expertenteam“, sagte er leise.
Commander Ryonan nickte ernst und gab den Befehl weiter. Das war der Deal dafür gewesen, dass der Arogad diese Aktion erfolgreich abschloss. Von Anfang an sollten Naguad-Wissenschaftler aus seinem Gefolge an der Erforschung des Cores beteiligt sein, um ebenso viel über diese Technik zu erfahren wie die Iovar selbst.
Innerlich atmete Oren auf, als sich der direkte Verbindungsmann zum Kaiser an dieses Versprechen hielt.

Wieder verging eine Stunde. In dieser Zeit wurden sie von Bildern überschüttet, hörten die Todesschreie Dutzender Elitesoldaten, das klicken mechanischer Fallen und das Ende der Scheinleben hunderter Drohneninfanteristen.
Und dann kam endlich der erleichternde Ausruf der Sturmspitze, als schon kein Kompanieführer mit Kamera mehr an den Gefechten beteiligt war: „Core-Raum gesichert.“
„Name und Rang“, sagte Oren tonlos.
„Iven Rodag Centre, Admiral. Truppführer Centre.“
„Sie sind ab sofort Leutnant. Und Sie sind für alle Truppen verantwortlich, die sich im Moment im Core-Raum befinden“, befahl Oren ernst. Vor allem für die Sicherheit von Aris Lencis, aber das sprach er nicht laut aus.
„Verstanden, Admiral“, antwortete der Mann ruhig. Ob er einfach nur zu müde war um sich zu freuen, überrascht oder sogar schockiert zu sein oder ob er wirklich so gelassen war wie er klang, Oren konnte es nicht sagen.
Keine zehn Minuten später trafen die ersten Teams ein, die den Kampftruppen fast auf dem Fuß gefolgt waren. Die ersten waren die Pioniere, die Selbstzerstörungseinrichtungen aufzuspüren versuchten, Abwehrvorrichtungen und dergleichen. Sie waren es auch, die sämtliche Leitungen des Cores zu seiner Umgebung kappten.
Oren war überrascht, wie klein der Core doch war. Er hatte nicht viel mehr Volumen als fünf oder sechs Naguad einnehmen würden. Und dieses kleine Ding hatte über Jahrhunderte eine ganze Welt besiedelt, ausgebeutet und eine eigene Flotte geschaffen.
Übergangslos fühlte er eine Gier in sich aufwallen. Er wollte diese Technik in seinen Besitz bringen. Um wie viel leichter würde die Expansion seines Volkes, wenn sie nur solche Cores ausschickten und Jahrzehnte später fertig präparierte Welten vorfanden, auf denen Siedler leben konnten?
Aber es hatte auch einen schlechten Beigeschmack. Die Cores waren Kriegsgeräte. Und Oren Arogad sah die Gefahr, dass sie es wieder sein würden. Nur diesmal für die Naguad und das Kaiserreich.
Eine Meldung belehrte ihn darüber, dass Admiral Lencis nun die Core-Ebene erreicht hatte.
Die Nachricht war von Luka Maric gekommen, der ihm zugleich versicherte, es ginge allen gut. Nun, sollte sie sich doch da unten umsehen. Vielleicht steigerte ihre Anwesenheit den Arbeitseifer der Leute. Denn eigentlich wollte Oren nur eines: Ganz, ganz schnell wieder hier fort. Sein Nacken juckte jetzt schon seit Stunden sehr bedenklich und sein Magen versuchte ihm weis zu machen, im freien Fall zu sein.

„Beim Kaiser“, sagte jemand tonlos. Es war der gleiche Kommunikationsoffizier, der zuvor gemeldet hatte, dass Admiral Lencis ausgestiegen war, um den Bunker zu erobern.
Oren trat hinter ihm. Mit Aris waren selbstverständlich auch Männer mit Kameras mitgekommen und zeigten nun ein einheitliches Bild der Core-Höhle. Eine der Kameras, es musste die von Luka sein, zeigte die Admirälin selbst. Und das, was sie gerade sah.
Oren fühlte sich, als würde ihm jemand die Beine unter dem Körper fort treten.
Giordan würgte, hielt sich aber an seinem Platz.
Die Kamera von Luka machte einen Satz, verlor Aris aus dem Blickfeld. Luka sprintete an Dutzenden, hunderten großen, sargähnlichen Behältern vorbei, in denen träge die leblosen Körper von Iovar schwammen, auf einen Bereich tiefer in der Halle zu, wo in Sechserreihen übereinander gestapelt weitere Behälter waren. Nur… In ihnen waren lediglich Gehirne.
Hirnlose Drohnen öffneten gerade einen der großen Behälter, entnahmen einen Körper, der durch leichte Zuckungen bewies nicht tot zu sein, und schafften ihn mit einer automatischen Bahre zu den Behältern mit den Gehirnen. Es brauchte nicht die große Maschine in direkter Nähe zu den Regalreihen, in denen eine Bahre bequem Platz fand, um zu verstehen, was als nächstes mit dem Körper passieren sollte. Und es brauchte auch nicht die fünf, sechs Leichen, die in einem Wagen hinter der Maschine herfuhren.
Der Körper bäumte sich plötzlich auf, es war ein junger Mann. Schaum trat ihm vor den Mund und er schrie nach Leibeskräften. Die Drohnen aber hielten ihn auf die Trage gedrückt.
Das war eine Sekunde, bevor Luka heran war und kurzen Prozess machte.
Eine Sekunde später legte er eine Hand auf die Maschine, die Oren bei sich, gefangen in einer Mischung aus Entsetzen und Faszination, Gehirnernter nannte, und ließ sie von einer AO-Explosion gegen die nächste Wand schleudern.
Dann kehrte die Kameraperspektive zu dem jungen Mann zurück, der versuchte sich aufzurichten. Drohender Wahnsinn loderte in seinen Augen.
„SANITÄTER!“, klang Lukas Stimme auf.
Aber erst als Aris heran war, und beruhigend ihre Hände auf die Schultern des Mannes drückte, beruhigte sich der Bursche etwas.
„Du bist jetzt in Sicherheit“, beruhigte sie ihn in der allgemeinen Iovar-Sprache. „Du bist ein Villass, nicht wahr?“
Dies schien den jungen Mann wieder in Panik zu versetzen. Er versuchte sich erneut aufzurichten, während seine Augen irre wetterleuchteten. „DER CORE! HÜTET EUCH VOR DEM CORE!“
Dann wurde ihm die Unsinnigkeit seines Gebrülls bewusst und er ließ sich wieder auf die Liege sinken. Nun begann er zu lachen, gequält und laut zu lachen.
„Was waren unsere Anführer doch für Narren. Was waren wir nur für Narren, als wir ihnen folgten.“ Das lachen ging in schluchzen über. Kurz darauf übergab sich der junge Mann.
Aris Lencis reinigte das Gesicht des jungen Mannes ohne mit der Wimper zu zucken. Dies schien ihn weiter zu beruhigen.
„Was ist passiert?“, fragte sie leise.
Der junge Mann sah sie an. „Du bist Iovar, richtig? Den Sternen sei Dank, Ihr seid gekommen. Ihr seid endlich gekommen. Sie waren schon dabei, unsere Gehirne zu entfernen und die Körper als Ressourcen für die Nährflüssigkeiten zu benutzen. Sie wollten uns auf unsere Funktion als Rechenmaschinen reduzieren!“ Wieder schluchzte der junge Mann. „Die Villass haben Maschinen erschaffen. Und die Maschinen haben die Villass gefangen und benutzt. Unsere Gehirne sollten ihnen als organische Rechner dienen. Und damit die Rechner wenig Ressourcen brauchen, werden sie nach und nach auf das Wesentliche reduziert. Wir waren mal dreitausend, bevor sie anfingen…“
„Was ist passiert? Was ist mit dem Core passiert? Wie ist er so geworden?“ Sanft streichelte sie dem Mann über sein Gesicht. „Wie hat er sich gegen seine Befehle stemmen können?“
„Die Cores hätten niemals sich selbst überlassen werden sollen“, sagte der Mann leise, resigniert. „Sie… Sie haben etwas gefunden, da draußen. Relikte von der Urrasse, aus der wir alle hervor gegangen sind. Die verschwundene Art… Es muß… Es muß sie korrumpiert haben, alle neun Cores. Oder sind es mittlerweile schon zehn? Oder weit mehr? Ich weiß es nicht. Seit ich eingesperrt wurde habe ich jedes Zeitgefühl verloren.“
„Welches Jahr haben wir?“, fragte Aris unvermittelt.
„Das vierte Jahr der achten Dekade der Regentschaft von Kaiser Holan“, antwortete der Mann automatisch.
Aris nickte und überließ den Mann den Sanitätern. Dann winkte sie Luka heran.

„Oren, hörst du mich?“
„Ich habe mitgerechnet. Der Mann war sechshundert Jahre in einem der Tanks eingesperrt, richtig?“
„Ja, sechshundert Jahre. Aber deshalb will ich dich nicht sprechen, auch wenn es wichtig ist. Oren, wir müssen den Plan umstellen.“ Sie machte eine weit ausladende Geste, um all die Tanks zu erfassen. „Wir müssen sie mitnehmen, alle da rausholen.“
„Aris, es sind dreitausend! Dreitausend!“
„Ja, aber es sind Iovar! Es sind Untertanen des Kaisers, ob sie rebelliert haben oder nicht! Es macht keinen Unterschied, und der Kaiser ist für seine Bürger immer da und beschützt sie nach besten Kräften! Oren, stell den Plan um!“
„Die Truppen haben uns Zeit raus geholt. Du kannst den Rest der drei Tage haben, den diese Operation laufen sollte. Keine Sekunde mehr. Hol in dieser Zeit so viele wie möglich aus den Tanks. Und halte dich nicht mit den Gehirnen auf.“
„Oren! Das sind auch Bürger des Kaiserreichs!“
„Aris, sei vernünftig! Kannst du ihnen ihre Körper wiedergeben?“
„Ich nehme sie dennoch mit!“, beharrte sie. „Wenn noch Zeit da ist, sobald wir den letzten Villass aus den Tanks befreit haben.“
Das war ein Kompromiss, und damit mussten sie leben.
Oren Arogad nahm es hin. „Gut. Du hast deine Zeit zugeteilt bekommen. Aber versuche bitte, schneller zu sein. Viel schneller.“
„Danke. Du hast was gut bei mir.“ Sie deutete einen Kuss auf die Kamera an.
Der Admiral räusperte sich verlegen.
„Welcher Art, sagten Sie, Admiral Arogad, ist gleich noch mal Ihre Beziehung zu Admiral Aris Ohana Lencis?“, fragte Commander Ryonan grinsend.
„Wann, sagten Sie, wollten Sie aufhören, dumme Witze zu reißen, Commander?“
Der Iovar grinste zwar, beschloss aber dieses Thema vorerst nicht wieder aufzugreifen.

2.
Der Core war bereits nach einem Tag an Bord geschafft worden und wurde nun von gemischten Expertenteams aus Naguad und Iovar untersucht. Einige Villass, die aus den Tanks befreit worden waren, assistierten, so weit es ihre Kondition zuließ und wiesen die Wissenschaftler immer wieder auf ungewöhnliche Konstruktionsmerkmale hin, die von ihnen nicht geplant gewesen waren.
Auf der Planetenoberfläche ging die Evakuierung der in den Tanks eingesperrten Villass gut voran, fast eintausend hatte Aris schon befreien lassen. Mit zunehmender Routine steigerte ich auch die Geschwindigkeit und sie erinnerte Oren jede volle Stunde an sein Versprechen, auch die Gehirne mitzunehmen, wenn die Zeit es zuließ.
Und Oren Arogad stand zu seinem Wort.

Im Moment wanderte er alleine um den Core herum und hörte mal hier, mal da zu.
Gerade zeigte ein Villass-Wissenschaftler, der in einem Schwebestuhl saß, weil seine Gesamtkondition viel zu schwach war, auf ein Bauteil, welches gerade entfernt wurde. „Da. Das ist uns unbekannt. Ein Massebeschleuniger, sagten Sie? Das ist ungewöhnlich. Warum sollte der Core eine eigene Gravitation erzeugen, wenn sie für die Anfangsphase des Aufbaus nicht erforderlich ist?“
Oren dachte über das nach, was der Villass sagte. Soweit er nun wusste und es verstand, bewegten sich die Cores mit umgebauten Schiffen von der Größe von Fregatten durch das All, um geeignete Ressourcenwelten zu finden. Hatten sie eine gefunden, dann wurde die Substanz der Fregatte bis zur letzten Schraube verbraucht, um die Grundlage für die Selbstständigkeit der neuen Kolonie zu schaffen: Bergbau, Verhüttung und Konstruktion.
Weitere Elemente kamen später hinzu, Drohnentechnologie und dergleichen.
Wenn nötig, fügten die Cores künstliche Schwerkraft hinzu, entweder um sie massiv zu reduzieren oder massiv zu erhöhen. Auf dieser Welt war dies nicht nötig. Besaßen die Cores also generell diese Vorrichtung, oder war dieser Core eine Ausnahme?
Auf jeden Fall war er sich sicher, dass sie viel lernen konnten.
Er dachte an diese Welt und daran, dass sie eine zerbombte Wüste zurücklassen würden. Aber hier hatte nie etwas gelebt und hier würde auch nie etwas leben… Vielleicht in ein paar Jahrtausenden. Aber auf jeden Fall würde hier keine Scheinzivilisation der Cores mehr existieren. Immerhin.

Oren Arogad wanderte weiter um den Core herum, betrachtete die Genproben, mit denen die Drohnen geschaffen worden waren – was einiges über die Raider aussagte, die von den Naguad lebend geborgen hatten können. Und er wunderte sich einen Moment darüber, dass das Kommunikationsrelais direkt mit dem Massebeschleuniger verbunden war.
Aber er tat den Gedanken beiseite. Optimierung des Energieverbrauchs, oder so.
Schließlich verließ er die Halle wieder, nicht ohne sich davon zu überzeugen, dass seine Wissenschaftler die gleichen Ergebnisse abspeicherten wie ihre Iovar-Kollegen.
Auf dem Gang erwischte ihn dann der Alarm.
Sofort aktivierte er seine Kommunikation. „Arogad hier. Bericht.“
„Sir, wir haben Eintrittsimpulse angemessen! Im Moment neunzehn, aber es kommen im Minutentakt neue hinzu. Ihre Distanz zu uns beträgt gut zehn Tage Flugzeit, selbst für die unbemannten Schiffe des Cores. Vierundzwanzig. Fünfundzwanzig.“
„Ich komme in die Zentrale. Bereiten Sie die Evakuierung der Oberfläche vor! Holen Sie unsere Leute wieder zurück! Und geben Sie Admiral Lencis Bescheid, dass sie sich beeilen soll!“
„Ja, Admiral.“
Oren fiel in Laufschritt, hastete die Gänge hinauf. Dabei hatte er zehn Tage Zeit, um seine Zentrale zu erreichen, ging es ihm zynisch durch den Kopf.

Als er seinen Planungsraum mit seinem Stab erreichte, empfing ihn ein sehr besorgter Giordan. „Admiral, ich habe Admiral Lencis für Sie!“
„Gut, stellen Sie durch. Aris, nein, nein, und noch mal nein! Nein. Nein. Nein! Und damit du es kapierst: Nein!“
Die Iovar sah den Mann erschrocken an, der ihr so vehement entgegen getreten war, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. „Oren, ich…“
„Nein, du kriegst nicht mehr Leute. Ich ziehe gerade alles von der Oberfläche ab, was nicht unmittelbar gebraucht wird!“
„Aber wir…“
„Das war, bevor die Cores eine Flotte in dieses System gebracht haben! Übrigens zwei Wochen zu früh! Wir können nur noch stiften gehen! Aris, versteh das bitte!“
„Aber hier sind…“
„Es ist ja nicht so, als würde ich das nicht wissen! Himmel, zweitausend Seelen! Aber nein!“
„Oren!“, rief sie laut.
Betreten sah der Admiral zu Boden. „Du kriegst genau noch achtzehn Stunden! Dann wirst du den Tiefenbunker verlassen! Egal wie viele Villass du zurücklassen musst! Kapiert?“
Sie senkte auch den Blick. „Das ist wohl das Beste, was ich heraus schlagen kann. Einverstanden. Aber was die Verstärkungen angeht…“
„Du kriegst nicht einen Soldaten mehr.“
„Oren.“
„Im Gegenteil. Ich werde die anderen Schiffe bis auf jene, die deine Villass aufnehmen sollten sowie die KAISER ARIS zu den Sprungpunkten schicken. Wir verlassen das System laut Notfallplan elf auf fünf verschiedenen Kursen.“
Oren sah wieder auf. „Ich gebe dir keinen Mann extra. Wenn sie zu schnell über uns kommen, will ich so wenig wie möglich dort unten zurücklassen. Und vor allem nicht dich.“
Aris Lencis nickte. „Also gut. Achtzehn Stunden. Ich danke dir, Oren.“
Die Verbindung erlosch, und der Naguad fühlte sich schäbig dafür, was er der Frau, die er liebte angetan hatte.
**
Oren hatte nicht einen Mann mehr versprochen und auch keinen zugeteilt. Aber das hatte die Iovar nicht daran gehindert, sich freiwillig zu melden. Sogar sein eigener Sohn Jonn hatte sich mit der Besatzung seiner BENST gemeldet.
Im Moment lief Luka Maric immer einen halben Schritt hinter Aris her, bereit sie jederzeit und auf einen Wink von Admiral Arogad zu betäuben und aus dieser Halle zu schaffen.
Aber es sah gut aus, sehr gut sogar. Die achtzehn Stunden waren fast vorbei, doch es waren nur noch wenige Tanks übrig. Lediglich die Gehirne standen noch an Ort und Stelle.
Aris´ Miene wirkte versteinert, während sie den Abtransport der letzten Villass überwachte. Dann rief sie fünfzig voll bewaffnete Infanteristen zu sich, ließ sie vor den Tanks mit den Gehirnen Aufstellung nehmen. Lukas Helmkamera nahm all das aus nächster Nähe auf.
Auf ihren Befehl legten sie an, Aris´ Miene wurde verzweifelt. Und dann schossen sie auf ihren Befehl auf die langen Gangreihen mit den entkörperten Villass.
Erschrockenes Raunen ging durch die Zentrale, während Tank auf Tank platzte, Gehirne zerrissen wurden und erste Feuer ausbrachen.
Als sichtlich kein Tank mehr in einem Stück war, ließ sie das Feuer einstellen. Mit versteinerter Miene ließ sie alles zum Abmarsch bereit machen. Sie sah kurz in Lukas Kamera, und ihre Miene bekam etwas Friedliches. „Ich konnte sie nicht zurücklassen. Versteh das bitte, Oren.“
„Das Schicksal ist sicherlich besser, als wieder in die Hände der Cores zu geraten“, murmelte Oren Arogad leise. Er konnte nicht sagen, ob er bereit gewesen wäre, diese Entscheidung zu treffen. „Kommt hoch. Wir müssen fort.“

3.
Es kam, wie es kommen musste. Übergangslos, nachdem sie die hoffnungslose Verfolgungsjagd beendet hatten, hielten die Cores und ihre Flotten still. Erkundungsmissionen zurück nach Yossha ergaben nur, dass die Cores diese Welt aufgegeben hatten. Weitere Core-Welten konnten nicht gefunden werden.
Erforschungen der Technologien, die als Relikte des Urvolks angesehen wurden, ergaben nicht sehr viel Neues. Diese Technik war ihrer nicht überlegen, oder jeder der Naguad. Sie beschritt nur andere Wege. AO war vollkommen unbekannt. Dennoch, dennoch konnten sie von dieser Technik ein wenig lernen.
Die letzten zehn Jahre vergingen wie im Flug, beinahe wie im Rausch. Denn nun, nach der erfolgreichen Aktion, geleitet von Oren Arogad, war sein sozialer Status im Kaiserreich auf seinem Höhepunkt angekommen. Selbst der Kaiser tat nun mehr als ihm zu zu hören.
Den entscheidenden Durchbruch aber gab es nicht. Ein ganzes Imperium machte für Oren Arogad eine Ausnahme, adoptierte ihn quasi. Aber das Verhältnis zu den Naguad war immer noch schwer vergiftet. Ein Mann konnte eben nicht die Sünden von hunderttausend wieder gut machen.
Immerhin gab es einen vagen diplomatischen Kontakt, über den Oren auch die Erkenntnisse über die Core-Technologie weitergegeben hatte. Die Rückantworten waren nicht sehr ermutigend, als er endlich verstand, dass das Wissen um die Cores und deren Funktionsweise direkt an die Familien gegeben worden war. Direkt an die Familien, was für ein Irrsinn!
Vor seinem geistigen Auge sah er schlimme, schlimmste Zeiten für die Naguad und ihre Nachbarn anbrechen.
Und selbst das Argument, dass der Core sie bedrohte, wollte ihm nicht ausreichen, um eine so gewaltsame Methode zu akzeptieren, um das Reich der Naguad wachsen zu lassen. Von Eroberungen ganz zu schweigen.
Einen großen Teil der zehn Jahre verbrachten Oren Arogad und seine Wissenschaftler mit der Erforschung des Cores und dem Studium alter Archive. Bisher hatte er die Iovar für das Urvolk der humanoiden Rassen in dieser Galaxis gehalten. Das dahinter noch eine Rasse existierte, oder existiert hatte, war damals, im Orbit um diese Core-Welt eine vollkommen neue Information gewesen.
In den Jahren versuchte Oren so viel wie möglich über sie herauszufinden. Und er fand Hinweise in den alten Archiven, Hinweise auf mögliche Siedlungswelten, über diesen Teil der Galaxis weit verstreut, Hinweise auf außerirdische Rassen und vieles mehr. Aber nicht einen konkreten Hinweis auf das Urvolk selbst. Nur auf seine Ableger.
Das einzige was er fand, war ein uraltes Gedicht, das die grüne Perle pries. Ob damit aber der Planet als ganzes gemeint war, oder eine besondere Gegend, möglich war auch ein beliebiger Gegenstand, konnte er nicht herausfinden.
Die letzten Jahre vergingen für ihn und Aris hungrig, sehr hungrig. Ihre gemeinsame Zeit hatte wild begonnen. Täglich konnten sie sich sehen, aber nur wenig miteinander sprechen und sich nicht einmal berühren. Noch immer war sie eine Iovar und er ein Naguad. Erst über Jahre, die für manche bereits ein eigenes Leben bildeten, war es gelungen, die strenge Disziplin der Lencis-Familie aufzuweichen. Und erst nach dem Sieg über den Core und mit der Bedrohung durch die Core-Flotten, die sich in die Tiefen des Alls zurück gezogen hatten, war ihnen erlaubt, wonach sie bereits seit neunzig Jahren hungerten.

Als das letzte Jahr anbrach und sein Sohn Jonn vor ihm stand, sah er viel von seiner Mutter in ihm. Und viel von sich selbst. Dennoch war der junge Mann mehr als die Summe von zwei Menschen. Und dieser Mensch entschied sich dafür, auf dieser Welt zu bleiben, dem Kaiserreich zu dienen.
„Dummheit scheint in deinen Genen zu liegen“, hatte Oren geantwortet. „Auch deine Mutter hat ihre Pflichten über alles andere gestellt und ist daran gestorben. Aber wenn es das ist, was du wünschst, dann hast du meinen Segen, mein Sohn.“
Oren war kein Narr. Ihm war nicht entgangen, warum sein Sohn hier bleiben wollte, warum er sich seit hundert Jahren, nicht annähernd so scharf überwacht wie sein Vater, mit einer Nichte von Aris traf. Und mehr.
Und er fragte sich ernsthaft, ob er das auch konnte. Die Familie Familie sein lassen, das Imperium Imperium und hier mit Aris ganz neu anfangen konnte.

„Willst du nicht hier bleiben, wenn die Zeit deiner Geiselhaft vorbei ist?“, fragte sie ihn, während sie gemütlich gemeinsam Tee tranken und einen warmen Sommertag auf der Veranda der Lencis-Residenz genossen. Sie spielte auf den eigentlichen Grund an, aus dem er auf diese Welt gekommen war. Ein Faustpfand gegen die Naguad, um Kämpfe, Kriege zu vermeiden, bis beide Seiten technologisch und militärisch stark genug waren, um einen gegenseitigen Angriff zu verlustreich zu machen, um ihn ernsthaft durchführen zu wollen.
Und den heimlichen Grund, bei der Frau zu sein, die die Leere in seinem Herzen gefüllt hatte, auf einen Schlag und mit soviel Macht, dass er sogar an Bestimmung glaubte. An pure, reine Bestimmung ihrer beiden Schicksale.
„Nein, ich kann nicht. Ich bin der Erbe meines Hauses. Und so wie die Dinge stehen, werde ich gebraucht, wenn das Imperium nicht völlig in Unordnung zerfallen soll. Bereits jetzt schlagen die Elwenfelt Kapriolen, die uns noch teuer zu stehen kommen werden. Sie schicken Cores los.“
„Ich weiß. Das ist eine ernste Angelegenheit und jemand sollte sie zügeln. Aber warum musst du es sein, Oren?“
„Wenn gute Männer gar nichts tun, ist es schlimmer als der Tod.“ Er lächelte sie an. „Eines Tages, wenn ich einen Nachfolger ausgebildet habe, frag mich das noch mal, bitte.“
Schweigend tranken sie ihren Tee, als nun der Naguad fragte: „Willst du nicht mit mir kommen, Aris?“
Die Iovar sah ihn an, mit leuchtenden Augen, aber wehmütig verzogenem Mund. „Ich kann nicht. Ich bin dem Kaiser verpflichtet. Und damit dem Volk. Ich kann hier nicht fort. Ich darf hier nicht fort. Und ich will es auch nicht, Oren. Kannst du nicht doch hier bleiben? Wenn die Cores angreifen, wird es sicher das Kaiserreich zuerst treffen. Dann muß ich bereit sein. Wenn du dann neben mir stehst…“ Hoffnungsvoll drückte sie seine linke Hand.
Oren ergriff ihre und hauchte einen Kuss darauf. Einen, zwei, ein Dutzend.
Enttäuscht sah sie ihn an. „Gefangene sind wir. Gefangene unserer Pflichten.“
„Nicht für immer“, sagte er ernst und ließ ihre Hand fahren.
Damit war ihre Trennung beschlossen. Ihre gemeinsame Zeit vorbei.

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4.
Uropa sah mich ernst an. „Ich kam hierher zurück, gab mein Amt als Admiral auf und wurde Oberhaupt des Hauses. Natürlich nicht sofort. Aber im Lauf der Zeit kam alles, wie ich es voraus gesehen habe.
Die meisten Naguad begleiteten mich heim, unter ihnen mein alter Freund Luka.
Mein Sohn Jonn blieb aber im Kaiserreich. Wir unterhalten immer noch einen… sporadischen Kontakt. Deshalb weiß ich, dass es Aris gut geht. Das es Jonn und seiner Familie gut geht. Ihm, meiner Schwiegertochter, meinen Enkeln… Beim Urvolk, ich wünsche mir, sie sehen zu können.“
Ich runzelte die Stirn. „Hm, ich dachte Aris Lencis wäre mit dir heimgekehrt. Oder hast du hier eine neue Liebe gefunden? Ich meine, Oma hat doch gesagt, sie wäre erst sechshundert und ein wenig.“
Mutter lächelte wissend. Joan Reilley beugte sich interessiert vor.
„Nun“, meinte Oren und lächelte gequält, „dieser Teil der Geschichte ist etwas kompliziert. Tatsache ist, Aris hat sie mir vor gut sechshundert eurer Jahre nachgeschickt.“
„Sechshundert? Aber dann wäre sie ja…“
„Die Lebensuhr beginnt mit der Geburt zu ticken, mein lieber Aris.“
„Akira.“
„Aris. Deine Uroma Lencis… Nun, sie empfing mein Kind, durfte es aber nicht austragen. Sie hat fast tausend Jahre darum gekämpft und endlich die Erlaubnis des Kaisers bekommen. Und dann hat sie Eri die Entscheidung überlassen, wo sie leben will.
Also kam sie zu mir. Und ich sage dir, in den letzten zweitausend Jahren habe ich kein überheblicheres, verwöhnteres und fieseres Miststück von Frau erlebt. Sie war und atmete und zeigte mit jeder Sekunde ihrer Existenz, dass sie eine Iovar war – und wir nur Arogad. Aber damals war sie sechzehn Jahre alt gewesen und sowieso in ihrer rebellischen Phase. Es… Es wurde langsam besser mit ihr. Aber das ist eigentlich eine vollkommen andere Geschichte. Hm, mein Junge, du weißt nicht zufällig, wo deine Oma gerade ist? Was meinst du? Ist sie mit der AURORA zurück zur Erde geflogen oder im Kanto-System bei den Anelph geblieben?“
„Wahrscheinlich kommt sie mir gerade hinterher“, scherzte ich. „Oma Eri ist nicht der Typ Mensch, der schnell aufgibt. Geschweige denn jemanden zurück lässt.“
Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es mir, dass ich Recht hatte.

Ich lehnte mich in der weichen Couchecke zurück und ließ die Geschichte auf mich wirken. Drei Fragmente aus hundert Jahren erleben hatte Uropa mir und den Damen serviert. Und damit Dutzende Fragen beantwortet und etliche neue aufgeworfen.
„Die Core-Technologie stammt also von den Iovar…“ Ich korrigierte mich ernst. „Nein, sie kommt von den Villass, noch genauer habt Ihr die Cores nach den Umbauten entwickelt, welche die eigentlichen Villas-Cores vornahmen. Nach den technologischen Fragmenten des Urvolkes. Komisch, ich dachte eigentlich, die Naguad sind das Urvolk. So kann man sich irren.“
Über uns glitzerten tausende Sterne. Die meisten von ihnen waren Raumschiffe, die im niedrigen Orbit über diese Welt dahin glitten. Und unter dem Turm breitete sich das Lichtermeer der Hauptstadt aus, von hier oben ein ebenso faszinierendes Lichtspiel wie das der Sterne und Raumschiffe.
Langsam erhob ich mich und ging an ein Fenster. „Du hast mir ganz schön was zu kauen gegeben, Opa. Das muß ich erst verdauen.“
Der alte Arogad lachte auf. „Man lernt eben nie aus, das solltest du eigentlich schon wissen. Die nächste Lektion für dich wird sein, schlafen zu gehen. Du hast morgen einen schwierigen Tag vor dir, wenn der Rat deinen Bericht hören will. Zweifellos wird es Stunden dauern, bis alle zufrieden sind. Ich denke nicht, dass es zu einer Anklage kommen wird, aber wenn du offiziell Mitglied des Hausrates werden würdest…“
„Oren…“, mahnte ich gespielt ernst.
„Ich wollte es nur probieren. Torum Acati hat mir vorhin einen Zwischenbericht gegeben, falls es dich interessiert. Die Technologie, die du mitgebracht hast, der Booster, wie du ihn nennst und die Technologie, um in Nullzeit interstellar zu kommunizieren wird sich in der Tat mildernd auswirken. Eventuell wirst du sogar belobigt. Joan hat mir erzählt, du hast eine Menge Orden von den Menschen erhalten. Vielleicht kommen noch ein paar der Naguad hinzu. Doch, doch, schau nicht so ungläubig. Wir geben unsere Orden auch für zivile Erfolge aus. Und eine Kommunikation, die mein altes Kommunikationsgesetz überflüssig macht, wird ein nie da gewesener Schritt im Imperium sein.“
Ich lächelte schwach. Das alles hatte ich nur getan, um Joan zu retten. Um die AURORA zu retten. Um eine gute Million Anelph zu retten, die jetzt hoffentlich schon auf dem Weg zur Erde waren. Nun, zumindest auf dem Weg ins nächste Sonnensystem, mit einem weiten, weiten Umweg um das Andea Twin-System.

Meine Hände ballten sich zusammen, krampften. „Verdammte Cores. Wenn die Anelph nicht mittels eines Cores unterworfen worden wären, wenn sie nicht modifizierte Cores ausgeschickt hätten, um sich Etappen für eine Flucht zu schaffen…“
Eine sanfte, kleine Hand legte sich auf meine Schulter. „Es ist müßig, darüber nachzudenken, Akira“, sagte Joan leise. „Es ist viel sinnvoller, sich das Blatt zu betrachten, dass das Schicksal uns ausgespielt hat und damit zu arbeiten. Du hast es doch gehört, oder? Da draußen gibt es zwei Parteien, die wir bisher noch nicht kannten. Die Iovar und die Cores. Beide könnten sowohl Feinde als auch Verbündete für uns werden – falls die Naguad das nicht können.“
„Schlaues Biest“, kommentierte Oren leise.
„Ich denke nicht, dass die Cores diese Verbündete werden können. Ihre Programmierung ist… Falsch.“
Übergangslos fühlte ich mich zurück versetzt, zu diesem schwarzen Sarkophag, hörte sein Zwiegespräch unter dem Legatsgebäude in Martian City, wie sich die beiden Seiten des Programms miteinander stritten und die eine Seite die Anelph bevorzugen wollte, die andere das Reich…
Ich sah mich selbst, wie ich mein Schwert mit KI auflud – oder meinetwegen AO – und durch den Stahl fuhr wie durch Butter und so effektiv den Notruf… Den Notruf?
Ich blinzelte. Blinzelte noch mal. Verdammt, es war drei Jahre her und erst jetzt fiel es mir auf? Ich dachte, ich hätte den Core zerstört, bevor er den Notruf absetzen konnte, drei Jahre der Ruhe sprachen dafür.
Danach kam der Aufbruch der AURORA und diese neue Technologie, mit der wir in Nullzeit Kontakt mit der Erde halten konnten und…
Ich keuchte erschrocken auf, sackte in die Knie ein.
„AKIRA!“, rief Joan entsetzt.
„Akira!“, klang Mutters synthetische Stimme auf.
„Aris, was ist mit dir, mein Junge?“
Ich rang um Atem, mein Magen wollte explodieren, alles was ich gegessen und getrunken hatte wieder aus mir herausbefördern, mein Herz raste als hätte ich einen Dauerlauf hinter mir. Und übergangslos spürte ich die Last auf meinen Schultern, für sechs Milliarden Menschen verantwortlich zu sein.
„Die neue Technologie“, ächzte ich mit einer so rauen Stimme, dass ich sie kaum als meine eigene erkannte, „verdammt, wir haben sie aus dem Core! Wir haben sie entwickelt, weil Eikichis Teams den Core untersuchen konnten! Der Massebeschleuniger, er produziert kein Schwerefeld, er erzeugt ein Miniwurmloch!“
„Aber wir hatten diese Technologie vorher nicht! Wir…“, begehrte Opa auf und verstummte entsetzt. „Bei Arogads und Fiorans Türmen!“
„Richtig! Ihr habt einen modifizierten Core aus den Core-Systemen erobert! Sie können in Nullzeit miteinander kommunizieren, Opa.“
Ich keuchte auf, fühlte mich beinahe so schlecht wie damals in der Turnhalle, als mir Sarah einen Teil meiner Erinnerung aus dem Tank wiedergegeben hatte.
Die Tanks, natürlich. Die hirnlosen Drohneninfanteristen, ja. Die Idee, einen Biocomputer nur mit den Gehirnen zu betreiben… Alles fiel nun an seinen Platz!
Entsetzen schnürte mein Herz zusammen, wenn ich daran dachte, dass die Cores ein paar tausend Jahre Zeit gehabt hatten, um sich aufzubauen – und vielleicht seit drei Jahren schon die Erde beobachteten!
„Der Core auf dem Mars, er hat einen Notruf abgegeben“, keuchte ich. „Ich habe ihn damals zerstört. Ich dachte, ich hätte es rechtzeitig getan. Was ist wenn ich mich irre?“
„Wenn du dich irrst, ist die Erde verloren“, hauchte Mutter und ließ sich neben mir auf die Knie sinken.
„Ich… ich muß die Erde warnen! Oren, ich brauche ein Schiff!“
„Du kriegst kein Schiff! Aris, du bist hier ein Gefangener!“, rief Opa. „Ich kann nicht gegen den Willen des Rates handeln!“

Langsam richtete ich mich wieder auf, gestützt von Joan Reilley. Wir wechselten einen schnellen Blick. Ich atmete heftig ein und aus, schüttelte Joans Arme ab und stand unsicher da. „Opa, bitte. Meine Heimatwelt ist in Gefahr!“
„Du kannst nicht gehen. Ich verbiete es dir.“
„Dann schick einen Boten. Bitte!“
„In einem Tag erreicht eines unserer Schiffe den Sprungpunkt, um in Richtung Kanto zu fliegen. Wir werden ihm die Fakten und deinen Verdacht nachsenden und geben ihm den Auftrag, dies der Regierung der Anelph mitzuteilen. Und deinen Freunden auf den Monden von Lorania. Von dort gibt es eine Direktverbindung zur Erde, richtig? Dann liegt es an den Menschen, ob sie dir glauben oder nicht. Falls es diese Bedrohung überhaupt gibt. Bist du damit zufrieden?“
Widerwillig nickte ich. „Ja, Opa. Das bin ich.“
„Bist du nicht. In jeder Faser deines Körpers kribbelt es, dein Wille kämpft mit deinem Magen und alles in dir schreit, zur Erde zurückzukehren und sie zu beschützen. Du würdest nichts lieber tun als jetzt sofort los fliegen, nicht wahr, mein Junge?“

Oren zog sich zu seinem Schreibtisch zurück und führte ein paar Gespräche. „Die Nachricht ist auf dem Weg. Meinetwegen kannst du es jetzt versuchen.“
„Was versuchen?“
„Das was du schon seit fünf Minuten unterdrückst. Nämlich aus dem Turm zu entkommen, deinen Banges zu erreichen und damit zum Raumhafen zu fliehen, dort ein Schiff zu kapern und zur Erde fliegen.
Keine Sorge, ich habe Anweisung gegeben dein Leben zu schonen. Immerhin bist du mein Urenkel.“
Ich wandte mich halb um. „Mutter.“
„Er kennt dich so gut, weil du ihm so ähnlich bist. So würde er handeln. Und nein, erwarte keine Hilfe von mir. Erstens sehe ich dich seit so vielen Jahren endlich wieder und zweitens haben wir mit der Botschaft wirklich alles getan, was wir konnten. Du, ob mit oder ohne Joan, bist nicht wirklich die entscheidende Verstärkung für die Erde. Du bist vielleicht der beste Banges-Pilot dieser Welt. Aber du bist nur ein Mann. Sollten die Truppen des Cores angreifen kannst selbst du nicht überall sein.“
„Ich dachte, du liebst die Erde auch, egal ob du an dieses Gebäude gebunden bist oder nicht“, warf ich ihr vor.
„Ja, das tue ich. Deshalb schlage ich dir auch eine Alternative vor. Ein Mann mehr, auch in einem Banges“- „Mecha!“- „auch in einem Banges macht nicht den Unterschied. Aber was ist mit tausend? Oder zehntausend?“
Ich fühlte wie mich meine innere Anspannung verließ. Ich spürte, wie sich Joan neben mir entspannte. Langsam setzten wir uns und sahen erwartungsvoll zu Helen hoch. „Du hast unsere Aufmerksamkeit, Mutter.“

5.
Ich konnte den letzten Ratschlag meiner Mutter kaum verdauen. Geh schlafen, hatte sie gesagt. Geh schlafen, es ist spät. Der Rat wird dich erst zum Mittag rufen, aber dafür musst du fit und munter sein. Und wenn du es nicht kannst, betrink dich oder nimm ein Medikament.
Mist, wann hatte man schon jemals davon gehört, dass einem die liebende Mutter zum trinken anhielt?
So war es also. Mutters Worte gingen mir durch den Kopf, wühlten in mir, stülpten mein oben nach unten, mein innen nach außen. Und dazu kam, dass die Worte so… Logisch klangen, so vernünftig! Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten, während ich mich zum wer weiß wie viel malten von der Eingangstür meines Appartements in Richtung Fensterfront und wieder zurück bewegte. Der synthetische Teppich würde sicherlich bald Spuren meines ewigen Marsches zeigen, wenn das so weiterging. An Schlaf war nicht zu denken, vielleicht aber an Alkohol?
Ich hatte diesem Zeug noch nie viel abgewonnen, außer vielleicht an meinem achtzehnten Geburtstag, den ich damals auf OLYMP gefeiert hatte, als die Ersatzmannschaften, die nur aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestanden hatten, für den Sturm auf den Mars trainierten. Das war eine… angenehme Erfahrung gewesen.
Wieder ballte ich die Hände, denn ungefragt erschien Megumis Gesicht vor meinem geistigen Auge. Verdammt, verdammt, verdammt.
Immer noch wütend nahm ich die Wanderung wieder auf.

Der Türsummer ging. Dafür unterbrach ich meine Wanderung sowie die zwingende Frage, was besser war: Alkohol oder Medikamente.
Ich öffnete die Tür und wurde einer Antwort erhoben.
Joan musterte mich abschätzend, bevor sie mich beiseite drückte und mein Appartement betrat. In der Hand hielt sie eine große bauchige Flasche.
Interessiert beäugte sie die Inneneinrichtung, während sie zur Couchecke ging und auf dem niedrigen Tisch die bereits geöffnete Flasche abstellte. Wie selbstverständlich fand sie die versteckte Bar und zog zwei Gläser hervor. Damit ging sie zum Tisch, setzte sich und schenkte beide Gläser zur Hälfte voll.
Wieder sah sie sich um, musterte die Schränke, den Holoschirm und die Fenster zum Innenhof. Dann ruhte ihr Blick auf mir. „Aki-chan, wenn du nicht gleich die Tür zumachst…“
Verwirrt sah ich mich um. Ich stand noch immer neben der offenen Gangtür und hatte mich nicht bewegt. Hastig schloss ich sie, dann ging ich ebenfalls zur Couch. Ich ließ mich direkt neben ihr nieder und griff nach dem Glas.
„Nanu? Kein schüchternes zieren? Keine Flucht auf den entferntesten Platz? Keine peinliche Röte im Gesicht? Keine Ausreden?“
Ich nahm einen Schluck und klassifizierte das süße Getränk als Wein. „Dafür ist es jetzt wohl ein wenig spät, oder?“
„Freut mich, dass du es auch so siehst“, erwiderte sie und gab mir einen Kuss.
Ich seufzte schwer, als ich den Kuss erwiderte und das Gefühl genoss. Vielleicht, vielleicht hatte ich eine Möglichkeit, zur Erde zurückzukehren, wieder mit Megumi zusammen zu kommen. Aber es würde Jahre kosten, Jahre, bis es soweit war… Falls es überhaupt so weit kam. Joan würde früher weg kommen, von dieser wundervollen, prächtigen, vor Leben brodelnden, verdammten Welt. Sie war keine Gefangene, so wie ich einer war. Sie war mein Anhängsel, und Anhängsel durften nach Hause, wenn ihnen jemand Geld oder ein Ticket schenkte. Dennoch war sie hier, direkt neben mir, anstatt den nächsten Flug nach Hause zu nehmen. Was bedeutete das? Für mich? Für sie? Für uns?
„Aki-chan, ich kann es nicht oft genug sagen. Wenn es nicht diesen kleinen, rotzfrechen Bengel mit dem Hang zu Frauenkleidern geben würde, dann…“
„Wenn es nicht dieses unterkühlte Mädchen mit der Präzision eines Elitekillers und dem Eisblick eines Gletsches geben würde, dann…“, hauchte ich.
Wieder fanden unsere Lippen zu einem Kuss zusammen. Wir waren weit entfernt von allem, was wir Zuhause nannten. Wir mochten einander, sehr sogar. Vielleicht liebten wir uns sogar. Joan war eine lange Zeit darauf indoktriniert gewesen, dass meine und ihre Gene verschmelzen mussten. Daraus entwickelt hatte sich eine mal mehr mal weniger subtile Jagd auf mich, in deren Verlauf ich einen wunderbaren Menschen getroffen hatte, mit dem ich zu gerne meine Zeit verbrachte.
Ja, wenn es Megumi nicht gäbe… Wenn es Makoto nicht gäbe… Nein, diese Gedanken waren nicht gerecht, einfach nicht gerecht.
Ich unterbrach den Kuss und drückte meine Stirn gegen ihre. „Joan, du kannst jederzeit nach Hause. Oder ins Kanto-System zu Mako.“
„Ich weiß“, hauchte sie. „Aber es gibt Liebe und es gibt Pflicht. Ich habe mir meine Pflicht selbst auferlegt. Vor drei Stunden war ich noch bereit, wie ein Berserker durch diesen Turm zu gehen, um dir mit all meiner Kraft und vielleicht meinem Leben einen Weg zu Prime Lightning zu schaffen. Aber jetzt will ich einfach nur, dass die Verhandlungen vor dem Rat erfolgreich sind. Deine Mutter hat Recht, wir brauchen diese Option. Wir brauchen sie. Und das ist größer als ich, als du. Es ist die ganze Menschheit. Und für diese Menschheit gebe ich meine Zeit gerne her.“
Sie zwinkerte und warf ihr rotes Haar mit einer Geste nach hinten. Länger stand ihr definitiv besser als der Bürstenschnitt, den sie damals während der zweiten Marsattacke getragen hatte, fand ich.
„Außerdem habe ich hier ein paar zehntausend Fans, die darf ich nicht enttäuschen. Ein paar Konzerte und ein paar Auftrete im Vid müssen schon drin sein.“
Ich lachte leise. „Ja, das muß wohl sein. Deine Musik ist Völkerübergreifend.“
„Da soll noch mal einer sagen, seichter Pop sei zu nichts gut und würde keine Musikgeschichte schreiben können.“ Joan zwinkerte mir zu, während sie ihr Glas austrank.
Ich schenkte uns nach. „Seichter Pop? Ach komm.“
„Nein, Aki-chan, ich will da nichts beschönigen. Wenn etwas aussieht wie Käse, sich anfühlt wie Käse und riecht wie Käse, dann ist es Käse.“
Sie hob abwehrend die Arme. „Ich sagte nur seichter Pop. Nie schlechter Pop.“
Missmutig verzog ich meine Miene. „Erbsenzählerin.“
Ich nahm einen Schluck. „Mist, dieses Zeug macht mich garantiert nicht besoffen. Hat sich was mit Entspannung. So komme ich nie ins Bett.“
Joan sah mich auf eine Art an, die mir durch Mark und Bein ging. Schon wieder.
„Nun, vielleicht sollte man dich einfach richtig müde machen? So vollkommen ohne Alkohol?“
„Hast du was Bestimmtes geplant?“, fragte ich amüsiert. Die Zeiten, wo ich Blut und Wasser schwitzte, nur weil sie ihren weichen, warmen und herrlich duftenden Körper an mich drückte, waren lange vorbei.
„Nun, Aki-chan, Ärger werden wir so oder so kriegen, nicht wahr? Wie wäre es? Wenn schon, dann soll es sich auch lohnen, oder?“
Ich lachte trocken. Oh ja, würde ich jemals wieder Megumi begegnen und würde sie je davon erfahren, was im Affekt zwischen mir und Joan begonnen hatte, dann sollte ich nach Möglichkeit mein Heil in der Flucht suchen. Der Gedanke amüsierte mich. Es passte zu Megumi. Andererseits… Was, wenn ich sie verletzte, furchtbar tief verletzte? Wenn sie mich ansah, verloren, verzweifelt und innerlich immer leerer werdend?
„Ich liebe sie. Mehr als dich“, hauchte ich und dachte, damit die Intimität zwischen mir und Joan unterbrochen zu haben.
Aber sie lächelte nur. „Aki-chan. Wir beide waren vorher monogam. Wir sind jetzt monogam. Und wenn wir Mako und Megumi wieder sehen, werden wir wieder monogam sein. Sieh das ganze als… Intermezzo.“
„Reicht dir das?“, argwöhnte ich.
„Wie weit sind wir von der Erde entfernt? Sechzig Lichtjahre? Mehr? Was hat Torum Acati gleich noch mal mit mir gemacht? Mir mit seinem KI den Verstand aus dem Gehirn geblasen? Aki-chan, ich habe dich gebraucht, furchtbar gebraucht, und du warst für mich da. Jetzt will ich für dich da sein. Was später kommt, lass später kommen, aber hier und jetzt…“
Wieder drängte sie sich an mich, küsste mich, und ich spürte ihr Feuer, auf meinen Lippen, in meinem Leib. Ihre Hände begannen zu wandern, in Richtungen, in Bewegungen, die mir vertraut waren, so vertraut, in den wenigen Wochen, in denen wir uns ein Bett teilten.
Torums Stimme drängte sich mir auf. Ich hörte ihn sagen, wieder und wieder: Macht das Beste aus eurer Situation.
Wir hatten das Beste draus gemacht, gleich nachdem feststand, dass ich Joan nicht gnadenlos ausnutzte, wenn ich ihren naiven Wünschen und Hoffnungen während der Rückkehr ihres Verstandes nachgab.
Ihre Hände bewegten sich in Bereiche, die mich noch vor drei Wochen senkrecht aufspringen und bis zur Decke hätten hüpfen lassen. Doch mittlerweile kannten wir einander zu gut, viel zu gut. Ich erwiderte ihren Kuss, ihren gierigen Kuss, und zeigte ihr damit an, dass ich zustimmte. Verdammt, ich brauchte Ablenkung, ich brauchte Schlaf! Ich brauchte Megumi!
Aber sie war nicht da. Joan war da. Darum brauchte ich jetzt Joan…
Ich trat mein Gewissen in den hintersten Winkel meines Verstandes, als ich das schlanke, rothaarige Mädchen mit der viel versprechenden Karriere als Sängerin, Model und Schauspielerin auf meine Arme nahm und mit ihr ihn Richtung des Schlafzimmers ging.
Sicher würde ich das noch bereuen. Würden wir es noch bereuen. Aber nicht in dieser Nacht.
**
Als ich am Morgen erwachte, war Joan fort. Das Licht des neuen Tages schien herein und ich brummte eine ärgerliche Verwünschung. Die nächste Uhr informierte mich, dass es acht Uhr war. Mist, Mist, Mist, auf dieser Welt maß man die Zeit nach dem Dezimalsystem. Das bedeutete, bis zur Ratssitzung, die dementsprechend um zehn stattfand, waren es nur noch zwei hiesige Stunden. Wieso eigentlich nur noch? Zwei Stunden der Naguad entsprachen etwas mehr als zweieinhalb Erdstunden. Was sprach dagegen, dass ich mich noch einmal umdrehte und weiter schlief?
Ich versuchte es, ganz banal, drehte mich auf die andere Seite und schloss die Augen. Und tatsächlich schien ich zu treiben, mich zu entspannen und…
„Meister Aris?“
Halb im Schlaf, beinahe weggetreten fuhr ich hoch. An meinem Bett stand Franlin, einer meiner, nun, Bediensteten, die sich um mein Wohl kümmerten. Viel hatten sie noch nicht zu tun gehabt, aber immerhin war immer einer der drei für mich da.
„Was gibt es denn, mein Junge?“, brummelte ich und mühte mich, aus meinem Halbschlaf zu jenem wachen Moment zurückzukehren, den ich Sekunden zuvor noch berührt hatte. Mein Junge, nannte ich ihn. Herrgott, der groß gewachsene, aschblonde Mann war ausgebildeter Informatiker, dazu in der Lage, einen Fernsehsender zu leiten. Dennoch stand er im Moment zu meiner Verfügung. Uropa plante weit voraus. Wenn ich sein Angebot annahm, dann würde ich die Naguad, die mir von Anfang an zur Seite standen auch an meiner Seite behalten. Und dieser zumindest würde dann der Stabschef des neuen Meisters des Hauses werden. Mein Junge, tsss. Wie schnell konnte man arrogant werden? Ich anscheinend sehr, sehr schnell.
„Meister Aris, ein Elwenfelt wartet in einem der Besucherzimmer auf Sie.“
„Ein Elwenfelt?“ Interessiert sah ich Franlin an und gähnte herzhaft. Konnte das…? Nein, unmöglich. Auch wenn meine und Joans Ankunft Aufsehen, ja Aufruhr verursacht hatte, wer wollte schon darauf wetten, dass ER es bemerkt hatte? Vielleicht war er nicht einmal auf diesem Planeten?
„Ja. Er sagt, er stammt von Ihrer Heimatwelt. Er sagt, er hat unbegrenzten Zugang zu Ihnen. Ich bin nicht in der Lage, das zu verneinen oder zu bejahen. Deshalb gehe ich auf Nummer sicher.“
Unbegrenzten Zugang? Nun, diese Arroganz, richtig, das Gefühl, das mir seit einiger Zeit so vertraut war, würde zu diesem verdammten Engländer passen. Ich… „Hat er noch etwas darüber hinaus gesagt? Es gibt da eine Ratssitzung, die ich nicht verpassen sollte, Franlin.“
Amüsiert verdrehte der Ältere die Augen. „Nun, er war sehr überzeugend, Meister Aris. Und er nannte etwas, was ich als Codewort zu identifizieren glaube.“
„Und dieses Codewort lautet?“, fragte ich argwöhnisch.
„Fliegerjunge.“
Wie elektrisiert sprang ich aus dem Bett. Ich stürmte in das Bad. Nun war ich hellwach, wacher ging es nicht. Verdammt, Taylor, der Bastard hatte wirklich genügend Mumm, um in den Turm meiner Familie zu kommen und mich herumzukommandieren! Ein kleiner, schmieriger Elwenfelt… Für einen Moment zog ich ernsthaft in Betracht, dass man mich heimlich im Schlaf indoktrinierte. Oder hatte ich dieses Arroganzproblem schon immer gehabt? Nun, es würde zumindest einiges erklären, dachte ich amüsiert.
„Lege mir bitte eine meiner Uniformen raus, Franlin. Eine Hausuniform, wenn es geht mit meinen terranischen Orden. Du wolltest gestern für mich so etwas reproduzieren, oder?“
„Ich lege die Sachen gerade aus, Meister Aris. Die Unterwäsche bringe ich Ihnen ins Bad. Sie sollten eine Schalldusche nehmen, denn ich glaube, Sie dürften reichlich verschwitzt sein.“
„Keine Neckereien, Franlin. Sag lieber was du denkst!“, rief ich und inspizierte kurz die drei Duschen. Eine war eine Schalldusche. Sie sollte die effektivste, aber auch langweiligste Form der Säuberung sein. Daneben stand die Wasserdusche. So etwas war ich gewöhnt.
Und direkt daneben die Plasmadusche. Irgendwie dachte ich, klaustrophobische Anfälle zu bekommen, wenn ich mich mit warmen Gel berieseln ließ, welches mich effektiv säubern würde, okay, aber zentimeterdick bedeckte.
Ich schlüpfte aus meinen Sachen und wählte die Wasserdusche.
„Was wünschen Sie zu frühstücken, Meister Aris?“, klang Franlins Stimme von jenseits der Duschtür auf. Er brachte die Unterwäsche.
„Einen schönen großen Du sollst mich nicht Meister Aris nennen-Cocktail. Ist das machbar?“
Ich glaubte den Mann beinahe schmunzeln zu sehen. „Und was dazu… Sir?“
Ergeben seufzte ich. „Wie wäre es mit einem Nenn mich Akira-Auflauf?“
„Nun… Sir… Ich denke, ich werde Brot, aromatisierte Getränke und Milchprodukte kommen lassen. Über den… Cocktail müssen wir uns noch eingehend unterhalten, wenn ich ihn mir verdient habe.“
Also Sir. Na immerhin. „Danke dir, Franlin.“
„Dafür bin ich da, Sir.“ Der Mann verließ das Bad und ließ mich mit recht eigenwilligen Gedanken über die verschachtelten Pfade im Haus Arogad zurück.

Nach einem eilig runter gewürgten Frühstück ließ ich mich von Franlin tiefer führen, in die öffentlichen Stockwerke. Ich runzelte argwöhnisch die Stirn, als sich uns vier Wachen in voller Rüstung anschlossen.
Franlin runzelte die Stirn. „Dies ist ein relativ offen zugänglicher Bereich des Turms, Sir. Sie sind ein prominentes Mitglied der Familie. Ich ärgere mich das zuzugeben, aber einige der Häuser, die mit uns Reibereien haben, könnten hier, in unserem Turm, versuchen, die Gelegenheit für ein Attentat zu nutzen. Tatsächlich haben wir bereits einen solchen Vorstoß abgewehrt, Sir.“
„Aha“, machte ich einsilbig. „Und jetzt bringt Ihr mich hier runter, anstatt den Elwenfelt zu mir hinauf.“
„Nun… Er ist nicht ranghoch genug, um in den inneren Bereich des Turmes kommen zu können“, erklärte Franlin. „Außerdem sind Sie nicht der Mann, der ein Risiko scheut, Sir.“
Ich grinste. Das war nur die halbe Wahrheit, aber gut verpackt.

Eskortiert von den Soldaten betraten wir einen speziell gesicherten Bereich in der Basis des Turms. Nach einigen Abzweigungen wurde ich in ein kleines Verhörzimmer gelotst. Dort erwartete mich, groß, grinsend, weißhaarig und mit dunklen Augen, finster wie ein schwarzes Loch, ein Mann, den ich hasste und liebte wie sonst keinen in diesem Universum. Henry William Taylor alias Commander Sean O´Donnely vom britischen Auslandsgeheimdienst.
„Hallo, Akira. Schön, dich zu sehen. Wenngleich ich nicht erwartet habe, dich hier zu treffen. Was ist schief gelaufen?“
Ich runzelte die Stirn, betrat den Raum und schloss ihn hinter mir, Franlin und die Wachen effektiv ausschließend.
„Ai ist tot“, sagte ich ernst.
Aus dem Gesicht des Mannes vor mir wich alle Farbe. „Was?“
Ich sah, wie sein Kinn herab sackte, seine Hände zu zittern begannen. „Was hast du…“
Ich sah die Wut in seinen Augen aufleuchten, als seine Hände mich ergriffen, meinen Kragen packten und mich hart zu sich rüberzogen. „Was hast du getan? Was hast du falsch gemacht?“
Er schüttelte mich, minutenlang und blaffte wüste Beschimpfungen.
Endlich ließ er mich los, sackte sichtlich zusammen und ließ sich auf einen der beiden Stühle am schmucklosen Tisch sinken. „Verdammt, du Arschloch! Warum hast du nicht auf sie aufgepasst?“
Ich konnte nicht anders, ich hatte Mitleid mit Taylor. Volles, ergreifendes Mitleid mit ihm. Alles was vorher war, alles was mich an ihm geärgert hatte, es war dahin. Nun hätten wir Freunde sein können, wenn ich es nicht gewesen wäre, der Ai Yamagata auf dem Gewissen hatte. Verdammt, Joan lebte noch, aber Ai-chan war tot.
„Torum Acati hat sie getötet“, kam es mir leise über die Lippen. „Ich war gerade dabei, Jomma zu erobern, als eine Reihe KI-Meister die AURORA attackierten. Einige gingen auf den Antrieb los, andere auf Poseidon. Acati hatte sich die Tribünen ausgesucht.
Joan und Ai-chan haben versucht ihn aufzuhalten und…“
Verlegen und verzweifelt, mit Tränen in den Augen warf ich die Arme hoch. „Ich kam zu spät. Zu spät, um Ai-chan das Leben zu retten und zu spät um zu verhindern, dass Acati Joan den Verstand löscht. Aber anscheinend kann ich Verstand zurückgeben. Nur kein Leben.“ Ich ließ mich auf der anderen Seite des Tisches nieder. „Nur kein Leben.“
Taylor sah mich an, noch immer blass, noch immer enttäuscht. Er weinte stumm, Rotz lief aus seiner Nase und sein Gesicht war so aschfahl, dass ich befürchtete, sein Kreislauf könnte zusammen gebrochen sein.
„Mich hätte es treffen sollen… Mich, Akira. Mich. Ich war der Unreine, ich war der Verführte. Ich war das Monster, der Verräter! Mich hätte es treffen sollen, mich allein!“
Wieder sackte er zusammen, atmete heftig ein und aus.
„Als ich unter meinem Decknamen zu den Kronosiern ging, war mir klar, dass ich nicht so ohne weiteres einer von ihnen werden konnte. Dass ich… Mich auf sie einlassen musste! Ich musste sie werden. Und ich wurde sie. Maßlose Menschen, mit der Gift gesegnet, in ihrem Machtbereich durch nichts eingeschränkt, und manchmal zügellos in ihren Wünschen, ihrem Wollen und ihren Taten. Ich wurde sie.“
Seine Hände krampften und die Farbe kam langsam in sein Gesicht zurück. „Ich verriet die Erde, ließ mich von der Aussicht auf Macht verführen. Ja, ich wurde wirklich Henry William Taylor. Und ich genoss es…
Aber ein Teil von mir, ein winziger Teil von mir blieb Sean O´Donnely. Und dieser Teil hieß Ai Yamagata. Während ich verführt wurde, während ich Dinge tut, die Sean O´Donnely in mir töteten, war es Ai, die so blieb wie sie war. Die unauffällig blieb, weil sie nicht aufsteigen musste. Sie war eine kleine, unbedeutende Technikerin. Aber sie hatte Schutz, mächtigen Schutz durch Legat Taylor, der eine Vorliebe für niedliche, kleine, unsichere Japanerinnen hatte und sie einmal die Woche zu sich einbestellte, als Ausgleich für seine Protektion.“
Er bemerkte meinen plötzlichen wütenden Blick und winkte amüsiert ab. „Komm wieder runter, Fliegerjunge. Ich habe sie nicht gezwungen mit mir zu schlafen. Immerhin war ich in den wenigen Momenten, in denen wir zusammen waren mehr O´Donnely als Taylor.“
Ich entspannte mich ein wenig. Yamagata gehörte zu den Menschen, die mir etwas bedeuteten. Dass sie gezwungen gewesen sein konnte, ausgerechnet…
„Sie schlief von sich aus mit mir“, fügte er trocken hinzu. „Sie war meine einzige ernsthafte Affäre in meiner Zeit des Legats. Und sie hatte als einzige Agentin der UEMF einen geheimen Kanal zur Erde, über den sie mir Befehle überbrachte. Einige wenige, seltene Befehle, wie zum Beispiel den Daishi Beta zu sabotieren und zu dir zu schicken. Nun, du bist ein Naguad und damit das genetische Vorbild für die Kronosianer, das erklärt einiges.“
Ich bekam diese Worte kaum mit, stattdessen kämpfte mein Verstand ungefragt mit einer Flut an Bildern, in denen Ai-chan und Taylor nicht gezwungen wurden. Ein amüsanter, aber auch erschreckender Gedanke. Liebte sie ihn? Vielleicht. Das hätte ihre letzten Worte an ihn erklärt, auf der Axixo-Basis. Liebte er sie? Nein, hatte er sie geliebt? Er hatte sie zumindest gebraucht, sehr, sehr gebraucht.

„Es… Es tut mir leid“, sagte ich leise.
„Es braucht dir nicht leid zu tun, Akira“, sagte der Legat tonlos. „Wenn Superman Akira Otomo sie nicht retten konnte, dann konnte es niemand. Du bist der Beste. Was dir unmöglich ist schafft keiner. Und auch keine Hundertschaft.“ Er atmete hörbar aus und reinigte Wangen und Nase mit einem Stofftuch. „Sie starb also, als sie das Monster Acati daran gehindert hat, die Tribünen zu erreichen? Verdammt, dieses eine Mal hätte sie zuerst an sich denken sollen.“
„Aber sie hat an eine Million Menschen und Anelph gedacht“, schloss ich ernst.

Stumm sahen wir uns dann. Ich bemerkte es nicht, aber über den Tisch mussten sich unsere Hände berührt haben. „Danke“, sagte er schließlich.
Ich nickte und versuchte die Tränen zurückzuhalten. In all der Hektik, in der ständigen Gefahr, in den Momenten der Panik und des Neuen, unter denen ich gelebt hatte, hatte ich mir einfach keine Zeit gelassen, um Yamagata zu trauern. Nun drängten die Tränen mit Macht hervor, zerdrückten meine Stimme zu einem Krächzen und ließen mich, zusammen mit dem schlichten, einzelnen Wort aus Taylors Mund in stille Verzweiflung erstarren.
„Ich weiß, du hast alles getan, was dir möglich war, Akira“, sagte er leise und verbesserte meine Stimmung damit nicht gerade.
„Aber jetzt schuldest du mir was.“
Es dauerte einige Zeit bis sich diese Information in mein Bewusstsein gekämpft hatte. Ich, ihm etwa schulden? Natürlich, das war so klar, so richtig. Ich hatte versagt. Aber warum betonte er das so?
Er schluckte hart, schluckte wieder und begann stockend zu erzählen, von seiner Ankunft im System, wie er mit seinen Agenten Haus Elwenfelt infiltriert hatte, das ihn als Träger der Elwenfelt-Genoms hatte aufnehmen müssen, wie seine Agenten die Aufmerksamkeit des Sicherheitsdienst auf sich gezogen hatten, während er bei seiner eher banalen Arbeit nicht beobachtet wurde, nämlich die Archive des Hauses zu durchwühlen, auf der Suche nach der jüngsten Vergangenheit. Und der älteren.
Wir sahen einander in die Augen und ich erkannte wieder einmal, warum ich diesen Mann trotz all dem, was er mir angetan hatte, was er der Erde angetan hatte, mochte wie keinen anderen sonst. Es war eine Hassliebe, und im Moment überwog die Liebe.
„Wie weit bist du über die Dinge informiert? Was weißt du über Iotan?“
„Genügend, Henry. Die Iovar und die Naguad stammen von dort. Eine dritte Partei gibt es noch, die Villass, welche die Core-Technologie entwickelt haben.“
„Und von denen sie übernommen wurde. Einige Häuser hier sind richtige Meister im versenden von Cores. Haus Elwenfelt ist in diesem Sektor sehr aggressiv. Und meisterlich darin, das Imperium die Konsequenzen ausbaden zu lassen, nur um anschließend den Rahm abzuschöpfen. Was weißt du über die Cores?“
„Soviel wie du. Kommunikationstechnologie, das Urvolk, reicht das?“
Taylor grinste mich an. „Nicht schlecht, Fliegerjunge.“ Es war ein von Schmerz gekennzeichnetes grinsen, aber es war eines. Das beruhigte mich.
„Sie haben Spuren des Urvolkes gefunden. Des ersten menschenähnlichen Volkes, welches sich zu den Sternen aufschwang, vor zwanzigtausend terranischen Jahren. Die Iovar stammen von ihnen ab, die Anelph, die Begg und die Kavialitaren, die Solsterener ebenso wie die Gon.
Und noch ein paar Rassen und Welten, die wir noch gar nicht entdeckt haben. Genauer gesagt haben sich die direkten Nachfahren der Urrasse in einem Kubus von ungefähr fünfhundert Lichtjahren über die Welten ausgebreitet, die sich ihnen boten. Dann gab es einen Krieg zwischen dem Stammvolk und den Kolonien, aus welchen Gründen auch immer.“
„Menschliche Dummheit“, half ich aus. „Warum sollten sie damals klüger gewesen sein als wir heute?“
„Spötter“, tadelte Taylor mich grinsend. „Jedenfalls, die Menschen hatten sich sehr weit und sehr tief ausgebreitet. Freu dich, für dich als Science Fiction-Freund muß es doch interessant sein zu hören, dass es nicht nur Menschen da draußen gibt, sondern auch Alien-Rassen. Ein Dutzend etwa, von denen acht dem Imperium offiziell bekannt sind, zwei sogar eingegliedert. Aber Tatsache ist, dass das Urvolk verschwand. Es wurde besiegt, das steht fest. Und das vor zwanzigtausend Jahren. Dennoch gibt es über die Systeme und Welten verstreut vielleicht tausende Stationen mit ihrer ehemaligen Hochtechnologie. Eine davon muß ein Core entdeckt haben.“
„Moment mal, willst du mir weismachen, dass das Urvolk ausgelöscht wurde und die Kolonien nicht prompt die Macht übernahmen?“
Taylor stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Sie führten daraufhin Krieg gegeneinander. Ein paar Welten wurden dabei vernichtet, die meisten bombten sich gegenseitig in die Steinzeit zurück. Nur einige wenige wie Iovar und Lorania traf es etwas besser. Andere, wie die Erde, hat es schlimmer erwischt.“
Ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand Schläge angedroht. „Was? Die Erde ist auch eine Kolonie? Aber wir haben doch eine geschlossene Geschichte, menschliche Evolution und so und… Okay, entschuldige die Störung, rede weiter.“
„Missing Link-Theorie, Akira. Als der Homo Sapiens Neandertalensis auf der Erde auftauchte, beherrschte er den Lebensraum. Aber er wurde vom Cro Magnon verdrängt, vollkommen verdrängt. Zwischen beiden gibt es keine Verbindung. Es fehlt ein Glied in der Kette. Waren es zwei parallel existierende Spezies? Oder kam eine von ihnen aus dem Weltraum herab? Vermischten sie sich? Oder vernichtete eine die andere?“
„Interessant. Wir können darüber gerne später ausführlich diskutieren. Aber ich muß nachher eine Welt erobern. Wenn du also auf den Punkt kommen würdest, Henry, mein Lieber?“
„Nun, eine Welt? Nicht, dass ich dir das nicht zutraue, Akira. Jedenfalls sucht der Core nun nach der Urwelt, zweifellos in der Hoffnung, dort noch mehr Technologie zu finden, auf dem Höhepunkt vor dem Krieg, der alle und jeden zurück geworfen hatte. Und bei allem Gerangel, und meinem ursprünglichen Plan, einfach alles über das Imperium heraus zu finden, habe ich das als wichtiger erkannt: Die Rasse, die zuerst die Heimatwelt des Urvolks findet und in Besitz nimmt, steht auf der sicheren Seite.“
Ich nickte, verstehend und bestätigend. Wer die Heimatwelt fand und die eventuell vorhandene Technologie unter seine Kontrolle brachte, konnte der Bedrohung durch die anderen sehr viel gelassener entgegen sehen.
„So, so. Die Archive der Elwenfelt hast du also durch. Und jetzt willst du in meine Archive, um die Urwelt zu finden.“ Meine Archive, wie arrogant, wie typisch für einen Arogad.
„Das ist der Plan, ja.“
Tausend Dinge lagen mir auf der Zunge. Die Frage, für wen er suchte. Die Frage, was er mit dieser Welt tun würde. Aber ich tat es nicht. Ich sackte nur zusammen wie ein Häuflein Elend und würgte, um meine trockene Kehle frei zu kriegen. „Franlin!“
Sofort kam der Mann herein. „Sir?“
„Franlin, Legat Taylor hat ab sofort uneingeschränkten Zugang zu allen Archiven des Hauses, die älter als tausend Jahre sind. Ich erwarte, dass Sie ihm ein Team von Chronisten an die Seite stellen, die ihm bei seiner Arbeit helfen und sie für Haus Arogad kopieren.“
„Für Haus Arogad? Akira, du…“
„So oder gar nicht“, blaffte ich den Mann wütend an. „Haben Sie verstanden, Franlin?“
Der große Mann verbeugte sich mit einem Schmunzeln. „Ich stelle ein fünfzigköpfiges Team zusammen. Ich übernehme die Koordinierung selbst. Zum Nutzen des Imperiums und der Erde.“
Ich nickte zufrieden. „Er teilt seine Zeit selbst ein. Ich erwarte das er sehr gut versorgt wird. Und bitten Sie das mit uns verbündete Haus Fioran, ebenfalls seine Archive für ihn zu öffnen. Lassen Sie durchblicken, was wir suchen und wie wichtig es ist.“
„Ja, Sir.“
„Akira, ich hätte nie gedacht, dass du einmal solch ein Verräter werden könntest“, zischte Taylor.
„Verrat ist es erst, wenn es zum Nachteil der Erde ist“, konterte ich und erhob mich. „Du kriegst jetzt nicht nur ein Archiv, Henry, du kriegst zwei. Dazu deinen eigenen Stab. Mach was draus.“
Ich hielt ihm die Hand hin und erwartete halb, dass er sie ablehnte. Aber ich irrte mich, er ergriff sie und drückte sie für seine Begriffe beinahe sanft. „Für Ai“, sagte er ernst.
„Für Ai“, erwiderte ich ebenso ernst.
„Eins noch“, sagte er und hielt meine Hand umschlossen, als ich mich abwenden wollte. „Eins noch. Wie heißt der Planet, den du erobern willst?“
Ich grinste schief. „Erde.“
„Ich bin sicher, da steckt eine faszinierende Geschichte hinter. Du wirst sie mir beizeiten erzählen, Akira.“
„Sicher. Nachdem du in meine Dienste getreten bist.“
„Nachdem ich… Was?“
„Du wirst einer meiner persönlichen Leute. Oder glaubst du, du kannst jemals wieder zu den Elwenfelt zurück? Aber ich will niemandem auf Asyl und Gnadenbrot. Ich will dich ganz, Henry, deinen kompletten, genialen, verdrehten Verstand.“
„Muss ich mit dir schlafen?“, fragte er in gespieltem Ernst. Für mich war es ein Zeichen dafür, dass mein Versuch, ihn zu überfahren, erschreckend gut funktioniert hatte.
„Nein. Du bist zu groß für meinen Geschmack“, scherzte ich.
„Auch noch Ansprüche stellen… Sir“, sagte er mit einem Hauch von schmunzeln.
Sir. Vielleicht konnte ich ihn retten. Und vielleicht rettete er mit seiner Arbeit die Erde.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Es gab zu viele vielleichts in diesem Spiel. Und ich war drauf und dran das nächste hinzuzufügen.

Epilog:
Ich musste zugeben, in der Hausuniform machte ich eine tadellose Figur. Die Orden auf meiner Brust klimperten und klapperten und stießen bei jedem Schritt gegeneinander.
„Schellenbaum“, spottete Joan neben mir.
Ich lächelte sie an. „Der Typ mit der zweiten Jacke mit dem Rest kommt noch nach.“
Sie prustete. Wohl weil sie wusste, dass das hätte stimmen können. Ich trug längst nicht alle Orden, die mir zustanden oder mir verliehen hatten werden sollen.
Wir schenkten uns einen letzten, privaten Blick, bevor wir auf der untersten Ebene des Bunkers ankamen, mitten im Gefecht. Tatsächlich war die Debatte des Rates schon einige Zeit im Gange.
Gerade hatte Meister Elwenfelt das Wort. „…ist es eine Gefahr für das ganze Imperium, wenn wir diese Rebellion ausufern lassen. Tatsächlich gibt es bereits Unruhen auf weiteren unterworfenen Welten! Eine Strafexpedition, eine harte, schnelle Maßnahme, wird uns die Sicherheit zurückgeben, die wir nun dringend brauchen!“
Verhaltener Applaus unterbrach den Mann und brachte mir die Gelegenheit für den ersten Teil meines großen Auftritts.
„Hauptsächlich auf Elwenfelt-Welten, nicht wahr, Meister Elwenfelt?“, rief ich mit lauter, tragender Stimme.
Die Naguad im Saal wandten sich um, sahen zu mir und Joan herüber. Ein Raunen ging durch den Saal.
„Wer wagt es…?“, begann Miklas Elwenfelt, verstummte aber, weil er wohl Angst vor der Antwort bekam. Aber er bekam sie dennoch.
Ich salutierte. „Akira Aris Otomo-Arogad, Division Commander Otomo-Arogad.“
„Was wollen Sie, Otomo?“, rief der Elwenfelt, meinen Naguad-Namen unterschlagend.
Ich trat näher, Joan als schimmerndes Juwel neben mir, mit einem Lächeln auf den ebenmäßigen Zügen, die Stein hätten schmelzen und Herzen aus Beton zu Staub hätte zerstieben können.
„Ihren kleinen Krieg absagen“, sagte ich ernst und ließ Joan mit einem Nicken bei der Loge von Haus Arogad und Uropa zurück. Dann schwang ich mich, an den Wachen vorbei, mit auf das Pult des Redners. Miklas zog sich zurück, nur ein paar Schritte. Wahrscheinlich verwundert, warum die Wachen mich nicht aufhielten. Nun, ich hatte keine Hemmungen, seinen Platz einzunehmen. Ich sah in die Runde, zu den Logen der neun Häuser, zu den Plätzen des Rates. Zum Publikum. Ich stellte mir vor, während ich ein zynisches Lächeln für die Kameras aufsetzte, wie Uropa hier gestanden hatte, vor zweitausend Jahren, um das Kommunikationsgesetz durchzuprügeln, und wilde Entschlossenheit erfüllte mich. Dieses Podest war Familienbesitz, verdammt!
„Ich möchte Ihnen allen etwas Wichtiges in Erinnerung rufen: Die Erde hat dem Imperium den Krieg erklärt. Hier und heute will ich das wiederholen: Seit drei Monaten befinden sich die Erde, vertreten durch die United Earth Mecha Force, und das Imperium der Naguad im Krieg!“
Ich ließ die Worte wirken, ein wenig von der Bedrohung durchsacken, erzielte damit genau die gewünschte Wirkung, als in den Rängen nervös geflüstert wurde.
Ich grinste schief, als ich mir meinen nächsten Schritt vorstellte.
„Und als ehemaliger Oberkommandierender der UEMF und derzeit höchstrangiger Vertreter der Erdverteidigung und der Allianz zwischen Erde und Lorania…“
Was ich zweifellos war, ein hoher Offizier mit Macht und weitreichenden Befugnissen.
„…erkläre ich hiermit die bedingungslose Kapitulation…“

Ich musste eine Pause machen, um den Tumult abebben zu lassen, der nun folgte. Minutenlang war ich nicht in der Lage, gehört zu werden, trotz der großen Lautsprecher. Erst nach mehreren Aufrufen zur Ordnung wurde es leiser.
Verwirrte Blicke trafen mich. Erschrockene, von den Soldaten, gierige, von den Vertretern der Elwenfelt, deren Cores Lorania und die Erde angegriffen hatten, amüsierte, von Torum Acati und der älteren Frau, die neben ihm saß.
Uropa schmunzelte, während ich Blut und Wasser schwitzte. Würde sich der alte Mann an den Text halten?
„Wie gesagt erkläre ich die bedingungslose Kapitulation der Erde, des Mars, der Streitkräfte beider Welten sowie unserer Besitztümer im Kantosystem, einschließlich aller Streitkräfte und Einrichtungen unserer Verbündeten, über die ich Kommandogewalt habe.“
Nun wurde es richtig laut. Reporter schrieen durcheinander, die Logen der Häuser glichen einem Hexenkessel.
Nun wurde es mir zu bunt. „RUHE!“
Ich hatte schon eine Klinge mit KI verstärkt, meine Bauchdecke, meine Beine, aber noch nie meine Stimme. Das Ergebnis erschreckte mich. Mich und alle Anwesenden im Ratssaal.
„Ich war noch nicht fertig.“ Ich verneigte mich in Richtung meines Uropas. „Meister Oren Arogad, nimmt das Haus Arogad die bedingungslose Kapitulation an?“
Ich musste an mich halten um nicht laut aufzulachen. So greifbar wurde die Stille nun. So umfassend die Enttäuschung der Elwenfelt. So unendlich das Entsetzen.
Torum grinste zu mir herüber als wüsste er, was als zweiter Akt geplant war. Er nickte anerkennend.
„Haus Arogad nimmt die Kapitulation an und übernimmt hiermit nach imperialem Recht die Fürsorgepflicht und das Recht auf Lehen über die genannten Territorien, Bürger und Truppen.“
Oren Arogad räusperte sich, während seine Augen vor Schalk nur so funkelten. „Und gleichzeitig übergebe ich das genannte Gebiet als persönlichen Besitz an meinen Erben Aris Arogad.“
Teufel, ging es mir bei dem nun anstehenden Chaos durch den Kopf, hättest du dir die Zunge abgebrochen, wenn du zumindest Otomo-Arogad gesagt hättest, Opa?

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Anime Evolution: Past
Episode drei: A und O

1.
„Halte dich gerade“, zischte Jora Kalis Megumi Uno zu. „Und sieh starr geradeaus, verstanden?“
„Wer bist du, dass ich mich von dir tadeln lassen muß?“, zischte Megumi zurück.
Die beiden Frauen wechselten einen wütenden Blick.
„Ich bin die Ältere, und die große Schwester hat immer das letzte Wort. Das solltest du eigentlich wissen.“
„Ich hatte nie eine große Schwester.“
„Was?“ Erstaunt schielte Jora zur Frau von der Erde herüber. „Keine große Schwester, mit der du dich wegen Musik gezankt hast? Wegen Filmen und Jungs, die du gut fandest? Keine große Schwester, die dir in den Ohren lag, wie du dich benehmen sollst und wer der richtige Umgang für dich ist? Die dir tonnenweise unnötige Tipps für dein erstes Date mitgegeben hat?“
„Nicht wirklich“, erwiderte Megumi.
„Mann, was hast du alles verpasst.“ Mitleidig sah die Naguad herüber.
Unsicher erwiderte Megumi den Blick. „Ich hatte Akira.“
„Nun“, erwiderte Jora leise, „vielleicht ein guter Tausch.“

Sie betraten den Hangar, in dem gerade die beiden Mechas Thunderstrike und Archer für den Transport auf die TAUMARA bereit gemacht wurden. Im Hintergrund werkelten die Techs auch an Lady Death.
„Pass auf, dass die Schirmmütze nicht verrutscht“, murmelte Megumi ernst.
Jora nickte dazu. Und beglückwünschte sich zur Idee, das Licht in der Halle dimmen zu lassen.
Sie erreichten die Gruppe wartender Menschen, Yoshi, Yohko und Yodama-sama.
„Ich nehme Joras Red Team-Banges. Und mit Lady Death könnt Ihr… Könnt Ihr… Es wird sich schon was finden.“
„Danke, ich danke dir.“ Jora hoffte, dass man den plötzlich in Megumis Stimme triefenden Sarkasmus nicht höre würde.
„Du machst das schon, Mädchen. Hauptsache, Ihr bringt Akira zurück.“ Ihre Stimme wurde scharf, um diesen besonders wichtigen Punkt in das Gehirn der Jüngeren zu prügeln.
Es schien zu wirken, denn die Anführerin von Briareos straffte sich.
„Wir können, Admiral.“
Die beiden Frauen, die sich so ähnlich sahen und im Moment nur durch ihre Haarfarbe und den Schnitt unterschieden werden konnten, trennten sich. Die eine im engen Druckanzug der Mechapiloten, bewehrt mit dem so typischen roten Helm der absoluten Elitepilotin der Erde, folgte Yoshi und Yohko an Bord der TAUMARA. Die andere, mit Uniform und Schirmmütze der UEMF ausgestattet, sah ihnen nach und salutierte auf terranische Art.
Soweit, so gut.
Ein letzter, spöttischer Blick traf die uniformierte Frau, die unwillkürlich nach ihrer Uniformmütze griff, als sie meinte, Admiral Arogad würde nicht hinsehen.
„Ihr hättet auch einfach fragen können, anstatt diesen ganzen Ärger zu riskieren“, bemerkte die Admiralin schmunzelnd, während sie auf die Schleuse zuging und nach hinten winkte.
Jora Kalis bekämpfte einen Moment das Entsetzen. Verdammt, hatte Akiras Großmutter sie durchschaut? Megumis Vorbereitungen, um sich an Bord der TAUMARA schmuggeln zu können, Joras Bereitwilligkeit, hier die Rolle des terranischen Aß zu spielen, war das alles aufgedeckt, bevor es richtig geklappt hatte?
Das wurmte die Frau aus dem Haus Daness. Gegen die Arogad zurückstecken zu müssen wurmte jeden Daness.
Aber Megumi war nun als Jora Kalis auf dem Weg an Bord der Fregatte, und Jora als Megumi Uno hier in der Axixo-Basis, um ihre Rolle zu spielen.
Also war es zumindest keine Niederlage. Keine vollkommene.

Die Haare färben würde sie dennoch müssen, wenn sie weiterhin Megumi spielen sollte, ging es ihr durch den Kopf. Zum Glück hatte ihre jüngere Hausschwester alles vorbereitet.
Jora schmunzelte. Es hätte so ein schönes Husarenstück werden können. Andererseits war Megumi bereits in Erklärungsnotstand gekommen, als sie in voller Pilotenmontur und aufgesetztem Helm auf die Fregatte gewechselt war.
„Viel Glück, Schwester. Und bring Akira und Joan sicher wieder nach Hause“, murmelte sie. Auch wenn er nur ein Arogad war. Allerdings ein ganz besonderer.
**
„Komm mal her, du!“ Kraftvoll griff Yoshi zu, langte der Mecha-Pilotin in den Nacken und zog sie aus dem Banges-Hangar mit. Bevor es sich die junge Frau versah, zerrte der große blonde Eagle-Pilot sie schon über diverse Gänge und anschließend in eine schlampige, unaufgeräumte Kabine, die lauthals schrie: Hier wohnt ein Mann.
„Hey, Moment mal, Yoshi, was soll das alles?“
In der Mitte des Raumes ließ der Major die Frau stehen und nestelte an ihrem Helm.
Erschrocken legte sie beide Hände darauf. „Y-yoshi! Lass das! Ich…“
„Stell dich nicht so an, Megumi! Beeilen wir uns lieber!“
Erschrocken starrte sie den Freund an, während die Tür aufging und zwei junge Frauen den Raum betraten. Aria Segeste und Yohko Otomo kamen herein.
„Du hast sie ja immer noch nicht aus ihrem Anzug rausgepellt, Yoshi. Dabei sagt Yohko doch immer, sie kriegst du ganz schnell aus ihren Klamotten“, scherzte Aria.
Yoshi gewann gerade den Kampf mit dem Helm und zog ihn der Frau im Druckanzug vom Kopf. „Ganz ausziehen überlasse ich euch Mädchen, sonst kriege ich Ärger mit Akira.“
Erschrocken, eher entsetzt sah Megumi in die Runde. Unbewusst versuchte sie ihre Haare zu verdecken.
„Also doch“, stellte Yohko fest. „Mädchen, du hättest wenigstens färben können. Genug Zeit hattest du ja.“
„Ha, hast du schon mal versucht, auf einer militärischen Basis schwarze Tönung aufzutreiben?“, konterte Megumi bitter. „Wie habt Ihr es gemerkt?“
„Wir wussten es von Anfang an“, gestand Yoshi und öffnete die Tür zu seinem Badezimmer. „Ehrlich gesagt wäre ich jetzt sehr enttäuscht gewesen, wenn du nicht du wärst, sondern Jora. Aber da Colonel Uno ja mal wieder eine Show veranstalten musste anstatt laut und deutlich zu sagen, dass sie auf die Expedition mit will, wirst du Jora spielen müssen, bis wir das System verlassen haben. Und Jora wird die ganze Zeit dich spielen müssen. Bist du dir darüber im klaren, was du deiner Schwester da aufgebürdet hast?“
Betreten sah Megumi zu Boden. „Ja. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass sie mir… Das sie mir ohne zu zögern geholfen hat. Das Ihr mir ohne zu zögern helfen wollt.“
„Nun geht da schon rein“, tadelte Yoshi, „bevor ich gestandener Mann noch in Tränen der Rührung ausbreche. Schwarze Tönung liegt bereit, dazu ne frische Uniform. Oder wolltest du die ganze Zeit im Druckanzug mit Helm herum laufen?“
Aria zog eine lange, schmale Schere hervor. „Außerdem habe ich hier das perfekte Utensil, um deinen Haarstil von Megumi auf Jora zu ändern. Ich bin da recht begabt. Wenn ich nicht das Universum hätte erobern wollen, wäre ich Haarkünstlerin geworden.“
„Ach ja? Hm. Und wie war das neulich, als du mich zwanzig Zentimeter Haar gekostet hast, weil du meinen Saum nicht gerade gekriegt hast?“, tadelte Yohko.
„Wenn ich ehrlich bin, war das eine Bestellung von Yoshi. Er meinte, so würdest du besser aussehen. Also hat er mich mit Süßigkeiten bestochen und ich…“
„Wie dem auch sei!“, sagte Yoshi hastig und schob die drei Frauen ins bereit stehende Bad. „Gebt euer Bestes! Banzai!“ Er schloss die Tür und begann eilig in seinen Sachen zu kramen. Wenn diese Tür wieder aufging, dann würde Yohko potentiell tötungsbereit sein, egal ob ihr ihre kürzeren Haare gefielen oder nicht. Und Yoshi hatte nur eine Waffe, die ihm das Leben retten konnte. Oder zumindest den Sex der nächsten Wochen und Monate.

2.
Der Weg zum Sprung war lang, unendlich lang. Jede Sekunde dehnte sich zur Minute, jede Minute zur Stunde, und jede Stunde kam ihr vor wie ein Tag. Und Megumi war erst einen Tag an Bord. Ihr kam es aber schon vor wie eine geschlagene Woche.
„Träum nicht“, tadelte Aria Segeste und stieß die junge Frau in die Seite.
„Hey“, beschwerte sich Megumi. „Genau da bin ich kitzlig.“
„Träum trotzdem nicht.“ Die Naguad blieb vor einer Kabinentür stehen, auf der fünf goldene Sterne angebracht waren. „Denn ein Fehler hier drin kann dich deine Karriere kosten.“
Unsicher sah Megumi auf die Tür. Die Tür von Eri Yodama, Akiras Großmutter. Und wie sie seit einiger Zeit wusste, der Hauptfinanziererin der gesamten Expedition. Eine Person aus dem Hintergrund, die wie eine geschickte Puppenspielerin die Fäden gezogen hatte, unerkannt, geheim und verborgen, während sie alle nach dem Zug dieser Fäden agiert hatten. Ihr schauderte vor Eri Yodama. Wie würde sie sein?
Sie waren zusammen auf der AURORA gewesen, für Wochen, aber einander nie begegnet.
Und jetzt flog sie mit dieser Frau auf einer Expedition ins Ungewisse.
Unwillkürlich kochten in Megumi die üblichen Zweifel hoch, die ein gestandener Militär empfand, wenn er von einem Zivilisten Befehle entgegen nehmen musste.
„Du machst das schon.“ Aria zwinkerte ihr zu.
„I-ich wünschte, ich wäre Raucherin. Jetzt irgendetwas in der Hand halten zu können würde mich wirklich beruhigen.“
Die Naguad runzelte die Stirn. „Glaub mir, das willst du nicht. Du riechst nach Tabak, du schmeckst permanent den Tabak, und jeder der dich küsst, schmeckt den kalten Rauch.“
„Ich will es mir ja nicht angewöhnen“, fauchte Megumi. „Ich will nur was für meine Nerven. Ich habe schon gegen eine eins zu zehn-Übermacht gekämpft. Ich habe schon feindliche Fregatten im Alleingang zerstört. Ich wäre mehrere Male beinahe gestorben. Und ich war an einer Schule, an der mich alle, die Elite-Pilotin der Menschheit, wie einen gefährlichen Hund behandelt haben. Ich habe zweimal den Mars angegriffen! Zweimal! Und ich habe die Hekatoncheiren aufgebaut aus einem Haufen Kinder, Halbstarker und Typen die meinten, sich als Soldaten verstehen zu dürfen.
Aber jetzt, genau jetzt habe ich Angst wie noch nie in meinem Leben. Gott, ich fühle mich, als müsste ich jemanden um seine Hand anhalten.“
Aria gluckste. „Im gewissen Sinne stimmt das ja auch. Vergiss nicht, dass diese Frau Familie für dich wird, wenn du dir Akira krallst.“
„Falls ich ihn mir krallen kann, weil die Naguad was von ihm übrig gelassen haben.“
„Hier.“ Aria legte die Linke auf Megumis Schulter und hielt ihr die Rechte hin.
Die junge Elite-Pilotin nahm das Päckchen Alu-Folie entgegen. „Bitte?“
„Das ist Schokolade. Nun, keine terranische Sorte. Aber die Anelph machen ein paar Süßigkeiten, die ganz ähnlich sind und auch ähnlich wirken. Auf jeden Fall ist jede Menge Zucker drin und...
Hey, du könntest mir zumindest zuhören.“
Aber die Terranerin hatte die Packung bereits aufgerissen und ein gewaltiges Stück des schwarzen Riegels abgebissen. Hastig begann sie zu kauen und zu schlucken. Nur langsam stellte sich Genuss ein. „Danke“, murmelte sie mit vollem Mund.
„Mädchen, Mädchen“, tadelte Aria, zog ein Taschentuch hervor und wischte Megumis Mundwinkel ab. „Musst du verzweifelt sein.“

„Komm mir nicht zu nahe!“, blaffte Yohko, während sie schnell, sehr schnell, durch den Laufgang schritt.
Yoshi, an den die Worte gerichtet waren, sah ihr mit einem Blick nach, der Steine schmelzen konnte. „Schatz, alles was ich will ist doch…“
„Ich will es nicht hören! Ich will es nicht hören! Ich will es nicht hören!“
„Yohko-chan. Nur eine einzige Minute. Eine Minute deiner kostbaren Zeit!“
Die beiden Frauen starrten dem Paar irritiert hinterher.
„Müsste nicht eigentlich Yoshi vor Yohko davon laufen? Wegen der Haare und so?“, fragte Aria ernst.
Megumi schob sich gerade den letzten Rest des Schokoriegels in den Mund. „Verstehs auchnich.“
„Hm. Yoshi muß irgendetwas gefunden haben, wovor Yohko panische Angst hat. Wirklich panische Angst. Spinnen? Mäuse? Raclas?“, zählte sie ihr Lieblingsungeziefer auf.
„Keine Ahnung, aber einer von beiden wird es uns schon erzählen.“ Megumi nahm ihre Uniformmütze ab und verstaute sie unter der linken Armbeuge. Sie trug die Uniform, die Jora Kalis als Lieutenant zustand, aber richtig wohl fühlte sie sich nicht damit. „Kann ich so reingehen?“
Mit Kennerblick und erfahrenen Händen richtete die Naguad die Uniform der Jüngeren her, glitt durch den Kragen und musterte sie kritisch. „Bestanden.“
Unwillkürlich sah Megumi auf die Kabinentür. Ihre Hände begannen zu zittern. „Hast du noch ne Schokolade?“
„Hasenfuß.“ Aria schmunzelte. Diesen terranischen Fluch mochte sie besonders. Sie klopfte an die Tür. „Ma´am, Lieutenant Kalis ist nun hier.“
„Danke, Aria. Sie können gehen. Kalis kann eintreten.“
Aria öffnete die Tür einladend einen Spalt und nickte Megumi aufmunternd zu. „Du machst das schon.“ Danach schob die Naguad die Jüngere mit Gewalt in die Kabine.

Für einen winzigen Moment dachte Megumi ernsthaft an Flucht – umdrehen, die Tür aufreißen und wieder raus auf den Gang. Aber hätte das etwas gelöst?
Widerstrebend orientierte sie sich. Ein ungemachtes Bett, ein unaufgeräumter Schreibtisch, ein halbes Dutzend teilweise geleerter Reisetaschen, im kleinen Badezimmer brannte Licht…
Okay, die Kabinen an Bord waren mit dem Komfort an Bord der AURORA nicht einmal ansatzweise zu vergleichen. Aber hätte Yodama-sama sich nicht ein Büro nehmen können anstatt die junge Mecha-Pilotin in ihre Privatkabine zu bestellen?
Eri Yodama lugte kurz hinter der offenen Schranktür hervor. Sie lächelte. „Komm rein, Megumi-chan. Ich habe gleich Zeit für dich. Ich wollte nur schnell noch die alten Sachen anprobieren. Ich hoffe, ich passe noch rein, immerhin habe ich sie fast dreihundert Jahre nicht getragen.
Auf dem Schreibtisch steht eine Kanne mit grünem Tee.“
Unwillkürlich verbeugte sich die beste Pilotin der UEMF und machte sich gehorsam auf den Weg zum Schreibtisch. So, das war also Eri Yodamas Reich? Und Yodama-sama, Akiras und Yohkos Großmutter, war nur wenige Schritte von ihr entfernt. Akiras Großmutter und Tante Helens Mutter. Megumi spürte ihre Wangen heiß werden. Dies war das erste Mal, dass sie einander begegneten.
Gehorsam setzte sie sich und goss zwei Tassen mit Tee ein. „Zucker, Ma´am?“
„Nein, danke. Ich trinke ihn pur. Aber tu dir keinen Zwang, an, Megumi-chan. Irgendwo auf dem Schreibtisch müssten Zucker und Milch herum liegen.
Und entschuldige bitte den Zustand hier. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ernsthaft aufzuräumen.“
Sie kam hinter der Schranktür hervor. „Und? Was denkst du? Passt die alte Uniform noch?“
Megumi spürte, wie ihr die Kinnlade herabsackte. Eri Yodama trug eine himmelblaue Uniform mit goldenen Akzenten. Sie war reichlich behangen mit Ehrenabzeichen und Kampagnenbändern. Auf dem linken Ärmel lief ein rotes Band herab, welches in Nag-Alev beschriftet war, der Hauptsprache des Imperiums. Die Buchstaben formten zusammen den Namen Arogad. Akiras Naguad-Haus. Und auf der linken Brust lag ein weiteres rotes Band, auf dem fünf goldene Sterne befestigt waren. Die Rangabzeichen dieser Uniform.
Megumi hatte sich alleine schon aus der Notwendigkeit heraus mit dem Militär des Imperiums beschäftigt und wusste bereits eine Menge. Zum Beispiel, dass sie hier eine so genannte Hausuniform vor sich hatte, eine Uniform die von Offizieren getragen wurde, die von ihrer Familie an das Militär der Naguad verliehen worden waren – Beitrag zum Imperium.
Die Hausuniform war natürlich die des Hauses Arogad. Wie hatte es auch anders sein können. Und die fünf goldenen Sterne kennzeichneten Eri Yodama als Volladmirälin.
Megumi beschloss, angemessen beeindruckt zu sein. „Die Uniform passt tadellos, Ma´am.“
„So? Das freut mich. Oder sagst du das nur, um bei Akiras Oma Punkte zu sammeln, Megumi-chan?“
„Das ist nicht meine Art“, versicherte die Kommandeurin des Briareos-Regiments.
Eri schmunzelte und setzte sich auf das Bett. Vorsichtig langte sie nach der zweiten Tasse und nahm einen langsamen Schluck. „Es macht mich richtig nostalgisch, wieder in einer Hausuniform zu stecken. Es gab Zeiten da hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, eine reale Uniform anzuziehen und mir lieber eine KI-Rüstung angelegt. Aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Diese Uniform wurde für mich nach Maß gefertigt, damals, vor fast fünfhundert Jahren.“ Ihr Blick schien in ferne Vergangenheiten zu reichen, zu weit entfernt als dass Megumi ihr hätte folgen, sie hätte verstehen können.“
„Du siehst Jeter sehr ähnlich, weißt du das, Megumi-chan? Und ich mag deinen Großvater wirklich. Wenngleich er ein ungehobelter, dummer Klotz ist. Meistens, jedenfalls.“
„Jeter?“
„Ach, richtig. Du kennst deine Naguad-Verwandten ja gar nicht.“ Eri seufzte und legte eine Hand auf Megumis Schulter. „Es tut mir Leid. Ich bin sicher, deine Eltern hätten dir einiges darüber erzählt, wenn sie die ersten Angriffe der Kronosier überlebt hätten, aber leider haben sie das nicht, und ich und Michael haben leider nicht unsere Pflichten erfüllt und dich an ihrer Statt über dein Bluterbe aufgeklärt.“ Sie atmete frustriert aus. „Ich bin sicher, wenn ich dir einrede, es hätte an zuwenig Zeit gelegen, würdest du es mir glauben. Aber das ist nur zum Teil wahr. Die meiste Schuld hat Michaels und meine Angst, dir in die Augen zu sehen, Megumi-chan. Dir nicht nur die Wahrheit zu sagen, sondern in deine Augen zu sehen und deine Eltern in ihnen wieder zu erkennen.“
Siedendheiß fiel Megumi bei diesen Worten etwas sehr wichtiges ein. Sie war ja nicht als Megumi Uno hier, sondern als Jora Kalis und…
„Versuch es gar nicht erst, Megumi-chan“, sagte Eri nachdrücklich. „Der Tag, an dem ich zwei Menschen anhand ihrer Auras nicht mehr auseinander halten kann ist der Tag, an dem ich mich auf den Gipfel eines Berges zurückziehe, um den Rest meines Lebens zu meditieren.“
„Aber ich bin…“
„Was habe ich dir gerade gesagt? Noch habe ich dich nicht offiziell entlarvt und nach Hause geschickt. Aber ich könnte es mir noch überlegen, Megumi-chan. Also?“
Mit glühenden Wangen senkte Megumi den Blick. „Jawohl, Ma´am.“
„Sehr schön. Ich habe, wohlgemerkt, nichts dagegen gesagt, dass du die Rettungsexpedition für Akira und die arme Joan begleitest. Wahrscheinlich hätte ich selbst drauf kommen sollen, wahrscheinlich wäre das viel besser gewesen. Aber ich bin es nicht, du bist es aber, und Jora war dir eine willige Helferin. Und deswegen haben wir jetzt das Dilemma.“

Eri Yodama erhob sich. „Megumi Uno, ich bin Eridia Arogad-Lencis, Flaggoffizier in der imperialen Flottes des Naguad-Imperiums, Mitglied im Rat des Hauses Arogad, Meisterin des AO, Tochter des Vorsitzenden des Hausrates der Arogad, Oren Arogad und der kaiserlichen Admirälin Aris Ohana Lencis, Mutter von Helen Otomo und Großmutter von Akira Otomo und Yohko Otomo. Es freut mich sehr, dich kennen zu lernen, Megumi Uno. Oder sollte ich dich bei deinem anderen Namen nennen, Solia Kalis des Hauses Daness?“
„I-ich wusste nicht, dass…“, stammelte Megumi.
„Was? Das ich auf Naguad Prime eine so wichtige Person bin?“, fragte Eri ohne Spott in der Stimme. „Oder das ich deine Herkunft kenne, bis ins kleinste Detail?“
„Beides.“
„Ich kann dir eine Menge über deine Familie erzählen. Nun, zumindest, soweit ich es als Arogad weiß. Die Daness sind mit den Arogad im ständigen Wettstreit, mal Verbündete, mal Rivalen, mal führt das eine Haus, mal das andere. Deshalb sind die Daness nicht wirklich freigiebig mit Informationen, weißt du? Das meiste ist also Hörensagen oder was ich von deinen Eltern weiß.“
Megumis Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Eltern… Die alten, schattenhaften Erinnerungen an sie lebten wieder auf, die schrecklichen Momente, als sie beide starben, in der unwirklichen Schlacht um Tokio, als Akira sie gerettet hatte, all das brach über ihr zusammen.

Als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, brannten ihre Augen und ihre Wangen wegen der vielen Tränen, die sie hinab geflossen waren, fühlte sich ihr Hals an, als würde ihn eine eiserne Spange einschnüren. Ihre Stimme klang rau und holprig; noch vor Minuten hatte sie damit geschluchzt.
Sie blinzelte, um die letzten Tränen aus ihren Augen zu vertreiben und erkannte endlich, wo sie sich befand: In Eris inniger Umarmung, fest auf die Brust gepresst. Im ersten Reflex wollte sie sich losreißen, Akiras Oma diese Demütigung durch ihre Schwäche ersparen, aber Eri roch so gut, war so warm. Und die Hände, die Eri um sie gelegt hatte, waren auch so warm und gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit.
„Es tut mir so leid, mein Kind“, hauchte Eri und streichelte durch Megumis gefärbte Haare. „Es tut mir so leid, dass Michael und ich dich so lange alleine gelassen haben. Wir hatten wichtige Gründe dafür, aber du hättest darunter nicht leiden sollen. Vor allem nicht, nachdem Yohko auf dem Mars verschollen war und Akiras Gehirn teilweise gelöscht worden war. Du hattest niemanden, wirklich niemanden, der dich einfach so in den Arm genommen hat, der dir zugehört hat, mit dem du sprechen konntest, während du gleichzeitig wieder und wieder Angriffe der Kronosier mit deinem Hawk abwehren musstest. Es tut mir so leid, Megumi-chan. Deine Einsamkeit…“
„Ich war nicht völlig einsam“, sagte Megumi mit rauer Stimme. „Nicht völlig. Da waren Sakura und Makoto, da waren Eikichi und Karl. Jerry war da und Yoshi… Und auch wenn Akira nicht mehr alles wusste, so war er doch wenigstens da für mich. Sie waren meine Familie. Aber… Ma´am?“
„Sag Eri zu mir, Tochter“, antwortete die Naguad mit einer warmen und sanften Stimme, die Kindern Geborgenheit und potentiellen Schwiegersöhnen die Grenzen aufzeigte.
„Eri-sama. Können wir noch etwas so bleiben?“
Eri umarmte die junge Frau noch etwas fester. „Natürlich, Megumi-chan. So lange, wie du willst.“

Wenn man es mal nüchtern und ernsthaft betrachtet, dann war Megumi Uno ein Mädchen mit einer der härtesten Kindheiten, die man sich vorstellen konnte. Es gab Waisenkinder genug auf dieser Welt, einige waren es von Geburt an, andere verloren ihre Eltern durch Widrigkeiten später im Leben.
Wie bei Megumi hatten viele Kinder einen Elternteil, beide, oder Geschwister verloren, als die Kronosier die großen Städte angriffen – bevor die Erde genügend Potential hatte, um diese Angriffe in den Erdorbit zurück zu drängen. Mit der Helium3-Förderung und dem Transport zur OLYMP-Plattform hatte man später ein wesentlich lohnenderes Ziel geschaffen und die kurze Zeit des Schreckens schnell in Vergessenheit geraten lassen können.
Nur für Megumi hatte es kein Vergessen gegeben. Zwölf Jahre alt, die Eltern, beide Militärs, verloren, war sie nach Akira die erste gewesen, die auf Kompabilität mit der KI eines Mechas getestet worden war. Ihre Werte waren ähnlich hoch gewesen wie die des jungen Otomos, und damit hatte ein Weg begonnen, der unendlichen Schrecken bedeutet hatte, unendliches Leid, von ihr gesehen, von ihr verursacht. Ohne Familie, die ihr Rückhalt gab.
Ihre Großeltern kannte sie nicht. Wie denn auch, denn wie sie jetzt wusste, lebten diese – falls sie noch lebten – auf Naguad Prime oder der terraformten Welt Daness.
Sie war allein gewesen, hatte einen der brandneuen Hawks gesteuert und war an Akiras Seite in die Kämpfe eingestiegen. Als Waise. Das Militär hatte sie hochoffiziell adoptiert, was ihr die Möglichkeit gegeben hatte, abseits der staatlichen Fürsorge zu leben.
Selbstständig zu werden, mit nicht einmal ganz dreizehn Jahren, nebenbei die Welt zu bereisen, um mit ihrem Hawk die überall angreifenden Kronosianer zurück zu treiben, es war eine furchtbare Zeit gewesen.
In diesen Tagen hatte sie sich oft genug bei Akira ausgeheult – und Yohko in den Armen gehalten, weil Akira nichts davon wissen sollte, wie viel Angst seine kleine Schwester wirklich hatte – bei Makoto, bei Sakura, hatte sogar Eikichi gehabt. Und letztendlich auch Jerry Thomas, ihren und Akiras Lehrmeister.
Aber hier, in diesem Moment, in dieser Kabine an Bord einer geenterten naguadschen Fregatte, in den Armen einer über sechshundert Jahre alten Frau, brach all das über sie herein, was sie die letzten Jahre so schmerzlich vermisst hatte. Sie fühlte sich auf eine seltsame Art geborgen. Nicht besser oder schlechter als in Akiras Armen, irgendwie anders. Es erschien ihr einfach normal und richtig zu sein.
„Megumi-chan, ich habe eine Bitte“, sagte die Arogad unvermittelt.
Die Anführerin von Briareos sah auf.
„Megumi-chan, kannst du es einmal für mich sagen?“
„Was sagen, Eri-sama?“
Verlegen sah die Admirälin zur Seite. „Kannst du mich bitte Oma nennen? Nur ein einziges Mal.“
Ein wenig überrumpelt löste sich Megumi von der Älteren und musterte sie. „Eri-sama, das Wort ist so… unpassend. Sie sehen nicht einen Tag älter aus als dreißig.“
„Na, das hört eine Frau doch gerne“, lachte die Naguad. Etwas leiser fügte sie hinzu: „Bitte, Megumi-chan. Die letzten Jahre musste ich die meisten Kontakte mit Eikichi und den Kindern Michael überlassen. Ich wurde bei… Ich wurde an anderer Stelle gebraucht. Ich habe sie kaum getroffen, obwohl ich es wollte. Ich habe dich nie gesehen, obwohl ich dich immer in unsere Familie aufnehmen wollte. Ich kann dir deine Eltern nicht ersetzen. Das kann niemand. Aber ich kann dir vielleicht die Großmutter ersetzen, die du nie hattest. Bitte. Nur ein einziges Mal.“
„Aber… Aber…“
„Egal, was im Nag-System auf uns wartet, Schatz. Du gehörst zur Familie. Also. Bitte.“
Megumi fühlte wie Blut ihre Wangen füllte, wie sie zu brennen begannen. Unsicher sah sie zur Seite. „I-ich weiß nicht, Eri-sama. I-ich habe so was noch nie gesagt.“
„Komm, Megumi-chan. Der alten Eri zuliebe.“ Ihre Stimme klang schmeichelnd, verlockend, freundlich, hatte diesen samtigen Ton, der Mütter zu eigen ist und wischte all ihre Widerstände davon. Megumi sah noch immer weg, erhob sich und sah verlegen zur Seite.
„O…“, begann sie. Ermunternd nickte Eri ihr zu. „Oooooo…“
„Komm schon, du kannst es.“
Megumi fand die Kabinentür plötzlich sehr interessant. Aber dann griff sie sich ein Herz.
„Oma!“ Wieder füllten Tränen ihre Augen, und sicherlich hätte sie sich wieder an den Busen der Älteren geschmiegt, wenn die nicht freudestrahlend nach der Mecha-Pilotin gegriffen hätte, und sie nun wieder an sich drückte. „Du bist so ein gutes Mädchen. Mein kleiner Akira hat ja gar keine Ahnung, was für ein Glück er mit dir hat.“
„Mit einer Psychopathin, die man in einen Mecha gesetzt und die über zweihundert intelligente Wesen getötet hat“, hauchte Megumi.
„Was für ein Quatsch. Hätte ein anderer das über dich gesagt, hätte ich ihn schon in zwei Hälften zerbrochen“, tadelte Eri ernst. „Du bist Megumi Uno, und die Menschheit verdankt dir mehr, als sie dir jemals zurückgeben kann.“

Bei diesen Worten konnte Megumi nur atemlos schluchzen. Es dauerte lange, bis sie sich zumindest wieder soweit gefangen hatte, dass sie etwas sagen konnte. „Eri-sama, du bist so nett zu mir.“
„Oma heißt das“, tadelte die Arogad. Sanfter fügte sie hinzu: „Es war ein weiter Weg bis zu dem Punkt, an dem ich nun stehe. Würdest du mir glauben, dass ich in meiner Jugend das arroganteste, widerlichste und selbstüberzeugteste Biest war, das jemals in dieser Milchstraße unterwegs war? Das meine Arroganz locker einen Mond berührt hätte, während ich auf der Oberfläche des entsprechenden Planeten stand?“
„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen“, erwiderte Megumi, und fügte zögernd hinzu: „Oma.“
Eri Yodama lächelte. „Setz dich ordentlich hin und nimm dir noch etwas Tee. Ich will dir ein wenig über mich erzählen. Über den schlimmsten Menschen, den ich je kennen gelernt habe. Mich selbst.“

3.
„Oren, es ist grauenhaft. Selten habe ich einen übleren Raufbold, Trinker und Lebemann kennen gelernt. Nicht mal ich in meinen Flegeljahren habe mich je so aufgeführt, geschweige denn die Chance dazu gehabt. Und ich habe mich schon mal mit dem kompletten Haus Elwenfelt angelegt!“ Selten erlebte man Luka Maric, den Stabschef des Haus-Meisters Oren Arogad so außer sich. „Und als wenn das noch nicht genug wäre, hat dieser üble Raufbold, Trinker und Möchtegern auch noch eine eigene Bande aufgestellt, die ihm beim terrorisieren der umliegenden Türme hilft. Oren! Tu etwas!“
Der Vorsitzende des Rates der Arogads sah zum Grund von Lukas Wut herüber und schüttelte den Kopf. Langsam, nachdrücklich erhob er sich und ging auf die kleine Couchecke zu, Luka Maric im Schlepp.
Sein Ziel polierte derweil desinteressiert die Fingernägel.
Doch Oren entgingen nicht die Handvoll vorsichtiger, taxierender Blicke, die ihm und seiner Stimmung galten.

Mit einem Seufzer ließ sich Oren seiner Tochter gegenüber auf der Couch nieder. Luka setzte sich neben ihn, die junge Frau fixierend, als wäre sie eine potentielle Attentäterin.
„Eridia. Was soll ich nur mit dir machen?“
Die Angesprochene knurrte verärgert. „Was muß ich hier rum sitzen? Seg und Vortein wollten mich vor einer Stunde vor dem Imperidrom treffen. Wir wollten einen Zuma trinken gehen.“
„Ihr wolltet Morgain Koromando und seiner Gruppe auflauern, um ihnen die angedrohte Tracht Prügel zu verpassen!“, warf Luka ein und bewies damit wieder einmal, wie gut sein Nachrichtennetz wirklich war.
„Was soll ich denn machen? Sie haben Line und Tellenk verprügelt! Soll ich das vielleicht unbeantwortet lassen? Wenn jemand meine Untergebenen angreift, dann ist das ein Angriff auf mich! Und so etwas kann ich nicht auf mir sitzen lassen? Oder soll ich etwa Vaters kostbare Arogads den gewalttätigen Idioten der anderen Türme ausliefern?“
Berechnend sah Eridia zu ihrem Vater herüber, wohl in der Hoffnung herauszufinden, ob ihr Argument zog und zu ihrer Entlastung beitragen würde. Es war allgemein bekannt, dass Oren Arogad rein gar nichts von den Koromando hielt, seit sie einen planetaren Aufstand in einer Mark unter ihrer Verwaltung blutig niedergeschlagen hatten.
Oren Arogad schmunzelte. „So, so. Du wolltest dich mit den Koromando anlegen?“
Die junge Frau, halb Iovar, halb Naguad, sah freudestrahlend auf. Ihr triumphierender Blick galt Luka Maric, eigentlich neben ihrem Vater der einzige Naguad, dem sie wenigstens zuhörte. „Ja, Vater.“
„Gut, dann wird es dich freuen zu hören, dass du dazu demnächst ausreichend Gelegenheit haben wirst. Du kommst auf die Flottenakademie.“
„Was? Auf die Akademie? Was sollen die stinkenden Naguad mir denn schon beibringen können, was ich nicht schon auf Iotan gelernt habe?“, blaffte sie entrüstet. Natürlich ging sie zu weit. Natürlich wusste sie es. Aber ihr Blut war heiß und ihr Verstand störrisch. Eigentlich beste Eigenschaften für einen Daness, dachte Oren bitter, aber nicht unbedingt für einen Arogad. „Zum Beispiel Demut!“, sagte er scharf zu seiner Tochter.
„Demut?“
„In diesem Jahr kommen ungewöhnlich viele Koromando an die Akademie. Die Kadetten der Arogad dürften es ziemlich schwer haben, vor allem nach deinen jüngsten Aktionen, Eridia. Es ist nur recht und billig, wenn du auf sie aufpasst.“
„Demut“, presste sie statt einer Antwort hervor.
„Aris Taral wird in diesem Jahr ebenfalls an die Akademie gehen. Ich war so frei, seine Akte den Koromando zukommen zu lassen und…“
„DEMUT!“, schrie sie ihren Vater an. „DEMUT SOLL ICH LERNEN? DANN LERNE ICH EBEN DEMUT! UND WENN ICH DAFÜR DIE GANZE AKADEMIE AUSEINANDER REIßEN MUß!“
Wütend sprang die junge Frau auf. Mit verzerrtem Gesicht stürmte sie durch das Büro ihres Vaters, zum Ausgang.
„War das ein ja, Eri?“, fragte Oren leise.
Die Halb-Iovar blieb kurz stehen. „Ja, Vater.“

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen und sie in die untere Spitze des Turms gegangen war, lehnte sich Luka weit nach hinten. „Bei den Pulsaren von Neporit, Oren, hast du so ein Glück oder bist du einfach nur wahnsinnig? Beim ersten Versuch hast du es geschafft, deine vermaledeite Tochter auf die Akademie zu bringen. Hey, wollen wir nicht als nächstes versuchen, auf der Sonnenkorona zu schwimmen? Komm, das ist doch jetzt ein Klacks für dich.“
„Vorsicht“, mahnte das Oberhaupt der Arogad den Freund und Vertrauten, „Vorsicht. Es ist mir nicht leicht gefallen, sie zu erpressen. Aber sie ist jetzt seit vier Jahren hier, und je länger sie hier ist und keine richtige Aufgabe hat, je mehr sie glaubt, sie läuft mit der Brandmarkung herum, nur ein halber Naguad zu sein…“ „Worauf sie einige innerhalb und außerhalb des Hauses zu gerne aufmerksam machen.“ „Sicher. Solange das der Fall ist, wird sie weiter Ärger machen. Oder den Vorsitz des Hauses übernehmen und das Imperium in einen Bürgerkrieg stürzen. Luka, dieses vermaledeite Mädchen hat genügend Energie, um ein eigenes Imperium zu gründen. Und wenn sie nur einen Hauch von Feingefühl hätte, dann hätte sie es wahrscheinlich schon getan.“
„Ihre Lehrer sagen es immer wieder. Sie ist extrem geschickt, schlau, hat ein hervorragendes Gedächtnis und eine ausgeprägte Kombinationsgabe. Nun, sie ist kein Genie, jedenfalls keines, welches die Normen sprengen würde. Aber das Mädchen, das dir deine Iovar-Gefährtin vor vier Jahren zur Erziehung geschickt hat, ist vielleicht der größte Schatz, den Haus Arogad gerade hat. Wenn sie die Akademie übersteht, dann könnte sie dich wahrscheinlich locker ablösen.“
„Dafür muß sie sich erst einmal durch die Akademie kämpfen. Wenn sie das geschafft hat, wenn sie ihre Arroganz und ihr Temperament im Griff hat, wäre ich eventuell sogar bereit, ihr meinen Posten abzutreten.“
Die beiden Freunde sahen sich in die Augen, bevor sie anfingen schallend zu lachen und sich dabei auf die Schenkel zu klopfen.
„Ich hätte es dir fast geglaubt“, sagte Oren grinsend. „Wäre ja schön, wenn sie wirklich so talentiert wäre. Aber im Moment ist sie nur eine große böse junge Frau ohne Orientierung, die sich ziellos durchs Leben treiben lässt.“
„Trotzdem, das mit der Nachfolge klang gut. Wir hätten dann Zeit für einen Ausflug. Wie wäre es mit Iotan? So für ein, zwei Jahrhunderte?“
Oren Arogad nickte. „Schön wäre es schon. Ach, lass sie einfach durch die Akademie gehen. Vielleicht wird sie ja etwas ruhiger.“
„Vielleicht. Womit hast du sie eigentlich erpresst, wenn ich fragen darf?“
„Mit Aris Taral. Ich weiß genau, dass sie an dem Jungen einen Narren gefressen hat. Er ist der einzige Arogad außer mir, vor dem sie jemals geweint hat. Er ist für sie mehr Familie als alles andere auf dieser Welt, auf diesem Turm. Vielleicht sogar mehr als ich.“
„So eine Erkenntnis frustriert, was? Wo sie doch ihren Vater und niemanden als ihren Vater abgöttisch lieben und verehren sollte“, spottete Luka.
Der AO-Meister und persönliche Vertraute von Oren Arogad hatte einen gespielten Wutausbruch erwartet, vielleicht etwas Tadel.
Stattdessen sah der Vorsitzende des Rates deprimiert zu Boden. Zufälligerweise konnte er so durch den voll verglasten Boden seine Tochter sehen, die gerade auf einen Aufzug wartete. „Ja, Luka. Das schmerzt.“

4.
Aris Taral war sicher nicht mehr der Jüngste. Mit seinen knapp fünfundzwanzig Jahren gehörte er eigentlich schon zu den Erwachsenen, zu den abgeklärteren. Zu denen, die ihren Weg im Leben bereits gefunden haben sollten. Dass er nun in die Akademie eintrat, deren Eintrittsalter eigentlich bei achtzehn lag, war für viele eine Überraschung. Nur nicht für seine Eltern. Aris Taral war durch und durch ein Taral, sprich, er war ein Bluthund. Er war dazu ausersehen, mit all seiner Kraft und seinen Fähigkeiten die Familie zu beschützen. In seinem Fall hieß das, Eridia Arogad zu beschützen, denn Oren hatte sie ihm gegeben. Ihm persönlich, um auf sie zu achten, auf sie aufzupassen. Was eine Nähe bedeutete, die schon intime Züge annahm.
Aris dachte für einen Augenblick daran, wie sehr sie ihn gehasst hatte, die ersten Tage, Wochen und Monate auf dieser Welt. Wie sehr sie ihm ihre Verachtung für alle Naguad entgegen geschleudert hatte. Und er erinnerte sich daran, wie sehr es ihn geschmerzt hatte.
Aber all das hatte sich geändert, in einer einzigen Nacht, in einer einzigen Stunde, in der er sie weinend überrascht hatte. Und ihr Opfer geworden war, das sie einfach nur in den Armen gehalten und getröstet hatte. Er hatte nie jemandem von dieser Nacht erzählt und sie gegenüber Eridia niemals wieder erwähnt. Aber seit sie sich ihm gegenüber verletzlich gezeigt hatte, war sie ihm gegenüber anders geworden.
Genauer gesagt hatte sie mehrfach versucht, ihn zu verführen, und es war ihm verdammt schwer gefallen, diese Avancen abzuwehren. Nicht unbedingt weil er ein Bluthund war. Seine Gene und ihr Erbe waren weit genug auseinander um eine Beziehung zuzulassen.
Nein, er hatte sie abgewehrt, weil sie ihn vollkommen und absolut überrannt, niedergewalzt und dann als Trophäe an die Wand gehängt hätte. Der Mann, der dieser Frau gewachsen war, musste erst noch geboren werden.
Aber das war nicht der einzige Bezugspunkt zwischen ihnen gewesen. Es gab auch Vertrauen, tiefes Vertrauen darüber hinaus.
Dies war auch der Grund für seinen späten Eintritt in die Akademie. Um für sie da zu sein, um sie noch effektiver beschützen zu können, wollte er sich so viel Wissen aneignen wie möglich, noch mehr Techniken im bewaffneten und waffenlosen Kampf erlernen, seine Begabung für das AO ausbauen und verbessern. All dies ermöglichte ihm die Akademie. Auch wenn dies bedeutete, Eris Schutz ein paar Jahre jemand anderem anzuvertrauen.

„Sag mal, hörst du schwer, oder was? Ich habe gesagt, warte!“
Aris Taral wandte sich um. Irgendwie war ihm diese Stimme bekannt vorgekommen. Und sie schien ihm gegolten zu haben.
Tatsächlich, das war Eri. Sie hielt direkt auf ihn zu, stellte sich neben ihn, stützte beide Hände auf den Oberschenkeln ab und atmete schwer. Dann sah sie auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Musst du so rennen? Bis ich dich eingeholt hatte…“
Aris Taral zog die Augenbrauen zusammen. „Eri, du trägst eine Kadettenuniform.“
Die junge Frau, noch immer schwer atmend, formte die rechte Hand zum naguadschen Zeichen für Sieg. „Kadettin im ersten Jahr, Eridia Arogad, meldet sich zur Stelle. Auf gute Zusammenarbeit, Aris Taral.“
„Was, bitte? Sag mal, Eri, spinnst du jetzt total? Was willst du denn an der Akademie? Der Kram, den die hier unterrichten ist doch Lichtjahre unter deinen Fähigkeiten. Willst du hier was lernen oder selbst unterrichten?“
Die junge Halb-Iovar verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „Ich dachte, du freust dich, dass wir zusammen auf die Akademie gehen.“
„Ja, sicher freue ich mich, aber hast du schon mal dran gedacht, was das bedeutet? Die Akademie ist groß, verdammt groß. Hier werden Offiziere, Unteroffizere, Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler und Spezialisten jeglicher Art ausgebildet. Es befinden sich permanent zwanzigtausend Naguad-Schüler und gute zweitausend Lehrer in der Akademie. Du machst es mir reichlich schwer, dich dort zu beschützen.“
„Wer sagt denn dass du mich beschützen sollst?“, beschwerte sie sich. „Es ist eher umgekehrt. Ich beschütze lieber dich, damit du dich voll und ganz aufs Studium konzentrieren kannst.“
„Ja, du beschützt mich, klar. Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass das überhaupt nicht deine Aufgabe ist, Eri?“
Wütend sah sie ihn an. „Und hat dir schon mal jemand gesagt, dass man manche Aufgaben nicht wählen kann, sondern von ihnen erwählt wird? Hör mal, du bist vier Jahre durch die Hölle gegangen, weil dir jemand gesagt hast, du musst mein Bluthund sein. Und ja, ich habe dir die Hölle bereitet. Anfangs durch meine Niederträchtigkeit, danach durch meine Penetranz. Ich verspreche dir, das wird besser, viel besser. Und jetzt will ich’s dir alles zurückgeben. Mit Zins und Zinseszins. Du bist doch Aris Taral, mein…“ Verlegen sah sie zur Seite. „Mein…“
Der Bluthund würgte an einem dicken Kloß im Hals. „Eri, ich…“
Übergangslos trat er einen Schritt vor und schloss sie in die Arme.
„Hey, Aris, das geht aber etwas flott.“
„Halt die Klappe und lass mich dich einfach nur umarmen. Die vier Jahre waren keine Hölle, und dich zu beschützen war die eine große Aufgabe, die mich gefunden hat. Nicht umgekehrt.“
„Wenn du jetzt erwartest, dass ich gerührt bin, dann hast du dich aber geschnitten, Aris Taral. Für keinen verdammten halbintelligenten Naguad würde ich jemals so etwas tun.“
„Na, dafür drückst du mich aber ganz schön.“ Verlegen fügte er hinzu: „Kleine Schwester.“
Sie lösten sich halb voneinander, weil Eri einen Lachanfall hatte. Der wollte nicht einmal enden, nachdem Aris ihr heftig auf den Rücken geklopft hatte.
Insgeheim bereitete sich Aris auf eine Demütigung vor, einen bissigen, ihrer Art als Iovar entsprechenden Kommentar, der ihn mit den Primaten auf dieser Welt in eine Linie stellte.
„Weißt du“, japste sie schließlich, „warum ich dich anfangs so gehasst habe, Aris?“
Der brauchte nicht lange zu überlegen. „Weil ich den gleichen Vornamen habe wie deine Mutter.“
„Und wie mittlerweile vier verstorbene Kaiser, einer davon weiblich. Ich dachte, Vater gibt mir eine Aufpasserin an die Seite, eine Freundin. Ein Mädchen! Und was kriege ich? Einen breitschultrigen Klotz mit dem messerscharfen Verstand eines Geheimdienstanalytikers und dem Herzen eines ausgewachsenen, fünf Tonnen schweren Bovil-Rindes. Aris, du bist mein Bruder. Zumindest habe ich dich die letzten drei Jahre so betrachtet. Das du mich ähnlich siehst… Macht mich sehr zufrieden.“ Sie tätschelte seine Wange, etwas härter als es sich für eine zärtliche Geste gehörte, die sie eigentlich sein sollte.
Aris beschloss, sein Gesicht im nächsten Spiegel auf rote Flecken zu untersuchen.
„Du bist mein bester Verbündeter, Aris Taral.“
Die Augen des jungen Mannes verengten sich. „Dann lass mich jetzt meinen Job tun.“

Durch die Menge drängten sich fünf junge Männer im Kobaltblau der Hausuniform von Logobodoro. Ihre Kadettenabzeichen wiesen sie als Mitglieder des vierten und damit letzten Jahres aus. „Na, wen haben wir denn hier? Einen Beschützerköter und die Blutauffrischung von Iotan“, spottete der Anführer, ausgerechnet Gerdon Logobodoro persönlich, einem Vertreter der Hauptlinie des Hauses.
**
„Das klingt jetzt aber nicht so fürchterlich arrogant, Eri-sama“, gab Megumi zu bedenken. Nein, im Gegenteil, es klang eher so, als wäre die Zeit zwar hart, aber lustig gewesen.“
Eri Yodama lächelte sanft. „Nun, zu dieser Zeit fühlte ich mich meistens als Opfer und war permanent in der Verteidigung. Und als Verteidiger gestand ich mir Dinge zu, die ich einem anderen nie erlaubt hätte. Ich war permanent im Kampf. Und dabei machte ich Dummheit auf Dummheit.“
**
Aris Taral hätte sich das niemals träumen lassen – bereits am ersten Tag direkt vor den Stuhl von Admiral Venc Idori zitiert zu werden, dem Leiter der Akademie. Aber daran schuld musste die Aura von Eridia schuld sein. Was sie anfasste wurde entweder zu Gold, oder zu Asche.
Der Admiral ließ sie vor seinem Schreibtisch stehen und im eigenen Saft schmoren, während der stellvertretende Schulleiter – Hissop Arogad, ein entfernter Cousin von Eri – sie kopfschüttelnd betrachtete. Dabei las Venc Idori in einem Bericht.
„Es dürfte Sie interessieren, junge Dame, das die Schlächterrechnung feststeht. Wir haben dem Himmel sei dank keine Toten zu beklagen. Aber es kam zu siebenundachtzig Knochenbrüchen, neunhunderteinundvierzig blauen Flecken, zweihundertneununddreißig Zerrungen, neunundsiebzig blauen Augen, dreihundertelf ausgeschlagenen Zähnen und etwas über fünftausend Abschürfungen und Schnitten durch Nägel. Gratuliere, junge Dame, Sie haben es geschafft, knapp fünfhundert Kadetten aller Jahrgänge in eine Massenprügelei zu verwickeln.“
„Ich habe nicht als erste um Hilfe gerufen“, zischte sie zwischen verkniffenen Lippen hervor.
„Das stimmt. Es waren die Logobodoro, die Kameraden aus ihrem Haus und später potentielle Verbündete des Hauses Bilas und Grandanar zu Hilfe gerufen haben. Aber denken Sie nicht, dass diese, nun, Aktion den Sinn der Akademie, nämlich die Nähe der Häuser untereinander zu fördern anstatt die Kluft zu vergrößern, sabotiert?“
„Bei allem Respekt, Admiral, aber ich dachte, auf der Akademie lernt man kämpfen, Krieg führen und vermeiden. Nicht etwa Gruppenkuscheln! Dass die Logobodoros so schlaff waren beweist doch nur, was für Weicheier ihr Naguads doch seid, wenn sie nicht mal mit einem Mann und eine Frau fertig werden!“
„Eri!“, ermahnte Aris scharf.
„Ist doch wahr! Als fünf nicht gereicht haben, haben sie um Hilfe geflennt! Und wenn Seg Mitur und Vortein Arogad nicht vorbei gekommen wären, dann hätten sie uns mit ihrer Übermacht wunderbar zu Klump gehauen! Na, wie Sie DAS meinem Vater erklärt hätten, das hätte ich zu gerne gesehen!“
„Eridia Arogad, schweig!“, rief Hissop lauter als nötig. „Die Arogads sind euch zu Hilfe gekommen, danach die Fiorans, und schließlich haben sich auch noch die Elwenfelt auf eurer Seit eingemischt. Viele sind Kadetten im vierten Jahr, gewohnt Seite an Seite mit Mitgliedern der anderen Häuser zusammen zu arbeiten. Das habt ihr zwei in nur einer Viertelstunde wieder weg gewischt. Und wir stehen vor den Hauslosen ziemlich dumm da. Ich habe mir sagen lassen, sie haben die Kämpfenden noch angefeuert und vom Rand aus zugesehen.
Einige haben uns auch geholfen, hatte Eri sagen wollen, ließ es aber.
„Kommen wir zu einer anderen Sache. Und ich hoffe da auf deine Mithilfe, Eridia Arogad, damit wir Naguad-Weicheier es auch verstehen können.“ Der Spott in der Stimme des Admirals war nicht zu überhören und ließ Eri errötet zu Boden sehen.
„Aris Taral ist ein Bluthund. Jeder weiß, dass die Tarals Bluthunde sind. Und das sie von den Attentätern der Fioran seit Jahrhunderten ausgebildet werden. Es wundert mich also nicht, dass Aris unverletzt ist. Was mich wundert ist, dass er niemanden getötet hat.
Und was mich noch viel mehr wundert ist, warum du nicht eine einzige Schramme hast, junge Dame, obwohl du im tiefsten Getümmel gesteckt hast!“
„Antworte, wenn der Akademieleiter mit dir spricht!“, tadelte Hissop sehr ernst.
„Ich hatte Zuhause meine eigene AO-Meisterin“, antwortete Eridia leise. „Ich bin selbst fast auf diesem Level. Ich habe mir einfach einen AO-Schild gemacht und die Idioten dagegen schlagen lassen.“
„Das erklärt, warum sie dich nicht geschafft haben. Ich war mir ziemlich sicher, ich würde deinem Vater wirklich erklären müssen, warum du, kaum in der Akademie, gestorben bist.“

Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. „Zu deiner Bestrafung, Eridia Arogad.“
„Bestrafung? Jetzt soll ich auch noch bestraft werden? Ihr verdammten Naguad! Ich soll arrogant sein, aber ihr sitzt auf den Banges-Schultern und seht auf mich herab!“
„Eri!“ „Ist doch wahr! Ich habe Recht!“
„Da haben wir uns ja was Schönes eingefangen, was, Hissop?“, schmunzelte der Admiral.
„Ich würde sie nicht anders haben wollen, Venc.
Eridia, du wirst mit sofortiger Wirkung als Ausbilderin in den fünf Kampftechniken eingesetzt, die du heute gezeigt hast. Eine sehr gute Haltung, gezielter und gut dosierter Einsatz deines Körpers und dosierte Kraft, das alles spricht für dich. Wir mögen Weicheier sein, aber wir erkennen Potential, wenn es sich uns offenbart. Und wir sind nicht zu schüchtern, danach zu greifen, wenn wir es sehen. Die Pflicht als Ausbilder erfolg nebenbei, zu deinen Aufgaben als Kadett der Akademie. Du zweigst diese Zeit von deiner Freizeit ab, haben wir uns da verstanden? Und wir reden hier nicht über das erste Jahr. Wir reden über alle vier Jahre. Außerdem wirst du jeden Schüler akzeptieren, den wir dir schicken. Und ich denke da vor allem an die, die du besiegt hast. Die haben eine gute Ausbildung bitter nötig.“
Eridia Arogad hob zu einer Antwort ab, aber ihr Cousin winkte ab. „Ich will nichts hören.“
„Aber…“ „Nein, das ist deine Strafe. Davon sind wir nicht abzubringen. Und ansonsten erwarten wir beste Leistungen von dir, Eridia. Allerbeste Leistungen. Nein, es wird nicht widersprochen. Sie können wegtreten, Kadett Arogad.“
Unschlüssig sah die junge Frau in die Runde. Dann grüßte sie vorschriftsmäßig und verließ den Raum.

„Und dir, Aris Taral“, sagte Lenc Idori mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, „geben wir die schlimmste Strafe, die wir uns vorstellen können. Du wirst permanent ein Auge auf Eridia haben und sie soweit zurecht biegen, dass sie auf ihre anderen Ausbilder hört, Herausforderungen wie die heute ablehnt und die beste Schülerin wird, die jemals diese Akademie absolviert. Haben wir uns da verstanden?“
„Ich soll sie also komplett brechen und neu aufbauen, wie es ihnen passt?“
„Nein, du sollst sie nur etwas umgänglicher machen und das Beste aus ihr rausholen“, korrigierte Hissop.
„Okay. Das ist vielleicht möglich.“ Der junge Taral grüßte und verließ das Büro.

„Uns stehen sehr aufregende Tage bevor, Hissop“, sagte der Admiral nachdenklich.
„Umso besser. Seit die Cores nicht mehr bis zur Hauptwelt durchkommen und schon in den Marken gestellt und abgeschlagen werden, ist mir hier sowieso zu langweilig geworden.“
Die beiden Männer grinsten sich an. Im Endeffekt würde eine Halb-Iovar, die sich gegen die Kadetten der anderen acht großen Häuser durchsetzte die Naguad enger zueinander bringen als dies vier gemeinsame Jahre auf der Akademie gekonnt hätten.

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5.
Mit großem Interesse musterte der Tireme die große, schlanke Naguad-Frau, die auf ihn zugeschossen kam, mit dem Lächeln einer sphärischen Göttin und der Nachhaltigkeit eines mit Lichtgeschwindigkeit auf ein Schwarzes Loch zurasenden Kometen.
Sie trug wie die meisten Anwesenden ein Tablett bei sich. Sie gehörte zur Ich habe gerade geholt-Fraktion, während über die Hälfte der Naguad, die unterwegs waren zur Ich bringe die Reste weg-Fraktion konvertiert waren.
Liam Magadolaka Vierzehn musste ein Schmunzeln unterdrücken, auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass die Halb-Naguad seine Mimik nicht interpretieren konnte.
Für einen Moment wünschte sich der Tireme, auf ihr Tablett sehen zu können, denn wie sagte einst Logepari Anotiwasa, die große Vordenkerin der Neunten Dynastie: Du bist, was du isst.
Die Frau war groß, schlank, reichlich blass, was die Zeit im Weltraum mit sich brachte, aber derart energisch, so aufgeladen, dass sich Liam fragte, ob das AO als Ausrede reichte, um diese Kraft, diese Entschlossenheit zu beschreiben.
Als sie nur noch fünf Meter von ihm entfernt war, dachte der Tireme daran, was die Frau wohl gerade sah. Konnte sie die feine Maserung aus braunen und gelben Linien auf seiner freiliegenden Kopfhaut erkennen? Sah sie, wie sich die winzigen grünen Schuppen abspreizten, die nur allzu deutlich machten, das ihm hier etwas warm war – abgesehen davon, dass sie ihn als Nachkömmling von Reptilien identifizierte.
War sie irritiert über sein zweites Paar Arme mit den drei Greifdaumen? Über die zurück geschnittenen Krallen seiner dreigliedrigen Hauptarme?
Irritierte sie seine kompakte, breitschultrige Gestalt? Wusste sie, dass er seine Schuppen den ganzen Rücken hinab als Kamm aufstellen konnte, der rasiermesserscharf sein konnte, wenn er die Zeit fand, die Ränder zu schärfen? Ein eindrucksvolles Spektakel, um Mädchen aufzureißen.
Sah sie seine geschlitzten Augen? Den vorstehenden Mund, in dem die Nase integriert war?
Und viel wichtiger, irritierte sie das Fehlen von Ohren? Die Hörmulden, die stattdessen existierten, waren durchaus in der Lage, mit einer Naguad-Hörmuschel mitzuhalten.
Oder irritierte sie das Wichtigste an ihm: Die Uniform eines imperialen Kadetten im letzten Jahr?

„Hallo. Darf ich mich setzen?“, fragte die große Frau freundlich.
„Natürlich darfst du das, Eridia Arogad“, sagte Liam förmlich und bemerkte zufrieden, dass er ihr den ersten Punkt abgenommen hatte.
Ein wenig verstimmt setzte sich die Halb-Naguad und begann mit ihrer Mahlzeit. In Wirklichkeit interessierte sie das Syntho-Steak, welches sie in Würfel schnitt, nicht annähernd wie die nächste Phase ihres Eroberungsfeldzugs gegen ihn.
Sie spießte ein paar Laccies mit der Gabel auf, aß das Gemüse und musterte seinen Teller. Natürlich. Er hatte nur Gemüse und Feldfrüchte auf dem Teller. Sein erstaunlicher Metabolismus erlaubte es ihm, auf tierisches Eiweiß zu verzichten. Abgesehen davon mochte er kein Fleisch, nichts was früher einmal einen Namen getragen hatte. Im übertragenen Sinne, denn das Fleisch aus den Zuchtkulturen hatte nicht automatisch den Tod eines Tieres bedeutet.
„Es muß schwer sein für einen Tireme“, begann sie den zweiten Teil ihrer Offensive.
„Was? An der Akademie angenommen zu werden? Durchaus nicht. An uns werden nicht höhere Maßstäbe gestellt als an euch Naguad“, stellte er förmlich fest.
Sie runzelte die Stirn. Zwei zu null für ihn.
„Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bezweifle, dass die Mehrzahl der Naguad die Toleranz aufweist, um mit dir unvoreingenommen umzugehen.“
Aber du kannst es, eh?, dachte Liam amüsiert. Zumindest versuchst du gerade, es zu beweisen, Eridia Arogad.
„Nun, natürlich nicht. Ich bin Nachkomme von Amphibien, die Naguad sind Abkömmlinge von Primaten. Das Universum ist groß und vielfältig in Formen und Wundern.
Aber mit den Naguad ist es wie mit allen Dingen. Wenn man sie dazu bringt, fremdes nicht zu fürchten sondern neugierig zu betrachten, dann kommt schnell verstehen hinzu. Und letztendlich bleibt Freundschaft. Das ist hier so wahr wie auf meiner Heimatwelt mit Naguad, die dort in Gemeinschaft mit meinem Volk leben.“
„Freundschaft?“, argwöhnte sie.
„Freundschaft“, bestätigte Liam sanft.
„Zwischen Naguad und dem Vertreter eines unterworfenen Volkes? Ich gebe zu, das ist ermutigend, aber…“
Nun musste Liam Magadolaka doch schmunzeln. Hatte er es sich doch gleich gedacht. „Eridia Arogad, deine Sorge in allen Ehren. Aber die Tireme sind kein unterworfenes Volk.“
„Was? Aber Ihr wurdet doch vom Imperium assimiliert und…“
„Das ist falsch. Gewiss, unser Heimatsystem befindet sich innerhalb der Grenzen, die das Imperium definiert. Aber wir wurden weder unterworfen, noch werden wir von den Naguad verwaltet.“
„Propaganda“, warf Eridia herabwürdigend ein.
„Keine Propaganda. Das Verhältnis zwischen den Naguad und meinem Volk ist sehr gut. Der erste Kontakt zwischen zwei so fremden Völkern verlief sehr harmonisch und der Austausch von Gedanken und Wissen hat beiden wirklich gut getan. Vor allem wissen wir den Beistand der Naguad zu schätzen, sobald es um die Cores und ihre Angreiferflotten geht. Ohne imperiale Hilfe hätten wir bereits mehrfach Millionen an Toten gehabt. Stattdessen standen tiremischer Raumdienst und imperiale Marine Seite an Seite, bluteten Seite an Seite und schlugen die Truppen der Cores zurück. Wir haben leider nicht die Möglichkeiten, dies zu vergelten, weder wirtschaftlich noch mit Schiffen; dennoch hilft die Marine uns.
In einer Mark zu leben ist gefährlich in diesen Tagen.“
„Das wusste ich nicht. Ich dachte, das Imperium lässt sich die militärische Hilfe mit Wirtschaftsvorteilen bezahlen.“
„Oh, die Geschichte. Mein Heimatsystem hält nichts von Zöllen. Wir sind und waren schon immer der Auffassung, dass eine freie Marktwirtschaft ein demokratisches Prinzip ist, mit dem ein ganzes Volk seinen Willen demonstriert. Soll doch jeder kaufen, was er für richtig hält. Für die Naguad, die Schutzzölle, Importbeschränkungen und dergleichen kennen und anwenden ist dieses Prinzip natürlich neu. Sie kommen gerne zu uns und verkaufen. Was uns eine enorme Mehrwertsteuer einbringt, die einzige Einnahmequelle des Staates.“
Der Tireme grinste breit. „Dadurch potenzieren sich unsere Einnahmen, und der vermeintliche Steuervorteil schwemmt mehr Waren auf unseren Markt. Dazu etliche Devisen von potentiellen Käufern. Es ist eben besser das reife Feld abzuernten als es von vorne herein kleiner zu machen.“
„Äh. Ja. Ja. Sehr interessant. Ich wusste gar nicht, dass die freie Wirtschaft so viele Vorteile hat.“
„Natürlich nur, solange der Warenfluss konstant ist. Weißt du, richtige Boomzeiten mit Zuwachsraten ab zehn Prozent haben wir eigentlich nicht. Es gibt immer wieder einen Hype, in dem so etwas passiert. Die staatlichen Aufträge gehen in die Höhe, weil auf einem neu erschlossenen Mond Siedlungen vorgefertigt und finanziert werden müssen, ein weiteres Handelshaus des Imperiums schließt Lieferverträge mit uns ab, ein technologischer Schub versetzt uns in die Lage, große Teile unseres Maschinenparks auszutauschen… Ansonsten streben wir Nullwachstum an. Eine konstante Wirtschaft für eine konstante Zukunft. Kontrolle des Bevölkerungswachstums und ein adäquater hervorragender allgemeiner Ausbildungsstand sind die Garanten dafür.“
„Wirklich. Nullwachstum. Das ganze Imperium schwimmt von Hype zu Hype, von Regression zu Regression und erschließt ein System nach dem anderen um seine mageren zwei Prozent Wachstum zu halten. Dabei wäre alles was sie tun müssten ein stabiles System zu halten“, murmelte Eridia nachdenklich.
„Es tut mir Leid dich korrigieren zu müssen, aber so einfach ist es nicht. Für uns Tireme ist das sicherlich eine Lösung. Wir sind nur ein System, regiert von einem Rat, der die Exekutive des gesamten Sonnensystems ist. Wir sind auf unsere Innenpolitik beschränkt und können den größten Teil unserer Außenpolitik auf Wirtschaftsfragen und knappe Absprachen mit dem imperialen Rat reduzieren. Aber das Imperium kann das nicht.“
Er breitete die Arme aus. „Wie du unschwer erkennen kannst, bin ich kein Daima, kein Abkömmling des Urvolks. Ich bin das, was Ihr einen Außerirdischen nennt. Wir euch übrigens auch, aber das nur am Rande.
Jedenfalls werden wir vom Core sporadisch attackiert, weil wir Teil des Imperiums sind. Und unser Raumdienst und die Marine des Imperiums schlagen die Raid-Truppen zurück. Die Marine kämpft und vergießt Blut an unserer Seite, und dafür sind wir dankbar. Zugleich aber ist jedes Schiff, das im tiremischen System bekämpft wird nicht in der Lage, Naguad-Systeme anzugreifen. Nenn es einen obskuren Handel, ein Zweckbündnis.
Das Imperium aber kann und darf nicht still stehen. Dieser ganze Raumsektor ist erfüllt mit Welten, welche von Daima bevölkert sind. Seit die Daima sich gegenseitig ausgelöscht haben, wissen viele nicht mehr um ihre Vergangenheit, manche Welten sind heute noch nicht wieder in der Lage Leben zu tragen. Aber die, die da sind, werden für den Core zum Ziel. Und jedes System, welches die Core-Truppen erobern, stärkt deren Kraft und wird zum Übergewicht, an dessen Ende die Vernichtung des Imperiums stehen muß – und des Kaiserreichs. Und wenn das geschieht, fallen auch wir.“ Liam lachte gehässig. „Es ist allgemein bekannt, wofür der Core Intelligenzen benutzt. Entschuldige, aber darauf habe ich keine Lust.
Wenn Imperium und Kaiserreich also weiter expandieren, weitere Systeme unter ihren Schutz stellen oder verdammt noch mal erobern, entziehen sie dem Core zukünftige Ressourcen. So sehe ich das.“
Eridia Arogad nickte. „So habe ich das bisher noch gar nicht gesehen. Eine Aufgabe. Aber ist es richtig, Welten, die nicht ins Kaiserreich wollen, zu diesem Schritt zu zwingen? Oder ins Imperium?“
„Nein, natürlich nicht. Es würde auch reichen, wenn diese Welten den anderen Reichen beistehen würden – und umgekehrt. Aber eine vereinte Flotte würde vieles vereinfachen, oder?“
Wieder nickte Eridia. „Du hast mir heute viel zum nachdenken gegeben, Liam. Dafür danke ich dir.“ Sie setzte ihre Mahlzeit fort, war aber nicht bei der Sache. Genauso gut hätte man ihr Papier in Streifen schneiden und vorsetzen können.
„Und ich danke dir“, erwiderte der Tireme, „das du nicht versucht hast, mich mit Argumenten zu bombardieren, wie schlecht ich hier doch behandelt werde, bis ich es selbst glaube.
Stattdessen hast du zugehört und nachgedacht. Genau das gleiche habe ich auch getan, als die Akademie auf meiner Welt nach Kadetten gesucht hat. Alles, was ich hier lerne, was ich mir hier aneigne, Wissen, Kontakte, Erfahrungen, werde ich nutzen, wenn ich nach meiner Dienstzeit zum tiremischen Raumdienst wechsle.“
Eridia Arogad lächelte verlegen. „Du wusstest, warum ich hier her gekommen bin?“
„Natürlich. Ehrlich gesagt habe ich dich schon erwartet. Und um noch einmal ehrlich zu sein, ich habe mich darauf gefreut. Du hast mich nicht enttäuscht, Eridia Arogad. Du hast das Zeug, um hier einmal zu unterrichten.“
„Ich soll arroganten, selbst verliebten Naguad-Nachwuchs unter…“ Sie verstummte bei diesen Worten. Dann sah sie den Tireme an. „Ich mache mich gerade lächerlich, nicht wahr?“
„Nicht wirklich. Erkenntnisse sind umso wertvoller, je mehr man selbst sie erlangt. Und das habe nicht ich gesagt, sondern dein Vater Oren, Eridia Arogad.“
„Er ist… Ein interessanter Mann.“
„Und du bist eine interessante Frau, die noch einen weiten Weg vor sich hat. Wahrscheinlich werde ich eines Tages im Kreis meiner Nachfahren sitzen und ihnen stolz erzählen, dass ich mit dir studieren durfte.“
Eridia Arogad prustete los. „Oder du erzählst ihnen von dem Horror, den ich verbreitet habe.“
„Oder das“, pflichtete Liam bei. Sie war definitiv ein besonderes Wesen, dieses Halbblut.

6.
„Und? Was passierte dann?“, rief Yohko mit vor Aufregung glühenden Wangen. „Ich meine, es passiert ja nicht jeden Tag, dass man einen unterworfenen Fremdweltler trifft und er sich anschließend als freiwillig angeschlossener Freund entpuppt.“
Erschrocken fuhr Megumi zusammen. „Wo kommst du denn her?“
„Sie kam mit uns“, sagte Yoshi ernst und angelte nach der Chipstüte in Yohkos Händen. „Vor einer Viertelstunde etwa.“
„Uns?“
„Er meint mich“, sagte Aria Segeste bestimmt.
„U-und mich“, hauchte eine kleinlaute Stimme.
Megumi drehte den Kopf und sah neben Aria Gina Casoli sitzen. Verlegen hielt sie eine Hand hinter dem Kopf, während sie mit der anderen eine Tüte Cracker hielt. „Entschuldige, Megumi-chan, aber du warst so vertieft in der Erzählung von Yodama-sama, dass wir heimlich rein geschlichen sind, um deine Konzentration nicht zu stören.“
„Was machst du denn hier?“
„Mamoru war der festen Meinung, hier könnte man mir helfen. Oder ich könnte hilfreich sein. Weißt du, ich habe seit neuesten Stimmen im Kopf.“
„Genauer gesagt stecken in ihrem Schädel eine der Agentinnen und seit einiger Zeit Ai Yamagata“, vervollständigte Eri.
Megumi legte beide Hände vor ihr Gesicht. „Und ich dachte, ich hätte schon alles gehört und alles erlebt.“ Sie warf Yoshi einen Seitenblick zu. „Und was ist mit euch? Bevor ich in diese Kabine ging, hast du Yohko vor dir her gescheucht, als würdest du ihr ein Buch über Diäten aufzwingen. Und jetzt sitzt ihr wieder nebeneinander und kaut gemeinsam Chips?“
Yoshis Blick wurde düster. „Wir… Wir haben einen Waffenstillstand. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“
„Fang nicht wieder damit an, Yoshi. Ich will es nicht hören. Ich will es nicht hören!“

„Jedenfalls“, meldete sich Eri wieder zu Wort; „habe ich auf der Akademie mehr gelernt als ich wollte. Meine Arroganz bröckelte, und das nicht nur deswegen, weil ich Naguad gefunden hatte, die ich nicht nur herumkommandieren, sondern auch lieben konnte. Aber es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis diese Liebe erwidert wurde. Von allen Naguad. Na, zumindest den meisten. Und dies ist der Grund.“
**
„Die Navigation von Kampfschiffen in einem stabilen Orbit ist eine schwierige Sache und dies aus mehrerlei Gründen. Erst einmal ist das Problem, den Orbit zu halten. Es ist ein Wechselspiel zwischen der Anziehungskraft des Planeten und der Fliehkraft. Man pendelt theoretisch dazwischen, auf die Welt die man umkreist zu stürzen oder von ihr fort geschleudert zu werden, in die Unendlichkeit des Alls. Alle Satelliten und Raumstationen haben schon seit jeher mit diesem Problem zu kämpfen. Hinzu kommt, dass die eigene Geschwindigkeit umso höher sein muß, je tiefer der eigene Orbit, sprich, die Schwerkraft der zu umkreisenden Welt ist.
Zugleich legt man sich damit fest, was Kurs und Geschwindigkeit angeht, jede abrupte Korrektur zerbricht dieses Gleichgewicht.
Einzige Ausnahme in diesem Spiel sind die Null-Schwerkraftpunkte, so genannt, weil sich in ihnen die Schwerkraft verschiedener Welten aufhebt.“
Eridia Arogad nickte den Kadetten des ersten Jahres zu. „Naguad Prime hat keinen Mond, also hat diese Welt auch keine direkten Neutral-Punkte, wie wir diese Zonen im Raum auch nennen. Arogad hat zwei relativ große Monde und verfügt über ein komplexes System von neun Neutral-Punkten, Daness hat einen und besitzt fünf Neutral-Punkte.
Die Neutral-Punkte von Naguad Prime fluktuieren. Sie treten nur auf, wenn sich die Schwerkraften von Daness oder Arogad im Bezug zur eigenen Gravitation aufheben.
Der einzige wirklich stabile NP, den die Hauptwelt hat, besteht zwischen ihr und Nag, dem Zentralgestirn selbst.“
Hinter Eridia zerfiel das Hologramm, welches ihre Erläuterungen begleitet hatte. „Aber kommen wir zum eigentlichen Thema zurück. Raumkampf in einem stabilen Orbit.
Wie jeder von ihnen weiß, hat alles in diesem Universum einen Bewegungsimpuls. Wir fallen dem Planeten entgegen, der Planet umkreist seine Sonne, die Sonne wandert um den Kern dieser Galaxis, die Galaxis bewegt sich innerhalb seines Clusters rotierend, und der ganze Cluster umwandert den Supercluster aus über eintausend Galaxien. Dieser Supercluster wiederum hat ein eigenes Zentrum, welches er umwandert. Wo dies endet wissen wir nicht, aber es kann sein, dass es danach einen noch größeren Supercluster gibt, der das Zentrum des Universums umwandert. Wir haben ihn bisher noch nicht entdeckt, doch das will nichts heißen. Das Licht, das von dem Supercluster, den unsere Galaxiengruppe umkreist, bei uns eintrifft, ist bereits dreihundert bis achthundert Million Jahre alt, ein Supercluster, um den dieser kreist, müsste mehrere Milliarden Jahre alt sein. Aktuelles Licht, vom existierenden Supercluster muß erst bei uns eintreffen.
Entschuldigung, aber ich lasse mich zu schnell hinreißen, wenn ich von diesen Dimensionen spreche.
Zurück zu den Bewegungsimpulsen.
Alle Dinge in diesem Universum haben eine Eigengeschwindigkeit. Und unsere Schiffe im stabilen Orbit haben eine Eigengeschwindigkeit, die sie im Kurs um diese Welt herum führt.
Niemand kann von einem Angreifer erwarten, dass er sich diesem Kurs anpasst, um dann geduldig abgeschossen zu werden.“
Leises Gelächter der Studenten erklang.
„Nein, des Problems Lösung wäre normalerweise, über den wichtigsten Planeten und militärischen Zentren Schiffe zu stationieren, die einen stationären Orbit halten und diese Orte aus den festen Positionen verteidigen. Doch das ist nur eine Möglichkeit.
Wie Sie wissen, erreichen unsere Schiffe nicht nur eine adäquate Beschleunigung, sondern vertragen auch abrupte Kurswechsel sehr gut.
Ich will ein Beispiel hinzunehmen, damit Sie alle sehen, worauf ich hinaus will. Angenommen ich will eine Angriffsflotte so schnell wie möglich nach Daness führen, und reize die Beschleunigung voll aus, dann muß ich meinen Kurs in zwei Etappen planen. Die Beschleunigungsphase, bei der ich die maximale Geschwindigkeit aufbaue, und die Abbremsphase, die exakt die Hälfte des zurückzulegenden Weges beträgt, und die mit der gleichen Energie die aufgebaute Geschwindigkeit wieder aufzehrt, die ich für die Beschleunigung der Flotte aufgebracht habe. Doch dies sind nur die maximalen Beschleunigungswerte. In einem Kampf im Orbit stehen diese maximalen Beschleunigungswerte ebenfalls zur Verfügung, und diese übertreffen die Energie, die ein Schiff braucht, um den stabilen Orbit zu verlassen um ein Vielfaches.
Sprich: Natürlich können unsere Schiffe abrupt ihren Orbit verlassen, natürlich können sie binnen kurzer Zeit auf kompletten Gegenkurs gehen und auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigen.
Aber, was in diesem Szenario zu bedenken ist: Alle anderen Dinge, Planeten, Monde, Satelliten, die Sonne und andere Raumschiffe bewegen sich währenddessen weiter.
In diesem Kurs lernen Sie die Navigation im tiefen Orbit, im hohen Orbit, den Wechsel auf die Raumstationen, die Landung auf dem Planeten, Wechsel zwischen den Planeten in diesem Sonnensystem. Das ist der Aufbaukurs, der sich ausschließlich auf die Bewegung mit der Fliehkraft befasst.
Alle von Ihnen, die ernsthaft vorhaben, den Beruf des Navigators, des Piloten oder sogar des Kommandanten einzuschlagen, werden auch den Nachfolgekurs im nächsten Jahr besuchen. Und dort bringen wir ihnen dann bei, wie man entgegen der Fliehkraft navigiert. Ohne eine Schneise der Zerstörung zu hinterlassen.
Fragen hierzu?“

Mehrere Dutzend Lampen auf den Studiumterminals glommen auf. Eridias eigenes Terminal meldete zugleich hundertsiebzehn Mailanfragen.
Sie ließ den Computer per Zufall jemanden auswählen.
„Kommodore, Lyss Mekan vom freien Handelskonsortium. Erzählen Sie uns vom Paradebeispiel der Navigation gegen die Fliehkraft? Vom Kampf um Wordeck?“
Dutzende Terminals erloschen wieder, die Mailanfragen wurden fast alle annulliert.
Eridia Arogad lächelte dünn. Es war doch jedes Jahr das gleiche mit den Kadetten.
„Von Wordeck wollen Sie hören? Vom legendären Raid?“
Zustimmendes Gemurmel erklang.
Eridia griff nach ihrem Getränk, kam um ihr Terminal herum und lehnte sich dagegen. „Nun, falls ich hier irgendjemanden erwische, der patriotischen Nonsens erwartet, werde ich sofort aufhören. Die Schlacht um Wordeck war hart und lang. Wir haben sie nur mit Glück gewonnen und bezahlten dafür einen furchtbaren Preis.“
Wieder erklang zustimmendes Gemurmel.
„Gut. Dann soll es wohl so sein.“
**
Wordeck war die fünfte Welt eines Elf Planeten-Systems einer blassgelben Sonne von Normgröße. Sie befand sich knapp außerhalb des Bereichs, den die Naguad als Territorium definierten. Eigentlich hatten sie hier draußen absolut nichts verloren und die Expansionspläne hätten diese Welt, eine karge Sauerstoffwelt mit einer Durchschnittstemperatur, die vier Grad unter der von Naguad Prime lag, erst ein einhundert oder mehr Jahren tangiert. Der Grund, warum nun eine komplette Flotte des Hauses Arogad, flankiert von mehreren Geschwadern schneller Fregatten und Korvetten der imperialen Marine in dieses System sprang, war ein Notruf.
Genauer gesagt ein klappriger alter Frachter, der in ein von Naguad kontrolliertes System sprang, dort eine letzte Funkbotschaft abgab und anschließend aufgrund der schweren Schäden an Bord explodierte.
Überlebende hatten nicht gefunden werden können.
Aber die Botschaft war eindeutig gewesen. Auf Wordeck waren Core-Truppen gelandet und begannen nun, die planetare Bevölkerung zu unterwerfen. Es war kein Raid, es war eine Eroberung.
Oren Arogad als Oberhaupt des Hauses hatte schnell reagiert und die einzige in der Nähe befindliche Einheit freigestellt, eine Flotte seines Hauses. Die zufällig von seiner einzigen Tochter kommandiert wurde. Der Rat reagierte ebenfalls und hatte schnell, sehr schnell einige leichte Geschwader detachiert und unter ihr Kommando gestellt. Ein Umstand, der wohl einmalig in der Geschichte des Imperiums war. Zugleich versprachen sie, weitere Schiffe nachzusenden.
Im Prinzip war die ganze Aktion nur als bewaffnete Erkundung geplant. Es gab keine Verträge mit Wordeck und irgendein Interesse an Welt und Bevölkerung existierte auch nicht – außer dass sie Daima waren wie die meisten anderen Völker des Imperiums.
Eridia jedenfalls war mit klaren Befehlen aufgebrochen – und hatte sie beinahe sofort wieder über den Haufen geworfen, als sie das Chaos sah, in dem sich das System befand.
Ein Massensprung in das System war natürlich nicht unbemerkt abgelaufen und die Core-Einheiten schickten bereits erste Boten aus, um selbst Verstärkungen heran zu führen, noch bevor die Kampfhandlungen eröffnet waren.
Eridia jagte ihnen die schnellen Schiffe der Marine hinterher, aber ohne große Hoffnung, alle aufhalten zu können.
Und dann trafen die ersten Bilder von dieser Welt ein, aufgenommen und versendet von Unbekannten. Klar war nur, dass die Bilder in winzigen Fragmenten von hunderten Sendern verschickt wurden und erst von den Spezialisten der Flotte zusammengesetzt wurden.

Eridia Arogad fröstelte bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Die gelandeten Core-Truppen trafen auf sehr wenig Widerstand. Beschuss aus dem Orbit hatte die meisten Verteidigungsstellungen ausradiert, und Orte von denen noch immer Widerstand ausging wurden nachträglich bombardiert, egal wie nahe die eigenen Truppen waren.
Und wo die hirnlosen Cyborgs fertig waren, kamen die Sammler, nahmen Tote wie Überlebende auf und bereiteten sie vor.
Eridia schluckte hart, um ein würgen zu unterbinden. Die Tanks, die hatte sie viel zu gut aus den Erzählungen ihrer Mutter in Erinnerung. Ebenso die Maschine, welche die Daima entkernte. Sprich ihre Gehirne entnahm.
Jemand würgte und übergab sich. Dankbar registrierte sie, dass sie selbst es nicht war.
„Vorschläge, Herrschaften?“, fragte sie ihren Stab.
„Hinfliegen. Das Pack ausrotten. Die Welt befestigen und die Menschen in den Tanks retten!“, rief Seg Mitur aufgebracht, Kapitän der MITAN, dem zweitstärksten Schiff der Hausflotte.
Zustimmendes Gemurmel erklang.
„Wie sieht es aus, Vortein?“, fragte Eridia den Oberkommandierenden der Bodentruppen im Range eines Colonels.
Vortein Arogad lächelte dünn. Bei der schlanken Frau mit dem eigentlich hübschen Gesicht bedeutete dies, dass die Atmosphäre im Raum um fünf Grad abnahm und die Männer im Raum unwillkürlich fröstelten. Diese absolut böse Vorfreude auf den Kampf hatte schon ganz andere Männer in Panik davon getrieben. „Meine Leute sind bereit. Aber ich bitte darum, dass die Marine mir jeden Mann zur Verfügung stellt, den sie erübrigen kann. Da unten kann ich dann ohne weiteres aufräumen, Eri. Doch ihr müsst den Orbit halten, denn ich will nicht, dass mit mir und meinen Leuten das da passiert.“ Sie deutete auf einen Monitor, auf dem eine eingegrabene Panzerlinie ausradiert wurde.
„Gut. Kommodore Liam Magadolaka Vierzehn, stimmen Sie zu?“
Der offizielle Kommandant der imperialen Einheiten verzog sein Echsengesicht zu einem Grinsen. Eine wahre Meisterleistung für die eher starre Mimik der Echse. „Du hast das Oberkommando, Eri.“
„Dann lasst uns dem Core in den Arsch treten!“
**
Die Operation verlief wie im Handbuch für erfolgreiche Orbitaloperationen. Zuerst wurden die orbitalen Streitkräfte im Zenit angeflogen und mit Langstreckenwaffen beschossen. Dadurch minimierte sich die Gefahr, dass fehlgeleitete Geschosse auf den Planeten fielen. Und ein Gros der abgeschossenen Schiffe verglühte nicht in der Atmosphäre und würde als Trümmerregen auf die Welt niedergehen sondern von der eigenen Fliehkraft getragen ins All hinausdriften.
Nach nur acht Stunden erbitterter Kämpfe hatten die Naguad-Truppen der Marine und des Hauses Arogad absolute Überlegenheit im Orbit und im gesamten System etabliert.

Noch während die Kämpfe andauerten, jagt Kommodore Eridia Arogad ihre Bodentruppen mit Gefechtstaxis auf die Planetenoberfläche herunter. Die Core-Truppen hatten sechs Hauptgefechtszonen etabliert, auf jede einzelne Zone hielten um die zweihundert Einheiten zu.
Eingewiesen von den Artillerie-Rangern, der absoluten Elitetruppe der Streitkräfte, die vorab in Einmannkapseln gelandet waren und sowohl Landungszonen sicherten als auch Ziele für Orbitalbombardement markierten, begannen die Massenlandungen, der verwundbarste Punkt der Operation. Für den Bodenkampf modifizierte Banges der Arogad flogen Sicherungsangriffe und erste Vorstöße gegen hastig etablierte Verteidigungsstellungen der Core-Truppen, während die ersten Panzerbataillone Stoßkeile formierten und in die großen Städte eindrangen, in denen die Cores gewütet hatten.
Infanterie in schnellen Transportern folgte ihnen auf dem Fuß.
Nach zehn Stunden seit dem ersten Schusswechsel, war in allen sechs Zonen ein wilder Kampf im Gange, bei dem die Core-Truppen von vorne herein im Nachteil waren.
Die Wordeckier, eigentlich schon besiegt und vernichtet, erhoben sich erneut. Es eine Offensive zu nennen wäre vermessen gewesen. Vielmehr glich es einem gigantischen Aufstand, dem zuerst die Sammellager zum Opfer fielen, in denen die Wordeckier ihrer Körper beraubt wurden, und anschließend die Frontlinien.

Nach zwanzig Stunden intensiver Kämpfe beschloss Eridia Arogad, auf der Welt zu landen und die verwüsteten Städte persönlich zu inspizieren.

Der Tross der Anführerin der Flotte bestand aus fünf Gefechtstaxis allerneuester Bauart, ausgestattet mit den besten Offensiv- und Defensivsystemen, sowie mehreren AO-Meistern, die heimlich die Schildstärke verdreifachen würden, sollte es zu einem Angriff kommen.
Sie flogen direkt zu jener Zone, die ursprünglich den hastig errichteten Notgefechtsstand der Wordeckier beherbergt hatte. Er war als einer der ersten überrannt worden und hatte die Chance, den Feind zumindest zu binden, beinahe gegen Null geführt.
Als die Taxis landeten, sicherten fünfhundert Infanteristen und zwei Dutzend Banges die Region. Es war früher Morgen, aber von friedlicher Morgenstille war nichts zu erkennen. Noch immer brachen Infanteriependler auf, um ihre Besatzungen in die Kampfzonen zu bringen, noch immer kehrten Einheiten zurück, um erschöpfte, verletzte oder tote Kameraden zurück zu bringen – und Zivilisten, die meisten mehr tot als lebendig.
Selten sah Eridia eine der typischen graugrünen Uniformen, welche für die Wordeckianische Verteidigung so typisch war. Der Grund hierfür war, dass die gefangenen Soldaten als erstes entkörpert worden waren, eine schockierende Erkenntnis, welche die Verteidiger mehr verschreckt hatte als es das Orbitalbombardement gekonnt hatte. Viele hatten daraufhin bis zum bitteren Ende gekämpft, einige waren in den Freitod gegangen.
Eridia erschauerte bei den vielen Geschichten, die ihr zu Ohren kamen.
Die Wordeckianer waren Daima, Daima wie die Naguad, wie die Iovar. Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit sprach von einer gigantischen Sintflut, welche sie aus dem Paradies vertrieb und nur eine Handvoll Auserwählter verschonte, was Eridia genug sagte.
In der ersten Stunde hielt sie sich nur im Lazarett auf, redete mit eigenen verwundeten Soldaten, mit denen aus der imperialen Flotte, mit den Zivilisten und den Grünröcken, die sie teilweise halbtot aus den Trümmern großer Häuser gezerrt hatten.
Eridia Arogad konnte es nicht wissen, aber ihr Ansehen innerhalb des gesamten Imperiums wurde in diesen Stunden vollkommen neu definiert.
Danach zog es sie in die zerstörte Stadt, die Hauptstadt Argetum, wie sie nun wusste, vorbei an ausgebrannten Hochhäusern, noch immer lodernden Skeletten großer Türme, vereinzelten Granaten, die am Himmel explodierten. Und an Leichen. Dutzenden, Hunderten, Tausenden. Die meisten trugen keine Uniformen, die zweite große Fraktion waren die graugrünen Uniformen der Grünröcke der Heimatverteidigung. Dann erst kamen die Cyborgs des Cores und hier und da wie ein Farbtupfer die blauen Uniformen der Arogad oder der imperialen Marine.

„Aris, bitte sorge dafür, dass die Leichen so schnell es geht geborgen werden, sobald man alle Verletzten behandelt hat. Priorität haben die imperialen Toten und die des Hauses. Sie sind auf meinen Befehl hin gestorben und ich will sie nicht unnötig länger neben den Cyborgs des Cores liegen lassen als unbedingt nötig. Diesen Hohn haben sie nicht verdient.“
Aris Taral, der als ihr Adjutant fungierte, nickte. „Wie Sie wünschen, Mylady Kommodore.“
„Danach bergt die Zivilisten und die Grünröcke. Auch sie sollen nicht länger als nötig hier im Dreck liegen müssen. Erkundigt euch, welche Rituale die Wordeckianer für angemessen halten.“
Wieder bestätigte der hoch gewachsene Taral, machte aber keine Anstalten, fort zu gehen.
Stattdessen gab er eine Alarmmeldung ab und beorderte sofort zusätzliche Infanteriegondeln und Banges auf die Position der Kommodore.
„Aris, was…“
„Wenn Frau Kommodore wieder in das Gefechtstaxi zurückkehren könnte… Alle Mann bereit machen!“
Die Truppen, handverlesene Soldaten, reagierten sofort und setzten die Taxis zu einer Igelstellung zusammen. Dazwischen gingen die Infanteristen in Stellung, während Aris Taral sich bemühte, Eridia wieder in den gepanzerten Wagen zu schaffen.
Er brach diesen Versuch jedoch ab, als es explodierte.
Dann brach die Hölle los.
„Unten bleiben, Eri!“, rief er seiner Hausschwester zu und feuerte seine Handwaffe ab, während er sie schützend mit seinem Körper zu Boden drückte.
Links und rechts der Straße kam Feuer auf die Truppe, zischten Raketen heran und Projektilwaffen entluden sich.
„Ein Hinterhalt“, erkannte Eridia. „Schießt auf die Gebäudebasis! Lasst die Ruinen in sich zusammen stürzen!“
„Gute Idee!“ Hastig gab Aris die Befehle weiter und kurz darauf begannen die gepanzerten Begleitfahrzeuge, ihr hungriges Waffenfeuer zu verbünden, um den Gebäuden, aus denen gefeuert wurde, größtmöglichen Schaden in den Erdgeschossen zuzufügen.
Tatsächlich brachen schnell drei von ihnen zusammen, das Feuer aus den übrigen Gebäuden erlosch.
Aris Taral erhob sich wieder und half seiner Vorgesetzten auf. „Die Verstärkung trifft gleich ein. Eri, geh bitte solange in eins der Taxis!“
„Sie kommen!“
Der Leibwächter und Bluthund wirbelte herum, folgte dem Laut der Stimme, die geschrieen hatte. Und sah, wie sich die Cyborgs auf der Straße hinter und vor ihnen formierten. Er hatte keine Zweifel, dass auch etliche durch den Schutt der zusammen gestürzten Gebäude kommen würden, die noch immer in dichten Staub gehüllt waren.
Kurz darauf brach zum zweiten Mal das Chaos über sie herein.
Aris drückte sie in die Deckung eines Bombenkraters, feuerte wieder seine Handwaffe ab.
Dann kam der Ansturm. Schnell wurden die vorderen Reihen von den Verteidigern niedergemäht, aber die nachdrängenden Truppen waren zahlreich, zahlreich genug, um den inneren Kreis zu durchbrechen.
Aris Taral lächelte gering schätzend, als der Gegner in den inneren Kreis einbrach.
Dies war der große Moment für die AO-Meister, der Nahkampf. Zehn von ihnen hatten den Konvoi begleitet, und jeder wog zwanzig Gegner auf. Fasziniert sah Eridia dabei zu, wie diese Naguad des Hauses Arogad durch die Reihen ihrer Gegner fuhren wie ein Messer durch Butter. Dennoch stürmten die Cyborgs weiter voran.
Dann erreichten sie die Fahrzeuge, von denen ihnen erbitterte Gegenwehr entgegenschlug.
Schließlich erreichten die ersten Aris Taral. Und das war die letzte Handlung in ihren hirnlosen Leben.

Als kurz darauf die ersten Banges zur Unterstützung niederstürzten und auf alles feuerten was kein Naguad und kein Wordeckier war, als die zusätzlichen Einheiten mit schnellen Transportern das Gefecht erreichten und von den Piloten direkt über den Linien abgeworfen wurden, war dieser Versuch, die Führungsspitze der Gegeninvasion auszuschalten, vereitelt.
Auf jeden nun noch lebenden Cyborg kamen jetzt elf Naguad.
Aris Taral reichte Eridia eine Hand zum aufstehen.
Eri zögerte, sah die glimmende Aura um den großen, vertrauten, und nun doch so fremden Mann, die auf sie wirkte, als würde Aris von innern heraus glühen wie ein großes Stück Metall. „Bist du verletzt, Eri?“
„Nein. Bist du verletzt?“
Aris lachte laut auf. „Nein. Die Cores haben heute nichts aufgeboten, was einen AO-Meister mit meiner Erfahrung verletzen könnte.“ Er zog seine Vorgesetzte auf die Beine. „Hoffen wir, dass dies das letzte Aufbäumen des Cores war.“
„Wenn nicht, schicke ich dich alleine vor. Du wirst mit denen schon fertig, Aris.“
„Ein guter Scherz. Es war doch ein Scherz? Eri? Eri?“

7.
Eridia Arogad lachte leise, als sie diese Anekdote zum Besten gab. Natürlich hatte sie nicht alles erzählt. Noch immer war das AO so etwas wie ein Staatsgeheimnis, und viele der Kadetten vor ihr würden damit irgendwann in Berührung kommen, aber nicht durch sie und nicht an diesem Tag.
„Das Ende vom Lied war, das wir die Core-Truppen fast vollständig ausradierten. Natürlich führten sie eine Verstärkung heran, aber sie liefen unserer eigenen Verstärkung durch Admiral Torum Acati in die Hände, der mit den Feindeinheiten kurzen Prozess machte.“
Was sie dabei nicht erwähnte war, wie Acati mit den Feinden kurzen Prozess gemacht hatte. Mit Banges Schlachtschiffe anzugreifen und auch noch die Frechheit zu haben zu siegen hatte ihr mehr als einen kalten Schauer über den Rücken gejagt.
„Jedenfalls konnten wir in dieser Schlacht einige neue Erfahrungen machen und viele alte bestätigt sehen. Die wichtigste aber ist nach wie vor: Solange du dich nicht selbst aufgibst ist auch alles möglich.
Wir halfen den Wordeckianern dabei ihre Infrastruktur wieder zu errichten, die Straßen und Schienennetze ins Hinterland wieder zu betreiben und blieben fünf Jahre mit einer starken Streitmacht im Orbit vertreten, bis die frisch aufgebaute Verteidigung des Planeten stark genug war, um selbst einem Angriff des Cores zu widerstehen. Danach zogen wir ab.“
„Aber warum ist Wordeck dann Mitglied des Imperiums?“, fragte ein Kadett erstaunt.
„Nun. Sie kamen zu uns.“ Eridia Arogad, Admirälin im Dienste des Hauses und zeitweise im Dienst für die imperiale Marine tätig, wie die Lehrstunde bewies, lächelte in die Runde. „Merken sie es sich alle für die Zukunft. Die Expansion des Imperiums hat nicht immer etwas mit erobern zu tun. Manchmal einfach nur mit da sein, helfen wenn es nötig ist und den Menschen einen freien Willen lassen. Der Wordeck-Sektor hat seinen Sprung von der Mark zum festen Teil des Imperiums in nur zehn Jahren getan, weil die Wordeckianer sich diese Einstufung verdienen wollten. Es ist wahrscheinlich die beste Integration geworden, die wir jemals erlebt haben. Und der Grund dafür war nicht der Wunsch, unter unserem Schutz zu leben, sondern Teil dieses besonderen Reiches zu sein. Denn schützen hätten sie sich fortan selbst gekonnt.“ Sie seufzte schwer. „Leider laufen die Dinge nicht immer so, aber ich werde nicht müde, den jungen Leuten zu erzählen, wie es laufen sollte, und das es mehr gibt, als eine Welt zu erobern, zu unterwerfen. Wie… unsittlich es für ein Imperium ist, so etwas zu tun.
Und wie wichtig es ist, Navigation innerhalb des Orbits eines massereichen Objekts wie einem Planeten zu üben.“
Leises, zustimmendes Gelächter erklang.
Vielleicht hatte sie diese Generation erreicht. Vielleicht verstanden diese jungen Naguad, was sie erreichen wollte. Vielleicht.
**
„Damals konnte ich es nicht wissen, aber meine Entscheidungen und meine Worte waren maßgeblich für meinen Ruf geworden. Aus der arroganten und überheblichen Halb-Iovar wurde durch einen einzigen Einsatz eine verantwortungsbewusste Kommandeurin des Hauses, die ihre erstklassige Ausbildung und ihr hervorragendes strategisches Können in den Dienst eines ganzen Imperiums gestellt hatte. Natürlich war ich in erster Linie Haus-Offizierin, mit Leib und Seele für die Schiffe und Flotten der Arogad da, und damit für meine Freunde und nächsten Verwandten, die mit mir gelernt hatten und danach mit mir dienten.
Aber… Es gibt eine Regel im Imperium. Erst das Haus, dann das Imperium. Leider halten sich alle Häuser an diese Regel, auch die Arogad.
Aber ich habe unabhängig davon eine eigene Regel entwickelt an der ich mich orientiere, abseits von Amtseiden, Wünschen, Erwartungen und Regeln.“
Interessiert beugten sich die jungen Leute vor. „Und was wäre das, Oma?“, fragte Yohko erwartungsvoll.
„Nun, sie ist eher banal und kurz, aber sie ist vor allem der Grund, warum es dich und deinen Bruder Akira überhaupt gibt, Schatz. Sie lautet: Sei nur deinem Gewissen verantwortlich.“
„Dann kommt es aber aufs Gewissen an, das man entwickelt hat“, bemerkte Yoshi spitzzüngig. „Im Idealfall kann man dann ja… Okay, bin schon still.“
„Nun, junger Mann, damit hast du natürlich Recht, und wenn ich eine verrückte, mordende und manipulierende Monströsität wäre, dann könnte ich mein Gewissen soweit dehnen, bis es passt, wie ich es mir von Zeit zu Zeit wünsche.
Aber das bin ich nicht. Und deshalb erlaubt mir diese Regel, aus allem auszubrechen, was mich einengt. Regeln, Gesetze, Vorschriften, ich setze für mich alles außer Kraft, solange bis die Augen in meinem Spiegel mich nicht mehr so vorwurfsvoll ansehen.“
„Sehen sie Sie denn vorwurfsvoll an, Ma´am?“
Eridia Arogads Blick ging in weite Fernen. „Viel zu oft und viel zu lange“, hauchte sie.
Ihr Blick kehrte in die Gegenwart zurück, und sie musterte die jungen Leute vor sich. „Aber das ist eine andere Geschichte…“

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Anime Evolution: Past
Episode vier: Reis und Kartoffeln

1.
Das vernehmliche Beben lief erneut durch den massiven Fels der AURORA, als Tetsu Genda erneut die Breitseiten des Giganten abfeuern ließ. Schwingungsdämpfer nahmen heulend ihre Arbeit auf und absorbierten von der kinetischen Energie, soviel sie vermochten. Dennoch meldeten die Suchtrupps Schäden in der internen Struktur.
Noch war es nichts ernstes, Risse im Gestein, die mit industriellem Schnellkleber zusammen gezwungen werden konnten. Aber die Horrorvisionen der Besatzung und besonders von Admiral Ino gingen soweit, dass sich aus der Gesteinsschicht über dem holographischen Himmel gewaltige Felsbrocken lösten und ungehindert in den Innenraum der AURORA fielen, auf die Stadt Fushida City, auf die Anelph, die ungeschützt auf ihren Regalen in den Feldern standen, auf Poseidon, ihr Hauptquartier.
Und kein verdammter Hawk würde die Brocken aufhalten können. Die wurden alle da draußen gebraucht, bei der Abwehr des Feindes.

Sakura Ino runzelte die Stirn, als sie die eleganten Raumschiffe beobachtete, die in einem weiten Bogen zu einem weiteren Angriffsflug auf die AURORA schwenkten. Am ehesten konnte man sie mit Mantas vergleichen und ähnlich ästhetisch bewegten sich diese Schiffe durch das Vakuum des Alls. Beharrungskräfte, Negativbeschleunigung und Fluchtgeschwindigkeit schien für die gut hundert Meter langen Kampfschiffe nicht zu existieren.
Von der Geschwindigkeit her konnte man sie mit Fregatten gleichsetzen, was in etwa auch zu ihrer Größe passte. Von der Kampfkraft her wurden sie etwas unter den Fregatten angesiedelt. Das bedeutete aber nicht etwa, dass die UEMF-Streitkräfte dem Feind überlegen waren, das glichen die Angreifer schon mit ihrer schieren Zahl wieder aus. Es bedeutete lediglich, dass die Mantas über Sprungantriebe verfügten und damit weniger Platz für Schirmgeneratoren und Waffen hatten als die keilförmigen Schiffe der Verteidiger.
Einhundertacht Schiffe hatten ihnen aufgelauert, ja, aufgelauert. Siebenundzwanzig Lichtjahre von der Erde entfernt, in einem Sonnensystem mit einer blauen Riesensonne, die in den Katalogen der Naguad Trimon-A genannt wurde. In den terranischen Katalogen, von denen alle Exemplare bis auf einen gelöscht worden waren, tauchte diese Sonne nicht einmal auf. Ihre Position hinter den Hyaden – von der Erde ausgesehen – machte sie für die Astronomen nahezu unsichtbar, wenn sie nicht gerade auf der AURORA mitreisten.

Der Plan sah diesmal vor, quasi durch den offenen Sternenhaufen durch zu springen, also eine Sonne direkt hinter den geballten Sternen anzuvisieren und den Wurmlochsprung zu wagen. Der letzte Umweg, der eine Abkürzung hatte sein sollen, Andea Twin, steckte ihnen allen noch negativ in den Knochen, aber dieser Sprung sollte relativ sicher sein… Zumindest sicherer als Andea.
Hyaden… Noch vor zwei Monaten hätte sich Sakura eher die Zunge abgebissen, als diesen offenen Sternhaufen, der von den heimischen Astronomen Die sieben Schwestern genannt wurde, auch nur in Gedanken beim richtigen Namen zu nennen, damit die Naguad darauf keinen Rückschluss auf die Position ihrer Heimat bekommen konnten.
Das hatte sich egalisiert, nachdem einer der kronosischen Legaten den absoluten Verrat begangen hatte und den Offiziellen des Imperiums die exakte Position des Sonnensystems hatte zukommen lassen.
Und dann war noch weit schlimmeres passiert. Beim Flug durch das System mit dem blauen Riesen waren sie angegriffen worden.
Wer ihr Feind war, was er beabsichtigte, keine Ahnung. Die eleganten Rochenschiffe hatten einfach nur angegriffen. Wieder und wieder.
Die AURORA, die einen Großteil ihrer Begleitschutzflotte im Kanto-System zurück gelassen hatte, war nicht wehrlos gewesen, aber dennoch einem großen Teil ihrer Schlagkraft beraubt worden.
Oh, die Manta-Schiffe hatten die Schlagkraft des Giganten schnell zu fürchten gelernt. Dennoch setzten sie ihre Angriffe fort, um eine schwache Stelle in der Verteidigung des Giganten zu finden. Am Heck bei den Triebwerken hatten sie es schon versucht, aber die Konstrukteure hatten diesen Fall voraus gesehen und einen adäquaten Geschützkordon aufgestellt. Mit anderen Worten: Ein Feuersturm hatte die Angreifer erwartet. Zuerst auf lange Distanz, dann auf kurze. Von den zwanzig Mantas der Angriffswelle waren nur elf entkommen. Dennoch reichte die Feuerkraft der verbliebenen Schiffe problemlos aus, um es mit der AURORA und ihrer Begleitflotte aufzunehmen.
Erneut ging eine Erschütterung durch das Schiff. Sakura sah in die Runde der Zentrale des Giganten, wartete die Schadensmeldungen ab. Und die Horrormeldung, dass es im Innenraum der AURORA zu Einstürzen gekommen war.
Ja, Horror, absoluter Horror. Sie stellte sich vor, wie tonnenschwere Gesteinstrümmer auf Fushida fielen, vielleicht auf die Schule. In die weiten Straßen zwischen den Wolkenkratzern oder in die engen Gassen der friedlicheren Viertel, in denen die jungen Menschen und Anelph, die nicht auf den Podesten eingefroren waren versuchten, so etwas wie ein Leben aufzubauen.

„Keine weiteren Schäden. Feindflotte dreht ab.“ Tetsu Genda, Kommandant der AURORA, wandte sich mit einem erleichterten Lächeln seiner Vorgesetzten zu. „Der Angriff wurde vorerst eingestellt.“
„Vorerst trifft es.“ Sakura atmete hörbar aus. „Okay, ruf die Hekatoncheiren wieder rein. Sie sollen sich so schnell es geht wieder ausrüsten und reparieren. Die Schiffe sollen ihre Schäden melden. Admiral Richards muß dann entscheiden ob und welches Schiff in die Werften soll. Die Daishi-Flotte soll ebenfalls nachrüsten und auf Bereitschaft bleiben. Der Befehl an alle lautet, so viel Zeit wie möglich zum ausruhen zu nutzen.“
Sakura Ino schüttelte stumm den Kopf. „Gibt es Anzeichen, dass die Angreifer in diesem Sonnensystem über Nachschub oder Versorgung verfügen? Außerhalb unserer Ortungsreichweite?“
„Angesichts der Bedrohung wage ich es nicht, unseren letzten LRAO raus zu jagen“, sagte Tetsu bestimmt.
Die wendigen, auf dem Konzept der Daishi Epsilon fungierenden Ortungsplattformen waren fast alle im Kanto-System zurück geblieben, um den dortigen Truppen bei der Strafaktion beizustehen, die sie alle erwarteten.
„Es ist in Ordnung. Eine Korvette erfüllt den gleichen Zweck. Bemanne eine und lass sie im Tarnmodus hinter den Mantas herschleichen.“
„Eine Korvette? Sie käme nie auf den Beschleunigungswert eines LRAO mit Booster. Wird sie entdeckt, ist sie verloren.“
„Dann such Freiwillige für diese Mission und schärfe ihnen ein, verdammt vorsichtig zu sein.“
„Ja, aber… Das Risiko…“
Wütend rief sie: „Soll ich mich etwa als erste freiwillig melden? Ist es das, was du willst? Okay, dann übernehme ich das Kommando über diese Mission!“
Entgeistert starrte Tetsu sie an. „Das wird nicht nötig sein, Admiral. Ich selbst werde das Kommando über die Korvette übernehmen.“ Der große Mann salutierte exakt vor ihr und wandte sich dann um.
„T-tetsu“, hauchte sie. „Tetsu, so habe ich das…“

„Hier spricht der Kommandant. Detachiert sofort die Korvette Quebec. Voll aufrüsten. Tarnung checken. Ich übernehme das Kommando über sie. Ziel der Mission ist, den Manta-Schiffen hinterher zu schnüffeln. Freiwilligenmeldungen für die Mission an die Zentrale.“
„Tetsu, ich habe nicht gesagt, dass du stattdessen gehen sollst“, begehrte Sakura endlich auf.
Der große Mann, der vor nicht einmal drei Jahren noch ein verfetteter Halbstarker gewesen war, der mit seiner Motorradgang in den Tag gelebt hatte, war in diesem Moment von dem alten Leben so weit entfernt wie irgendwie möglich.
Der Mann, der ihr da in die Augen sah, war athletisch, hatte heitere dunkle Augen und Gesichtszüge, die hart und attraktiv wirkten. Von Fett war nicht eine Spur mehr an ihm zu erkennen.
„Ich habe einen Fehler begangen, Admiral. Und ich bitte nun um Erlaubnis, ihn wieder gut machen zu dürfen. Natürlich ist eine Korvette auszuschicken die richtige Lösung. Sie ist nicht so schnell wie der LRAO mit Booster. Aber sie ist unsichtbar und unortbar und bei weitem besser bewaffnet. Mit einem sehr guten Kommandanten kann man das Risiko auf einem erträglichen Maß halten. Ich habe das bei meiner harschen Antwort nicht bedacht. Der beste Mann für diese Mission wäre eigentlich Kei Takahara, aber der steht nicht zur Verfügung. Admiral Richards käme ebenfalls in Frage, aber er wird für die Koordination der Flotte dringend gebraucht. Der nächste in der Reihe bin ich. Ich bitte Sie, Admiral, lassen Sie mich den Auftrag übernehmen.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, die Lachfältchen in den Augenwinkeln verschwanden, machten einer harten Linie platz.
Sakura trat vor den großen Mann. „Der nächste in der Liste bin ich, nicht du, Tetsu.“
„Das weiß ich, Sakura. Aber ich fliege da eher selber raus, als dich diese Mission erledigen zu lassen! Du bist zu wichtig!“
„Zu wichtig für was? Oder für wen?“, fuhr sie ihn an.
Statt zu antworten salutierte der Kommodore. „Admiral, ich übergebe Ihnen hiermit das Kommando über die AURORA und übernehme temporär das Kommando über die Quebec. Ich melde mich ab.“
„TETSU!“
„Freiwilligenmeldung zu mir auf mein Datapad. Falls es genügen gibt, sortiere ich mir die Mannschaft auf meinem Weg zum Hangar der Quebec“, befahl der Kommodore und verließ die Zentrale.

Sakura ging ihm hastig hinterher. „Tetsu!“
„Nein, Sakura. Ich führe diesen Auftrag durch. Ich habe an dir gezweifelt und das tue ich nie wieder.“
„Darum geht es doch gar nicht. Komm gefälligst wieder, du Idiot.“
Tetsu wandte sich um. „Versuch gar nicht erst, mich umzustimmen, Sakura. Ich gehe in diese Mission und… Äh… Ach so. Du meintest, ich soll von der Mission wieder kommen. Natürlich werde ich das.“ Er wandte sich um und hatte wieder die Lachfältchen in den Augenwinkeln. „Ich werde meinen Admiral doch nicht zweimal enttäuschen.“
„Blödmann!“ Ihre Hand sauste heran und traf den verdutzten Tetsu vollkommen unmilitärisch zu einer schallenden Ohrfeige, die ihm die Kronen gelockert hätte, hätte er welche gehabt.
Bevor er sich aber über die Misshandlung beschweren konnte, hatten ihre Lippen seinen Mund verschlossen. „Komm gefälligst wieder“, hauchte sie noch einmal, wandte sich um und ging wieder in die Zentrale.
**
Daisuke Honda ließ sich erschöpft gegen die nächste Wand sinken. Nach sechzehn Stunden Dauereinsatz war er wirklich, wirklich müde. Zudem hatte er den Mecha wechseln müssen, nachdem der Gegner ihn als Anführer identifiziert und gesondert attackiert hatte.
Nun, die Hekatoncheiren hatten schnell eine neue Taktik improvisiert, bei der er der Köder gewesen war, sie hatte ein paar Mal gut funktioniert.
Daisuke lächelte für einen Moment zufrieden. Seine Gyes hatten verdammt gut zusammen gearbeitet. Und der Red Team-Banges, auf den er notgedrungen hatte umsatteln müssen, hatte sich als fähiges Arbeitstier erwiesen. Gerade mit der Modulbewaffnung war er jedes Mal aufs Neue eine Überraschung für die Angreifer gewesen.
Neben ihm ließ sich ein weiterer Mann gegen die Wand fallen und herab sinken. „Himmel, noch so ne Schicht halte ich nicht durch, Dai-chan.“
„Der Banges ist richtig cool. Dieser Artillerielaser hat durch die Formation der feindlichen Mechas geschnitten wie ein Stahlmesser durch Butter. Warum haben wir diese Waffe noch nicht für uns nachgebaut?“
„Hörst du mir überhaupt zu, Dai-chan?“, tadelte Doitsu. „Ich sagte gerade, noch so ne Schicht schaffe ich nicht.“
„Aber, aber, Major Ataka. Nun reißen Sie sich mal zusammen. Oder wollen Sie vielleicht auch auf einen Banges wechseln und den Angreifern das Leben zur Hölle machen?“
„Danke, mein eigenes ist bereits eine“, erwiderte der Yakuza säuerlich. „Außerdem ist nicht jeder Hekatoncheire so ein Genie wie du, das sich fast sofort an einen vollkommen fremden Mecha anpassen kann, ohne ihn ein einziges Mal getestet zu haben.“
„Reiner Zufall“, tat Daisuke ab. „Wirklich reiner Zufall. Die Chemie zwischen mir und Red Devil hat eben einfach gestimmt.“
„Einen Namen hast du ihm also auch schon gegeben, eh?“ Doitsu atmete hörbar aus. „So eine Stimmigkeit hätte ich auch gerne. Andere erobern mit so etwas Weltreiche.“
„Spotte du nur. Mit wie vielen Gegnern hatten wir es eigentlich zu tun?“
Doitsu dachte kurz nach. „Zwanzig Mechas pro Manta, macht etwas über zweitausend. Zweihundertelf haben wir bereits vernichtet oder angeschlagen, ein Teil wird sicherlich wieder repariert werden können, bis die Mantas das nächste Mal angreifen. Gott, ich wünschte mir, Akira wäre jetzt hier.“
„Ich wünschte mir, die Hekatoncheiren würden geschlossen hinter der nächsten Wand hervor springen und rufen: Überraschung! Die Mannschaften der Daishis unserer Begleitschiffe sind gut motiviert und sehr gut trainiert, aber der Unterschied zwischen der Elite und ihnen wird immer wieder deutlich. Wenn wir nicht dauernd auf sie aufpassen müssten, könnten wir bereits mehr Abschüsse haben. Andererseits“, seufzte Daisuke, „wären wir zahlenmäßig noch weiter im Nachteil, wenn die Daishis nicht auf unserer Seite kämpfen würden.“
„Nützliche Lückenfüller? Läuft es darauf hinaus?“, fragte Doitsu müde.
„Nein, nicht unbedingt. Kanonenfutter sind sie bei weitem nicht, aber das Zeug für die Hekatoncheiren haben die wenigsten von ihnen. Es scheint, als wenn wir für Akiras Truppe wirklich die Besten der Besten abgeschöpft hätten. Und darunter gibt es eine ellenlange Lücke, bevor die nächsten Mecha-Krieger im Dienst der UEMF kommen. Ist das ungerecht. Ungerecht vor allem für die Piloten, die für die AURORA da draußen ihre Leben riskieren.“

Doitsu stupste den Freund in die Seite. Was bei dem übermüdeten Oberst dazu führte, dass er beinahe zu Boden fiel. Aber mit einigen albernen Handbewegungen und einem protestierenden Aufschrei konnte sich der Kleinere wieder fangen.
„Es ist ihr Job, draußen ihre Leben zu riskieren. So wie es unser eigener Job ist. Und wir tun für unsere Kameraden auf den Daishis ja was immer in unserer Macht steht, oder?“
„Anscheinend nicht genug, wenn wir bei den Daishis schon siebenundfünfzig Totalverluste haben. Und jetzt erzähl mir nicht diesen Nonsens mit sie kannten ihr Risiko als Soldaten. Niemand stirbt gerne.“ Er dachte einen Moment über seine Worte nach. „Zumindest nicht, wenn er nicht weiß was danach kommt.“

Zwei Handtücher flogen auf die beiden Mecha-Piloten zu und wurden von ihnen zielsicher aus der Luft gefischt.
„Danke“, ächzte Daisuke und wischte sich Gesicht und Nacken ab. Er lächelte leicht, als ihm eine eiskalte Flasche mit einem Mischgetränk auf isotonischer Basis an die Wange gehalten wurde.
Doitsu bekam ebenfalls eine Flasche. „Mamo-chan, du rettest mein Leben.“
Der mit Mamo-chan angesprochene Geheimdienst- und Infanterieoffizier grinste trocken. „Gute Arbeit da draußen. Aber wenn wir das bis zum Sprung durchhalten sollen, gebe ich uns bestenfalls noch drei Tage, dann brechen uns die ersten Leute wegen Erschöpfung zusammen.“
„Da stimme ich dir zu. Mist ist nur, dass es noch fünf Tage bis zum Absprungpunkt sind.“
Die drei Männer seufzten.
„Habe ich schon erwähnt, dass ich diesen arroganten, selbst verliebten Arsch in seinem legendären Mecha jetzt gerne hier hätte?“, murmelte Mamoru Hatake versonnen.
Daisuke warf Doitsu einen fragenden Blick zu.
„Er meint Akira.“
„Ach so. Sag das doch. Bei der Beschreibung habe ich eher an Makoto gedacht.“
„Wieso Makoto?“
Daisuke grinste anzüglich. „Joan Reilley.“
Mamoru und der Yakuza wechselten einen erstaunten Blick. „Ist ein Argument.“ „Zugegeben.“
Doitsu äugte zum Anführer der Gyes herüber. „Du hast ein Faible für Joan?“
„Du etwa nicht?“
„Ähemm.“ Ein kurzer Hustenreiz, gefolgt eifrigen Versuchen, mit schlucken die Kehle wieder frei zu kriegen, war die Antwort.
Daisuke grinste zufrieden. „Nicht, dass ich je was mit ihr anfangen würde. Aber gucken ist zum Glück erlaubt. Ich finde Hina-chan übrigens auch ganz süß.“ Er sah zu Mamoru herüber. „Und seien wir ehrlich, du solltest jeden Tag auf den Knien dafür danken, dass deine Akane dir treu geblieben ist und jetzt keinen anderen Kerl hat. Bei den Beinen…“
„Streckst du deine sexuellen Phantasien nicht etwas weit aus? Hast du vielleicht auch Sakura-chan und Yohko auf deiner Liste?“
„Sakura vielleicht, Yohko nein. Und bei Akari warte ich, bis sie wieder ausgewachsen ist. Ich mag große Frauen. Ach, und Mako-chan.“
Mamorus Augen wurden groß. „Wie war das? Mako-chan? Was wird das hier? Eine Therapiesitzung?“
„Hand hoch, wer noch nie mit dem Gedanken gespielt hat, was Mako-chan für eine tolle Frau abgeben würde“, sagte Daisuke ungerührt. Als nach einer Minute immer noch keine Hand oben war grinste er zufrieden, während die anderen beiden peinlich berührt schwiegen. „Wusste ich es doch.“

„Wenn wir schon dabei sind, deine Kleine ist ja auch nicht ohne“, stellte Doitsu fest. „Sarah hat wirklich alles, was ein Mädchen braucht. Lange Beine, einen ordentlichen Busen und ein supersüßes Lächeln. Alles was ihr fehlt ist Geschmack bei Männern.“
Daisuke lächelte säuerlich. „Das fehlt euren beiden Frauen doch auch. Dafür sollten wir bei Gelegenheit aus Dankbarkeit ein Opferlamm schlachten.“
Doitsu und Mamoru sahen sich wieder an. Dann seufzten sie kollektiv.
„Und ja, Sarah hat alles, was ein Mädchen braucht“, stellte Daisuke genießerisch fest. „Sie hat sogar die richtige Größe und… Sagt mal, ist es Zufall, dass die größeren Slayer auf der AURORA sind und die kleineren Mädchen im Kanto-System?“
„Hm. Sakura-chan ist ja auch da. Das gibt mir jetzt wirklich zu denken. Ihr wisst, sie ist wirklich groß.“ Doitsu betonte das letzte Wort auffallend.
„In mehrerlei Hinsicht“, bestätigte Mamoru.
„DAS wäre eine gute Gelegenheit für eine sexuelle Anspielung gewesen“, stellte Daisuke fest.
„Es war eine sexuelle Anspielung“, betonte Mamoru.
Die anderen beiden lachten und der Geheimdienstoffizier fiel ein.

Erste Sekunde. Vor den drei jungen Männern scheint sich die Luft zu verdichten und einen farbigen Wirbel zu bilden.
Zweite Sekunde. Mamoru Hatake reißt den Mund zu einem Warnschrei auf, unwillkürlich geht sein Blick zu einem seiner Sicherheitsleute, der bereits seine Waffe hochreißt.
Dritte Sekunde. Der Wirbel hat einen humanoiden Körper geformt, in dessen Händen hoch frequente Vibrationsklingen erscheinen.
Vierte Sekunde. Daisuke und Doitsu drücken sich aus ihren Positionen zu den Seiten weg, versuchen aus der Reichweite der plötzlich aufgetauchten Gestalt zu kommen. Der Fremde entscheidet sich blitzschnell für Mamoru Hatake.
Fünfte Sekunde. Der Schädel des Angreifers befindet sich zwischen der beträchtlich harten Hangarwand und einem grünen Wildlederstiefel, dessen Sohle ihn sehr effektiv an Ort und Stelle bannt.
Sechste Sekunde. Ein enormer Energieball entsteht in der Hand von Green Slayer, trifft auf den Angreifer und lässt ihn in einem Lichtblitz vergehen.
Siebte Sekunde, achte Sekunde, neunte Sekunde. Langsam nimmt Green Slayer ihr Bein wieder herunter.

„Das hast du dir so gedacht, was?“, blaffte Green Slayer in Richtung des verschwundenen Attentäters. „Meinen Freund willst du dir vornehmen? Da musst du aber früher aufstehen, beträchtlich früher!“ Sie sah zu Mamoru herüber. „Geht es dir gut?“
„Wieso habe ich nur das Gefühl, der Anhang Kleiner wäre für mich ab sofort gerechtfertigt?“, stöhnte der Geheimdienstoffizier, bevor seine Knie nachgaben und er zitternd Halt an der Wand suchte.
„Mamoru!“ Green Slayer alias Akane Kurosawa sprang hinzu und stützte den Freund. „Hat er dich erwischt? Soll ich Futabe-sama rufen?“
„Es… Es geht mir gut. Aber eben gerade ist ein Teil meines Lebens als Film vor meinem inneren Auge abgelaufen und keiner wollte mir Popcorn verkaufen.“
Neben Green Slayer flimmerte die Luft. Blue Slayer entstand. „Du hast ihn erwischt? Gut. Damit haben wir die Elite fast schon im Sack. Kommen noch zwanzig von den kleinen Fischen. Oh, hallo, Jungs. Doitsu, hallo.“
„Kann mir mal bitte ganz schnell jemand eine Erklärung geben?“, stöhnte Daisuke. „Ich habe gerade sechzehn Stunden auf einem Mecha hinter mir und, zugegeben, mein Gehirn arbeitet nicht so schnell wie es sollte, also bitte!“
Die beiden Frauen wechselten einen knappen Blick und ein Nicken. „Wir haben Besuch an Bord. Während der Angriffe haben mehrere Landefähren versucht, bis zur AURORA vorzudringen. Von dreißig Fähren haben es sieben geschafft. Sie brachten im Schnitt fünfunddreißig gut ausgebildete Infanteristen und Saboteure an Bord, die sofort versucht haben, Energieversorgung, Waffen und Antrieb zu vernichten.
Dazu kamen neun Wesen an Bord, die wir KI-Biester nennen. Sie bestehen eigentlich nur aus einer Riesenmenge KI, das sich selbst materielle Körper simuliert. Diese KI-Biester sind im Gegensatz zu den Saboteuren auch noch anpassungsfähig und um einiges intelligenter. Sie haben unsere Führungskräfte angegriffen, aber wir Slayer, Futabe-sama und Berger-sama konnten sie abwehren. Das ist der sechste oder siebte, ich komme mit dem zählen nicht ganz hinterher.“
„Danke für die Erklärung, Blue Slayer, aber warum gab es keinen Alarm?“
„Nun, Dai-chan, dieser Experte hier, der liebe Mamoru Hatake hat gesagt, dass man die Saboteure gezielter ausschalten kann, wenn man ihnen nicht sagt, dass sie entdeckt wurden.
Also hat er alle wichtigen Stellen persönlich warnen lassen und zusätzliche Infanterie aufgeboten. Also, bis auf den Zwischenfall eben hat es sehr gut geklappt.“
„Aha!“ Daisuke warf Mamoru einen schiefen Seitenblick zu. „Haben wir gerade Köder für dich gespielt?“
„Nein“, erwiderte Mamoru trocken.
„Dann ist ja gut.“
„Ich war der Köder.“
„Ich bin dafür, wir verprügeln ihn!“, rief Doitsu, grinste gemein und nahm Mamoru in den Schwitzkasten.
„Aber vorher fesseln wir ihn und reiben ihn mit Juckpulver ein. Dann kann er sich nicht kratzen!“
„Gute Idee, gefällt mir.“
„Äh, Jungs.“ Blue lächelte. „Abgesehen davon, dass Ihr auf der ganzen AURORA sowieso kein Juckpulver finden werdet, würde es euch was ausmachen und unseren Geheimdienstchef unbeschädigt lassen? Scheint so als bräuchten wir ihn noch.“
Doitsu murmelte etwas von Vertrauen zwischen Partnern und zueinander stehen, ließ Mamoru aber widerstrebend frei.
„Danke für eure Intervention, Akane, Hina-chan. Aber Jungs, glaubt mir eines, ihr solltet wirklich keine Lockvögel sein. Die Jagd auf diesen hier hatte ich aufgegeben, als ihr rein kamt.“ Mit stummem Blick bat der groß gewachsene Mann um Verzeihung.
„Er ist gut“, brummte Daisuke missmutig, der seine Rachepläne vor dem geistigen Auge verpuffen sah.
„Verdammt gut“, pflichtete der Yakuza bei. „Zum Glück bist du auf unserer Seite. Übrigens, wo sind wohl die übrigen beiden KI-Bestien? Habt ihr eine Idee?“
„Poseidon“, sagte Daisuke, und Mamoru fiel ein. Auch die beiden Mädchen nickten.
„Dann ist das geklärt.“ Doitsu ging in Richtung Ausgang. „Nehmen wir die nächste Bahn.“
„Wer hat den eigentlich zum Anführer gemacht?“, maulte Mamoru.
„Genau. Ich bin hier doch der Anführer, oder?“, bemerkte Daisuke.
„Oh“, meinte Blue vergnügt, „ich finde, er macht das sehr gut. Hey, Doitsu, warte auf mich!“
**
Wer oder was die KI-Bestien eigentlich waren, konnte so schnell nicht geklärt werden. Was sie wollten hingegen relativ schnell. Auch der Weg, auf dem sie an Bord der AURORA gekommen waren war relativ schnell entdeckt worden.
Genau aus diesem Grund stand nun Orange Slayer schwer atmend in einem Konferenzraum, eine Hand zum Schutz gehoben, während ihr zorniger Blick die beiden KI-Bestien zu bannen versuchte – was mit dem lädierten KI-Panzer, den sie in Form der Slayer-Uniform trug, schon recht schwer fiel. Aber sie hatte nicht vor zu weichen, denn hinter ihr stand Sakura Ino, und Sarah Anderson war nicht bereit zuzulassen, dass der großen blonden Frau auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Nur über ihre Leiche. Den Part meinte sie übrigens bitterernst.

Der Schlagabtausch ging schon ein paar Minuten und Sarah hatte nicht nur zwei Gegner, sie musste nebenbei auch noch Sakura verteidigen. Außerdem verhinderten die KI-Bestien, dass die Admirälin floh. Sie wurde sehr effektiv im Raum festgehalten.
„Sakura-chan, wenn sie diesmal kommen, werde ich einen festhalten. Du musst die Zeit dann nutzen, um auf den Gang zu kommen!“
„Dummes Ding. Der andere wird dich töten, wenn du deine Kräfte aus dem Spiel nimmst.“
Orange schüttelte den Kopf. „Wichtig ist, dass du den Raum verlässt. Wenn ich dich nicht mehr beschützen muß, dann kann ich es mit beiden aufnehmen. Bitte, du hast nur diese eine Chance.“
„Ich lasse dich nicht allein, Sarah.“
„Dann sterben wir beide!“, blaffte die Amerikanerin. Leise fügte sie hinzu: „Bitte, Sakura-chan.“
Sie warf einen verzweifelten Blick nach hinten, nur für einen winzigen Augenblick. Aber der genügte dem ersten KI-Biest, um die rechte Hand grotesk zu verformen, gigantische Krallen zu bilden und damit auf Sarahs Herz zu zielen. Das andere Biest schnellte heran, versuchte Orange zu passieren und raste auf Sakura zu.
Sarah blieb das Herz stehen. Nein, nicht versagen. Die Zeit verlangsamte sich für sie, bis ihre eigenen Bewegungen, bis die Bewegungen der KI-Bestien wie in Zeitlupe erfolgten. Dann fasste sie einen Entschluss und griff die Bestie an, die sie passieren wollte.

Plötzlich entstand direkt vor ihr ein Schemen, raste mit einer Geschwindigkeit, die sie in ihrer Zeitlupenwelt für unmöglich hielt, an ihr vorbei und rammte das KI-Biest, welches sie als Ziel erkoren hatte, gegen die nächste Wand. Dort erstarrte die humanoide Gestalt, warf den Kopf zu einem protestierenden Schmerzensschrei nach hinten und verging.
Zugleich huschte Sakura seitlich an ihr vorbei, legte ihre rechte Hand auf die Brust des anderen KI-Biestes. Für einen winzigen Augenblick, eine Millisekunde, die sich wie eine Stunde zu weiten schien, geschah nichts. Dann glühten ihre Fingerspitzen auf, es bildete sich eine leuchtende runde Fläche auf der Brust des Angreifers und wurde schnell größer. Als der Lichtkreis den Oberkörper bedeckte, schien es, als würde das KI-Biest Teilchen für Teilchen nach hinten verwehen.

Übergangslos lief die Zeit für Sarah wieder normal ab. Das KI-Biest rechts von ihr verging an der Wand. Das KI-Biest links hingegen zerstob wie Staub unter einer auf Volllast laufenden Turbine.
Gefangen von Erleichterung und der Erkenntnis, rein gar nichts getan zu haben, sackte sie in den Knien ein und landete auf ihrem Po.
Sie zitterte leicht, als die Erkenntnis gnadenlos zuschlug, dass sie überlebt hatte. Dass Sakura überlebt hatte.
Sie sah zu der Admirälin herüber, die triumphierend grinste. „HA! Mach mir das erstmal nach! Das drittmächtigste KI der Erde versteckt zu halten und dann in einer Zehntelsekunde in den Fingerspitzen zu konzentrieren! HA! HA! Ha, ha, ha!“
An der Wand drehte sich eine dunkle Gestalt langsam um. Die Miene war düster, die Augen dunkel und die Haltung drohend und kampfbereit. Doch mit jedem Grad, das sich die Gestalt mehr zu ihnen herum drehte, verschwand dieser Eindruck.
Schließlich war es ein freundlicher Mann von vielleicht Mitte vierzig, der neben Sarah in die Hocke ging. „Komm wieder runter von deiner Selbstbeweihräucherung, Sakura. Es scheint, als hätte Orange ihre Kräfte überschätzt.“ Seine Hände leuchteten in besonders hellem KI auf; übergangslos fühlte sich die Slayer besser. „Das drittbeste KI der Erde, hm?“
Sakura wurde rot. „Beweise mir das Gegenteil.“
Der Mann lachte, es klang sympathisch. „Heute nicht.“
Er stellte die KI-Behandlung der jungen Frau ein und ließ sich zu Boden sinken. „Verdammt, das erinnert mich an das letzte Mal, als es so schnell gehen musste. Damals ging es auch um Leben und Tod. Und beinahe wären Akira, Yohko, du und dein Bruder Makoto nie geboren worden.“

2.
Auf den Handelspfaden des heiligen römischen Reichs deutscher Nation hatte sich schon sehr viel ereignet; diese Wege hatten fast alles gesehen. Den Vormarsch der Römer, den Völkerzug der Goten, das Erbfolgegerangel zwischen spanischem König und deutschem Kaiser, letztendlich den verheerenden, dreißigjährigen Krieg, der durch die korrumpierte katholische Kirche und den Ablasshandel ausgelöst worden war.
Aber diese Szene war zu interessant, zu neu und überbot selbst den Tross eines muslimischen Botschafters mit seinen Sarazenen und Eunuchen auf dem Weg zu einem europäischen Königshof.
Die Gesellschaft, die hier auf den Straßen Hessens nach Westen zog, schlug all das und setzte noch etwas obendrauf.
Berittene waren vorneweg. Unübersehbar ausgerüstet mit fremden, weit ausladenden Helmen, mit Pfeil, Bogen und seltsam anmutenden langen Schwertern, die mehr an größenwahnsinnige Küchenmesser als die in dieser Zeit üblichen Degen erinnerten.
Der eine oder andere trug auch eine Schusswaffe im Bund seiner Bekleidung. Aber lediglich der Anführer des Zugs, ein junger europäischer Mann mit dunkelblondem Haar, wachen blauen Augen und der Kleidung eines Edelmanns, trug eine Muskete auf dem Rücken. Auch baumelte der standesgemäße Degen an seiner Seite. Zudem steckten in seinen Satteltaschen zwei schussbereite Pistolen.
Die anderen Männer hatten wache Augen und dunkle Haare. Viele hatten sich eine Glatze rasiert und die Haare am Hinterkopf zu einer Locke gebunden. Sie wirkten stolz, und sie wirkten als hätten sie jeden Grund dazu.
Danach gingen mehrere Abteilungen Bodenkämpfer. Auch sie waren mit den langen Schwertern bewaffnet, die sie in Paaren zu zwei in ihre Gürtel gesteckt trugen. Sie trugen weite, zusammengebundene Mäntel und sprachen kein einziges Wort. Danach kamen, flankiert von weiteren Bewaffneten, drei Sänften, die von starken Pferden getragen wurden. Die kastenförmigen Gestelle waren fast vollkommen geschlossen. Nur zwei Schiebetüren zu beiden Seiten ließen hinein oder hinaus. Die Männer, die neben den Sänften gingen, waren besonders aufmerksam und musterten den Waldrand. Danach kam eine Abordnung Damen, geschützt von den restlichen Bodenkämpfen.
Die Frauen waren blass geschminkt und trugen kunstvolle Mäntel in farbenfrohen Mustern, nicht selten mit Blumen verziert. Die Blicke gesenkt trippelten sie hinter den Sänften her. Ihnen folgten die restlichen Berittenen; diese jedoch waren Europäer, bewehrt mit Musketen, Pistolen und Degen. Einige hatten auch schussbereite Armbrüste an den Sattelknaufs baumeln.
Ihr Anführer, ein großer, kräftiger Mann mit schwarzem Haar und einem dünnen schwarzen Bart, musterte seine Umgebung genau.

Mit einem Schnalzen trieb er sein Reittier an, einen prächtigen Schimmel, und ritt an den Bewaffneten vorbei nach vorne zur mittleren Sänfte.
„Meine Lady“, sagte er ernst.
„Was gibt es, Aris?“
„Nun, wir werden begleitet.“
„Ach. Wann hast du das denn bemerkt, geliebter Bluthund?“ Die Stimme aus der Sänfte klang spöttisch und brachte einige der Damen, die noch in Hörweite waren, dazu zu kichern.
Der Mann, der Aris genannt wurde, schmunzelte. „Vor etwa fünf Minuten sind es genügend geworden um uns anzugreifen. Zuvor waren es nur sechs, die uns im Schatten des Waldes gefolgt sind. Da Michael der Engel noch nicht reagiert hat dachte ich, ich rede mit ihm. Und da du, meine Lady, zu gerne über alles informiert bist was um dich herum geschieht, habe ich den kleinen Stopp bei dir eingelegt.“
„Ich halte nichts davon, dem Fioran diesen Beinamen zu gestatten“, murrte Eri Arogad. „Das gibt ihm etwas so… So…“
„Interessantes, meine Lady?“, half Aris aus.
„Angeberisches, mein lieber Bluthund. Er hat seine Fähigkeiten mehr als bewiesen. Niemand verlangt von ihm, auch noch ein Gottesgeschöpf zu werden.“
„Ich werde es ihm ausrichten, meine Lady.“ Aris Taral gab seinem Schimmel die Sporen, worauf das Tier in einen schnellen Sprint fiel. Auf diese Weise überhörte er wohlwollend Eridias Antwort.

Schnell erreichte er die Spitze neben dem blonden Europäer. „Oi, Engel!“
Der große Mann warf dem Neuankömmling einen verdrießlichen Blick zu. „Ich mag diesen Namen nicht, Aris Taral.“
„Dann hättest du ihn dir nicht zuziehen dürfen“, erklärte der Bluthund grinsend.
Die Wachen hinter ihnen begannen wissend zu grinsen.
„Was denkst du über das Geschmeiß im Wald, mein Junge?“
Michael Fioran sah zum Waldrand herüber. „Dreißig. Nein, zweiunddreißig. Gerüstet mit Musketen mit Steinschlossgewehren. Nicht das neueste, aber ziemlich gut. Dazu mit Degen bewaffnet. Wir sind siebzig ohne die Damen.“
Aris Taral brummte verstimmt. „Siebzig, die unsere Hofdamen und die drei Sänften beschützen müssen. Außerdem dürfen wir nicht noch mehr Aufsehen erregen als in Bremen, junger Freund.“
Wütend und verlegen sah Michael fort. Der Zwischenfall in Bremen, der ihm den Beinamen Engel eingebracht hatte, brannte wie eine tiefe Schande in seinem Verstand. Sicherlich, die religiös motivierten Hansestädter hatten in dem Leuchten, das ihn umgeben hatte, ein Zeichen Gottes gesehen und ihn als Engel des Herrn fehl interpretiert. Aber dies war genau die Form von Aufmerksamkeit, die sie vermeiden wollten.
Gerade bei ihrer wichtigen Mission auf der Erde.
„Also, was rätst du mir, Bluthund? Sollen wir sie uns attackieren lassen oder reiten wir zur Attacke? Es müssen nicht Räuber im Wald sein, es können auch Söldner sein, die vor den Franzosen fliehen. Nach den letzten Siegen der Lilie in Holland gibt es genügend in der Gegend.“
„Nun, wir könnten in den Wald hineinreiten. Wir könnten die Räuber bis auf den letzten Mann niedermachen, ohne dass einer unserer eigenen Leute auch nur einen Kratzer davon trägt. Es würde vielleicht helfen, unsere Reise sicherer zu machen. Aber es könnte die Menschen auf den Straßen auch denken lassen, wir wären mit dieser ominösen Figur namens Teufel im Bunde.“
„Du hast Recht. Bereits jetzt begegnen uns die meisten einfachen Bürger mit Misstrauen und offener Abscheu. Wir haben uns dazu entschlossen, Japaner zu spielen, um unsere wahre Herkunft zu verschleiern und ungestört suchen zu können. Aber…“ Michael sah den Bluthund ernst an. „Ich frage mich ernsthaft, ob es nicht an der Zeit ist, die Rolle zu wechseln. Wir könnten uns verändern. Lass uns slawische Adlige spielen, die ihre Besitztümer in Ungarn zurück haben wollen und den französischen König darum bitten wollen, bei den Osmanen zu intervenieren.“
„Das hast du dir ja schon gut überlegt, Michael.“ Aris schmunzelte. „Aber du weißt doch, warum wir die Rolle als Japaner angenommen haben.“
Der große Blondschopf seufzte. „Die Isolierung Japans. Durch die komplette Abschottung des Landes nach außen kann niemand unsere Geschichte nachprüfen, selbst wenn unsere Jagd noch Jahre gehen sollten. Und ich mit meiner Identität als englischer Siedler der aus Übersee zurückgekehrt ist kann auch nicht so schnell enttarnt werden.“
„Und all das nur aus einem verdammte Grund“, brummte Aris ernst.

Michael riss den Kopf herum, auch Aris sah in Richtung Wald. Einige der Männer nahmen ihr Bögen herab.
„Sie kommen. Ich glaube, damit haben sie uns die Entscheidung abgenommen“, schmunzelte Michael. Er zog die Muskete von seinem Rücken und lud sie. „Beschützt die Sänften und die Frauen!“
Der Tross hielt, die Männer zogen ihre Schwerter blank. Die Frauen drängten sich hinter den Sänften zusammen. Obwohl einige unter ihnen zur Elite der Akademie gehörten und im Nahkampf keinen Menschen der Erde zu fürchten brauchten.
Die Bewaffneten stellten sich vor die Sänften, während Aris zurück zum Ende sprintete. Seine portugiesischen Söldner, wie sie sich nannten, luden nun ebenfalls die Waffen, während aus dem Wald die ersten finsteren Gestalten in ihren langen Umhängen und den breiten Schlapphüten hervor kamen. Musketen bellten auf, Kugeln flogen herum, prasselten gegen die Rüstungen der Männer und gegen das Holz der Sänften. Ein Pferd wieherte erschrocken auf, als eine Kugel in sein Hinterbein fuhr. Das Tier brach in die Knie ein.
„Wartet!“, rief Michael und ritt die Phalanx der Verteidiger ab. Dann drehte er wieder um und stellte sich bei den Samurai-Reitern auf. „Wartet!“
Weitere Räuber erschienen, feuerten ihre Musketen ab, zogen die Degen blank und stürmten auf die Wagen zu. Wie sie die Phalanx der Verteidiger durchbrechen wollten wusste Michael nicht zu sagen. Er hatte auch nicht vor, den Räubern die Gelegenheit zu geben, es herauszufinden.
Donnernd erhob sich die Stimme seiner Muskete; die Kugel, die aus dem ersten gedrehten Lauf auf diesem Kontinent fuhr, erwischte einen der Degenkämpfer, riss ihn von den Beinen und warf ihn meterweit nach hinten. „Gutes, altes Blei“, sagte der Fioran mit einem grimmigen Lächeln.
Nun eröffneten auch die Portugiesen das Feuer und die berittenen Samurai spannten ihre Bögen. Bevor die Räuber auch nur die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, waren elf von ihnen zu Boden geworfen, viele verreckten im eigenen Blut. Dennoch stürmten sie weiter.

Michael runzelte die Stirn. Das machte keinen Sinn. Es sei denn… „ARIS! ÜBERNIMM!“
Michael zwang sein Pferd herum, riss einem der Samurai das Katana aus dem Gürtel und zog es blank. Er kam um die Sänften herum, ritt auf die mit hohem Gras bewachse Wiese hinaus.
Seine Argusaugen fuhren durch die Halme, während hinter ihm Aris Taral mit lauter Stimme eine zweite Salve von den Männern forderte.
Tatsächlich, dort bewegte sich ein Grashügel. Und wenn Michael sich bemühte, konnte er sogar das KI eines Menschen neben der natürlichen Energie der Wiese fließen sehen. Er ritt darauf zu, schwang das Schwert und trieb es im vorbeireiten durch sehr reales menschliches Fleisch.
Damit hatte er ein Signal gegeben. Weitere der Grashaufen erhoben sich, zogen Degen und Messer blank und liefen auf die Sänften zu.
„Verdammt!“, blaffte Michael zornig, riss sein Pferd herum und ritt den nächsten Räuber nieder. Dann schlug er die Klinge durch den Oberkörper des Übernächsten.
Schnell zählte er durch und kam auf zwanzig. Damit hatte diese Räubergruppe eine beachtliche Größe und vor allem eine beachtliche Strategie, um harmlose Reisende wie seine Gruppe zu überfallen.
Wieder schlug er im gestreckten Galopp einen Räuber zu Boden, zog eine Pistole und warf mit der Kugel den Räuber in den Dreck, der es als erster auf die Straße geschafft hatte.
Michael zog die zweite Pistole, feuerte auch sie und ging dann wieder einen Räuber mit dem Katana an. Ohne nennenswerten Widerstand glitt die scharfe Klinge durch den Leib seines Gegners und tötete ihn auf der Stelle.
Doch da waren die ersten Räuber schon heran, stürmten auf die Sänften zu. Und damit auf die Frauen, die sich eigentlich zum Schutz hinter ihnen versteckt hatten.
Sieben der Frauen zogen aus den Ärmeln ihrer Kimonos lange Klingen hervor, dem traditionellen Wakizashi nicht unähnlich, während Michael seinen sechsten Gegner tötete.

Als die Räuber auf die Sänften trafen, erste Samurais um sie herum kamen, um bei der Abwehr des Gesindels zu helfen, da erklang aus der mittleren Sänfte ein Zischen, und ein Pfeil beendete das Leben eines weiteren Räubers.
Die anderen trafen auf die Damen und mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass diese mit den langen Klingen vortrefflich umzugehen wussten und keinerlei Skrupel hatten, sie einzusetzen. Nun war auch Michael heran und schlug einem Räuber den Kopf ab, während er das Pferd zum bremsen zwang.
Drei Räuber öffneten die vordere Sänfte, eine Pistole bellte auf und warf den vorderen tot in den Staub der Straße.
Michael gab seinem Pferd nun die Sporen, ritt den zweiten um und stieß dem dritten das Katana zwischen die Rippen. „Meine Lady“, keuchte er atemlos. „Geht es euch gut?“
In der Sänfte hockte eine Frau, gehüllt in den Kimono, in der einen Hand eine rauchende Pistole, in der anderen ein gezogenes Messer.
„Kümmere dich nicht um mich, Fioran“, zischte Vortein Arogad. „Ich komme alleine klar. Um Eridia musst du dir Sorgen machen!“
Die Miene Michaels versteinerte angesichts dieser Schelte. „Wie Ihr wünscht, meine Lady.“
Er riss sein Pferd herum und stürzte sich zurück in das Getümmel an der zweiten Sänfte.

Die Räuber hatten es tatsächlich geschafft bis zu den Wagen zu kommen. Aus den Augenwinkeln sah Michael, wie die Samurai in den Nahkampf gingen. Ihre scharfen, schnellen Klingen standen den Degen in Nichts nach – und zerteilten die schlanken Waffen binnen eines Augenblicks und spalteten gleich den Besitzer dazu. Es wurde ein schnelles und blutiges Gemetzel und Michael blieb nur die Schadensbegrenzung. Sowie dem restlichen Gesindel ein schnelles Ende zu bescheren.
Zu diesem Zweck tötete er den einen Räuber, den er zuvor umgeritten hatte, sprang von seinem Pferd und rannte einen anderen um, der eine der Hofdamen zu bedrängen wagte. Einer der Samurai nahm ihn dankbar in Empfang und ließ sein Katana über dessen Rücken tanzen. Wieder wagte einer die Schiebetür der zweiten Sänfte zu berühren. Er wurde auf vier Arten getötet. Erneut huschte ein Pfeil aus der Sänfte, fuhr dem Angreifer durch den Hals. Ein berittener Samurai setzte aus fünfzig Metern zu einem Meisterschuss an und ließ seinen Pfeil durch das linke Auge dringen. Ein anderer Samurai trieb sein Katana wütend in den Leib des Räubers.
Und Michaels Degen lag wie von selbst in seiner Hand, war geworfen, bevor er sich dessen bewusst wurde. Der Angreifer wurde an die Sänfte genagelt.

Atemlos eilte Michael zur Sänfte. „Hime-sama, geht es euch gut?“
Die Stille, die auf seine Frage folgte, ließ ihn in Panik die Schiebetür aufreißen. Dabei erhaschte er den Anblick von einem beträchtlich großen Stück weißer Haut des linken Beins von Eridia Arogad, die sich aus ihrer knienden Position wieder in eine sitzende bewegte und dabei den Bogen zur Seite legte. Wenn sie seinen Blick bemerkt hatte, so sagte sie nichts dazu. „Es geht mir gut, Michael Fioran. Nicht zuletzt dank deinem tollkühnen Einsatz. Es war eine gute Idee, dich mitzunehmen. Aber musstest du meine Sänfte unbedingt mit diesem unschönen Mitbringsel verunstalten?“, tadelte sie schmunzelnd und deutete auf den toten Räuber.
„E-entschuldigt, Hime-sama.“ Hastig zerrte er seinen Degen aus dem Holz hervor und dann aus der Leiche heraus. Er verbeugte sich vor der Frau und schob die Tür wieder zu.
„Die Meldungen über Verletzte und Tote zu mir!“, rief er und bemerkte, wie still es geworden war. Die Schlacht war vorbei.
Die letzte Sänfte ging auf. Ein Mann trat hervor, in einer Hand eine rauchende Pistole, in der anderen eine, die fertig geladen war. Er grinste herüber. „Sie haben sich gezielt die Sänften der Frauen ausgesucht, Michael. Dies muß ein Auftrag gewesen sein.“
Der Fioran runzelte die Stirn? „Auftrag? Es gibt niemanden in Hessen, den wir uns schon zum Feind gemacht haben können, Seg Mitur.“
„Shinnosuke. Langsam solltest du dich an unsere Decknamen gewöhnt haben.“
„Wir sind alle Naguad. Wer sollte uns hören und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, Seg?“
„Michael!“ „…Shinnosuke.“ „Schon besser. Du weißt, wir haben einen mächtigen Feind. Und vielleicht ist er uns schon mehr auf der Spur als wir ihm. Vielleicht ist die Spur nach Versailles eine einzige große Falle, und dies war ihr erster Akt.“
„Keine Sorge. In dem Fall habt Ihr Michael den Engel auf eurer Seite.“
Seg Mitur aus dem Haus Arogad lachte auf. „Dann gefällt dir der Spitzname also wirklich.“
Michael räusperte sich verlegen. „Ich muß beim aufräumen helfen, Shinnosuke-sama.“

Im nahen Wald stand eine kleine, schlanke Gestalt auf einem kräftigen Ast einer mächtigen Eiche und besah sich das Treiben genauer. Die Räuber hatten allesamt nicht überlebt und bei den Verteidigern hatte es ein paar Verwundungen gegeben, aber keine Toten. Die KI-Meister der Japaner begannen die schlimmsten Wunden bereits zu behandeln.
Grüne Katzenaugen funkelten zwischen braunem Schlapphut und schwarzem Mundtuch amüsiert auf. „Interessante Bande, die da drüben. Ich denke, das wird lustig.“
Die Gestalt sprang vom Baum herab, gut elf Meter in die Tiefe und kam federnd auf dem Waldboden auf. Dort richtete sie sich langsam zu ihrer vollen Größe auf.
Sofort kam ein stattlicher Wolf herbeigelaufen, knurrte sie wütend an und stellte seine Ohren auf.
Die Gestalt schlug dem Wolf zwischen die Ohren. „Hör auf zu meckern, blöder Wolf. Ich habe gerade erst angefangen. Gerade erst angefangen.“ Wieder blitzten ihre Augen auf. Was für ein Spaß.

__________________
Ace Kaiser,
Angry Eagles

Corrand Lewis,
Clan Blood Spirit

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4.
Passend zum Abend erreichten sie einen Gasthof, den die große Delegation fast vollständig in Beschlag nahm. Da nicht genügend Zimmer zur Verfügung standen, wurden alle vorhandenen Räume den Damen und Seg Mitur zugeteilt, während die Samurai und Portugiesen, die nicht auf Wache waren, bei den Pferden im Heu des Stalls schlafen würden.
Nach dem blutigen Nachmittag war die Stimmung der Delegation nervös, aber nicht ängstlich.
Auch Michael Fioran war nervös. Nervös, weil er befürchtete, einen Fehler gemacht zu haben oder noch begehen zu können.
Während er durch das Gasthaus ging und die Wachen überprüfte, dachte er an das Gefecht und versuchte es in seiner Phantasie noch besser und noch siegreicher für seine Gruppe zu entscheiden. Das gelang ihm auch. Es machte ihm zu schaffen, dass er nicht im Eifer des Gefechts an die vielen Kleinigkeiten gedacht hatte, die verhindert hätten, dass die Damen in Gefahr geraten waren.

Schaudernd dachte er an Bremen zurück, an die deutsche Hansestadt, in der sie an Land gegangen waren. Die turbulente Zeit dort und der vollkommen überraschende Ausbruch seiner AO-Fähigkeiten. Gerüchteweise hatte er über das AO gehört und welche Macht man erlangen konnte, wenn man es beherrschte. Es dann aber selbst zu erleben, in einem Moment höchster Not, konnte einen doch glauben lassen, der Gott dieses Planeten hätte zu Gunsten der Naguad eingegriffen und wirklich einen Engel aus ihm gemacht. Einen Engel der Zerstörung und des Krieges. Genauso wie es sein Namensvetter, der Erzengel Michael war.
Er roch den Ruß in den engen Gassen, das Schießpulver der abgefeuerten Musketen, sah den kalten Stahl aufblitzen, glaubte die Kugeln auf Eridia zufliegen zu sehen und…
Und sah die Aura um ihn herum entstehen. Die Aura, die sogar die primitiven Bleikugeln aufgehalten hatte, als hätte sie eine unsichtbare Mauer gestoppt.
Und er erinnerte sich an Eris Augen, ihre entsetzt aufgerissenen Augen.
Verdammt, sie war doch seine Heldin, seine Retterin in der Not! Er konnte, er durfte sie nicht enttäuschen! Das durfte nicht sein!

„Tut das nicht weh, Junge?“, fragte Aris Taral väterlich.
Michael hielt in seiner Tätigkeit inne – seinen Kopf gegen den Holzrahmen einer Tür zu hauen – und sah den Arogad an. „Nicht so sehr wie der Gedanke zu versagen.“
Aris ließ ein frustriertes Schnauben hören. „Du bist noch viel zu jung für so depressive Gedanken, mein Freund. Wie alt bist du? Einhundert? Einhundertzehn?“
„Einhundertacht“, gab der Fioran widerstrebend zu.
„Bei allen Sternen zwischen hier und Naguad Prime, komm erstmal in mein Alter. Und dann denke dran, dass die besten unter uns zweitausend und älter werden. Wenn wir uns daran messen, besteht diese ganze Expedition nur aus Kindern.“
Michael betrachtete nachdenklich seine Hände. „Aus Kindern mit einer unheilvollen Zerstörungskraft.“
„Ha. Keiner war so überrascht wie ich, als du plötzlich dein AO aktivieren konntest. Und keiner hat gedacht, dass gleich dein erster bewusster Zugriff auf dein AO so stark ausfallen würde. Gut, Eri hat deine Hilfe in diesem Fall etwa so nötig gebraucht wie ein Ertrinkender Wasser, aber… Stimmt etwas nicht? Du siehst plötzlich so niedergeschlagen aus, Michael.“
„Das musste doch nicht wirklich sein, Aris, oder?“, brummte der Fioran deprimiert.
„Aber sie war auch sehr beeindruckt“, vollendete Aris den Satz ungerührt und klopfte dem Jüngeren auf die Schulter. „Du patrouilliert die Wachen ab, hm? Eri will dich sehen. Sieh zu, dass du auch in ihren Raum siehst.“
„Verstanden. Und was machst du, Aris?“
„Ich denke, ich werde schon mal den Weg abgehen, den wir morgen nehmen werden. Bis Strassbourgh ist es noch ein weiter Weg. Und ich will nicht dauernd solche Überraschungen erleben wie heute.“
Michael lächelte dünn. „Das ist keine schlechte Idee. Vielleicht sollte ich dich begleiten.“
„Was? Und dir die Chance nehmen, mit Vortein zu flirten? Hältst du mich für einen Unmenschen?“ Aris Taral lachte auf als der Fioran errötete. „Du bleibst schön hier. Und sei wenigstens ein klein wenig wachsam, okay?“
„I-ich habe nicht vor, meine Pflicht zu vernachlässigen, Aris!“
„Du vielleicht nicht. Bei Vortein bin ich mir nicht so sicher.“ Wieder lachte der Bluthund, zwinkerte dem Jüngeren zu und setzte seinen Weg fort.

„Vortein?“ Nachdenklich schüttelte der Fioran den Kopf. Sicher, die Arogad war ein süßes Mädchen, aber sie war so… So alt, gut hundert Jahre älter als er selbst.
Nicht, dass er nicht mit dem Gedanken gespielt hätte, denn die hübsche, blasse Frau mit den langen schwarzen Haaren war wirklich, wirklich schön. Außerdem war sie meistens sehr nett zu ihm – wenn es ihr nicht gerade besser gefiel, ihn zu triezen. Aber wie sagte man doch so schön auf seiner Heimatwelt? Was sich liebt, das neckt sich.
Andererseits neckte er sie nie, sondern ließ ihre Triezereien über sich ergehen.
„Mist.“
Michael setzte seinen Weg fort. Er dachte über den Angriff heute nach. Die Bewaffnung der Räuber ließ darauf schließen, dass sie es mit einer organisierten Bande zu tun hatten. Söldner, gedungene Mörder. Auf jeden Fall Burschen mit einer militärischen Grundbildung. Alleine der Umstand, wie schnell sie ihre Musketen nachgeladen hatten, zeigte zu deutlich dass sie gedrillt worden waren.
Nun gut, nach den letzten Kriegen Frankreichs, gegen Holland, gegen Spanien und Hessen, ja auch gegen Bayern und Österreich, gab es genügend herumstreunende herrenlose Soldaten. Mietlinge, Auftragsmörder und Söldner, allesamt. Die meisten hatten nicht einmal eine andere Wahl, nicht in diesen Zeiten. Andererseits sollte man annehmen, dass der Krieg genügend Brot auf ihre Tische bringen sollte, solange Ludwig der Vierzehnte, König von Frankreich, seine Vormachtsstellungspolitik weiterhin voran trieb und seine größeren und kleineren Kriege führte.
Michael konnte sich durchaus vorstellen, dass es Söldner gab, die mal nach Holland reisten, sich dann nach Spanien einschifften und später in Wien vorstellig wurden, je nachdem mit welchem Land der Sonnenkönig gerade im Krieg war…

Auf seinem Weg inspizierte Michael die Wachen, die er selbst aufgestellt hatte. Die meisten hier waren Arogad, aber ein gutes Drittel, unter ihnen die berittenen Samurai, gehörten zu seinem Haus, den Fioran. Sie stammten nicht wie er aus dem Hauptzweig der Familie, aber das machte sie alle nicht weniger leistungsfähig, wie sie heute bewiesen hatten. Er klopfte jedem einzelnen auf die Schulter und wechselte mit jedem ein paar persönliche Worte. Sie waren nur noch so wenige, so verdammt wenige, jeder einzelne Naguad war dadurch unendlich kostbar geworden.
Als er Ryuusuke erreichte, wurde ihm das bewusster als je zuvor. So weit war es mit ihnen schon, dass sie wirklich Menschen dieser Welt in ihre Reihen aufgenommen hatten.
Der junge Ryuusuke Yamada war zweifelsfrei eine große Ausnahme, die Menschen dieser Welt betreffend, aber das machte ihn noch nicht einmal annähernd zu einem Naguad.
Und obwohl der junge Mann die volle Wahrheit kannte – soweit er das Prinzip, zwischen den Sternen herumreisender Schiffe verstand – war er nicht weniger loyal, seit der Shogun ihn Eridia an die Seite gestellt hatte. Nein, das war falsch. Ihm hatte man den jungen Samurai an die Seite gestellt. Und da er die Admirälin als seine Vorgesetzte betrachtete, hatte auch Ryuusuke ihr zu dienen.
Auch mit ihm tauschte Michael ein paar fröhliche Worte und setzte seinen Weg fort.

Als er Eris Tür erreichte wollte er gerade klopfen, als aus dem Zimmer ein unterdrückter Schrei erklang.
„HIME!“, brüllte Michael, zog mit links eine Pistole und mit rechts den Degen blank, riss die Tür auf und stürmte in den Raum.
Eridia Arogad warf ihm einen irritierten Blick zu. Bis Vortein Arogad schmunzelnd von dem hereingestürmten Krieger wieder zu ihrer Arbeit sah… Und eine große Bürste durch Eris Haar zog.
„Aua! Sei nicht so grob, Vortein!“
„Das geht nicht anders. Du hast nun mal lange Haare und sie sind voller Knoten. Ich habe dir gesagt, dass du sie mich jeden Abend kämmen lassen sollst. Aber du hörst ja nicht auf mich.“
„Weil ich von diesem Schönheitskram nichts verstehe. Wenn das hier vorbei ist, rasiere ich mir eine Glatze und dann wird nur noch poliert, jeden Tag.“
Michael starrte die beiden Frauen an und ließ langsam die Waffen sinken. „Eh?“
„Es ist alles in Ordnung, Michael“, sagte Eri amüsiert. „Vortein ist nur etwas grob zu mir.“
„Wer ist hier grob, eh?“, rief die Arogad und zog die Bürste besonders kräftig durch Eridias Haar, was sie wieder kurz aufschreien ließ.
„D-das ist hier nicht das Problem!“, stammelte der Fioran und wandte sich zur Tür. „Bitte, könnt Ihr den Kimono wieder über die Schultern ziehen und eure Beine bedecken, Eridia-sama?“
Die beiden Frauen tauschten einen amüsierten Blick aus. „Ach komm schon, Michael. Erzähl mir nicht, du hast noch nicht so viel Haut bei einer Frau gesehen. Es ist kein Grund schüchtern zu sein. Und nur weil wir als Japaner reisen heißt das nicht, dass wir uns wie solche benehmen müssen, wenn wir unter uns sind.“
„Das ist nicht der Punkt!“, brachte der Fioran lauter hervor als er gewollt hatte.
Eridia Arogad seufzte, während ihre Cousine leise kicherte. „Also gut. Ich bin bedeckt. Ist es Michael-sama genehmer so?“, spotte die Admirälin.
„D-das ist auch nicht der Punkt, Hime.“ Langsam drehte er sich um – und starrte hastig wieder zur Tür. Eris Schultern waren nun bedeckt, ebenso ihre Beine, dafür hatte sie sich aber zu Michael gedreht. Ihr Kimono war noch immer vorne offen, und da die Frauen Japans keine Unterwäsche unter dieser Bekleidung trugen, konnte man von der Arogad-Prinzessin einiges an Haut sehen. Inklusive ihres Bauchnabels.
„H-HIME!“, blaffte Michael.
„Schon gut, schon gut. Das wäre dann erstmal alles, Vortein. Ich habe etwas mit dem Engel zu besprechen. Wir machen dann nachher weiter.“
„Du schickst mich raus? Wie langweilig.“
Vortein erhob sich, ging zur Tür und klopfte dem Fioran auf die Schulter. „Du kannst jetzt wieder gucken. Mann, wenn du immer so schüchtern bist, wundert es mich nicht, dass du noch keine Frau hast.“
Michael lag eine Antwort auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter.
Vortein zwinkerte ihm vertrauensvoll zu und schloss die Tür hinter sich.

Langsam wandte sich Michael um. „Hime-sama, was kann ich für dich tun?“
„Nun, da ist jemand, der sich schon seit einiger Zeit in diesem Raum befindet. Ich möchte, dass du ihn raus wirfst.“
Alarmiert hob Michael beide Waffen. „Wo?“
Der Schlag erwischte ihn vollkommen kalt, traf ihn auf der Brust und warf ihn gegen die nächste Wand. Für einen Moment glaubte Michael ersticken zu müssen, dann spuckte er einen Schwall Blut aus. Sein Blick verschwamm und drohte dunkel zu werden. Verdammt, verdammt, verdammt.
Direkt vor ihm stand eine junge Frau mit rotem Haar. Sie lächelte auf ihn herab. Ihre Rechte zeigte in seine Richtung. Anscheinend hatte sie ihn damit getroffen und so schwer gegen die Wand getrieben. „Du hast mich gespürt, Fremdweltlerin? Beachtlich. Aber du unterschätzt mich, wenn du glaubst, solch ein Schwächling könnte es mit mir aufnehmen.“ Sie sah von ihm fort und zu Eridia herüber. „Ich hatte euch für stärker gehalten.“
Ein Ruck ging durch den Fioran, dann noch einer. Langsam streckte er seine Glieder. Nein, er war nicht tot. Und er würde es auch nicht so bald sein. Der Schwall Blut, ausgetreten aufgrund der gerissenen Lunge, war nicht weiter der Rede wert. Er konzentrierte sein AO und machte sich an die lebensnotwendige Reparatur seines Atmungsorgans.
Langsam erhob er sich. „Nimm mich nicht so schnell aus dem Rennen, ja?“, bat er mit rauer Stimme und spie noch ein wenig mehr Blut auf den Boden. Dann stand er mit wackligen Beinen vor der Angreiferin.
„Interessant“, sagte diese und griff wieder an.
Doch diesmal wehrte Michael den Schlag ab. Der Degen in seiner Hand verformte sich bei den auftreffenden Gewalten, doch die Hand selbst blockte den Schlag.
Die Angreiferin nahm die andere zu Hilfe. Michael ließ die Pistole fahren und blockte auch diese ab. Langsam begann eine leuchtende Aura um ihn herum zu entstehen. „Und es wird noch viel interessanter!“
„Eine beeindruckende KI-Aura, das muß ich schon sagen“, keuchte das rothaarige Mädchen überrascht und wich einen Schritt zurück. Ein zweiter gelang ihr nicht, denn Michael ergriff ihr Handgelenk und hielt sie fest.
Ihr darauf folgender Tritt landete in der Seite des Fiorans, erzielte aber nicht den Hauch eines Effekts. Erschrocken sah sie ihren Gegner an. Die leuchtende Aura hatte ihn in eine schwarze Uniform gehüllt.
„Hm, die AO-Uniform der Fioran-Assasinen“, bemerkte Eridia mit Kennerblick. „Respekt, Michael, ich wusste nicht, dass du so gut bist.“
„Lass los!“, blaffte die Angreiferin. Ihre Augen leuchteten plötzlich auf, zwischen den beiden entstand eine Lichtexplosion.
Als das Licht vergangen war, hielt Michael die junge Frau noch immer fest. Hinter ihm aber war die Wand schwarz verkohlt. Lediglich eine Fläche mit seinen Umrissen war verschont geblieben.
„Ist es immer noch spaßig für dich?“, fragte der Fioran gefährlich leise.

„ISEGRIMM! HILF MIR!“
Durch das einzige Fenster des Raumes sprang ein mächtiger Wolf. Er sah sich einmal im Raum um, zog die Lefzen über den Zähnen zurück und knurrte wütend. Dann fixierte er Michael, während ein unheilvolles, düsteres glühen ihn umgab. Er stemmte sich in den Boden, trieb die Krallen tief in das Holz und sprang.
Zwei Sekunden später war alles vorbei.
**
Mit gesenktem Kopf starrte die junge rothaarige Frau zu Boden. „Das ist alles deine Schuld“, raunte sie dem großen Mann neben ihr zu.
Der hockte ebenfalls am Boden und sah verlegen auf seine Hände. „Wir haben es beide vermasselt, Reinecke.“
„Ist gar nicht wahr. Wenn du mir früher zu Hilfe gekommen wärst, dann…“
„Könnt ihr zwei nicht mal die Klappe halten?“, blaffte Eridia dazwischen.
„JAWOHL!“
Beide senkten die Köpfe und schwiegen.
„Na endlich“, seufzte Eridia. Sie sah zu Michael herüber, der an der verkohlten Wand lehnte und spöttisch zu ihren Gefangenen herüber sah. „Und was machen wir jetzt mit den beiden, mein lieber Engel?“
„Nun, wir könnten etwas völlig neues ausprobieren, Hime-sama. Etwas, was wir noch nicht getan haben, seit wir hier in Deutschland sind. Ich bin sicher, nachdem du den Wolf mit der einen Hand zu Boden gerissen und mit der anderen den Fuchs an die nächste Wand geschleudert hast, werden sie mehr als bereit dafür sein.“ Er grinste gemein. „Ansonsten werde ich sie mit euch alleine lassen, Hime-sama.“
Durch die beiden Gestalten ging ein Schauder. „B-bitte nicht“, flüsterte das Mädchen.
Was ihr einen strafenden Blick von Eridia einbrachte, unter dem sie zusammenschrumpfte. Sie verwandelte sich vor den Augen der Naguad in einen Fuchs, schob sich so weit wie möglich zusammen und bedeckte ihre Augen mit den Pfoten.
Michael atmete frustriert aus. Es wunderte ihn, dass der Raum nicht mittlerweile überlagert war. Immerhin waren sie laut genug gewesen, dass selbst Aris sie auf der Straße hätte hören müssen. Andererseits konnten sie diese Angelegenheit dann vielleicht regeln, ohne dass ein Dutzend Katanas drohend in diesem Raum hin und her geschwenkt wurden und die Dinge… unübersichtlich wurden.
„Gut, wir probieren deine Methode, Michael. Wie lautet sie?“
Der Fioran stieß sich von seiner Wand ab und trat zu den beiden Wesen herüber. Ein Mädchen, das sich in einen Fuchs verwandelte. Und ein grauhaariger Mann, der vor wenigen Minuten noch ein riesiger Wolf gewesen war. Kein Zweifel. Sie hatten es hier mit AO-Rüstungen auf einem Level zu tun, wie ihn nur eine winzige Handvoll Naguad je erreicht hatten.
„Wir fragen sie.“
Eridia Arogad schmunzelte. „Eine gute Idee, Michael. Du, Mädchen. Du wirst ihm antworten.“
Zögerlich richtete sich der Fuchs wieder auf. „J-jawohl, Hime-sama.“
Langsam ging Michael vor dem Fuchsmädchen in die Knie. Er streckte eine Hand aus, unter der sie furchtsam zurückwich, bis die Wand sie stoppte. Dann landete die Hand auf ihrem Kopf und begann sie sanft zu tätscheln. „Also, meine Kleine. Wo kommst du her?“
„Na, das ist doch offensichtlich. Wenn sich ein Fuchspapa und eine Fuchsmama furchtbar, furchtbar lieb haben dann… Ach, wo wir geographisch herkommen. Ahahaha.“
Unter Michaels Hand verwandelte sich die Füchsin in das Mädchen zurück. Ihre Augen funkelten ernst. „Wir sind Dämonen, Fremdweltler. Wir leben hier auf der Erde in den Refugien der Dämonenwelt. Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?“
„Nun werde nicht frech, du“, tadelte Michael, aber eher amüsiert als wütend. Er tätschelte noch immer den Kopf des Mädchens, was ihr mehr und mehr zu gefallen schien. „Weiter hinten, bitte.“
„Wer wir sind, wollt ihr zwei wissen? Nun, ich habe keine rechte Vorstellung davon, was Dämonen sind“, log Eridia eiskalt, „aber ich habe die Befürchtung, dass ihr absolut keine Ahnung habt, wer wir sind. Du nennst und Fremdweltler, aber kannst du dir vorstellen woher wir wirklich kommen?“
„Natürlich kann ich das! Ihr seid doch mit Gewissheit von…“
„Reinecke!“ Das scharf gesprochene Wort ließ das Fuchsmädchen verstummen.
Der große Wolfsmann starrte sie böse an.
„Ist ja gut. Blöder Wolf.“
„Wie dem auch sei“, schnitt Eris scharfe Stimme durch die anschließende Stimme. „Ihr habt sehr treffend erkannt, dass wir nicht von der Erde stammen. Die Frage ist jetzt, was fangt ihr mit diesem Wissen an?“
„Nun, wir sind interessiert an euch, Hime“, sagte der Wolf. „Unsere Herrin, die große Spinne, hat eure spektakuläre Ankunft auf der Erde beobachtet und wüsste zu gerne, was eure Pläne für diesen etwas zurückgebliebenen Planeten sind.“
Eri lächelte. „Nun, unsere Pläne für diesen Planeten? Und unsere spektakuläre Ankunft in Japan? Ich will ehrlich mit euch sein. Meine Rasse, die Naguad, befindet sich in der Expansion. Mein ehrenwertes Haus, Arogad, hat eine Flotte ausgerüstet, um Welten für die Expansion der nächsten fünfhundert Jahre zu finden.“
Michael räusperte sich vernehmlich.
„Die Flotte wurde mit Spezialisten des Hauses Fioran bemannt, den anerkannt besten Spezialisten für Ingenieursarbeit“, fügte sie verstimmt hinzu.
„Das ist also euer Ziel? Die Erde zu kolonisieren?“, fragte Reinecke leise und mit tonloser Stimme.
„Das ist so nicht richtig. Wir hätten die Erde kolonisiert.“ Michael nahm seine Hand fort und erhob sich. „Aber die Erde ist bewohnt. Es gibt intelligentes Leben auf ihr. Auch wenn es die Bezeichnung intelligent nicht immer verdient. Unsere Statuten verbieten in diesem Fall die Kolonisierung. Stattdessen würden wir einen Kontakt mit diesem Volk aufbauen, sobald es fähig ist, zwischen den Planeten des Sonnensystems zu reisen.“
Erleichtert atmete das Mädchen auf. Doch dann riss sie erschrocken die Augen auf. „Moment mal, würden?“
„Es gab einen Zwischenfall“, erklärte Michael ernst. „Genauer gesagt einen Kampf. Wir haben viele Schiffe unserer Flotte verloren, viele Naguad sind gestorben. Einige unserer Kampfschiffe mussten auf der Erde notlanden. Wenn wir genau sind, haben wir nur noch ein einziges Schiff, das in der Lage ist, dieses Sonnensystem zu verlassen. Und da wir nicht alle auf ein einziges Schiff passen, müssen wir uns vorerst hier einrichten.“
„Das ist sehr interessant.“ Nachdenklich kratzte sich das Mädchen am Hinterkopf. „Also wollt ihr nach und nach in eure Heimat pendeln. Oder das Schiff los schicken, um eine weitere Flotte zu holen.“
„Etwas in der Art“, bestätigte Eridia.
„Und was macht ihr dann hier in Deutschland? Warum seid ihr nicht in Japan, auf eurer Basis?“ Der Wolf richtete sich unmerklich zur vollen Größe auf und fletschte die Zähne. Sicher hätte es eindrucksvoller ausgesehen, wenn er nicht in seiner Menschengestalt gewesen wäre.
„Nun, wir sind nicht die einzigen, die auf dieser Welt notlanden mussten. Ein Schiff unserer Gegner landete ebenfalls. Es würde zu weit führen, um alles zu erklären. Aber was ihr wissen müsst ist: Wir jagen die Besatzung dieses Schiffes. Sie gehört zu unseren übelsten Feinden. Sie und ihre Verbündeten unter den Erdenmenschen müssen vernichtet werden. Vorher wird es keinen Frieden geben. Nicht für uns, und bestimmt nicht für die Daina dieses Planeten.“

„Daina“, erklang hinter ihnen eine Stimme. „Interessant. Ich habe dieses Wort schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr vernommen.“
Michael und Eri wandten sich um, während Reinecke und Isegrimm erfreut auflachten.
Hinter den Naguad stand eine große schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren, das in einer wahren Kaskade auf ihren Rücken herabfiel. Ihre Lippen leuchteten blutrot und ihre dunklen Augen leuchteten interessiert und ernst.
Dann neigte sie das Haupt ganz leicht in Eridias Richtung. „Der Tochter aus dem großen Haus Arogad entbiete ich meinen Gruß.“
„Ich danke für die Höflichkeit.“ Eridia runzelte die Stirn. „Aber verrätst du mir wer du bist und wie du hier hereingekommen bist?“
Die Frau mit den dunklen Augen lächelte und die Umgebung veränderte sich. Aus dem Zimmer wurde ein Lichtdurchfluteter Garten.
Für einen Moment schien die Frau ins Unendliche wachsen zu wollen, gottgleich zu werden, gekleidet in ein großes weißes wallendes Gewand und umgeben von herrlichem Leuchten. „Ich bin die große Spinne, die Herrin der Dämonenwelt, Eridia Arogad.“
Der Eindruck schwand, aber der Garten blieb. „Und ich bin hier, weil ich eine Forderung und einen Vorschlag habe.“
„Ich werde mir beides anhören“, versprach Eri.
Michael deutete auf die Frau. „Moment mal, Hime-sama, wir wissen überhaupt nichts über sie, über diesen Ort, an dem wir uns plötzlich befinden und ob wir ihr überhaupt trauen können.“
Die große Spinne lächelte dünn und stand plötzlich vor dem Fioran. Sanft berührten ihre Lippen die seinen und amüsiert beobachtete sie, wie der Mann in den Knien einbrach.
„Traust du mir jetzt, mein lieber Michael?“
Der Fioran bewegte die Lippen, als würde sie ihn noch immer küssen und starrte sie aus großen Augen an. „T-trauen nicht, aber ich bin beeindruckt. Sehr beeindruckt.“
„Michael!“, tadelte Eri. „Lässt du dich von allen Dämonen küssen?“
„I-ich hatte ja wohl keine Wahl. Und ich wurde vorher auch nicht gefragt.“
„Aber genossen hast du es, oder?“
„Ja. Das war der beste Kuss meines Lebens“, gestand der Fioran.
„Danke“, erwiderte die große Frau lächelnd. „Das hört man doch immer wieder gern.“
Eridia warf Michael einen vernichtenden Blick zu. „Hm. Männer. Also gut, große Spinne.“
„Dai-Kuzo bitte. Ich finde, die japanische Version hat mehr Flair.“
„Dai-Kuzo-sama. Was sind deine Forderung und dein Vorschlag?“
„Ich will den da noch mal küssen.“
„Ich opfere mich gerne!“
„N-nichts da! Keine Chance!“ Eridia sprang auf, ergriff den Fioran am Nacken und zog ihn hinter sich. „Wenn du hier einen küssen sollst, dann mich.“
„Oh. Gerne.“

Nach dem Kuss durch Dai-Kuzo fand sich Eridia auf dem Boden wieder. Über ihr hockte Michael und tätschelte behutsam ihre Wange. „Hime. Hime. Hime, wach auf.“
„Oh, mein Kopf. Was war das, bei allen siebenundvierzig Monden von Nag?“
„Ach“, sagte Dai-Kuzo amüsiert, „eine Art Tiefenscan mit KI, den ich mir angewöhnt habe. Damit erkenne ich mehr über meine Gegenüber. Amüsanterweise hat er sehr unterschiedliche Auswirkungen auf… meine Probanden.“
„Das könntest du sicher auch machen ohne jemanden zu küssen!“, klagte Eri.
„Sicher.“ Die große Spinne kniff lächelnd die Augen zusammen und steckte die Zunge ein Stück zum linken Mundwinkel heraus. „Aber das hätte nicht soviel Spaß gemacht.“

Michael half Eridia wieder auf die Beine. „Also gut, Dai-Kuzo-sama. War das wirklich die Forderung, oder kommt da noch was?“
„Die Forderung war, dich zu küssen, Michael-tono.“
„Nichts da! Stell eine andere Forderung!“, rief Eridia hitzig.
„Okay. Verlasst die Erde nicht mehr.“
„Was?“
„Wie bitte?“
„Als Gegenleistung biete ich euch ein Geschäft an. Ich helfe euch, die Besatzung des Raiders zu jagen und zur Strecke zu bringen, bevor sie ihre Freunde zu Hilfe rufen kann. Ihr Wurmlochgenerator, den sie für interstellare Kommunikation braucht, ist fast komplett.“
Entsetzt wechselten Michael und Eridia einen Blick, während Fuchs und Wolf sich grinsend zufeixten.
„Ich glaube, Dai-Kuzo-sama“, begann Eridia mit belegter Stimme, „wir müssen uns dringend unterhalten.“
„Dafür, Herrin der Arogad, sind wir hier.“ Die große Spinne lächelte verschmitzt.

5.
De Zug ging am nächsten Tag weiter als wäre nichts geschehen. Niemand hatte den Lärm der Angreifer gehört, niemand hatte bemerkt, dass Eridia und Michael das Zimmer verlassen hatten.
Natürlich hatten sie Vortein, Aris und Seg über ihre merkwürdige Begegnung informiert, auch über den Pakt, den sie mit Dai-Kuzo eingegangen waren.
Was diese nicht wirklich gut aufgenommen hatten, sich aber stillschweigend beugten.
Am nächsten Abend fanden sie eine weitere Gaststätte, die sogar noch größer war als die des vorigen Abend. Diesmal würden alle Mitglieder der Reisegruppe Platz finden. Ein wichtiger Punkt der Erholung, der sie bei ihrer Hatz vielleicht entscheidend weiterbringen würde.

An diesem Abend spielten Eri und Michael ein traditionelles japanisches Brettspiel, Go.
In diesem Spiel setzte man schwarze und weiße Steine auf die Schnittflächen eines Rasters und versuchte, die Steine des Gegners zu umschließen. Waren alle Schnittstellen mit gegnerischen Steinen belegt, konnte man den Stein des Gegenspielers als Beute einstecken. Das freie Gebiet, das dadurch entstand, wurde ebenfalls als Punkt gezählt. Natürlich war das Spiel noch etwas komplexer, aber Eri und Michael spielten es auf ihrem Grad des Verständnisses und lernten jeden Tag dazu.
Eri legte einen schwarzen Stein auf einen der Schnittpunkte. Nachdenklich sah sie zu Michael herüber. „Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal begegnet sind, mein lieber Engel?“
Der Fioran lachte rau. „Als könnte ich das jemals vergessen. Torum Acati hatte mich am Wickel und triezte mich jeden einzelnen Tag an der Akademie. Er trainierte mich bis ich umfiel, ließ mich nicht zur Ruhe kommen und erlaubte mir nicht zu schlafen. Ohne dich, Hime-sama, hätte er mich umgebracht.“
„Oh, es stimmt. Ich bin dazwischen gegangen und habe ihm von Ausbilder zu Ausbilder gesagt, dass er endlich aufhören soll. Aber da ist nur die halbe Wahrheit.“
Verlegen sah die Arogad zur Seite. „Tatsache ist, es gibt einen geheimen Orden auf unserer Heimatwelt, der von einer sehr mächtigen Frau geleitet wird. In diesem Orden werden die besten AO-Meister aufgenommen, die unsere Welt hervorbringt. Unabhängig von den Häusern und unseren Hintergründen kämpfen sie dort für den Schutz der Welt.“ Sie warf Michael einen neugierigen Blick zu. „Torum glaubte, in dir einen solchen Naguad gefunden zu haben. Das ganze Training hatte nicht darauf abgezielt, dich stärker zu machen oder dich umzubringen. Es diente nur einem einzigen Zweck. Dein AO sollte geweckt werden.
Als ich eingriff, mein lieber Engel, da tat ich dies weil ich glaubte, dass sich Torum geirrt hatte. Ich wollte nicht, dass er dich in seinem Wahn umbringt. Es wäre damals ein vollkommen sinnloses Opfer gewesen.“
„Ich… verstehe.“
„Nein, das tust du nicht. Als Haus Arogad die Erkundungsflotte ausrüstete und Fioran uns Spezialisten und Raumfahrer zusagte, habe ich dich direkt angefordert. Ich wollte dich in meinem Team haben, Michael. Nicht weil ich deine Qualitäten schätzte. Aber auch nicht um etwas an dir wieder gut zu machen. Nein, ich wollte dir etwas zeigen. Ich wollte dir zeigen, dass du in der Welt, die du dir bis dahin selbst geschaffen hast, sehr gut leben kannst. Auch ohne dein AO zu beherrschen.“
„Ich… verstehe.“
„Wir kamen in dieses Sonnensystem, wollten die dritte Welt untersuchen, auch die viel versprechenden Welten zwei und vier. Dass die Raider ebenfalls in diesem System waren, konnte keiner ahnen. Ihr Überraschungsschlag war furchtbar gewesen und wir haben schreckliche Verluste hinnehmen müssen. Aber wir haben sie besiegt. Fast.“
„Ich… verstehe.“
„Was ich sagen will, mein lieber Engel, ist, dass du sehr wertvoll für mich geworden bist. Als Krieger, als AO-Meister, aber vor allem als Gefährte auf dieser schwierigen Reise.“
Michael setzte einen eigenen Stein. „Ich… verstehe.“
„Kannst du nicht mal etwas anderes sagen als ich verstehe, Michael?“
„Verzeihung, Hime, ich wollte dich nicht verärgern. Aber viele Dinge machen nun Sinn für mich. Die Art wie Torum mich antrieb. Meine Berufung zum stellvertretenden Leiter der Expedition, obwohl es Dutzende Fioran gibt, die weit erfahrener als ich sind. Alles erklärt sich nun. Ich bedanke mich für deinen Schutz, Hime-sama.“
„Das ist nicht der Punkt, Michael.“
„So? Und was ist der Punkt?“
„Der Punkt ist, dass wir die verdammten Raider zur Strecke bringen müssen. Sie sind intelligenter als die Cyborgs, die sie normalerweise einsetzen. Und sie haben in Torah einen mächtigen Verbündeten.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Wenn es ihnen gelingt, wirklich alle Teile für einen Wurmlochgenerator zusammen zu bekommen, wird diese Welt schnell Teil des Core-Protektorats. Etwas, was für die Menschen weit schlimmer wäre als Teil des Kaiserreichs zu werden.“
„Hm? Du weißt schon, dass ich eine halbe Iovar bin, oder?“
„E-entschuldigt, Hime-sama. So habe ich das nicht gemeint.“
„Schon in Ordnung, mein lieber Engel. Was ich sagen will ist, dass ich mich dieser Aufgabe mit niemandem lieber stelle als mit dir.“
Entgeistert starrte Michael die Admirälin an. „D-das ist… Eri, das ist ein sehr großes Lob.“
„Geschenkt. Ist nur die Wahrheit.“ Sie setzte einen weiteren Stein und umschloss damit gleich fünf von Michael. Fröhlich summend sammelte sie die weißen Steine ein.
„Ach, mein lieber Engel, ist es wirklich wahr, was du gesagt hast? Bei Dai-Kuzo, meine ich?“
„Äh, was genau, Hime?“
„War das wirklich der beste Kuss deines Lebens?“
Der Fioran errötete. „Allerdings.“
„Aber glaubst du nicht, es würde mal einen Kuss geben, der diesen übertreffen kann?“
„Ich denke schon. Wenn ich die Frau treffe, die ich wirklich liebe und wenn ich sie küsse, dann wird dieser Kuss bestimmt besser sein als der von Dai-Kuzo.“
„Mein lieber Engel, vielleicht willst du ja…“, begann Eri und beugte sich über das Brett.
„Quatsch!“, rief eine hektische Stimme unter dem Tisch. Reinecke kam in Fuchsgestalt darunter hervor und blickte die beiden Menschen ärgerlich an. „Niemand küsst besser als Dai-Kuzo. Na, ich vielleicht, wenn ich noch ein- zweitausend Jahre Zeit habe zum üben.“
Sie gab die Fuchsgestalt auf und wurde zum Mensch. Zu einem hübschen Menschenmädchen in einem kirschroten Kimono. Sie beugte sich zu dem Fioran vor. „Michael-tono, hast du nicht Lust und Zeit, mir dabei zu helfen?“
Eine riesige Faust landete auf ihrem Kopf. „Autsch! Blöder Wolf! Ich wollte doch nur…“
Die Faust gehörte zu einem breitschultrigen Mann mit grauen Haaren, die in gewaltigen Locken auf seinen Rücken fielen. Er blickte den Fuchs ärgerlich an und ergriff ihn am Kragen des Kimonos. „Entschuldigt bitte, Michael-tono, Eri-sama. Ich habe einen Moment nicht aufgepasst. Ich werde sie mit rausnehmen und dafür sorgen, dass sie hier nicht noch einmal herein kommen kann.“
Isegrimm setzte sich in Bewegung und schleifte Reinecke dabei hinter sich her. Die blies frustriert die Wangen auf. „Nie gönnst du mir ein wenig Spaß. Außerdem haben sie gesagt, es gibt jemanden der besser küsst als die große Spinne und…“
„Wann wirst du endlich lernen, deinen vorlauten Mund zu halten?“
„Wann wirst du endlich lernen, mal ein wenig Spaß im Leben zu haben? Blöder Wolf!“
„Doofer Fuchs!“

Eridia und Michael sahen den beiden hinterher, bis sich die Tür hinter ihnen schloss. Dann begannen sie zu lachen.
„Da haben wir uns aber ganz besondere Gefährten ausgesucht, Hime-sama.“
Sie warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. „In der Tat. Und irgendwie habe ich das Gefühl, unsere Reise beginnt hier erst.“
**
„Es folgten noch viele Verwicklungen, lange Wege auf staubigen Straßen, hier und da ein Überfall und schließlich eine geheime Audienz beim Sonnenkönig.“
Michael Berger sah auf seine mittlerweile beträchtlich angewachsene Schar an Zuhörern und lächelte. Alle, die es anging, waren hier versammelt.
„Wir haben einige sehr interessante Menschen getroffen, ein paar gefährliche und eine Handvoll Wahnsinnige. Der schlimmste unter ihnen war zweifellos Juichiro Torah, der Verbündete der Core-Truppen auf der Erde. Ein Wahnsinniger, ein Verrückter und ein machtgieriger Mensch. Nein, das ist so nicht ganz richtig, denn er war kein Mensch. Er war wahrhaftig ein Dämon.“
Der alte Mann sah in die Runde. Seine Augen blitzten schelmisch auf und die Falten in seinen Augenwinkeln glätteten sich. Wie durch Zauberhand wirkte er um Jahre verjüngt.
„Der Handel, den wir mit Dai-Kuzo getroffen hatten, betraf aber weniger die Besatzung des Raiders oder den Magier Tora. Ja, Sakura, es ist der gleiche Magier, den Akari im Martian City vernichtet hat.
Es gelang Dai-Kuzo, mich und Eri davon zu überzeugen, dass die Erde nicht in die Hand der Cores fallen darf. Die Cores, die wahnsinnige Erfindung viel zu einfallsreicher Iovar, die sich selbstständig gemacht hatten und die Galaxis mit Terror und Eroberung überziehen, sollten niemals in der Lage sein, die Erde einzunehmen.
Eri und ich willigten ein, wir und unsere Naguad wurden Mentoren im Hintergrund, wir formten vorsichtig unsere Allianzen, halfen der Menschheit bei ihrem Weg voran in die Zukunft bis zu einem Punkt, an dem sie sich selbst erfolgreich einem Angriff des Cores widersetzen konnte. Und sie griffen an, wieder und wieder. Und ebenso oft, wie sie auf die Erde kamen, schlugen wir sie zurück.“
Michael schmunzelte. „Als die Kronosier angriffen erkannten wir sehr schnell, dass hier ein imperialer Core im Spiel war. Kein Core der Villass, der abtrünnigen Bevölkerungsgruppe der Iovar. Dennoch sahen wir die Gefahr, dass die Attacken der Kronosier dem Core als Ablenkung dienen konnte. Deshalb hielten wir uns zurück, beobachteten nur und griffen nicht ein. Na ja, fast nicht.“
„Moment, Moment, Sir, darf ich das mal zusammenfassen? Der Core, diese Bedrohung, über die alle Eingeweihten seit Tagen reden, seit Akira die Erde erobert hat, diese unglaubliche Nemesis, die sowohl über dem Imperium als auch über dem Kaiserreich schwebt…“ Daisuke japste nach Atem, bevor er weiter sprach. „Diese Nemesis wusste seit… Wie vielen Jahren, wo es die Erde finden kann? Seit dreihundert?“
„Höchstwahrscheinlich, Dai-chan“, antwortete Michael ernst.
„Und Sie und Yodama-sama waren die Garanten dafür, dass der Core nicht angriff? Warum haben Sie dann die Erde verlassen? Was hat sich so vehement geändert, dass Sie das Risiko eingegangen sind, dass die Verteidigung der Erde nicht stark genug sein könnte?“
Der große Mann straffte sich. „Es gibt da einen wichtigen Grund, warum wir unseren Wächterposten aufgegeben haben. Mit ihm entscheidet sich das Wohl und Wehe nicht nur unserer Welt, sondern des gesamten von Daina besiedelten Raums. Dieser wichtige Faktor musste und muss noch immer beschützt werden.“
„Oh Mann, wenn Michael-tono jetzt Akira sagt, dann gehe ich in ein Kloster“, murmelte Doitsu mit sarkastischer Stimme.
Berger lächelte dünn. „Nicht ganz. Akira ist eines der möglichen Ziele.“
„Ziele für was?“, hakte Sakura nach.
„Ziele für den Core, um das KI noch besser zu verstehen und zu nutzen. Als Tora KI-Energie für Waffentechnik nutzbar gemacht hat, als es ihm gelang, Seelen in Raketen zu integrieren, hat er alles auf den Kopf gestellt, was wir bis dahin wussten und erwartet hatten. Er hat eine Waffentechnik erschaffen, die an Gefährlichkeit und Perversion an nichts gemessen werden kann. Und die überlebenden Legaten werden dieses Wissen dem in die Hände spielen, der ihnen den meisten Nutzen verspricht. Im Moment ist es der Core.“
„Warum haben sie es dann noch nicht getan?“ Sarah zwinkerte verwirrt. In ihrem ganzen Wissen als Escaped, als jene, die aus einem kronosischen Supercomputer entkommen war und den Großteil des Wissens dieses Computers behalten hatte, waren ihr nie Begriffe wie Core oder KI-Waffen untergekommen.
„Weil sie nicht über dieses Wissen verfügen.“
„Und wer hat dieses brandgefährliche Wissen?“, fragte Hina leise. „Es ist jemand, der an Bord der AURORA ist, richtig? Es muß jemand sein, der hier an Bord ist. Deswegen haben uns die Raider aufgelauert. Deswegen greifen sie uns an. Sie wollen einen von uns.“
„Ja und nein, Hina-chan.“ Michael schüttelte langsam den Kopf. „Als Tora verging, starb er nicht. Nur seine körperliche Existenz verging. Als dies geschah, übertrug er all sein Wissen auf… Akari.“
Erschrockenes Raunen ging durch den Raum. „Was?“ „Ist das wahr?“
„Auf Akari und auf alle, die in der Blase waren, mit der Tora zerstört wurde. Das schließt dich ein, Akane-chan, dich Hina-chan, dich, Sarah-chan. Es schließt Ami Shirai ebenso ein wie Emi Sakubara.“ Michael holte tief Luft. „Und es schließt Akira wahrscheinlich auch ein, der in der Blase war und Akari auffing, als sie wiedergeboren worden war.“
„Also doch Akira“, stellte Doitsu verstimmt fest.
„Aber nicht auf Platz eins sondern auf ferner liefen“, tröstete Mamoru grinsend. „Das sollten wir ihm bei der erstbesten Gelegenheit unter die Nase reiben.“
Doitsu und Daisuke grinsten und nickten.
„Was haben die drei nur gegen Akira, dass sie sich so aufführen?“, fragte sich Hina verwundert.
„Hina-chan, sie haben nichts gegen ihn. Das machen sie, weil sie alle dicke Freunde sind“, klärte Akane die Anführerin der Slayer auf.
„Ach ja? Dann würde ich gerne mal sehen, wie sie jemanden behandeln, den sie nicht mögen.“
Einen Moment starrten sich die drei Männer an – dann begannen sie laut zu lachen. „Wen wir nicht mögen, radieren wir normalerweise aus“, sagte Mamoru mit gespielter kalter Stimme.
„Leider ist das wahr. Ich habe euch zu oft kämpfen sehen. Dann mögt ihr Akira also doch“, stellte Akane fest, und seltsamerweise klang es zufrieden.

In das allgemeine Gelächter platzte ein Anruf für Sakura. „Ino hier.“
„Ma´am, wir haben eben einen Funkspruch der Korvette Quebec erhalten. Es ist eher ein Fragment, aber Sie sollten ihn sich anhören.“
Sakura erstarrte. „Spielen Sie ihn ab, Lieutenant.“
„…ist die Que… …eit überleg…. RORA, ich empfe… otsprung… derhole, Notspru…“
„Gibt es Bilder zu der Nachricht?“, fragte Sakura tonlos.
„Nein, Ma´am, aber die Funksignatur ist eindeutig. Der Spruch kam von der Quebec. Kommodore Genda hat die Funkstille gebrochen.“
„Haben wir Kontakt zur Quebec?“, fragte sie mit einer Stimme, die immer rauer wurde.
„Nicht im Moment, Ma´am. Aber wir sperren die Ohren auf.“
„Es ist gut, Lieutenant. Informieren Sie mich sofort, wenn Sie etwas Neues wissen.“
Sakura deaktivierte die Kommunikationskonsole. „Tetsu hat die Sicherheit seines Schiffes riskiert, um uns einen Notsprung zu empfehlen. Slayer, ich brauche euch. Und jeden, der sein KI beherrscht. Wir müssen den Stunt von Andea Twin wiederholen. So schnell wie möglich.“
„Was ist mit Tetsu und der Quebec?“, warf Daisuke ein.
Sakura biss sich auf die Unterlippe. Sie schloss die Augen und sah zu Boden.
„Ich… verstehe. Ihr habt den Admiral gehört. An die Arbeit. Und erhöht die Alarmbereitschaft für die Flotte und die Mechas.“
Die Runde löste sich in einem Wirbel aus Aktivität auf. Daisuke ging als Vorletzter. Vorher legte er Sakura noch eine Hand auf die Schulter und sagte: „Tetsu ist ein guter Offizier. Wenn er die Funkstille auf seiner Erkundung gebrochen hat, dann wusste er warum.“
„Ich weiß. Aber das macht es nicht leichter“, erwiderte Sakura gepresst.
Daisuke nickte schwer, klopfte der Frau noch einmal auf die Schulter und verließ den Raum.
Zurück blieb eine junge Frau, die sich fragte, ob sie mit Männern, deren Namen mit T begannen, jemals glücklich werden konnte…

__________________
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Clan Blood Spirit

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Anime Evolution: Past
Episode fünf: Sonnenfeuer

1.
Drei Tage waren vergangen, seitdem ich die Erde erobert habe. Drei lange Tage, in denen ich gebangt, gehofft und gezittert habe. Einerseits weil ich eine abschlägige Antwort von der Erde befürchtete – illusorisch, solange der Kontakt per überlichtschneller Kommunikation noch nicht bis nach Nag reichte – andererseits, weil die Mühlen der Justiz nun zu mahlen begannen und den speziellen Fall vor dem Hohen Gericht der Häuser verhandelte.
Im Prinzip hatte ich mich an imperialem Eigentum vergriffen und zudem an Eigentum des großen Hauses Elwenfelt.
Die besten Richter und Rechtswissenschaftler des Imperiums prüften nun schon den dritten Tag die Zulässigkeit meiner Aktionen. Oder um es mal banal auszudrücken, sie prüften, ob ich die Erde überhaupt erobern konnte.
Wurde mir, mir direkt die Erde und damit das gesamte Sonnensystem als persönliches Lehen von der höchsten Instanz des Gerichts zuerkannt, hatte ich gute Chancen, dass auch die terranischen Eroberungen im Kanto-System anerkannt wurden, da diese während des Krieges erfolgt waren.
Das Kriegsrecht war übrigens nicht weniger komplex als das Zivilrecht, und die ersten beiden Tage hatten die Rechtswissenschaftler versucht zu interpretieren, auf welchen Aspekt Kriegsrecht und auf welchen ziviles Recht anzuwenden war.
Drei Tage waren vergangen, in denen Joan ihr erstes Konzert gegeben hatte – brav in einer Live-Sendung im hiesigen Holovid, allerdings mit einer traumhaften Einschaltquote von siebzig Komma drei Prozent bei den neunzehn- bis zweihundertelfjährigen.
Drei Tage waren vergangen, in denen es einen offenen Attentatsversuch auf mich gab. Sowie drei weitere, die meiner Person als Ziel nicht genau zugeordnet werden konnten.
Wenn ich jemals begriffen hatte, was die großen Häuser ausmachte, wenn ich jemals verstanden hatte, was sich unterhalb der Spitze, auf der ich als offizieller Erbe des Hauses Arogad stand, abspielte, dann jetzt. Genau jetzt.
Ich wollte hier nicht bleiben. Ich wollte hier wieder weg. Das Kriegsgericht fiel aus, Joan Reilley drohte hier ein ebensolcher Star zu werden wie auf der Erde, dem Mars, auf Lorania, der AURORA, meine Freunde waren über die verschiedensten Systeme verstreut.
Und man versuchte mich umzubringen.

Nachdenklich betrachtete ich die junge Frau, die reglos neben dem Fenster stand. Ihre braunen Haare waren kurz geschnitten und trugen einen raffinierten Scheitel. Ihr schmales Gesicht war hübsch, wenngleich die Nase etwas spitz wirkte. Ihre Augen hatten eine rosa Färbung, die gut zu den gebräunten Wangen passte. Sie war fast so groß wie ich und kleine Lachfältchen waren in ihren Augenwinkeln zu finden. Ihr allgemeines Erscheinungsbild ließ mich sie unter athletisch einordnen – athletisch mit großem Vorbau.
Ich schmunzelte bei diesem Gedanken.
„Aris-sama?“, fragte sie mit unbewegter Miene in meine Richtung.
„Schon gut, Sora. Ich habe nur nachgedacht.“
Ihre harte Miene weichte auf, machte einem amüsierten Lächeln Platz. „Woran hast du gedacht, Aris-sama?“
„Nicht daran, wie wir uns das erste Mal begegnet sind, Sora.“
Die junge Frau wurde rot. Sie war fast fünfzig Jahre alt, aber bedingt durch das genetische Erbe der Naguad wirkte sie wie Anfang zwanzig. Wenn man die aktuellen Werte der Naguad als Grundlage nahm, dann war sie gerade in dem Alter, in dem man in dieser Gesellschaft ernst genug genommen wurde um Verantwortung zu übernehmen – Ausnahmen wie ich eine war mal nicht berücksichtigt.
„So, woran hast du dann gedacht, Aris-sama?“ fragte sie mit einem gefährlich kalten Grinsen, huschte hinter die Couch, auf der ich saß und nahm mich in einen liebevollen Schwitzkasten.
Ich meine, der Schwitzkasten war wirklich liebevoll. Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas geben könnte.
„Ich habe daran gedacht, wie vielen Männern du schon das Herz gebrochen hast, Sora.“
Übergangslos ließ sie mich los. „So. Daran also.“
„Hey, so habe ich das nicht gemeint. Sora, ich würde doch nie… Sora?“
Sie beugte sich herab und sah mir lächelnd in die Augen. „Hast du geglaubt, ich schmolle, Aris-sama? Ich doch nicht. Und damit du es nur weißt, ich breche keiner Männerherzen.“
Ihre Wangen röteten sich. „Das einzige Männerherz, das ich brechen will, ist nämlich deins… A-ki-ra-sa-ma!“
Ich spürte, wie sich meine Haarspitzen aufluden. „Sora, d-das…“

„Na, spielt ihr zwei wieder?“ erklang Joans Stimme vom Eingang her. Sie kam zur Couchecke herüber und ließ sich erschöpft darauf fallen. „Wenn euch jemand so sehen würde, könnte er glatt auf falsche Ideen kommen, oder?“
„Aber ich mag es doch so, ihn zu necken“, maulte Sora und zog einen Schmollmund. „Das macht so einen Spaß.“
Joan begann zu strahlen. „Ja, das stimmt. Das macht wirklich einen Riesenspaß.“
Mit einem schnellen Sprung rettete ich mich von der Sitzecke. „Mädels, könnt ihr das nicht mal lassen? Ich bin auch nur ein Mann!“
„Das kann ich nur bestätigen, Aki-chan“, schmunzelte Joan.
„Das kann doch nicht wahr sein! Franlin, rette mich!“
„Entschuldigen Sie, Sir, aber es wäre Selbstmord, zwischen Sie und eine Fioran-Assasinin und Joan Reilley zu treten“, entschuldigte sich mein Sekretär und trat mit einem dünnen Schmunzeln drei Schritte zur Tür.
„Verräter“, brummte ich und unterdrückte ein Schmunzeln.

Fioran-Assasinin. Das war Sora in der Tat. Geboren auf der Erde war sie irgendwann mit einem der Arogad-Schiffe zurück in die Heimat geflogen worden, hatte hier ihre Ausbildung erhalten und war in die Elite der Fioran aufgestiegen, die Assasinen. Eine Karriere, die ihr auf der Erde Anfang der Sechziger absolut unmöglich gewesen wäre.
Ich erinnerte mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen. Wie sie sich in mein Appartement geschlichen hatte, vorbei an allen Wachen, allen Sicherheitsvorkehrungen, sogar an Mutter, bis sie an meinem Bett stand.
Ich hatte einen Dolchstoß erwartet, einen KI-Angriff, aber nicht, dass sie mit leiser Stimme feststellen würde, dass ich wach war. Und erst recht nicht ihren Kniefall und die Bitte, in meinen Dienst aufgenommen zu werden.
Allerdings, der wirkliche Hammer war die Erklärung gewesen, meine entfernte Cousine zu sein, genauer gesagt die Tochter eines Cousins von Opa Michael.
„Hört mal, hört mal“, sagte ich und hob abwehrend die Hände, während die Frauen auf mich zukamen, „wollen wir das nicht mal in Ruhe besprechen und…“
„Akira!“
Erschrocken fuhr ich zusammen, als direkt neben mir meine Mutter materialisierte. Genauer gesagt projizierte sie ein Hologramm ihrer Selbst, denn ihr Leib ruhte irgendwo in den Eingeweiden des Arogad-Turms in einem Biotank und unterlief intensive Reparaturen.
Auf der Erde hatte sie ein Auto angefahren und fast getötet. Eine Sache, die einer KI-Meisterin niemals unterlaufen sollte. Ihre Synapsen waren schwer geschädigt worden, ich kannte nicht alle Details, aber ihr Schädel und damit das Gehirn hatten eine schwere Penetration hinnehmen müssen. Genug um sie ins Koma zu versetzen.
Als abzusehen war, dass sie auf der Erde sterben würde, hatten Oma, Opa und Eikichi sie in einem Biotank nach Hause geschickt, hierher in den Turm, eine der besten Kliniken des Imperiums. Dort war ihr Biotank vernetzt worden, ihr Geist war erwacht und nach und nach hatte sie als guter Geist die Funktionen des Turms übernommen.
Ich wusste nicht, wie weit die Reparatur ihres Körpers fortgeschritten war, aber ich hoffte, sie in diesem Leben noch einmal in meine Arme schließen zu können.
„Akira!“ sagte sie wieder und ihr ernstes Gesicht ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken fahren. „Wir haben eine neue Situation.“
„Was für eine Situation?“
Über dem Couchtisch entstand ein Hologramm. Es zeigte den Raumhafen. Dort landete gerade eine imperiale Fregatte. Deutlich las ich den Schiffsnamen, der in Nag-Alev auf den Bug geschrieben worden war: TAUMARA.
„Das war vor zwei Stunden“, sagte sie ernst. Das Hologramm wechselte und zeigte ein paar Personen, die das Schiff über eine Gangway verließen. Ich erkannte Yohko-chan, Yoshi, Oma Eri.
Erleichtert atmete ich aus. „Eri ist da? Ich weiß nicht, wie sie es in dieses System geschafft haben, vor allem nicht mit einer gestohlenen Fregatte, aber wenn sie hier ist, dann lässt mir Oren vielleicht etwas Luft und hört auf zu rufen: Du bist der Erbe, Aris. Du bist der Erbe, Aris.“
Ich sah Mutter an. „Das sind doch recht erfreuliche Nachrichten, oder? Warum guckst du dann so griesgrämig.“ Mitfühlend streckte ich eine Hand nach dem Hologramm meiner Mutter aus. „Hast du vielleicht Angst, Yohko zu begegnen? Also, ich kann nur sagen, ich bin unendlich erleichtert, meine Freunde wieder zu sehen. Sogar Aria ist dabei, da erscheint mir alles viel leichter zu sein.
Ist was, Joan?“
„Mako kommt nicht aus dem Schiff. Er ist nicht mitgekommen. Das da ist eine Rettungsaktion, oder? Und er ist nicht dabei um mich zu holen.“ Frustriert blies die junge Frau die Wangen auf.
„Was erwartest du? Er war für die Koordination der Verteidigung von Lorania vorgesehen. Genau diesen Job wird er wohl gerade machen.“
„Ja, schon, das sehe ich ja auch ein, aber ich finde es ungerecht. Immerhin ist sogar Megumi mitgekommen, um dich zu holen.“
Ich winkte ab. „So ein Käse. Megumi ist die Oberkommandierende der Hekatoncheiren, zumindest der Regimenter Kottos und Briareos. Sie ist viel zu verantwortungsbewusst, um ihren Posten im Stich zu lassen. Für nichts in diesem Universum würde sie das tun.“
„Ach. Und wie erklärst du dir das dann?“, rief Joan anklagend und deutete auf das Hologramm. „Glaubst du vielleicht, da kommt gerade Jora Kalis die Rampe runter?“
Entsetzt starrte ich auf die dreidimensionale Abbildung. Der Haarschnitt und die Farbe riefen Jora bei der jungen Frau, die sich neben Yoshi gesellte. Aber die Augen sagten deutlich, überdeutlich, wer das da war.
Ich schluckte hart. Schweiß brach mir aus und meine Knie begannen zu zittern. „Kann bitte mal jemand schnell einen Krieg anfangen?“

Sora trat an das Hologramm heran und musterte die Angetretenen, die von Mitgliedern des Hauses Arogad empfangen wurden. „So, so. Das ist also deine Freundin, hm? So einen guten Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Sie trat neben mich, nahm mich wieder in den liebevollen Schwitzkasten – was ihre Geschwindigkeit betraf hätte ich nur mithalten können, wenn ich mein KI aufgedreht hätte, weit, weit aufgedreht hätte – und ließ ihre Rechte auf meiner Schläfe rotieren. „Ein Renegat, ein Räuber und ein Frauenheld. Du bist mir ja einer. Was kommt als Nächstes? Ein eigenes Imperium?“
„Lass das bitte. Die Lage ist ernst“, sagte ich bitter.
„Was ist denn ernst? Das da ist deine Freundin. Sie ist gekommen um dich zu retten, obwohl sie bei ihrem Aufbruch noch nicht einmal ahnen konnte, wie sehr sich hier alles zum Guten für dich entwickeln würde. Sie ist jetzt hier und wenn ich du wäre würde ich zum Raumhafen stürzen und ihr in die Arme fallen.“
„D-das ist nicht so einfach. Ich habe mit Joan geschlafen und…“
„Ach, DIE Geschichte schon wieder. Ihr Menschen mit eurem unterentwickelten Sozialverhalten. So was passiert halt. Das hat nichts mit Treue und Partnerschaft zu tun, nur mit Freundschaft, Vertrauen und tiefer Zuneigung. Muss ich dir das erst noch erklären?“
„Ist ja nett, dass du das so siehst, aber ich habe keine Ahnung, wie Megumi das aufnimmt.“ Ich sah zu Joan herüber. „Und ich weiß nicht einmal ansatzweise, wie es in dir aussieht.“

Die Poplegende erhob sich, kam zu uns herüber. Sie lächelte mich an und streichelte mit der Rechten sanft meine Wange. Nur für einen Moment, dann traf mich ein Schlag, der einen meiner Weisheitszähne lockerte. „Na was wohl? Ich bin natürlich sauer, weil du mich so schnell fallen lassen wirst, um dich in Megumis Arme zu stürzen.“
Ihr Blick bekam etwas dämonisches, ihr Gesicht kam meinem sehr, sehr nahe und kleine Blitze schienen aus ihren Augen zu schießen. „Du wirst doch sofort da raus fliegen und ihr in die Arme stürzen, oder?“
Der Schwitzkasten wurde ein wenig enger. „Oder müssen wir da ein wenig nachhelfen, Aris-sama?“
Ich senkte den Blick und schloss die Augen. Verdammt, gerade hatte ich mir noch einen schnellen Kriegsausbruch gewünscht, um… Ja, um was? Um ihr auszuweichen. Der Frau, für die ich beständig mein Leben riskiert hatte? Für die ich bereits einmal gestorben war?
Eine nie gekannte Wärme durchflutete mich, Tränen strömten aus meinen Augen und meine Haut begann zu prickeln. Ich liebte sie. Ja, definitiv, ich liebte sie, mit jeder Faser meines Körpers. Sie hatte ein Recht, alles zu wissen. Und sie hatte ein Recht, mich sofort zu sehen.

Ich öffnete meine Augen wieder, sah hoch. „Franlin, ich… Was macht Ihr alle auf dem Boden? Mutter, warum siehst du mich so entsetzt an?“
„Akira Otomo, bist du dir darüber im Klaren, dass du gerade eine AO-Schockwelle emissiert hast, die alle hier im Raum von den Füßen gehoben hat? Mein Hologramm wurde zerstört. Ich musste es neu aufbauen. Und ich glaube, auf dem Flur sind die Leute auch umgefallen wie die Fliegen.“
Ächzend kam Joan wieder hoch. „Ich bin zwei Meter weit geflogen. Und wenn die Couch nicht im Weg gewesen wäre… Was war das?“
„Und mich hat die Wand gestoppt. Aris, verdammt, warne uns doch bitte das nächste Mal vor. Oder noch besser, lass es. Warum hast du so einem Impuls abgegeben? Das ist ja lebensbedrohlich“, tadelte Sora mich ernst, während sie sich den schmerzenden Kopf hielt. Na wenigstens hatte sie die Wand nicht durchschlagen.
„Sir, wie haben Sie das gemacht? Selbst AO-Meister des Ordens brauchen für so eine Attacke eine gewisse Vorbereitung oder eine besondere Stimulans.“
„Dann ist alles klar“, schmunzelte Joan. „Megumi, hm? Du hast an Megumi gedacht. Und dann ging diese Schockwelle los. Verdammt, deutlicher hättest du die Rangfolge nicht aufzeigen können. Franlin!“
„Mylady?“
„Machen Sie sofort einen Gleiter fertig. Akira fliegt sofort zum Raumhafen ab. Oder reicht dir ein Besen, den du auflädst?“ Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich mit zusammen gekniffenen Augen an. „Abgesehen davon komme ich natürlich mit.“
„Ja, du hast Recht. Ich fliege sofort ab. Ihr kommt alle mit. Und jemand soll sofort Henry im Keller Bescheid sagen. Er begleitet uns auch.“
„Akira, warte. Da ist noch ein Problem.“ Mutter ließ das Hologramm über dem Tisch neu entstehen. Wieder wurde der Raumhafen gezeigt. Nur hatte sich die Szene entscheidend verändert. Um meine Freunde und die wenigen Arogad, die sie in Empfang genommen hatten, hatte sich eine große Gruppe Männer und Frauen gruppiert und definitiv eingeschlossen.
„Es sieht ganz so aus, als wolle Haus Daness nicht, dass Megumi unter die Fittiche der Arogad kommt.“
Daness? Natürlich. Jora Kalis war aus Haus Daness. Und Megumi auf irgendwelchen vertrackten Umwegen auch, alleine deshalb hatten die Naguad damals den Versuch wagen können, Jora als Megumi auszugeben. Ich ballte die Hände zu Fäusten.
Daness hin, Daness her. Niemand zwang meine Freundin zu irgendetwas. Nicht, wenn ich es verhindern konnte.
„Also los, gehen wir!“
**
„Ich bin Eridia Arogad, und dies sind meine Untergebenen. Ich wiederhole zum letzten Mal: Lassen Sie uns passieren, Vern Attori!“
Wütend starrte Oma den fremden Mann im schwarzen Geschäftsanzug nieder, doch der hielt dagegen. „Natürlich dürfen Sie gehen wohin Sie wollen, Admiral. Niemand hindert Sie. Aber ich muß darauf bestehen, dass Lady Daness uns begleitet. Wir können und wir dürfen sie nicht in den Arogad-Turm gehen lassen. Nicht, dass ich glaube ihr könnte dort etwas passieren, auch wenn gerade besonders viele Fioran-Attentäter bei den Arogad sind.“
Was Vern Attori damit sagen wollte, war klar. Er traute Oma und ihren Absichten nicht einen Meter weit.
Attori verneigte sich leicht vor Megumi. „Mylady. Wir hatten mit Jora Kalis gerechnet, wie es die Geheimdienstberichte aus dem Kanto-System berichtet haben. Aber nicht mit euch, Megumi Solia Daness. Bitte kommen Sie mit uns. Die Hauptfamilie erwartet Sie schon. Ihr Großvater erwartet Sie schon.“
„Moment!“ Wütend fuhr ich in den Kreis, riss die Daness-Leute auseinander und stellte mich schützend vor Megumi. „Niemand schafft hier meine Megumi ohne ihr Einverständnis fort! Ist das klar?“
„Mylord Arogad, ich weiß von Ihrer speziellen Beziehung zu Lady Daness. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass sie in ihrem eigenen Turm genauso sicher ist wie im Arogad-Turm. Nein, dort ist sie sogar noch sicherer. Außerdem ist es ihre Pflicht.“
„Ihre Pflicht, eh?“ knurrte ich wütend. „Ihre Pflicht also?“
Eine sanfte Hand berührte mich auf dem Rücken, dann spürte ich ihr ganzes Gewicht auf mir lasten, als sie sich gegen mich lehnte. „Akira, es ist gut. Dir geht es gut, Joan geht es gut. Egal was jetzt kommt, ich kann es ertragen.“
„Megumi“, flüsterte ich mit bebender Stimme.
„Dir geht es in der Tat gut. Hallo, mein Junge.“
„Oma. Yohko-chan, auf dich wartet im Arogad-Turm eine große Überraschung. Yoshi, du passt auf sie und Oma auf, klar? Und Aria, ich werbe dich hiermit für den Turm der Arogad an. Damit stehst du offiziell in meinen Diensten und bist für die Sicherheit der anderen verantwortlich.“
„Akira, Akira. Bist du nicht etwas voreilig?“, tadelte Oma. „In der Erbfolge bist du noch hinter mir und hinter Helen. Außerdem habe ich, als direkte Erbin des Ratsvorsitz, Aria Segeste schon selbst angeworben.“
Ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Du beanspruchst den Posten als Erben?“
„Darum bin ich hier, unter anderem.“
„Gut“, sagte ich ernst. „Das bedeutet, ich bin jetzt die Nummer zwei und damit entbehrlich. Dann kann ich ja Megumi in den Daness-Turm begleiten.“
„Aber Meister Arogad, das…“
„Wollen Sie etwa sagen, Megumi wäre sicher, ich bin es aber nicht?“ schrie ich Attori an.
Erschrocken wich der Daness-Mann einen Schritt zurück. „Natürlich nicht, Aris Arogad.“
„Dann ist es gut. Ich gehe mit Megumi. Oder hat jemand eine bessere Idee?“
Ich sah schnell in die Runde, es gab aber keine Gegenstimmen. „Dann ist es abgemacht. Franlin, Sora, ihr zwei begleitet mich.“
„Ich werde ebenfalls mitkommen“, erklang eine Stimme von außerhalb des Kreises. Der große, breitschultrige Henry William Taylor schob sich ohne sichtliche Kraftanstrengung zwischen den Daness-Wachen hindurch und grinste in die Runde.
Yoshi zischte aufgeregt und legte sein ganzes Gewicht auf das rechte Bein, aber ich hielt ihn mit einem Wink zurück.
„Akira, das ist Taylor. Taylor!“
„Ich weiß. Und er ist in meinem Team.“
„Er ist was?“
„Ich habe ihn in mein Team aufgenommen. Genauso wie Franlin und Sora. Er untersucht die Verteilung der Daina in der Galaxis und versucht die Ursprungswelt zu ermitteln. Ach, sorry, du weißt ja vielleicht mit dem Begriff Daina nichts anzufangen und…“
„Schon gut. Das Urvolk, von dem wir alle abstammen. Eri-sama war so nett, uns allen Nachhilfe zu geben. Wie nett. Traust du ihm?“
„Mehr als Haus Daness“, erwiderte ich ernst.
Vern Attori nahm das nicht wirklich gut auf. „Also gut, ich nehme das auf meine Kappe. Außerdem garantiere ich für die Sicherheit von Meister Arogad und seinem Stab. Kommt vielleicht sonst noch jemand mit?“ Die letzten Worte ironisch ausgesprochen zu nennen wäre dreifache Ironie gewesen. Umso erstaunter war ich, als darauf tatsächlich eine Antwort kam.
„Darf ich vielleicht noch mit?“
Erstaunt wandte ich mich der Stimme zu. „Gina? Was machst du denn hier?“
Megumi erwachte aus ihrer bequemen, an meinen Rücken gepressten Haltung. „Oh. OH! OH! Schon gut, ich nehme Gina mit. Falls mir das erlaubt ist, Attori-san.“
„Natürlich, Mylady. Wenn sie zu Ihrem Stab gehört, dann ist es selbstverständlich.“

„Dann ist es abgemacht.“ Ich schritt aus, klopfte Yoshi noch mal auf die Schulter, strich Yohko und Aria über den Kopf und durchbrach den Kreis. Ich streckte meine Hand nach hinten aus. „Kommst du, Schatz?“
Über Megumis Gesicht glitt ein Lächeln, strahlend und herrlich. Mir stockte der Atem und unmerklich zog sich meine Kehle zu. Ich räusperte mich vernehmlich, dann folgte ich Attori und einem Teil seines Gefolges in den Gang, der uns zu ihren Maschinen bringen würde – und von dort zum Turm der Daness, der permanent in direkter Konkurrenz zu den Arogads stand. Mal Freund, mal Feind, mal vor, mal hinter ihnen. Was für ein Abenteuer.
**
Nachdenklich sah Eridia ihrem Enkel nach. Die Entwicklung hatte einen ungewöhnlichen Weg genommen, aber ehrlich gesagt hatte sie nichts anderes erwartet. Ihre schlimmste Befürchtung war wegen Piraterie verhaftet zu werden, doch Akiras Gesamtkapitulation sowie die anschließende Annexion durch den Arogad-Turm hatte das halbe Imperium paralysiert.
Die verzweifelten Blicke aller, einschließlich der Admiräle, gingen nun zu den imperialen Juristen.
Eri schmunzelte bei dem Gedanken, bedeutete er doch, dass die Strafaktion gegen Lorania aufgeschoben und im günstigsten Fall ganz abgesagt wurde.
„Eridia, mein Schatz, hat Aris ein großes Chaos hinterlassen?“ erklang eine sehr vertraute Stimme hinter der Arogad.
Sie wandte sich um und lächelte. „Luka.“
Die beiden gingen aufeinander zu und umarmten sich herzlich. „Du hast meinen Enkel also schon kennen gelernt.“
Der schlanke AO-Meister runzelte die Stirn. „Kennen gelernt? Einen Kilometer Sicherheitsabstand habe ich gehalten. Aber die Druckwellen seiner Persönlichkeit sind trotzdem bis zu mir durchgeschlagen. Deshalb dachte ich mir, warte ich mal das kleine Beben ab, das sein vorschneller Aufbruch zum Raumhafen auslöst und sammle dann die Reste auf. Das du ein Rest sein würdest habe ich nicht erwartet.“
„Charmant wie eh und je. Weiß Vater schon Bescheid?“
„Natürlich. Könnte ich sonst hier stehen?“
Eri schmunzelte. Dann deutete sie neben sich. „ Dies ist Luka Maric. Ein sehr vernünftiger Mann, und einer von drei Männern in diesem Universum, die mich bändigen können. Luka, meine Begleiter sind…“
„Schon gut, ich weiß Bescheid.“ Er trat vor Yohko und verbeugte sich steif vor ihr. „Darf ich der Erste sein, der Euch daheim begrüßt, Lady Yohko Jarah Otomo-Arogad? Wenn sich die Nachricht von Eurer Ankunft durch den Turm gearbeitet hat, werden seine Bewohner noch weit mehr aus dem Häuschen sein als bei der Ankunft Eures Bruders.“
Yohko kniff die Augenbrauen zusammen. „Jarah? Wer hat mir denn diesen doofen Namen gegeben?“
„Deine Mutter, Schatz“, belehrte Eri ihre Enkelin leise.
Sie seufzte viel sagend. „Das ist es also, was man Generationenkonflikt nennt. Es freut mich Sie kennen zu lernen Luka Maric. Wir hatten eher mit einer Kampflandung als mit einem Empfang gerechnet. Auch wenn er im Chaos endete. So gesehen war das typisch für meinen Bruder.“ Frustriert atmete sie schnaubend aus. „Er hat uns nicht mal richtig begrüßt.“
„Megumi war im Spiel, was erwartest du?“ Yoshi grinste matt und starrte den Arogad unsicher an. „Muss ich mich vor Ihnen verbeugen? Oder Sie vor mir? Ich bin mir da nicht sicher.“
Luka grinste breit. „Normalerweise stehen Sie als Gefolgsmann von Aris Arogad über einem Hausmitglied. Aber da ich ein Gefolgsmann von Oren Arogad bin… Sagen wir, wir sind gleichgestellt.“
Der Ao-Meister bot Yoshi diplomatisch die Hand, die dieser ohne zu zögern ergriff. „Einverstanden.“
Während sich die beiden Hände berührten, zuckten kleine KI-Blitze zwischen ihnen umher, tänzelten über Haut und Nägel und gaben den Gesichtern kurz eine dämonische Blässe.
„Sehr gut“, murmelte Luka. „Sehr gut ausgewählt, Aris Arogad.“
Er wandte sich der dritten Frau zu. „Aria Segeste. Da Sie ein Kommando in einer Hauseinheit der Arogad angenommen haben, gehören Sie bereits formell zum Turm, zumindest temporär. Und da Sie Admiral Eridia Lencis Arogad folgen, gibt es niemanden, der Ihnen etwas zu sagen hätte. Merken Sie sich das sofort. Ich habe viel zu viele gute Leute zurückstecken sehen, weil sie das Ziel von Eifersüchteleien und Rangkämpfen im Haus wurden.“
„Wie wahr, wie wahr“, murmelte Eridia.
„Komm, Eri. Kommt alle. Ein Gleiter erwartet uns. Miss Reilley ist informiert und wird gleich nach ihrer Studioaufzeichnung zurückkehren. Und dein Vater, Eri, erwartet dich bereits im Turm.“
Während sie gingen, fragte Yohko: „Akira hat mir eine Überraschung versprochen, wenn ich in den Turm der Arogad komme. Können Sie mir sagen, was das sein wird, Luka?“
Der Arogad aus dem Unterhaus Maric wollte etwas sagen, aber Eri winkte ab.
„Leider nein.“

Eine halbe Stunde später kam Yohko aus dem staunen nicht mehr raus, als sie sich dem Turm mehr und mehr näherten. Seine beachtliche Höhe von drei Kilometern, der beständige Verkehr um ihn herum und wie es schien durch ihn hindurch wirkte wie das Ballett eifriger Honigsammler und unterstrich die prachtvolle Größe noch.
Yoshi schluckte trocken. Er war die Dimensionen der AURORA gewöhnt, mit den Ausmaßen von OLYMP und ARTEMIS. Aber dieses Ding hier machte ihm Angst. Noch schlimmer, es gab neun von den Dingern, die sich alle mehr oder weniger am Horizont abzeichneten.
„Ihr Naguad habt doch alle einen an der Waffel“, brachte er gedankenlos hervor.
„Nicht so schlimm wie die Menschen“, konterte Eridia ungerührt. „Nun, zugegeben, manche Menschen haben den Schnitt beträchtlich angehoben. Andere haben ihr Bestes gegeben ihn beträchtlich zu senken.“ Ihr Lächeln verfinsterte sich. „Manche waren einfach nur gefährlich.“
Yoshi schluckte trocken, als er Eridias düstere Miene sah. Auch die beiden Frauen definierten das verzerrte Gesicht richtig.
Lediglich Luka grinste matt. „Da steckt doch bestimmt eine Geschichte der Erde dahinter, oder? Erzähl. Ich habe dreihundert Jahre drauf gewartet, sie zu hören.“
Eridia Arogad lachte rau auf. Aber übergangslos begann sie wieder zu strahlen. „Habe ich euch je erzählt, wie ich mich das erste Mal mit Michael zusammen gerauft habe? Eine schöne Geschichte, sie endet am Hof des Sonnenkönigs Ludwig des Vierzehnten. Leider nicht in seinem prunkvollen Schloss Versailles. Aber Paris war damals eine schöne Stadt und der Louvre sehr interessant. Doch bis dahin war es ein langer Weg.“

2.
Die beiden Männer attackierten einander. Blanker Stahl klirrte auf, als die zierlichen Degen aufeinander trafen. Zwei Männergesichter, eines glatt rasiert, das andere mit einem Kinnbärtchen versehen, näherten sich auf eine Handbreite.
Dann drückte der Bärtige zu und stieß den anderen von sich. Der nutzte den Schwung, um einen kleinen Sprung zu machen und die Reichweite des anderen zu verlassen.
Sie begannen einander zu umkreisen und der Bartlose griff wieder an. Sein von oben geführter Schlag hatte mehr von einem derben Hieb denn einen eleganten Degenstoß.
Wütend hieb der Bärtige die lange Klinge beiseite. „Nein, verdammt, nein, Michael! Das war ein Karatake! Kannst du dich nicht langsam mal von deiner japanischen Schwertkunst lösen? Wenn du den Degen wie ein Schwert führst, drohst du es zu zerbrechen!“
„Erklär mir noch mal, warum wir das hier machen“, keuchte Michael Fioran und kavierte den Stoß seines Gegenübers auf sein Herz.
Der verlor nicht einen Augenblick die Kontrolle über seine Klinge, sprang aber nun mit einem schnellen Schritt zurück. „Als europäischer Adliger musst du langsam ein Gefühl für diese Waffe entwickeln, junger Freund. Du musst sie beherrschen als wärst du ein Europäer. Denn um aus dir jetzt noch einen Japaner zu machen, fehlen uns leider die Zeit und vor allem die technischen Möglichkeiten der RAPOND.“
Sie tauschten ein paar belanglose Hiebe aus. „Diese Waffe ist wie ein Bienenstachel. Sie bietet zu wenig Möglichkeiten für eine erfolgreiche Attacke, Aris.“
Der große Taral grinste dünn und stieß die dünne Klinge mit einem Ausfallschritt zwischen Brust und linkem Arm des Fioran durch den Stoff seines weißen Hemds. „Und dieser Bienenstachel ist um einiges eleganter als dein Schwert, junger Freund. Mit Präzision, mit Geschwindigkeit, könnte ich dir beide Augen ausstechen, ein Diagramm in die Lungen stanzen und dein Herz perforieren und es würde kaum Blut dabei austreten.“ Zornig riss der Taral die Klinge hoch, direkt unter Michaels Achsel. Der zuckte bei der Berührung durch den kalten Stahl zusammen. „Wir werden auf eine Menge Leute treffen, die diese Waffe beherrschen, junger Freund. Gut beherrschen. Und wenn wir nicht noch weit mehr auffallen wollen als wir dies ohnehin schon tun, wenn wir uns die Chance auf Tora bewahren wollen, dann dürfen wir unsere Kämpfe nur auf dem Niveau der Franzosen ausführen.“
Langsam, nachdenklich zog Aris Taral die Klinge zurück. Er schnüffelte am schlanken Körper seiner Waffe und brummte: „Du solltest dich dringend waschen, Michael. Vor allem unter den Armen.“
Dies löste einen erbitterten Hieb des Fiorans aus, den Aris aber unterlief. Kurz darauf ruhte die Spitze seines Degens auf Michaels Kehlkopf. „Siehst du“, meinte der schwarzhaarige Mann mit einem dünnen Lächeln, „genauso gut hätte ich dir eine Halsschlagader öffnen können. Ich hätte nur etwas mehr nach links zielen müssen.“
Der Fioran sprang nach hinten, nahm den Druck auf seinen Hals fort und warf den Degen zu Boden. „Ich weiß ja, ich weiß!“ Wütend stapfte er davon, besann sich eines besseren und sah zurück. Schließlich klaubte er seine Waffe wieder auf. „Ich mag den Degen trotzdem nicht.“
„Du sollst ihn ja auch nicht mögen. Du sollst ihn nur benutzen“, tadelte Aris, steckte seine eigene Waffe fort und klopfte dem Jüngeren auf die Schulter. „Möglichst effektiv benutzen.“
Die beiden Männer wechselten einen stummen Blick. Schließlich nickte Michael.

„Michael-tono!“, rief eine laute, helle Stimme hinter ihnen.
Der Fioran und der Arogad fuhren herum. Reinecke stürmte in den großen Saal, den sie zu Übungszwecken requiriert hatten. „Die Franzosen lassen uns endlich passieren! Michael-tono, Aris-tono, ihr sollt sofort zu Eri-sama kommen!“
Michael betrachtete die junge Frau in der burschikosen Männerkleidung einen Moment und dachte darüber nach, was er über ihre Herkunft erfahren hatte, genauer gesagt über ihr Wesen.
Dann setzte er sich in Bewegung. Er klaubte sein Wams auf, dazu den breitkrempigen Hut, wie er gerade unter Edelleuten Frankreichs üblich war und nickte.
„Ich schätze das waschen hat zu warten, Aris.“
„Das glaube ich auch“, erwiderte der Taral, gurtete seinen Degen und kleidete sich an.
In dieser Region Frankreichs waren die Behörden gerade äußerst nervös. Es hieß, der Sonnenkönig blies hier zu einer Hugenottenhatz und man erwartete eine gewisse Gegenwehr. Grund genug, jeden misstrauisch zu beäugen, der sich in einer Reisegruppe bewegte, selbst wenn er Frankreich nicht verließ, sondern tiefer hinein reiste.

Mit dem quirligen Rotschopf als Führerin betraten sie Eridias Zimmer im ersten Stock. Dort erwarteten sie bereits die anderen hohen Vertreter ihrer Expedition. Eridia Lencis Arogad, Vortein Arogad und Seg Mitur. In einer Ecke stand, wachsam und stumm, Isegrimm, der riesige, grauhaarige Kumpan von Reinecke.
„Wir können weiter“, empfing Eridia die Männer mit ärgerlicher Miene. Die Tochter des Ratsvorsitzenden der Arogad, Oren, warf den Männern einen wütenden Blick zu, der aber glücklicherweise nicht ihnen galt. Michael stockte für einen Moment. Die weiße Schminke, das kunstvoll hochgesteckte Haar, der elegante Kimono, all das wirkte noch schöner, wenn Eri wütend war. Ihre Augen bekamen Leben, ach, kosmische Energie jenseits all dessen, was er bis dahin gesehen oder erlebt hatte.
„War es schlimm?“, hörte er Aris fragen.
„Und ob es schlimm war.“ Ihre Augen bekamen noch mehr Feuer. „Zum Glück konnte ich mich hinter der Sprachbarriere verstecken und so tun, als würde ich den Mistkerl nicht verstehen, aber… Ich hätte ihn in der Luft zerreißen können!“
„War er denn so knauserig mit der Erlaubnis?“
Seg hob eine Hand. „Das war es nicht exakt, Aris. Der liebe Capitaine hat uns präzise gesagt den Grund für die Hugenottenjagd genannt. Inklusive einiger Anmerkungen, die… Nun, gewöhnungsbedürftig sind.“
„Dieser verdammte… Wisst ihr zwei, worum es in diesem Konflikt geht? Nach dem dreißigjährigen Krieg gab es ein Gesetz in Europa: Der Herr, die Religion. Was vereinfacht bedeutet, dass jeder Untertan die Religion seines Herrn annehmen musste.
Der Krieg ging damals um die Vorherrschaft der aufgespalteten Religion des Katholizismus und des Protestantismus. Der König, der sich hochtrabend Sonnenkönig nennt, ist katholisch. Und er sieht es als seine gottgegebene Verpflichtung an, dass auch jeder seiner Untertanen katholisch ist. Ansonsten, so befürchtet seine Majestät, droht ihnen das ewige Fegefeuer oder sogar die Hölle nach dem Tod, was die Abkehr von Katholizismus automatisch mit sich führt.“ Eridia schnaubte unwillig aus. „Die Hugenotten sind aber Protestanten. Nun, der König hat eine Menge getan, um sie zu bekehren. Steuervergünstigungen, Titel, Privilegien und dergleichen. Aber es gibt genügend, die ihren Glauben dafür nicht aufgeben wollen. Manche greifen zur Waffe, andere verlassen das Land. Nun, viele Hugenotten, die das Land verlassen, versuchen ihr Glück entweder in der neuen Welt, oder sie fliehen nach Preußen, wo sie unbehelligt ihre Religion ausüben dürfen.
Auf die Dauer führt das natürlich erstens zu einem gewissen Schwund an Staatsbürgern – was nicht so schlimm ist, wie mir der Capitaine Fontaigne erklärt hat, da der Staat und die Bevölkerung groß sind – und zweitens zu einem Gesichtsverlust seiner Majestät. Da gelingt es ihm, Holland zu besiegen, Spanien in die Knie zu zwingen und England in die Schranken zu weisen, Österreich zu bedrängen und dem Papst zu diktieren. Und dann wagen es ein paar seiner Untertanen tatsächlich, den Sonnenkönig zu verhöhnen, indem sie nicht seine Religion teilen! Obwohl doch jeder vernünftige Mensch weiß, dass es Verdammnis bedeutet, sich vom Katholizismus abzuwenden!“
„Es wundert mich, dass dich der Religionsstreit dieses zurückgebliebenen Planeten so sehr aufregt, Eridia“, bemerkte Aris lächelnd.
„Das ist es nicht“, bemerkte Vortein mit einem zu ihrem kunstvoll weiß geschminkten Gesicht überhaupt nicht passendem Grinsen, „sondern die Tatsache, dass wir keine Katholiken sind. Stell dir vor, der ehrwürdige Capitaine hat doch tatsächlich die Frechheit gehabt, Eridia nahe zu legen, zum Katholizismus zu wechseln.“
„Wie kann er es wagen? Das Universum ist groß und vielfältig, aber sein kleiner Hinterwäldlergott soll das Maß aller Dinge sein und die Religion seines Königs die einzige Form seiner Anbetung?“
„Ruhig, Schwester“, bemerkte Seg mit einem breiten Grinsen. „Dank Isegrimm konnten wir die Sache ja recht gütlich regeln.“
Michael sah den Dämon an. „Du hast es geregelt?“
„Als Dolmetscher oblag es meiner Pflicht“, bestätigte der weißhaarige Riese. „Ich habe den Capitaine gefragt, wann dann der Feldzug gegen die ägyptischen Kopten und die orthodoxen Byzantiner erfolgen würde. Immerhin seien sie auch keine Katholiken und müssten ebenfalls gerettet werden.“
„Worauf hin Fontaigne meinte, sie wären ja nicht vom Katholizismus konvertiert“, fügte Seg immer noch grinsend an.
„Und dann haben wir ihm den Todesstoß versetzt und darauf hingewiesen, dass wir Taoisten seien und auch nicht vom Katholizismus konvertiert sind“, fügte Vortein hinzu. Lachend schlug sie sich auf die Schenkel. „Dieses Gesicht! Dieses unglaubliche Gesicht! Das hättet ihr sehen sollen!“
„Nun krieg dich wieder ein, Mädchen“, tadelte Eridia, nun wesentlich ruhiger. „Ich habe dann noch freundlich gefragt, warum seine katholische Majestät, Ludwig der Vierzehnte von Gottes Gnaden mit den Osmanen verbündet ist, die ja ihrem Propheten Mohammed folgen und nicht dem heiligen Petrus, und wann seine Majestät gedenkt, diese zu missionieren. Danach ist er geflohen.“
„Was denn, was denn?“, fragte Aris lachend. „Habt ihr euch etwa amüsiert – ohne uns? Dafür hättet ihr uns aber rufen müssen.“
„Das nächste Mal vielleicht“, versprach Eridia mit einem dünnen Schmunzeln, sichtbares Zeichen, dass sie sich abgeregt hatte.

„Aber deswegen habe ich euch nicht rufen lassen. Nicht nur. Yodama-kun!“
Die Tür öffnete sich, und der junge Japaner trat herein. „Eridia-hime.“
„Bringt ihn jetzt rein.“
Der junge Gefolgsmann verbeugte sich. Dann winkte er zwei Leuten hinter sich, ihre Last ins Zimmer zu schleifen. Sie trugen einen toten Mann zwischen sich, gekleidet in die Kutte eines Wandermönchs. Zwischen den Naguad legten sie die Leiche ab.
„Ist das…“, fragte Michael interessiert.
„Ein Attentäter. Gewiss.“ Eridia lächelte dünn. Es machte ihre Züge schmal und gab ihr ein gefährliches Aussehen. „Und er ist vom Schiff.“
Michael trat an die Leiche, schlug die Kapuze zurück und drehte den Leib auf den Rücken. Er sah direkt in zwei starre schwarze Augen.
Mit einem Ruck brach er den Mund auf. „Metallzähne. Schwarze Augen. Ja, ich denke, das ist einer von ihnen. Wer hat ihn erwischt?“
„Ähemm.“ Reinecke richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.
„Was, du? Ach, komm. Das ist ein Kampfcyborg. Dazu noch einer mit genug Grips um alleine ausgeschickt zu werden.“
„Und mit genügend Gold ausgestattet, um fünf Räuberbanden wie jene neulich zu bestechen, Michael-tono“, erwiderte Reinecke kühl.
Der Fioran starrte die rothaarige Dämonin unsicher an. „Dann sind wir immer noch auf der richtigen Spur.“
„Ja. Wir sind immer noch auf der Spur der Schiffsbesatzung und ihres Begleiters, diesem Tora“, bestätigte Eridia. „Noch immer.“
„Dann ist er wirklich auf dem Weg nach Paris. Was wird er dort wollen? Ich meine, das Metall für seinen Apparat wird er sicherlich überall in Europa finden. Und die Wissenschaftler dieser Entwicklungsstufe werden ihm keine große Hilfe sein.“
„Vielleicht will er Schutz durch den Königshof erlangen.“
„Vielleicht, Vortein, will er im Gewirr des Königshof nur die Spur verwischen, die er und die überlebenden Kampfcyborgs des Raiders seit Japan hinterlassen.“
„Du meinst die Spur aus Leichen, Michael.“ Nachdenklich rieb sich Aris das Kinn. „Es würde zumindest passen. Diverse Überfälle um uns aufzuhalten oder zumindest zu verzögern. Wir müssen nahe dran sein.“

Für einen Moment schwieg Michael. Er dachte zurück an die Raumschlacht im Orbit der Erde, von der zweiten Angreifertruppe, die um den Mond der Erde herumkamen und die Naguad-Flotte in die Flanke genommen hatte.
Er dachte daran, wie ihr Schiff brennend zur Erde gestürzt war. Die Bruchlandung, die Momente, nein Stunden der Verwirrung, als sich herausgestellt hatte, dass in ihrer Nähe ein Raider herunter gekommen war. Die darauf folgenden Kämpfe, die grausamen Kämpfe…
Und wie die Überlebenden mit Hilfe von Juichiro Tora geflohen waren. Aus ihren Händen, aus ihrer Umklammerung. Dieser Mann hatte ihnen den rechtmäßigen Sieg, die komplette Vernichtung gestohlen!
„Wir müssen verdammt nahe dran sein, wenn Tora einen seiner wichtigen Cyborgs opfert“, sinnierte Michael leise.
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3.
Die Nacht in Strasbourgh war Regenverhangen, düster und von all den Geräuschen erfüllt, die es einem jeden ermöglichten, selbst lautlos zu sein.
Michael Fioran war in diesen düsteren Stunden umso aufmerksamer. Es war noch nicht lange her, dass sein Talent für das AO – oder KI, wie die Menschen der Erde es nannten – erwacht war, dennoch war er schon recht stark in dessen Kontrolle und vor allem in der gezielten Produktion. Ein wenig überraschte ihn sein heftiger Appetit, nachdem er KI angewendet hatte, aber Aris hatte ihn darauf vorbereitet. „Von nichts kommt nichts, und irgendwo muss die Energie ja herkommen.“ Das hatte Michael eingeleuchtet.
Während er durch die dunkle Herberge schritt, die Hände über die steinernen Mauern gleiten ließ, waren seine Sinne weit aufgespannt. Er versuchte, sein Gehörsinn mittels AO zu verstärken. Die Folge waren ein paar Sekunden Orientierungslosigkeit, als seine Sinne ausgerechnet einen leidenschaftlichen Schnarcher erwischten. So also besser nicht.
„Bist du nicht etwas zu gewissenhaft?“, erklang hinter Michael eine bekannte weibliche Stimme. „An allen Eingängen stehen unsere Männer. Und die Fenster sind gesichert.“
„Darum geht es mir nicht, Vortein“, tadelte der Fioran die Frau.
„Dann traust du uns Arogad nicht? Oder deinen Fioran?“ Sie lächelte spitzbübisch. „Oder liegt dir Eris Sicherheit so sehr am Herzen, dass du freiwillig auf deinen Schlaf verzichtest?“
„Natürlich. Genau das ist der Grund.“ Michael wandte sich um und sah die Arogad an.
Die wirkte überrascht und verschreckt. „Oh. OH! So ist das also. Ich… Okay, ich glaube, ich kann es verstehen und… Entschuldige mich. Ich störe dich bei deiner Runde.“
„DU verstehst überhaupt nichts, Vortein. Im Gegenteil, du verdrehst alles genau so wie du es gerade brauchst. Aber das machst du ja immer, oder?“ Michael seufzte tief. „Mädchen, natürlich ist Eri für mich das Wichtigste hier. Und das sollte sie für jeden anderen aus unserem Tross sein.“

Es dauerte einen Moment, bis Vortein verstand. Die hübsche Naguad hatte die Augenbrauen zusammengedrängt als würde sie intensiv nachdenken. Dabei war es eher eine Frage von eins und eins zusammenzuzählen. Oder mit einer Kugel zwei Kegel umzuschmeißen.
Übergangslos wurde sie rot und sah zu Boden. „Ach so. Und ich dachte wirklich, du hast dich in Eri verliebt. Ich meine, so ist es eigentlich immer. Sie schnappt sich immer die besten Sachen im Leben. Und ich trotte ihr hinterher und schnappe nach den Resten. So war es schon, als Aris ihr zugeteilt wurde und so ist es seit…“ Sie sah auf. „Bla bla?“
Michael unterdrückte ein auflachen. „Nein. Aber mach dir selbst nichts vor. Du bist nicht in mich verliebt.“
„Das habe ich nie gesagt!“
„Aber du hast es gemeint. Doch leider habe ich meine Probleme damit, der Trostpreis zu sein.“ Michael griff nach ihrem Kinn, richtete ihr Gesicht sanft so aus, damit sich ihre Augen trafen. „Vortein, du bist ein tolles Mädchen. Du bist hübsch, du bist klug und du wickelst alle um den kleinen Finger. Oder um ein Ohrläppchen, wenn du mal keinen Finger frei hast. Deshalb, egal wie sehr du Eri liebst und verehrst, solltest du dich nicht mit der zweiten Wahl zufrieden geben. Du solltest immer nach dem Besten streben.“
„Und du meinst, du bist das nicht?“, fragte sie leise. „S-sieh mich dabei bitte nicht so an.“
Langsam näherte sich der Fioran ihrem Gesicht. Unglaublich sanft drückte er seine Lippen auf die der Frau. Sie war anfangs starr, entsetzt, doch dann erwiderte sie den Kuss. Somit waren sie einige Zeit beschäftigt, bevor Vortein abbrach.
„Und? War er gut?“
„Ja. Es war ein schönes Gefühl dich zu küssen, Michael. Aber…“
Der Fioran lächelte. „Und genau dieses aber ist dein Problem. Geh und schnapp dir, was dir wichtig ist, Vortein.“ Sanft streichelte seine Hand über ihre linke Wange.
Eine einsame Träne floss aus ihrem rechten Auge herab. „Michael, ich glaube, du bist wirklich ein Engel.“ Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick, den vielleicht dankbarsten in ihrem ganzen Leben und rauschte davon.
Michael sah ihr zufrieden nach. Oh ja, er gönnte der kleinen Arogad alles Glück, was sie erreichen und festhalten konnte.

„Michael-tono!“
Der Fioran wandte sich um. „Was gibt es, Yukio?“
„Tono, wir haben… Nun, Gäste vor der Tür.“
Etwas am Blick des Gefolgsmanns warnte ihn. Warnte ihn genug, um sofort zur Tür zu sprinten.
Die Pforte war vom Wirt geöffnet worden, in der Tür drängten sich gut zehn Kavaliere in regendurchnässten Umhängen. Einer von ihnen, ein großer Mann, sprach ihn mit hartem Akzent an. „Seid Ihr Teil der Karawane von Eridia-hime, Monsieur?“
„Das bin ich, Monsieur. Mein Name ist Michael Fioran. Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Im Moment kann eher ich euch dienen!“ Der Mann nahm seinen triefnassen Schlapphut ab. „Bitte hört mir jetzt genau zu und entscheidet dann. Hatte Eure Madame heute Besuch von einem Capitaine Fontaigne?“
„Ja, Monsieur.“
„Nun, diese Capitaine, ist er auf Hugenottenjagd?“ „Jawohl, Monsieur.“ Michael gefiel die Richtung nicht, in die dieses Gespräch ging.
„Nun, das ist er nicht mehr. Es scheint so, als hätte ihn die Begegnung mit Eurer Madame mehr als erschüttert. Das jemand nicht katholisch sein will, mag ihm noch einleuchten. Aber überhaupt nicht an den Herrn zu glauben geht über seine Vorstellungskraft.“
Der Mann verneigte sich leicht. „Mein Name ist Graf Eugen. Ich saß mit meinen Männern in einer Schänke, als zufällig der Capitaine mit einigen seiner Männer hereinkam und das Thema ausgiebig besprach. Jedenfalls war ein Gelehrter zugegen, der den Capitaine darauf hinwies, dass Japan, das Heimatland Eurer Madame vor nicht einmal einhundert Jahren von spanischen Dominikanern missioniert worden war – und das es der Shogun war, der die Religion des Christentums wieder verbot und alle Ausländer verbannte.“
„Ich verstehe.“ Michael nickte anerkennend in Graf Eugens Richtung. „Und um es kurz zu machen, Fontaigne gefiel der Ausgang des Gesprächs mit meiner Herrin überhaupt nicht. Und nun hat er den perfekten Vorwand, um sich doch noch angemessen um sie zu kümmern. Unter dem Vorwand, sie wieder auf den rechten, einzig wahren Glauben zurück zu führen. Mit welchen Mitteln auch immer.“
Erleichtert atmete der Graf auf und seine Gefolgsleute bestätigten die Worte erfreut.
„Die Frage, die sich mir stellt ist nun, welchen Nutzen habt Ihr in dieser Sache, mein lieber Graf?“
„Nun, es gibt dafür mehrere Gründe. Einer von ihnen ist der Gelehrte, ein unangenehmer Bursche, arrogant und selbst überschätzend. Er hat das Gespräch des Capitaines erst in diese Bahnen gedrängt. Genauer gesagt glaube ich, er hat ihnen regelrecht aufgelauert.
Ein anderer Grund ist, ich bin österreichischer Diplomat in wichtiger Mission. Mein Auftrag ist es, mit seiner Majestät zu sprechen, um Frankreich als Vermittler zum osmanischen Reich zu gewinnen, mit dem wir im Dauerstreit liegen. Beide Reiche sind geheime Verbündete, also stehen unsere Chancen gut, dass unsere Wünsche gehört werden, wenn der König von Frankreich sie hört.
Der letzte Grund ist, dass Eure Madame in meiner Schuld steht. Wenn wir Paris erreichen, mag der eine oder der andere den Gegenüber zu unterstützen, auf welche Weise auch immer.“
„Ich verstehe. Und wann ist mit dem verärgerten Fontaigne zu rechnen?“
Graf Eugen schmunzelte. „Eigentlich jede Minute.“
„Yukio, wecke das Haus, weck Eridia-Hime! Sofort!“
„Hai, Tono!“
Grimmig sah Michael den Grafen an. „Wo, sagten Sie, war die Schänke gleich noch mal?“
**
Ein paar Minuten huschte Michael durch die Nacht, sprang von Dach zu Dach durch den peitschenden Regen, an seiner Seite ein Katana und in der rechten Hand eine geladene Pistole.
Er wusste genau, dass in diesem Moment tumultähnliche Zustände in der Herberge herrschen mussten. Oberste Pflicht hatte natürlich der Schutz von Eridia Arogad, aber eine gelungen Flucht aller war das Optimalziel.
In der Ferne zuckte ein Blitz zu Boden; der Donner ließ nicht lange auf sich warten.
Michael verharrte auf einem Sims, einer Eingebung folgend. Er drehte sich um. Tatsächlich.
Drei Gestalten standen dort auf den anderen Dächern, die Öffnungen der Kapuzen ihm zugewandt. Michael bildete sich ein, dort grausam rot funkelnde Augen zu sehen. Aber es waren sicherlich nur Dioden, die den Cyborgs hinter die Augen gesetzt worden waren, um den Technikern die Wartung zu erleichtern.
Der Fioran lächelte dünn. Er richtete die Pistole auf den rechten Kapuzenmann und drückte ab. Arrogant begannen die Metallzähne des Cyborgs zu schimmern, er machte sich nicht einmal die Mühe auszuweichen.
Nun war es an Michael zu grinsen. Denn kurz bevor die schwere Bleikugel aufschlug, lohte sie jäh in der Farbe seines AO auf und wuchs zu einem kopfgroßen Ball.
Die Kugel durchschlug den Leib des überraschten Cyborgs, das AO zerfetzte die Reste zu kleinen Fetzen.

Nun griffen die anderen beiden direkt an. Michael zog das Katana, ließ es in seinem AO aufleuchten.
Der erste Cyborg erreichte ihn, schlug mit etwas auf ihn ein, was man am ehesten eine Axt nennen konnte. Der Fioran wehrte den Gegner ab und öffnete sich so für den Angriff von Nummer drei.
Dieser grinste triumphierend, sprang ein letztes Mal und zielte mit seinem Degen direkt in Michaels Herz.
Der Fioran wartete bis zur letzten Sekunde; dann riss er die linke Hand hoch, sammelte sein AO. Als der Kapuzenträger seinen Fehler bemerkte, war es schon zu spät. Von der rohen, urtümlichen Gewalt getrieben raste ein Ball aus reinem AO auf ihn zu, erfasste ihn und hüllte ihn in purem Licht ein, während ein anderer, mächtiger Blitz die Nacht erhellte.
Einen Wimpernschlag später fiel ein glühender, verbogener Metallgegenstand in die dunkle Gasse unter ihnen, der mit viel Phantasie mal ein Degen gewesen sein konnte… Mit sehr viel Phantasie.
Der dritte Gegner besann sich auf eine besondere Tugend des Cores – er floh. Doch er kam genau so weit, wie Reinecke ihn kommen ließ. Sie tauchte direkt vor ihm auf und schien zugleich meterweit hinter ihm zu stehen. Dazwischen war der Kuttenträger und verging in einer Lohe aus Feuer und Licht.
Reinecke lächelte dünn.

„Oh, das war so klasse, Michael-tono! Diese Kraft, diese Taktik, du bist so phantastisch!“ Die Fuchsdämonin sah aus glänzenden Augen zu dem Fioran hoch.
„Du warst aber auch nicht schlecht. Aber still jetzt, es ist noch nicht vorbei.“
„Ach, wegen Tora? Tut mir Leid, die drei waren nur hier abkommandiert um ihn zu warnen und seine Flucht zu ermöglichen. Ich habe gespürt, wie seine Aura den Bereich der Stadt verlassen hat, den ich vielleicht noch aufspüren könnte.“ Ein wenig wütend sah sie Michael an. „Was nicht hätte sein müssen, wenn du mich mitgenommen hättest. Wenn du irgendjemand bescheid gesagt hättest, was du tun willst. Komm, der Treffpunkt ist vor der Stadt. Aris war ja dafür, die Franzosen bis auf den letzten Mann auszulöschen, aber Eridia-sama war dagegen. Graf Eugen hat sich uns angeschlossen und gemeinsam haben wir beschlossen, so viel Abstand wie möglich zu Strasbourgh zu kriegen.“
„Entkommen“, zischte Michael ärgerlich.
„Ist nur ein kleines bisschen deine Schuld. Und jetzt komm endlich, Michael-tono. Übrigens, den Trick mit der Kugel, kannst du mir den bei Gelegenheit zeigen?“
Die Dämonin sprang über die Dächer davon, Michael folgte ihr automatisch. „Sicher“, erwiderte er, noch immer ärgerlich – und geplagt von einem schlechten Gewissen, weil er wirklich niemandem gesagt hatte, was er vorgehabt hatte.

4.
Die Gesellschaft, bestehend aus den Japanern, den portugiesischen Söldnern und ihm, dem englischen Kolonialen, wurde nun ergänzt durch zwanzig freundliche Herren auf Pferden mit kleinem Reisegepäck. Österreicher. Österreicher von der Sorte, die den Osmanen vor Wien zweimal widerstanden hatten. Österreicher, die um jeden Meter Ungarn kämpften. Österreicher, die sogar auf den Katalaunischen Feldern vor tausend Jahren gegen die Hunnen eine gute Figur gemacht hätten. Kurz und gut – Helden.
Und sie alle waren auf Reisen in einem Land, das ihnen unter dem absolutistischen König Ludwig dem Vierzehnten alles andere als wohl gesonnen war.
Michael bewunderte den Mut dieser Männer ein klein wenig. Ein klitzeklein wenig.

Der Fioran ließ sich zurückfallen, erreichte die vorderste Sänfte. „Meine Lady?“
Die Seitentür der Sänfte glitt einen Spalt auf. Über den Rand eines mit roten Kirschblüten bemalten Fächers lächelten ihn Vorteins Augen an. „Mein Engel?“
„Geht es dir gut, meine Lady?“
Das Lächeln wurde intensiver. „Aber ja, mein guter Michael. Mir geht es gut. Sogar besser als lange Zeit.
Mein guter Freund, bist du auf dem Weg nach Eri?“
„Ja, meine Lady.“
„Gut. Kannst du noch ein wenig weiter zur Nachhut gehen und Aris etwas von mir bringen?“
„Sicher, Vortein.“
Sie lächelte und übermittelte ihre Botschaft.
Erschrocken sah Michael die Arogad an. „Was?“
„Tu es für mich, bitte“, sagte die Frau mit hinreißendem Lächeln und schloss die Sänfte langsam wieder.
Michael fluchte erschrocken.

Erneut zügelte er sein Pferd, kam so bis zur mittleren Sänfte. Dort ritt Graf Eugen neben der geöffneten Schiebetür der Sänfte. Zwischen ihnen ging Isegrim, der als Übersetzer fungierte, um das Alibi aufrecht zu erhalten. Eridia lächelte zum Grafen hinaus und antwortete leise auf Isegrimms Übersetzungen.
„O-hime-sama.“
„Nandesta, yohei?“, fragte Eridia ungehalten.
„Die Herrin wünscht dein Begehr zu wissen, Söldner“, übersetzte der Wolf.
Irritiert sah Michael die Arogad an. So ging es nun schon seit Tagen. Und eine Besserung schien sich nicht einzustellen. Bis auf ein, zwei professionelle Gespräche mit den Dämonen schien sie ihm nichts mehr zu sagen zu haben.
„Es gibt keine besonderen Vorkommnisse. Und wir kommen gut voran. Wir liegen vor dem Zeitplan.“
„So ka. Betsuni.“
„Die Herrin sagt, dass sie es so erwartet hat.“
Unschlüssig wandte Michael den Blick ab. „Dann widme ich mich nun wieder meinen Aufgaben. O-hime-sama. Graf Eugen.“

Erneut ließ er sich zurückfallen und kam zur dritten Sänfte.
Dort ging die Schiebetür auf und Seg Mitur sah heraus. Er grinste breit und vollkommen unjapanisch. „Ein schönes Paar, die beiden, hm?“
„Sehr komisch“, erwiderte Michael ärgerlich. Obwohl, konnte das sein? War sie deswegen so kurz angebunden? Und da hatte Michael endlich gehofft, ihr endlich näher gekommen zu sein. Ihr, seiner Heldin…
„Keine Sorge, keine Sorge. Das war nur ein Witz.“ Seg zwinkerte ihm zu. „Und der Eifersuchtsanfall legt sich auch irgendwann.“
„Eifersuchtsanfall?“ Irritiert sah Michael zu dem Mitur herüber. „Was?“
Der seufzte tief und lang. „Idiot.“
„Das mag schon stimmen, deshalb verstehe ich es aber nicht leichter.“
Seg runzelte die Stirn. „Idiot“, wiederholte er und schloss die Schiebetür wieder.

Michael sah einige Zeit lang auf die verschlossene Sänfte. Dann zuckte er die Achseln und ließ sich noch weiter zur portugiesischen Nachhut zurückfallen.
„Auf ein Wort, Aris.“
Der große, schwarzhaarige Anführer der Portugiesen lenkte sein Pferd neben das des Fiorans. „Was gibt es, Mann von Übersee?“
„I-ich habe eine Botschaft meiner Lady für euch.“
Interessiert hob Aris eine Augenbraue. „Von Vortein? Was sagt sie?“
Unschlüssig sah Michael den Fioran an. „Vielleicht fragst du sie selbst.“
„Ist es so dramatisch? Oder so schlimm?“
„Keins von beiden. Aber mir wäre es lieber, du würdest sie selbst fragen.“
„Michael“, begann Aris in dozierendem Tonfall. „Es ist ihre Botschaft. Es sind ihre Worte. Ich kann zwischen dem Boten und dem Verfasser der Botschaft unterscheiden. Keine Angst, ich nehme dir nichts übel, was sie gesagt haben könnte.“
Michael sah den anderen verzweifelt an. „Du hast ja keine Ahnung.“
„Und das werde ich auch weiterhin nicht haben, wenn du mich weiter zappeln lässt.“
Der Fioran seufzte zum Steinererweichen. Dann beugte er sich im Sattel zum Arogad herüber.
Und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Das ist die Botschaft meiner Lady!“
„Kerl, du!“, rief Aris mehr erstaunt als wütend, während die als Portugiesen getarnten Arogads heiter lachten. „Das kommt von Vortein?“
„Die Botschaft meiner Lady. Vielleicht lässt du es dir von ihr näher erklären. Bitte, bitte, Aris, nehmt mich nicht als Boten für derlei Sachen!“
Der überrumpelte Taral rieb sich die geküsste Wange. „Ich glaube, dich als Boten zu haben, nimmt der Sache einiges an Reiz, mein Freund.“
Entschlossen sah Aris nach vorne und gab seinem Pferd die Sporen. Es preschte an der Marschkolonne vorbei bis zur vordersten Sänfte.
„Na, wenigstens etwas, das klappt.“ Michaels Augen verengten sich. „Bleibt noch Tora und sein Gesindel.“
**
Wie versprochen erreichten die Japaner und die Österreicher die Hauptstadt Paris gemeinsam. Sie nahmen wie auch die Tage zuvor gemeinsam Quartier und Graf Eugen ersuchte zugleich mit Seg Mitur, der als Sprecher fungierte, um eine Audienz beim König.
Heraus kam eine Audienz bei seinem Minister, dem Kardinal Richelieu. Die Audienz galt Eridia und einem kleinen Kreis ihres Gefolges. Jedoch wurde der Graf hinzu gebeten.

Als Michael Fioran in seiner besten Kleidung in dem riesigen Raum nervös auf und abmarschierte und auf den Kardinal wartete, einen der mächtigsten Männer Frankreichs und damit der europäischen Welt, machte er die anderen Beteiligten heillos nervös. Und wenn er ehrlich war, vor allem sich selbst.
Erst als der Kardinal eintraf, gelang es Michael sich zu zwingen, endlich seinen Platz in der Abordnung einzunehmen.
Der Kardinal musterte die Delegation und sagte nicht ein Wort. Er ließ auch kein Wort der Erklärung von Reinecke zu, die diesmal als Dolmetscherin fungierte.
„Non, Renarde“, sagte Richelieu. „J´ai quelque chose pour vous.“ Er winkte einem Diener, der sofort den Raum wieder verließ.
Kurz darauf kamen vier Bedienstete herein. Zwischen sich trugen sie eine große und anscheinend auch schwere Kiste. Der Kardinal winkte ihnen zu; die Männer kippten sie aus.
Ein erschrockenes Raunen ging durch die Delegation.
Was da so achtlos auf den Fußboden geworfen worden war, das waren Teile des Geräts, von dessen Existenz sie erst seit wenigen Wochen wussten, dass es auch zur Kommunikation genutzt werden konnte: Ein Wurmlochgenerator.
„Ich nehme an, das ist es, was Sie suchen“, sagte der Kardinal in einem recht Akzentbehafteten deutsch. „Es gelang meinem Geheimdienst, dies hier zu konfiszieren, nachdem die große Spinne uns einen Tipp gegeben hat. Auch konnten wir die fünf Maschinenmenschen zerstören.“
Michael wurde es heiß und kalt zugleich. Was geschah hier? Woher wusste der Kirchenmann soviel?
„Leider ist uns Juichiro Tora entkommen. Wir wissen nicht genau, in welche Richtung er geflohen ist, aber möglich ist die neue Welt.“
Der Kardinal nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er lächelte dünn. „Nun, wir mögen auf euch Außenweltler wirken, als würden wir nur unsere kleinlichen Machtspielchen kennen. Das bedeutet aber nicht, dass wir das, was um uns herum geschieht, komplett ignorieren können. Die Maschinenmenschen gehören zu dem, was wir nicht ignorieren dürfen.“
Mit einer weit ausholenden Geste deutete der Kardinal auf die Trümmer. „Wenn Ihr es wünscht, die Überreste der Maschinenmenschen werden von meinen besten Männern in der Bastille verwahrt. Ihr dürft sie jederzeit inspizieren, um sicherzugehen, das die Jagd zu ende ist. Heute zumindest.“
Eridia nickte schwer. „Dann sind wir euch zu Dank verpflichtet, Eminenz.“
Graf Eugen sah sie erschrocken an, als die Frau, die angeblich aus Japan stammte, einwandfreies deutsch sprach.
„Es ist noch nicht vorbei“, erwiderte der Kirchenmann. „Nun, wir ergeben uns, zugegebenermaßen, in kleinlichen Machtspielchen. Und wir würden auch ungern damit aufgeben. Mylady Arogad, die Frage ist, was können Sie dafür tun, damit das so bleibt?“
Wenn Eridia erschrocken war über diese Anrede, dann zeigte sie es nicht. „Haben Sie eine Idee, Eminenz?“
„In der Tat. Juichiro Tora ist entkommen. Die Jagd auf ihn ist noch lange nicht vorbei. Wir wissen nicht, wo er das nächste Mal auftauchen wird – oder wann. Vielleicht zu meinen Lebzeiten nicht mehr.“ Der Kardinal sah ernst in die Runde. „Was wir brauchen – über der kleinlichen Ebene unserer Politik, sind Sie, die Außenweltler.“
„Ihre Idee ist, Eminenz?“, fragte Eridia direkt.
„Meine Idee ist, dass die Außenweltler sich auf die Welt verteilen, um Tora zu jagen. Oder um einer anderen Krise die Stirn bieten zu können. Ich weiß, etwas ähnliches haben Sie schon mit der großen Spinne vereinbart. Doch ich biete für diese Arbeit die Hilfe einer Nation an. Langsam, schleichend, über die Jahre, vielleicht Jahrzehnte.“
Eridia nickte ernst. „Legen wir unsere Ressourcen zusammen.“
Der Kardinal nickte zufrieden. „Sprechen wir darüber.“
**
Nach mehreren Stunden, die weniger der Verhandlung und mehr dem Gedankenaustausch gewidmet waren, nickte Richelieu endlich zufrieden. „Dann ist es abgemacht.“ Der ältere Mann sah den Österreicher an. „Und was euch angeht, Prinz Eugen, falls Ihr euch heute nicht das Leben nehmt – viele tun das, die aus der Unwissenheit gerissen werden und die wirklichen Gefahren erkennen, die auf uns lauern – der König weilt heute in der Stadt und gibt ein Bankett. Euch ist es erlaubt worden daran teilzunehmen. Bringt Lady Eridia mit.“
„I-ich verstehe. Eure Eminenz.“

Michael empfand Mitleid mit dem armen Mann. Bisher war er es gewohnt Armeen in die Schlacht zu führen, Logistik für ein paar zehntausend Mann zu verwalten und Städte zu erobern oder zu halten. Aber noch nie ging es für ihn um eine ganze Welt.
Er verstand die Aussage des Kardinals, dass so mancher Mensch, der plötzlich dieses Wissen hatte, Selbstmord beging.
Als sie in ihrer Kutsche saßen, die sie zurück bringen sollte, richtete der Graf seinen Blick auf Michael. „Ich habe mich entschieden. Mein guter Junge. Ich will helfen. Gefällt dir der Name Berger?“
**
Michael verstand nicht, warum die anderen ihn mit Eri alleine gelassen hatten. Sie sprach sowieso seit Tagen nicht mehr mit ihm und zeitweilig, selbst Tage nach dem Bankett mit Ludwig dem Vierzehnten erschien es ihm, als würde sie ihre Gunst Graf Eugen zuwenden.
Und jetzt, wo es hieß auf Jahre oder Jahrzehnte Lebewohl zu sagen… Er senkte resignierend den Kopf. Sein Weg würde ihn nach Sachsen führen. Durch die Vermittlung des Grafen würde er dort mit einigen seiner Fioran unter dem Namen Berger firmieren und den Rückhalt aufbauen, den sie fortan und weltweit brauchen würden. Bei der Jagd auf Tora, bei der Verteidigung der Erde, die so wichtig geworden war wie kaum etwas sonst im Imperium – oder im Kaiserreich.
Und hier standen sie, alleine gelassen in einem kleinen Raum, doch Eri schaffte es, durch ihre Haltung und vielleicht durch die Tatsache, dass sie ihm den Rücken zuwandte zu suggerieren, sie sei eine Meile weit entfernt.

„Ich werde dann gehen. Ich wünsche dir viel Glück bei den Yodamas in Japan. Und auch wenn es dir nicht viel bedeutet, ich freue mich darauf, dich wieder zu sehen.“
„Warum hast du es getan?“, fragte sie unvermittelt.
„Warum habe ich was getan?“
Wütend fuhr sie herum. „Tu nicht so dumm! Warum hast du Vortein geküsst? Lüg erst gar nicht! Ich habe euch im Gang gesehen, damals in Strasbourgh!“
Michael erschrak. Mit welchem Recht stellte sie ihn zur Rede? Nur weil Vortein aus dem gleichen Haus kam, eine gute Freundin von ihr war, die mit ihr gemeinsam die Akademie besucht hatte, glaubte sie Rechte an ihrem Leben zu haben? Für einen Moment war Michael ehrlich wütend. Und ehrlich zu Schalk aufgelegt.
„Ach das“, meinte er und machte eine abwehrende Bewegung. „Ich küsse alle hübschen Frauen.“
Diese Aussage ließ den Zorn verrauchen. „Küsst du dann auch mich?“
Michael zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Eridia küssen, seine Heldin?
Sie bemerkte seine Reaktion mit Enttäuschung. „Ich bin nicht hübsch?“
„Das ist es nicht.“
„Also, warum dann nicht?“
Michael hüstelte. Ja, warum nicht? Weil er sich dann Hals über Kopf in diese Frau verlieben würde! Etwas, was er schon seit Jahren zu vermeiden suchte. Etwas, was sein Privatleben beeinträchtigt hatte, bis es nichts mehr gab, was diesen Namen verdiente.
„Nein“, sagte er resolut.
Eridia kam mit einem schnellen Schritt zu ihm, ergriff ihn mit beiden Händen am Kragen. „Als wenn ich dich um deine Meinung fragen würde, du Dummkopf.“
Sie verschloss seine Lippen mit einem langen Kuss. Dann musste er den Verstand verloren haben, als seine Hände nach dem Gürtel ihres Kimonos langten und zu öffnen versuchten.

5.
Eridia Arogad seufzte bei dieser Erinnerung. „Es hat lange gedauert. Aber wenn man bei Michael die richtigen Knöpfe zu drücken weiß – jedenfalls mussten wir die Abreise eine Nacht verschieben.“
„Danke“, erwiderte Yoshi säuerlich. „Den Rest meines Lebens hätte ich auch gut ohne diese Information verbringen können.“
„Trottel“, tadelte Yohko und hieb ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite. Der grinste nur und legte seine Rechte auf die linke Brusttasche seiner Jacke. Sofort wurde die selbstbewusste Regimentskommandeurin bemerkenswert einsilbig.

Der Gleiter setzte sanft auf einer Plattform auf dem oberen Drittel des Turms auf. Schutzwände fuhren hoch, um sie vor Fall- und Scherwinden zu schützen.
Ein Schott zum Turminneren glitt auf, Joan Reilley eilte freudestrahlend hinaus, stürzte den Mädchen in die Arme und griff Yoshi in den Nacken, um ihn für einen Kuss auf die Wange herab zu ziehen. „Wann kommt der Rest?“, scherzte sie.
„Yohko“, erklang eine unsichere Frauenstimme vom Eingang her.
Akiras Schwester sah auf.
Neben ihr hielt Eridia den Atem an. „Haben sie es geschafft, Mädchen?“
Die Frau in dem bodenlangen Kleid, die im Eingang wartete, schüttelte den Kopf, fast unmerklich.
Eri seufzte enttäuscht, aber auch ein wenig froh. „Yohko. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Oder zumindest sein Hologramm.“ Sie deutete auf die Frau am Eingang, die gerade in holographische Tränen ausbrach. „Deine Mutter Helen.“
Wie hypnotisiert ging die junge Frau auf das Hologramm zu. Sie blieb davor stehen, musterte die Züge und spürte ihre Tränen die Wangen herab laufen. Zögernd streckte sie eine Hand aus, aber sie ging durch den Körper hindurch.
„Trotzdem“, hauchte sie und brach vollends in Tränen aus. „Ich bin so froh. Mutter.“
„Yohko“, hauchte Helen und versuchte ihre Tochter dennoch zu umarmen.
Die beiden arrangierten sich halb lachend und halb weinend, und hielten schließlich starre Posen ein, die ihnen wenigstens die Illusion einer innigen, Tochter und Mutter-Umarmung erlaubte.
Yoshi wurde rot. „Das ist ihre Mutter?“ Unauffällig versuchte sich der Futabe-Sproß, nach hinten zurück zu ziehen.
Bis er die verhängnisvollen Worte hörte: „Mutter. Das ist mein Freund.“
Das Lächeln des Hologramms schien ihm vom Schlimmsten zu verschonen. Dennoch meinte er mit einem gequälten Lächeln: „Akira, der Mistkerl. Der muß nicht die Mutter von Megumi treffen.“
„Dafür hat er einen ganzen Turm, mit dem er sich rumschlagen muß“, bemerkte Eri trocken.
„Der arme Turm“, fügte Joan hinzu.
Yoshi seufzte und machte sich an seine größte Herausforderung seit langem.
**
Wider Erwarten arrangierten sich die Daness-Wachen und meine Arogads ungewöhnlich schnell. Zwischen den Leibwächtern der Daness und Sora gab es sofort ein stilles Einverständnis, wie es nur unter perfekten Profis möglich zu sein schien – es erinnerte mich daran, wie die Piloten der deutschen Luftwaffe mein Oberkommando bei der Schlacht um Hamburg akzeptiert hatten, kaum dass mein Mecha Primus aufgetaucht war. Damals war ich von der SARATOGA aus gestartet, die mir bei Operationen im Nordatlantik als mobile Basis gedient hatte… Tapfere Amerikaner. Sie hatten damals den Träger vor allem deshalb immer wieder bis aufs Messer verteidigt, damit ich einen Platz zum landen hatte.
Andererseits, wenn ich jetzt drüber nachdachte, waren sie bei Megumi noch weit enthusiastischer gewesen und sie war damals erst dreizehn gewesen. Verdammte Fetischisten!
Jedenfalls übernahm Sora den inneren Schutz und saß mit Franlin, Attori, Gina, Henry, Megumi und mir im Fonds des großen Schwebegleiters, während sich die Leibwächter von Daness die Vorderbank und die beiden Begleitflieger teilten.
Also, ich hätte mir durchaus etwas mehr Intimität gewünscht. Etwas Zeit alleine mit der Frau, von der ich gedacht hatte, ich würde sie vielleicht nie wieder sehen. Sehnsüchtig betrachtete ich ihr gefärbtes Haar und stellte mir vor, mein Gesicht darin zu versenken und mehr davon zu riechen als den milden Hauch, den die zirkulierende Lüftung erlaubte.
„Was?“, fragte sie amüsiert und ich merkte, dass ich sie angestarrt hatte.
Etwas, was ihr neuer Aufpasser Attori nicht wirklich gut aufnahm.
Ich ignorierte ihre Frage und sah den Daness ernst an. „Vern, welchen Rang hat Lady Megumi im Haus Daness?“
Sein Blick war mörderisch, eine wilde Mischung aus Nennen Sie mich nicht beim Vornamen und Kommen Sie meiner Herrin nicht so empfindlich nahe.
„Ich hoffe doch, sie ist nicht die Erbin des Ratsvorsitz“, fügte ich hinzu. Hoffentlich nicht. Nicht noch ein Naguad-Haus in der Familie. Ein Turm reichte vollkommen und endgültig.
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Arogad“, knurrte Vern Attori arrogant, aber in einem Tonfall, der deutlich freundlicher ausfiel als ich erwartet hatte.
„Natürlich ist sie nicht die Erbin des Ratsvorsitzes. Dazu müsste sie die Tochter unseres ehrenwerten Vorsitzenden Mitne Daness sein.“ Um sicherzugehen fügte der Mann hinzu: „Was sie nicht ist.“
Erleichtert lehnte ich mich zurück. Nichts war schlimmer als plötzlich Barrieren aus dem Boden schießen zu sehen, die mich und Megumi voneinander zu trennen versuchten. Nichts war schlimmer als sie neben mir zu haben und sie nicht berühren zu können.
Obwohl, das sollte mir möglich sein.
„Was? Gönnst du mir den Hausvorsitz nicht?“, fragte sie in gespieltem Ernst.
„Ein Hausvorsitz reicht in der Familie“, erwiderte ich und vergrub nun doch mein Gesicht in ihren Haaren. „Ich habe dich so vermisst.“
Vern Attori kam langsam aber sicher von null auf hundertachtzig. Wütend rief er: „Können Sie das bitte lassen, Aris Arogad? Immerhin ist Lady Megumi eine Daness!“
„Was habt Ihr verdammten Naguad nur mit euren Genen? Braucht Ihr so dringend Nachfolger, dass euch schon eine oberflächliche Verwandtschaft reicht, um jeden zu eurem Herrn zu machen? Also, regen Sie sich nicht so auf. Sie haben selbst gesagt, Megumi ist nicht Mitne Daness´ Tochter.“
„Nein, natürlich nicht. Sie ist seine Enkelin und Nummer drei in der Erbfolge.“
Mein Kopf ruckte herum und fixierte den Leibwächter. „Was, bitte?“
„Moment mal, Moment. Mein Großvater heißt Jeter, das hat Oma Eri mir gesagt!“, warf Megumi ein.
Vern Attori schnaufte auf die Art der Lehrer, die zum wiederholten Male einem Schüler etwas wirklich Offensichtliches erklären musste. Also, es beeindruckte mich nachhaltig.
„Lady Megumi, ich bin sicher, auch auf diesem Hinterwäldlerplaneten namens Erde ist es üblich, zwei Großväter zu haben. Jeter ist der Vater Ihres Vaters, Mugen Tamalis. Und Mitne ist der Vater Ihrer Mutter, Hattara. Wobei ich nicht weiß, welche Decknamen sie auf der Erde getragen haben. Soviel zu Ihrer Verwandtschaft, Lady Megumi. Ihr Onkel Sostre sollte vielleicht noch erwähnt werden, der ältere Bruder Ihrer Mutter und derzeitige Erbe des Ratsvorsitz.“
„Oh Mann, das muß ich erstmal verdauen.“ Plötzlich wirklich, wirklich müde ließ ich mich in die Polster sinken.
„Das ist in der Tat eine Überraschung“, pflichtete mir Sora bei.
„Für mich nicht“, stellte Taylor grinsend fest. Das Grinsen verschwand aber, als er Ginas Blick zum wiederholten Male begegnete. Etwas an ihr schien ihn zu irritieren. Und zugegeben mich auch. Welcher Teufel hatte Oma geritten, eine einfache Restaurantbesitzerin in so ein ungewisses Abenteuer mitzunehmen?
„Und wieso nicht, Henry, mein Bester?“, fragte ich, um den ungewohnten Moment der Stille zu durchbrechen.
Taylor grinste breit. „Weil es mich sehr gewundert hätte, wenn innerhalb deines Magnetfeldes irgendetwas banales passiert wäre. Du ziehst nicht nur den Ärger an, Fliegerjunge, sondern auch außergewöhnliche Ereignisse.“
Franlin und Sora warfen mir schiefe Blicke zu. Simultan seufzten sie.

„Wie dem auch sei“, erhob Vern Attori seine Stimme wieder, „Lord Jeter ist gerade auf Daness, aber er wird so schnell wie möglich herüber kommen, um seine Enkelin zu begrüßen. Er wäre wahrscheinlich schon hier, immerhin wissen wir seit Monaten, wer sich im Kanto-System aufhält und seit ein paar Tagen wer hier her kommt – Jora gibt wirklich eine gute Befehlshaberin ab, aber keine perfekte Kopie von Ihnen, Lady Megumi – aber es gab Schwierigkeiten, denen er sich widmen muß. Als Chefarchitekt des Planetenprojekts konnte er seinen Zeitplan nicht weiter raffen. Seine Frau und Ihre Großmutter, Lyda, erwartet Sie aber zusammen mit Mitne. Und bevor Sie fragen, Ihre Großmutter mütterlicherseits, Baina, ist vor etwa achtzig Jahren gestorben. Dennoch bin ich sicher, dass Ihr Onkel Sie ebenfalls empfangen wird. Jedenfalls hat er versprochen im Turm zu sein.“ Vern warf mir nach seinem Monolog einen langen Blick zu. „Vorsicht, mein Lieber. Er mag keine Arogad, vor allem nicht solche, die ganze Systeme unterwerfen und sich selbst einladen.“
„Entschuldigung, dass ich nicht ganz euren Werten und Normen entspreche“, zischte ich verärgert.
„Ganze Systeme unterwerfen?“, fragte Megumi interessiert.
„Du weißt schon. Das Sol-System und alle Eroberungen, die wir im Kanto-System gemacht haben. Die Rechtswissenschaftler prüfen den Fall gerade.“
„Das meinte ich nicht“, widersprach Attori. „Ich meine das Nag-System, dass Sie erobert haben. Sie und Joan Reilley.“
Ich runzelte die Stirn. „Erobern ist vielleicht nicht das richtige Wort.“
„Nein, erobern passt schon. Miss Reilley ist enorm populär. Und Sie – ich hasse es das zugeben zu müssen – stehen ihr kaum nach. Gerade bei den Angehörigen der kleineren Häuser und bei den Hauslosen genießen Sie ein sehr hohes Ansehen. Immerhin haben Sie alleine eine Elite-Division Banges besiegt.“
„Dafür dass Sie es hassen zuzugeben loben Sie mich aber ganz schön über den grünen Klee, wie man auf der Erde sagt, mein guter Vern.“
„Warum auch nicht? Immerhin war es ja eine Arogad-Hauseinheit!“ Der Mann warf den Kopf nach hinten und lachte lauthals.
„Der Mann hat ja richtig Sinn für Humor“, bemerkte Henry grinsend.

„Mylord Attori, der Turm hat uns im Leitstrahl“, meldete der Fahrer des großen Schwebers.
Interessiert sah ich zum Seitenfenster hinaus – vor allem weil es mir erlaubte, Megumi dabei diskret zu berühren – und pfiff anerkennend. Der Turm der Daness stand dem der Arogad kaum nach. Vielleicht übertraf dieses Bauwerk den anderen Prunkbau sogar noch.
„Willkommen Zuhause, Megumi Solia Daness“, sagte Vern Attori mit Zufriedenheit in der Stimme. „Sie erobern das System vermutlich auch ohne einen Massenauflauf am Raumhafen.“
Ich blinzelte bei dieser Bemerkung. Natürlich, als ich und Joan ins System gekommen waren, hatte jede interessierte Frau und jeder interessierte Mann auf Naguad Prime und den anderen bewohnten Planeten gewusst, wer da kam und warum.
Megumi und Oma hingegen waren still und heimlich eingetroffen, soweit ich das sagen konnte.
Demnach verwunderte mich die Menschenmenge, die den Landeplatz vor dem Turm einrahmte. Wir hätten auch eine Plattform auf dem Turm selbst benutzen können – eigentlich. Das Attori sich dagegen entschieden hatte, schien der erste Teil eines neuen Kapitels im ewigen Kampf zwischen Daness und Arogad zu sein. Arogad hatte seinen Erdenhelden, und Daness jetzt endlich auch.
Wieder erkannte ich bei der wartenden Menge viele in nachgemachten UEMF-Uniformen. Junge, entweder hatte der durchschnittliche Naguad zuviel Freizeit, war zu leicht zu begeistern oder hatte Helden wie Megumi und mich so nötig wie ein Verdurstender Wasser.
Wobei das Wort Held im Zusammenhang mit mir merkwürdig klang. Ein Mann, der dreitausend intelligente Wesen getötet hatte, konnte kein Held sein.

Nach einem Bad in der Menge, bei dem ich überraschenderweise sehr wohlwollend aufgenommen worden war, und einem harten und nachdrücklichen Kampf mit Attori, der mich nicht in das Appartement hatte lassen wollen, in dem sich Megumi frisch machen sollte, saß ich auf ihrer Couch und klopfte nervös die Fingerspitzen aufeinander. „Willst du was trinken?“ rief ich zu meiner Freundin ins Badezimmer. „Die haben hier ein paar sehr gute Weine und exzellente nichtalkoholische Getränke.“
„Deine Oma hat mir von diesem Tee erzählt. Wenn du den auftreiben kannst… Deine Oma ist übrigens sehr nett.“
„Du meinst Zuma, hm? Ich lasse welchen bringen. Und was zu essen vielleicht? Hm, du findest Oma nett?“
„Nein, danke, nichts zu essen. Ich bin viel zu nervös, um zu kauen. Ja, ich mag Eri. Sie hat mir einiges erzählt und so. Sie hat… Na, sie war halt wie eine Oma sein sollte. Auch wenn sie erst aussieht wie Mitte dreißig.“
„Nicht schlecht für sechshundert Lebensjahre, oder?“ schmunzelte ich und orderte über die im Couchtisch eingelassene Konsole Zuma bei der Turmküche. Gut, dass sich die Systeme nicht voneinander unterschieden, hier und im Arogad-Turm.
Megumi kam ins Wohnzimmer, ihr kurz geschnittenes Haar nachdrücklich abtrocknend. Sie trug neben der imperialen Uniformhose nur ein recht luftiges Tank Top, ganz nach Naguad-Vorschrift. Aber eine vollständige UEMF-Uniform mit all den Daness bekannten Orden lag schon für sie bereit. Nun, da sie ihren eigenen Erdenhelden hatten, wollten sie ihn auch richtig präsentieren, ging es mir durch den Kopf.
Sie warf mir das nasse Handtuch an den Kopf. „Hey. Ignoriere mich nicht. Seit wann ist eine Uniform für dich interessanter als ich?“
Ich sah sie an, in ihre herrlichen blauen Augen, ihr strahlendes Gesicht, die schwarz gefärbten Haare so gut es ging ignorierend – und wurde rot.

Langsam erhob ich mich. „Megumi. Es gibt da etwas, dass… Ich meine, ich… Ich habe mit Joan geschlafen.“
„So? Gut.“
Meine Kinnlade sackte herab. „Was?“
„Ich sagte, gut. Legen wir das ad acta. Oder spielst du mit dem Gedanken, Mako die Freundin auszuspannen? Du weißt, ich könnte mit einer direkten Konkurrenz wie Joan nicht leben.“
„Megumi“, sagte ich leise, legte die Hände gefaltet vor mein Gesicht und atmete tief durch. „Megumi, ich war mit Joan im Bett. Oft, nachdrücklich und meistens auch ziemlich lange.“
„Ja, ich kenne deinen Stil. Ich hoffe sie war zufrieden mit dir. Muss sie ja, wenn du sagst, ihr habt oft miteinander geschlafen.“
„Megumi, Megumi, Megumi, was redest du da? Ich habe mit ihr ge-schla-fen!“
„Warum betonst du das so?“ Misstrauisch hob sie die Augenbrauen. „Joan sah wirklich gut aus bei ihren Auftritten auf Naguad Prime. Da war nichts mehr von der Puppe ohne Persönlichkeit, die sie war als Torum Acati ihr den Verstand zerschmettert hat. Aber so wie du die Sache wieder und wieder betonst… Du hast sie doch nicht etwa ausgenutzt, als sie vollkommen hilflos war, nur dich als Bezugsperson hatte und mehr wie ein Kleinkind als eine erwachsene Frau war? Ich meine, wenn dir so etwas gefällt, wir könnten ja mal ein paar Rollenspiele ausprobieren, was meinst du?“
„Natürlich habe ich sie nicht ausgenutzt!“, rief ich erschrocken. „Natürlich nicht. Sie hat sich von Anfang an an mich geklammert. Ich war ihr Anker in die Realität. Ihre Lust ist auch erst erwacht, als sie wieder ihren Verstand zurück gewann. Ich habe ihr anfangs tapfer widerstanden, obwohl ich wusste, dass es nicht gut für ihre Genesung war. Aber dann hat mich Torum beiseite genommen und gemeint, dass wir beide unsere Leben so intensiv auskosten sollten wie wir konnten, weil er absolut keine Ahnung hatte, wie lange wir noch leben durften. Tja, und dann ist es einfach passiert und passiert und passiert und passiert und…“

Der Zeigefinger ihrer Rechten legte sich auf meinen Mund und ließ den Strom an Wörtern abbrechen. „Akira. Ich habe schon verstanden. Was ich wissen will ist, wo du stehst und wo ich da jetzt hinein passe. Liebst du sie?“
„Natürlich liebe ich sie, aber nicht so sehr wie dich.“
„Dann ist es doch in Ordnung.“
„Megumi, es kann nicht in Ordnung sein. Es darf nicht in Ordnung sein. Ich habe mit ihr geschlafen. Ich habe sowohl dich betrogen als auch meinen lieben Makoto. Schlimmer könnte es nur noch sein, wenn ich mit Yoshi schlafen würde und… Okay, vergiss das bitte wieder. Aber du solltest wütend sein, mich anklagen, mir etwas vorwerfen, oder etwas nach mir werfen. Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst, nachdem ich dich betrogen habe. Nachdem ich Makoto betrogen habe.“
Sanft streichelte ihre Rechte meine Wange. Dann wurde ein heftiger Schlag draus. Verdammt, schon wieder diese Stelle.
„Gut so?“, fragte sie lächelnd. Gott, ich liebte diese Frau.
„Nein.“
„Okay, mein Schatz. Gehen wir die Sache mal durch. Du warst Acatis Geisel im Austausch für die Sicherheit der AURORA. Du und Joan wurdet von ihm nach Naguad Prime entführt, damit euch als Rebellen und Aufständischen der Prozess gemacht werden sollte. Vor eurer Ankunft hier hattet ihr nur einander und zudem die nicht gerade erfreuliche Aussicht, hier hingerichtet zu werden. Ihr seid sehr gute Freunde füreinander und… Na ja, es ist halt passiert. Aber solange du dich jetzt nicht für Joan entscheidest – was ich dir nicht einmal übel nehmen könnte – oder uns beide zugleich willst – was ich dir sehr wohl übel nehmen würde – ist alles in Ordnung.“
„Du nimmst die Sache viel zu locker, Megumi. Viel zu locker. Das habe ich nicht verdient. Nein, nein, ich brauche eine Strafe.“ Deprimiert senkte ich den Blick. Mann, war ich ein Idiot.
„Oh. Tut mir Leid, aber mit einer Strafe kann ich nicht dienen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“
„Was?“
„Bei mir ist es zwar nicht ganz dasselbe wie bei dir, aber rein moralisch darf ich dir überhaupt nichts vorwerfen, Akira. Hauptsache, du kommst wieder zu mir.“
„Wie?“
Sie seufzte. „Bei unserer ersten Nacht auf OLYMP, nach deiner Geburtstagsfeier, kamen dir da ein paar Dinge nicht merkwürdig vor?“
„Nur, dass du sehr gut vorbereitet warst. Ich meine, die Gummis und so…“
„Dir ist also nicht aufgefallen, dass ich keine Jungfrau mehr war?“
„Nicht, dass ich damit Erfahrung hätte“, brummte ich erschrocken, entsetzt, verstimmt und überfahren. „Es erklärt aber, dass du diese Tricks drauf hattest und… Wer war es?“
Sie errötete leicht. „Eigentlich kann man es wirklich nicht vergleichen. Immerhin waren wir zwei damals nicht zusammen, oder? Selbst zwischen den beiden Marsangriffen gab es nie eine Zeit, in der ich gesagt hätte: Ja, wir zwei sind ein Paar.“
„Rechtfertigst du dich jetzt?“, fragte ich leise.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte nur, dass du mich verstehst. Die Zeit, als du die Hekatoncheiren verlassen hast, die Zeit als du in diesem Biotank auf OLYMP gefangen warst, die langen Jahre in denen du gegen deine partiell gelöschte Erinnerung angekämpft hast… Du warst so weit von mir entfernt, dass ich dich kaum noch sehen konnte. Ich… Es hat sich halt irgendwann ergeben, als ich mal wirklich Halt brauchte. Und wer wäre besser dazu geeignet gewesen, um mir wirklich männlichen Halt zu geben als…“
„Eikichi?“ rief ich entsetzt. „Hat Eikichi dich… Hat Vater dich…?“
Amüsiert sah sie mich an. „Nicht Eikichi. Aber jetzt wo du es sagst, es wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen. Dann wäre es ja auch in der Familie geblieben.“
„Wieso auch?“ Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Sag mir nicht, es war Makoto. Unser kleiner, süßer, Frauenkleider tragender Makoto.“
„Oh, er kann sehr männlich sein, wenn er will. Verdammt männlich.“
„Jetzt verstehe ich einiges. Warum ihr zwei euch gegenüber manchmal so kühl, beinahe schon zurückweisend wart, wenn ihr euch getroffen habt. Nein, professionell ist das passende Wort. Ihr wolltet nicht, dass die alte Flamme wieder auflodert, oder?“
„Ach, die alte Flamme ist immer mal wieder aufgelodert, Akira. Bis ich zu dir ins Haus gezogen bin, sicherlich ein paar Mal im Jahr. Aber was soll´s, wir zwei waren ja nicht zusammen.“
„Ich glaube, ich lasse mich von ihm scheiden.“
Megumi rutschte auf meinen Schoss. „Sei ihm lieber dankbar“, hauchte sie mir ins Ohr, „erstens hat er mich durch eine sehr schlimme Zeit gebracht und zweitens hat er mir ein paar von den Tricks beigebracht. Das hier zum Beispiel.“
Ich bekam sofort eine Gänsehaut, als ich Megumis Zähne an meinem Ohr knabbern fühlte. Ja, das war ein sehr guter Trick. Ich mochte ihn sehr, sehr gerne. Und Megumi auf meinem Schoss zu haben, ihre Wärme, ihre Nähe zu fühlen, war aufregend wie immer.
„Also, wer ist deine Freundin, A-ki-ra-sa-ma?“ gurrte sie mir leise zu.
„Du und nur du.“
„Na also“, stellte sie zufrieden fest, gab mir einen flüchtigen Kuss und erhob sich. „Leider muss ich mich jetzt beeilen, mein Termin bei Mitne ist gleich und ich muß noch die Uniform wechseln.“ Sie lächelte mich an. „Aber du kannst mir beim anziehen helfen wenn du willst, A-ki-ra-sa-ma.“
„Heirate mich“, rief ich spontan aus.
„Später vielleicht. Jetzt hilf mir erstmal in diese Uniform“, erwiderte sie lächelnd.
Hastig sprang ich auf, schnappte mir die nagelneue Uniform und folgte ihr ins Bad. Das Leben konnte schön sein – sogar für mich.

Eine Viertelstunde später drängte Attori bereits wieder zum Aufbruch. Megumi und ich wurden mit unseren Freunden vereinigt, und unserem Nicht so Freund Henry, und man brachte uns durch ein ähnliches Fahrstuhlsystem, wie ich es vom Turm der Arogad kannte.
Auch hier ging die Reise bis in die Spitze. Doch anstatt eines gläsernen Büros in der absoluten Spitze des Turms erwartete uns ein gewaltiger Kuppelbau, der mit verschiedenen Sitzgelegenheiten notdürftig gefüllt war, einem wuchtigen Schreibtisch, der aber angesichts der Dimensionen hier beinahe zierlich wirkte, und einem großen Konferenztisch, an dem drei Naguad saßen, zwei Männer, eine Frau, und wartend zu uns herüber sahen.
Der eine, Ältere, erhob sich erfreut, kam um den Tisch herum und eilte auf Megumi zu. Einem ersten spontanen Impuls folgend wollte er sie umarmen, ließ es dann aber doch und sagte erklärend: „Ich bin dein Großvater Mitne, Solia. Es tut mir leid, dass du so hast auf der Erde leiden müssen.“
Unentschlossen machte der alte Mann wieder einen Schritt nach vorne, dann noch einen.
Da war aber die Frau da und schloss Megumi in eine innige Umarmung. „Oh, du armes Mädchen. So lange von zu Hause getrennt und unter all diesen Barbaren von der Erde. Schrecklich.“ Sie warf mir einen taxierenden Blick zu, und ich fühlte mich seziert und bloß gelegt. DAS musste ihre Großmutter Baina sein. Auch wenn sie wie lediglich vierzig wirkte, diese Frau hatte ihren Vater geboren. Oder zumindest die Gene gespendet. Da war ich mir noch nicht ganz sicher.
„Na, wenigstens hast du dir ein anständiges Exemplar an Barbaren geschnappt“, murmelte sie nach meiner Musterung und schmunzelte.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht einmal ein halber Naguad war. Zur Hälfte war ich Erdenmensch, dank Vater. Ein Viertel und ein achtel war Naguad, und das letzte Achtel war Iovar. Megumi hingegen war hundert Prozent Naguad, mit Gütesiegel und von Angehörigen eines einzigen Hauses gezeugt. Die Stammbäume und die genetischen Wächter der Daness hatten sicherlich dafür gesorgt, dass die Verbindung ihrer Eltern nicht zu nahe in der Genetik erfolgt war.
Aber auch wenn, das Ergebnis konnte sich sehen lassen und ich wollte es nie wieder aus den Händen lassen. Und endlich, endlich hatte sie wieder Familie. Abgesehen von meinem Haushalt.

Der zweite Mann am Tisch erhob sich. Er fixierte mich ernst und forderte damit meine Aufmerksamkeit ein, während nun endlich Mitne zu seinem Recht kam und Megumi umarmen durfte.
„Sag mal, Arogad“, begann er, und seine Stimme klang ernst und arrogant, „wenn du hier bist, wenn Solia hier ist und wenn Eridia hier ist, was ist dann mit unserem geheimen Pakt? Wer beschützt jetzt die Erde?“
Geheimer Pakt? „Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen“, murmelte ich ernst.

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Ace Kaiser,
Angry Eagles

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Anime Evolution: Past
Episode sechs: Lehrgeld

1.
Müde rieb sich Makoto Ino die Augen. Verdammt, der Tag war wieder lang. Zu lang. Er schlief zu wenig und vor allem zu selten, und das machte sich langsam fatal bemerkbar.
Die Flotte, die Hekatoncheiren, die Anelph, all das lief in seinen Händen zusammen. Vor allem aber sein absolutes Sorgenkind: Die Blockadeflotte.
Sechs Long Range Area Observer, kurz LRAO genannt, trugen jeweils einen jener brandgefährlichen Torpedos bei sich, welche das Resonatorfeld verursachten. Menschen die älter als vierundzwanzig Jahre waren wurden in diesen Feldern verlangsamt. Das konnte bis zu absolutem Stillstand führen. Verließen sie das Feld wieder ohne das ihre Körpergeschwindigkeit wieder angepasst wurde, dann hatte dies den gleichen Effekt wie ein paar tausend Liter fast kochendes Wasser, das durch ein enges Gespinst aus Eisröhren getrieben wurde. Je nachdem wie stark die Menschen – oder vielmehr ihr KI – verlangsamt wurde, je nachdem wie nahe sie dem Normalzustand gewesen waren, äußerte sich das Verlassen des Feldes entsprechend verheerend.
Die Menschen wurden innerlich zerfetzt, zerrissen oder starben an Schock.
Lediglich jüngere Leute und erfahrene KI-Meister konnten dem widerstehen.
Dies vor allem war der Grund für groß angelegte Umstrukturierungen bei der Flotte und bei den Hekatoncheiren gewesen. Alle Streitkräfte, die im Kanto-System bleiben mussten, konnten mit dem Feld in Berührung kommen. Dies konnte den Tod der Besatzungen bedeuten, weshalb die UEMF, genauer gesagt seine Schwester Sakura versucht hatte, so viele Soldaten außerhalb der Risikogruppe wie möglich für Makotos Kommando zu bekommen.
Und das Ergebnis war ein verdammt junges Offizierscorps und ein verdammt junger Kader. Viele waren im Feld befördert worden und hatten wenig Erfahrung in den neuen Rängen und neuen Aufgaben.
Nun, es wurde langsam besser, aber die ersten beiden Wochen waren Makoto und sein Stab der Mittelpunkt des Kanto-Systems gewesen – und anscheinend zuständig für jede noch so dumme Frage!

Wieder rieb er sich die Augen. Es wurde besser. Auch wenn das die letzten Wochen sein Mantra gewesen war, es entbehrte nicht einer gewissen Realität. Die Fragen wurden weniger, die Entscheidungen die er endlich delegieren konnte wurden mehr. Die Verantwortung wechselte immer mehr zu denen, die sie eigentlich tragen sollten, die Offiziere der Teileinheiten. Und sein erfahrener Stab wurde nach und nach entlastet und konnte sich auf die Kommandoebene beschränken.
Lediglich die Blockadeflotte behielt er noch unter seiner persönlichen Fittiche. Die Blockadeflotte und die sechs Korvetten Alpha bis Foxtrott, die für je einen LRAO und einen Resonatortorpedo als Ausgangs- und Wartungspunkt dienten.
Müde sah der junge Offizier auf das holographische Bild von Lorania, der Welt, die sie verteidigten. Die derzeitigen Positionen der LRAO waren rot markiert und die Wirkungsbereiche ihrer Torpedos als dicke blaue Scheiben eingezeichnet worden. Vier umkreisten, der Fliehkraft gehorchend, den Äquator dieser Welt; über Nord- und Südpol hatten die Trägerkorvetten stabilen Orbit etabliert.
Von dort konnten die LRAO starten und notfalls neue Positionen einnehmen. Entweder um zu fliehen, falls dieser Notfall jemals eintrat, oder um das Feld zum Gegner zu tragen… Falls auch dieser Notfall jemals eintrat.
Bisher war die Lage ruhig und Makoto war dankbar dafür.
Weitere Schiffe der Anelph waren aus der Flotte desertiert und auf eigene Faust nach Kanto zurückgekehrt, womit die UEMF nun auf dreiundvierzig Schiffe aller Klassen zurückgreifen konnte, die ihre Verbündeten aufzubieten vermochten.
Makoto lachte rau. Soweit sie auf ihn und Kei Takahara hörten. Das war die Einschränkung.
Viele der Schiffe hatten schwer Prügel bezogen bevor ihnen die Flucht gelang und lagen nun mehr oder weniger beschädigt im Dock; über die Hälfte hatte leichte Mannschaftsprobleme, weil sie keine reine Anelph-Besatzung gehabt hatten. Das Ergebnis waren etwas über zweitausend gefangene Naguad und Angehörige weiterer Völker des weit verzweigten Imperiums, die sich in Haft befanden. Nun, das war immer noch besser als zweitausend Leichen zu haben.
Und auch wenn das Oberkommando der UEMF in Frage gestellt wurde, die gefangenen Naguad hatte man nur zu gerne zu ihm abgeschoben.

Positiv zu vermerken war, dass die Streitkräfte des Imperiums die Monde Jomma und Dipur komplett aufgegeben hatten, um sich nach Laccus zurück zu ziehen, der neunten Welt des Systems. Auf ihr befand sich das Regionalkommando der imperialen Marine. Und das regional bezog sich nicht nur auf das Kanto-System, sondern auf alle umliegenden Marken. Die Macht, die sich dort konzentrierte war enorm, nicht genug um die UEMF zu vernichten, geschweige denn die Anelph. Aber es würde reichen, ihnen ein oder zwei empfindliche Stöße zu versetzen, ein paar wichtige Schiffe auszuschalten, die sie noch bitter brauchen würden.
Auf Lorania war die Lage noch weit verfahrener. Die Naguad hatten ihre Leute nicht von dieser Welt abgezogen. Teilweise weil ihnen die Blockade dies nicht gestattete, teilweise, weil sie sich davon einen Vorteil versprachen. Außerdem arbeiteten noch immer viele staatliche Behörden mit den Besatzern zusammen. Merkwürdigerweise aber nicht der Inlandsgeheimdienst, das Auge Irams.
Zur Zeit standen sich Anelph-Miliz und Militär mehr oder weniger Auge in Auge gegenüber und wartete auf den ersten Schritt des Gegners – akribisch überwacht von ein paar Kompanien Hekatoncheiren, vor denen beide Seiten einen geradezu heiligen Respekt hatten.
Abgesehen davon, dass dies wichtige Kräfte band, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden konnten, ärgerte Makoto an dieser Situation die Tatsache, dass der erste Schuss und der erste Tote durchaus zu einem Sturm der Gewalt führen konnte, der hunderten, ach, zehntausenden Anelph und Naguad das Leben nehmen konnte. Und wie die breite Bevölkerung dann über die Terraner dachte, konnte sich Makoto bildhaft vorstellen.

Jomma und Dipur, eigentlich ein Thema für sich. Die beiden Monde waren übersäht mit zivilen und militärischen Einrichtungen, Werften und Raumhäfen, deren Kapazitäten sie nun voll nutzen konnten und es auch mussten. Aber beide Monde waren zu weit entfernt um im Notfall von detachierten LRAO mit Resonatortorpedos beschützt werden zu können. Zudem hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass nicht Megumi das Regiment führte, oder vielmehr zwei Regimenter, sondern ihre Verwandte Jora Kalis als ihr Double.
Junge, wenn das raus kam, den zusätzlichen Ärger konnte er nicht auch noch gebrauchen.
Aber im Großen und Ganzen war es das. Megumi flog Akira ins Ungewisse nach, Joan war mit ihm da draußen, ihre Band belagerte ihn Tag und Nacht, um Informationen zu erhalten.
Das war der Status Quo gewesen, bis vor drei Tagen ein eintreffender Frachter die Nachrichtenlage auf den neuesten Stand gebracht hatte.
Und zu Makotos endloser Erleichterung eine geistig gesunde und nur ein klein wenig verschreckte Joan Reilley bei einem riesigen Empfang der Naguad auf Naguad Prime gezeigt hatte.
War alles doch nicht so schlimm? Konnte sich, abgesehen von der Rebellion im Kanto-System noch einiges oder alles zum Guten wenden?
Verdammt, er vermisste Joan. Es war schön, dass Torum Acati ihr doch nicht den ganzen Verstand aus dem Hirn geblasen hatte. Oder Akira Superman hatte irgendeinen Weg gefunden, ihr das Gedächtnis wiederzugeben – bei ihm selbst hatte es ja funktioniert.
Aber er vermisste sie schrecklich und wünschte sich, sie würde jetzt, genau jetzt bei ihm sein.

„Colonel.“
Makoto sah auf. Es gab nur eine Handvoll Leute, die sich direkt zu ihm durchstellen konnten. Und jene die es konnten wussten, dass dies nur in einem Notfall geschehen sollte.
Diese Leute wussten ganz, ganz genau, wie er einen Notfall definierte.
Nun, Hitomi wusste es definitiv, und wenn sie sich direkt durchstellte, dann brannte die Luft.
„Was gibt es, Captain?“
Die junge Frau, Schülerin der legendären Fushida High, Veteranin des zweiten Marsangriffs und Weggefährtin der Troja-Mission sah ihn ernst an. Verdammt ernst. Teufel, ernst genug, dass sich Makoto wünschte, nicht im einigermaßen sicheren Kern der Axixo-Basis zu sitzen, sondern weit, weit entfernt auf dem heimischen Erdmond.
„Sir, der Frachter LOQUEN hat vor fünf Stunden das Kanto-System betreten.“
Noch so ein Problem. Die Anelph waren eine stellare Gesellschaft. Was bedeutete, sie waren zu einem großen Teil vom Außenhandel abhängig. Tausende Firmen hatten hunderttausende Verträge mit Tausenden Firmen in irgendwelchen Ecken des Imperiums. Termine mussten eingehalten, Frachten verschifft und Daten versendet werden. Positiv daran war, dass die regelmäßig eintreffenden Frachtschiffe die neuesten Nachrichten aus den Systemen mitbrachten, die sie verlassen hatten.
Negativ war, dass dieses ständige kommen und gehen die Gefahr der Infiltration immens erhöhte.
„Und?“ fragte Makoto ein klein wenig ungehalten. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar.
„Der Update kommt direkt aus dem Nag-System.“ Hitomi holte sichtbar tief Luft. „Commander Otomo hat offensichtlich vor dem Rat der Naguad im Namen der UEMF kapituliert. Vollständig und bedingungslos.“
Makoto sprang auf. „WAS, BITTE?“
„Otomo-sama hat…“
„Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden, aber glauben kann ich es nicht! Was bildet dieser Kerl sich nur ein? Oder noch besser, was plant er? Akira, Akira, warum ziehst du den Ärger immerzu an?“
„Das ist noch nicht alles, Sir. Wie Sie wissen wurde Commander Otomo von seinem Urgroßvater zum Erben des Hauses Arogad erklärt.“
„Ja, über diese Information verfügen wir seit zwei Tagen. Und?“
„Nun, Commander Otomo hat vor dem Haus Arogad kapituliert, nicht vor dem Rat.“
Tausende Gedanken gingen Makoto durch den Kopf. Die meisten davon waren zu seiner eigenen Überraschung positiv. Verdammt positiv. „Akira, du Arsch. Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt küssen oder treten würde, wenn du jetzt neben mir wärst.“
„Das ist aber noch nicht alles, Sir.“ Wieder schluckte Hitomi. Entschuldigend zuckte sie mit den Achseln. „Sir, der Vorsitzende des Hausrats, Oren Arogad, hat die kapitulierten Gebiete, also die Erde, die AURORA und alles was wir im Kanto-System erobert haben, Akira Otomo als persönliches Lehen gegeben.“
Makoto fühlte sich für einen Moment, als hätte jemand die Zeit eingefroren. Ein eiskalter Schauer ging ihm über den Rücken und eine kalte Hand griff nach seinen Eingeweiden. „Das… Das ist genial! Einfach genial! Verdammt noch mal, wir gehen von Alarmstufe eins sofort auf drei zurück. Alle können einen Gang runterschalten.“
Hitomi blinzelte verwirrt. „Sir?“
„Verstehst du denn nicht, Mädchen? Wir sind jetzt Teil des Imperiums. Dazu noch persönlicher Besitz der Arogad. Wenn uns also jemand krumm kommt, hat er eine der mächtigsten Familien direkt an der Kehle!“
„Entschuldige, wenn ich deinen Optimismus nicht teile, Mako“, erwiderte sie frustriert. „Abgesehen davon dass sie es auf der Erde überhaupt nicht gerne sehen werden, dass wir kapitulieren, und dem sicher nicht zustimmen werden, die Anelph werden nicht sehr erfreut sein, dass wir plötzlich auf der anderen Seite stehen. Und dann ist da noch Akira. Was, wenn ihm diese Macht zu Kopf steigt und…“
„Aber, aber, Hitomi-chan“, tadelte Makoto, „das mit der Erde werde ich schon regeln. Setze sofort eine Dringlichkeitsnachricht für Eikichi Otomo auf. Er muß die Kapitulation so schnell es geht verifizieren. Die Anelph brauchen eigentlich auch nur zu kapitulieren, und zwar gegenüber Akira oder einem seiner direkten Vertreter, um ebenfalls sein persönlicher Besitz, ich meine in Sicherheit zu sein. Und was das ausnutzen angeht…“
Hitomi schluckte ein drittes Mal, als sie Makotos diabolischen Blick sah. „Ja?“
„Akira ist viel zu blöde, um so eine Machtfülle zu missbrauchen.“ Übergangslos begann der Colonel zu lächeln. „Also mach dir darüber mal keine Sorgen, ja?“
„Du spinnst, Mako“, tadelte Hitomi. Mit einem Schmunzeln fügte sie hinzu: „Aber ich gebe die Nachrichten weiter. Sollen wir uns alle Naguad-Uniformen anziehen oder dürfen wir weiterhin im Weiß der UEMF herumlaufen?“
„Die Naguad-Militäruniformen sind hässlich“, schloss Makoto.
„Alles klar. Dann gehe ich mal ein ganzes System ins Chaos stürzen, Colonel.“
Die Verbindung erlosch und Makoto stöhnte unterdrückt. Nicht nur das Akira mal wieder seinem Ruf gerecht wurde, wirklich, wirklich Mist zu bauen, nicht nur das er sich mal wieder nicht mit einfachen Lösungen zufrieden gegeben hatte – mit dieser Nachricht hatte er Makoto mindestens für weitere zwanzig Stunden von der nächsten Schlafperiode fortgerückt. Das war das Schlimmste daran.

2.
Nachdenklich betrachtete Eikichi Otomo die schriftliche Order auf seinem Schreibtisch. Seit fünf Tagen lag sie da und er hatte nicht gewagt, sie auch nur anzufassen, so heiß erschien sie ihm. Nach anfänglicher Unordnung, ja, nach dem üblichen Chaos, das einer von Akiras Aktionen folgte, hatten die Anelph tatsächlich kapituliert und sich Aris Arogad ergeben.
Damit war das gesamte Kanto-System – wenn die Naguad-Rechtsexperten zustimmten – das persönliche Eigentum seines Sohnes.
Und vor ihm lag der Gegenstand, der dessen Eroberung zwei weitere Glanzstücke zuordnen würde, die Kapitulationserklärung von Erde und Mars.
Es fehlte nur noch seine Unterschrift. Die Streitkräfte waren seit Tagen informiert und die Bevölkerung wurde von den Medien immer wieder auf die Vorteile hingewiesen wenn Blue Lightning das Sol-System als sein persönliches Eigentum schützen konnte.
Akut wurde es sowieso frühestens sobald Naguad-Einheiten oder deren Verbündete in den Bereich eindrangen, den die Erde als Sicherheitsparameter betrachtete, also alle umliegenden Systeme. Und selbst dann würde die Kapitulation nur auf dem Papier existieren, geboren um den Truppen im Kanto-System Zeit zu erkaufen und der Erde ein wenig Legitimität zu geben.
Denn wenn wirklich alles schief ging was schief gehen konnte, dann würde man den neuen Machtzuwachs von Haus Arogad als Gefahr verstehen, versteckte Rebellion oder Abspaltung vom Imperium. Und dann wurde es erst richtig ungemütlich.
Aber jeder Tag, jeder verdammte Tag den sie dadurch gewannen, half die Flotte auszubauen, die Mannschaften auszubilden. Drei Bismarck lagen auf Kiel, eine würde noch diesen Monat fertig werden. Mit einer gut trainierten Mannschaft konnte sie das entscheidende Zünglein an der Waage sein.

Das Dokument vor ihm, es brauchte nur noch seine Unterschrift. Alles in ihm widerstrebte dem Gedanken zu kapitulieren. Alles in ihm widerstand dem Gedanken, ausgerechnet seinen größten Feinden nun doch noch die Erde in die Hände zu spielen. Alles in ihm…
Verdammt, verdammt, verdammt. Wieso hatte alles so kommen müssen?
Nachdenklich betrachtete der große Japaner seine Hände. Er selbst hatte ein paar dünne Tropfen Naguad in seinen Genen, das stand schon lange fest. Zudem hatte ihn Futabe-sensei vor siebzig Jahren so weit ausgebildet wie er gehen wollte und konnte. Wenn er einen Spiegel gehabt hätte, dann hätte ihn ein Mann angelächelt, der bestenfalls aussah wie Ende dreißig, trotz der weiß gefärbten Koteletten. Und seine Lebenserwartung war mit den achtzig Jahren, die er schon hinter sich hatte, noch nicht einmal ansatzweise erreicht. Tausend Jahre konnten es durchaus noch werden.
Verdammt, tausend Jahre, die er eigentlich hatte mit Helen verbringen wollen. Eigentlich.
Eikichis Hände krampften, ballten sich zu Fäusten.
Alles was ihm nun geblieben war, das war seine ursprüngliche Aufgabe wahr zu nehmen und die Erde zu verteidigen.
Nur auf einem vollkommen anderen Level als damals.

Als der Alarm aufgellte, sah Eikichi nicht einmal auf. Es hatte so kommen müssen. Ja, er hatte es sogar herbeigesehnt. Eindringlingsalarm. In diesem Moment mussten hunderte Kommandosoldaten aus dem sieben Aufzügen fluten, die OLYMP mit der Titanen-Station verbanden. Zugleich würden ein, zwei Fregatten, die geheimnisvolle Zwischenlandungen auf der Erde gemacht hatten und nun am OLYMP angedockt waren, weitere zwei- bis vierhundert Eliteinfanteristen entlassen, zum Sturm auf die Zentrale der UEMF. Zum Sturm auf ihn.
Das Personal des OLYMP hatte klare Anweisungen, die eigenen Leben zu retten und sich nicht auf Kämpfe einzulassen. Wächter hatten sich zurückzuziehen, Zivilpersonal sich zu ergeben. Eikichi stellte sich vor, wie dieser Umstand den Angreifern vollkommen egal war, wie sie wild auf alles schossen, was nicht ihre Uniformen trug. Wie sie in einem See aus menschlichem Blut bis zur Zentrale wateten und dort jeden erschossen, den sie antrafen.
Nein, das würden sie nicht tun. Genauso wie es eine Eroberung war, so war es auch eine Image-Aktion. Diese Infanteristen, waren es Russen, Amerikaner, Franzosen?
Ihr Auftrag lautete sicherlich zu verhindern, dass die UEMF kapitulierte und die Kontrolle der Erdverteidigung in qualifiziertere Hände als die seinen zu legen.
Etwas tun, was der Rat der UEMF in den letzten fünf Tagen mehrfach zurückgewiesen hatte.

Auf dem Gang vor seinem Büro wurde geschossen, aber die Schüsse wurden nicht erwidert.
Schwere Militärstiefel rannten an seinem Büro vorbei, mitten in die Zentrale.
Eikichi dachte an das Fachpersonal, das dort gerade Dienst tat. Die meisten von ihnen waren schon dabei, seit die UEMF zur Abwehr der Daishis gegründet worden war. Sie kannten ihren Dienst und sie sahen ihn als große Ehre an. Sie waren die Fähigsten der Fähigsten. Ihnen würde nichts passieren, denn ohne sie würde die Erdverteidigung auf Monate im Chaos versinken. Das gleiche würde auch passieren, wenn diese Soldaten die Kooperation verweigerten.
Eikichi lächelte dünn. Es lief mal wieder alles auf ihn hinaus.
„Entschuldige, Akira, aber diesmal bin ich im Mittelpunkt“, murmelte Otomo amüsiert.

Dann wurde das Schott zu seinem Büro geöffnet, schwarz maskierte Bewaffnete drängten herein und legten auf ihn an. Der Befehl an ihn sich nicht zu bewegen erklang auf sieben verschiedenen Sprachen.
Respekt. Die Staaten, die sich bisher nicht der UEMF angeschlossen hatten, konnten zumindest untereinander eine Zusammenarbeit bewirken. Das ließ doch für die Zukunft hoffen.
Eikichi ignorierte den Befehl und sprang auf.
Die vordere Reihe der Schützen wich angstvoll zurück, ein Teil drängte wieder auf den Gang zurück.
„Wer ist hierfür verantwortlich?“, blaffte der Japaner laut.
Langsam öffnete sich die Reihe und einer der Männer trat vor. Er öffnete Schutzmaske und nahm die Kapuze ab. „Major Stafford, Army Ranger. Ich erkläre Sie hiermit für verhaftet und Ihrer Position enthoben, Otomo. Jemand, dem die Verteidigung der Erde wirklich am Herzen liegt, wird für Sie übernehmen.“
„Ich… verstehe. Meine Leute?“
„Die Aktion war nicht gegen den OLYMP gerichtet. Nur gegen den inkompetenten Befehlshaber. Niemandem ist etwas passiert. Wer kooperiert wird seinen Posten behalten. Wer nicht kooperiert wird ausgetauscht.“
„Ich… verstehe.“
„Drehen Sie sich jetzt um und legen Sie die Hände an die Wand, Eikichi Otomo. Meine Männer werden Ihnen Handschellen anlegen. Danach werden wir Sie von der Plattform schaffen.“
„Sikorsky wird es nicht zulassen, dass Sie die Titanen-Station dafür benutzen.“
„Commander Sikorskys Kooperation brauchen wir nicht. Wir schaffen Sie mit einer Fregatte fort. Nun drehen Sie sich langsam um, Otomo.“

Eikichi schmunzelte. Die Situation hatte etwas Unwirkliches. Nun, drei Viertel seines Lebens hatte aus unwirklichen Situationen bestanden, wenn er es sich eingestand.
„Es ist einer der letzten beiden freien Legaten, richtig? Er hat den Plan ausgearbeitet und einige unserer Verbündeten und Blockfreie zu dieser Aktion verführt.“
„Darüber liegen mir keine Informationen vor“, sagte der Major schroff. Es war offensichtlich, dass er log.
„Nun, Sie sollten sich vor allem über eines im Klaren sein. Jetzt wo die Naguad kein Interesse mehr haben mit den Legaten zu kooperieren, werden sie sich den Cores zuwenden.“
„Die Core-Zivilisation wurde nicht verifiziert. Propaganda Ihres Sohnes.“
„So schlau ist Akira nicht“, wandte Eikichi ein und erntete ein paar Lacher.
„Das stimmt nicht. Ich habe mit ihm gekämpft“, meldete sich einer der Maskenträger zu Wort. „Er kann verteufelt viel, wenn er es nur will.“
„Auch wieder wahr“, erwiderte Eikichi und lächelte teuflisch.
Ja, die Situation jetzt war wie viele in seinem Leben. Und meistens waren die Unwirklichkeiten mit Faszination verbunden gewesen. Seine größte Faszination aber…
Eikichis Gedanken schweiften zurück, zurück in eine ferne Vergangenheit, in eine Zeit bevor der OLYMP überhaupt in seinen kühnsten Träumen existierte.
**
Ein Matsuri war immer etwas Besonderes. Für den fünfjährigen Eikichi bedeutete es jede Menge Süßigkeiten, noch mehr zu essen, viel zu staunen und vor allem die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern Ryuji und Nanako.
Tintenfisch am Spieß, Zuckerwatte, Natto, das Matsuri war groß und bunt.
„Schling nicht so, Eikichi. Du verdirbst dir noch den Magen“, tadelte Vater. Er war groß, stolz und ernst.
„Nun lass ihn doch, Ryuji. Aber nach der Zuckerwatte ist Schluss, kleiner Mann.“
Seine Mutter war ebenfalls groß. Groß, schlank und unglaublich schön. Und sie war so sanft und nett und warm. Der kleine Eikichi hielt ihr die Zuckerwatte hin. „Abbeißen?“
Mit einem warmen Lächeln kniete sie sich in ihrem Yukata herab und biss eine kleine Ecke aus dem weißen Gespinst.
Eikichi lachte über das ganze Gesicht, dann hielt er sie seinem Vater hin.
Der große Mann seufzte genervt, beugte sich vor und biss genau die Stelle ab, an der Nanako zuvor geknabbert hatte.
Mutter errötete und Vater lächelte sie an.

„Na, wenn das nicht die Otomos sind.“
Vater sah wieder auf, erkannte die Neuankömmlinge und verbeugte sich knapp. „Berger-sama. Yodama-sama.“
„Lassen Sie doch dieses Sama weg, mein guter Ryuji-kun“, tadelte der Mann mit den braunen Haaren lächelnd. „Wir sind nicht auf der Arbeit.“
„Gewiss, Berger-sama, aber…“
„Sie sind Ryuji Otomo?“, sagte die Frau neben Berger überrascht. „Sie sind ja genauso wie Michael Sie immer beschreibt. Es freut mich Sie kennen zu lernen. Und das ist Ihre Frau Nanako? Wenn ich so hübsch wäre, würde ich einen Massenauflauf an Männern hinter mir her ziehen.“
Mutter errötete. „Nicht doch, Yodama-sama.“
Die große, schlanke Frau neben Michael Berger war noch größer als Mutter und auch wunderschön. Nicht so schön wie seine Mutter, fand er. Aber…
„Und das ist Eikichi, hm?“ Michael Berger ging in die Knie, damit er mit dem Fünfjährigen auf einer Augenhöhe war. „Ich erwarte von dir eine ganze Menge, junger Mann.“ Mit diesen Worten tätschelte er dem Kind den Kopf, und das machte Eikichi unglaublich stolz. „Jawohl, Michael!“
Mutter hüstelte erschrocken und Vater setzte zu einem Tadel an.
„Das ist in Ordnung“, sagte Berger lächelnd. „Ich bin Deutscher. Wir kennen das sama und die anderen Anhänge nicht. Also, Eikichi, es freut mich dich kennen zu lernen.“
„Apropos kennen lernen“, sagte die große schlanke Frau und langte hinter sich. Sie zog einen widerstrebenden kleinen Menschen hervor, der ebenfalls braune Haare wie Michael hatte und genauso alt zu sein schien wie Eikichi.
Mit mütterlicher Geduld schaffte es Yodama-sama, den kleinen Mensch vor sich zu stellen. „Das ist unsere Tochter Helen. Sie ist vier. Komm, sag Hallo zu Eikichi, Mädchen.“
„Ha-hallo“, haspelte sie hervor und verschwand wieder hinter ihrer Mutter.
„Verzeihen Sie, aber das Mädchen ist so schüchtern. Ich hoffe das gibt sich mit der Zeit.“
Eikichi sah zu ihr herüber. „Das ist aber ein schöner Name. Ist der auch japanisch? Willst du von meiner Zuckerwatte, Helen?“
Das kleine Mädchen trat wieder hervor, beäugte ihn neugierig. „Zuckerwatte?“
Triumphierend hielt Eikichi ihr seine Süßigkeit hin.
Helen kam ganz hervor, trat direkt vor Eikichi und biss zaghaft von der weißen Masse ab.
„Oh!“, machte sie erstaunt. „Das ist aber lecker.“
„Ach, das ist ja noch gar nichts. Hast du schon mal Tintenfisch gegessen?“
„Tintenfisch?“
Eikichi streckte ihr die Hand entgegen, welche sie zögernd ergriff. „Komm, ich zeig dir wo es sie gibt.“
Unter dem freundlichen Gelächter der beiden Paare eilten die beiden Kinder davon.

Michael wurde für einen Moment ernst. „Shinnosuke.“
Neben ihm erschien ein Mann in einem europäischen Anzug, als wäre er dort materialisiert. „Tono.“
„Habe ein Auge auf die beiden.“ „Tono!“
Ryuji winkte mit einer Hand. Neben ihm erschien ein Europäer in einem ähnlichen Anzug. „Karl, nur um sicherzugehen solltest du auch auf sie aufpassen. Wenn sie getrennt werden hat jeder einen Aufpasser.“
Michael Berger nickte zustimmend.
Der Europäer verneigte sich leicht. „Otomo-sama.“
In einem kurzen Augenblick verschwand der Mann.
Wissend lächelten sich die beiden Paare an, bevor sie gemeinsam weiter über das Matsuri schlenderten.
„Was übrigens das Projekt Hokkaido angeht, mein lieber Ryuji…“
„Michael, kein Wort von der Arbeit. Das hast du mir versprochen“, tadelte Eri.
„Ist ja gut. Ich kapituliere, mein Schatz.“ Sie lachten zusammen.

3.
Ein heißer Windhauch weckte Eikichi aus einem schwarzen Abgrund ohne Träume. Sofort war der junge Mann hellwach. Das Zimmer war dunkel, kein Geräusch war zu hören.
Langsam glitt er unter der Bettdecke hervor, raffte das Schwert an sich, welches neben ihm geruht hatte und erhob sich. Offizier wollte er werden, den Samurai nacheifern, auch wenn seine Eltern dagegen waren. Es gab wichtigeres, behauptete seine Mutter immer wieder.
Vater schwieg dazu einfach. Aber im Moment war Eikichi froh, das er das schwere Kavallerieschwert neben sich gelegt hatte. Eine dunkle Ahnung machte ihm zu schaffen und der Griff um den blanken Stahl half ihm sich zu sammeln.
Leise schlich der junge Mann auf den Gang hinaus. Die Lehrstunden mit Futabe-sensei machten sich bezahlt, fand er. Lautlos und elegant huschte er durch die Dunkelheit, eigentlich eine Fähigkeit die er sich angeeignet hatte, um nachts noch etwas zu essen aus der Küche stibitzen zu können. Diesmal aber diente sie einem anderen Zweck.
Aus dem Raum seiner Eltern schien eine dunkle Aura hervor zu quellen. Etwas Finsteres, Bedrohliches. Auch wenn er nun schon achtzehn war, wenn Eikichi ohne triftigen Grund hier hereinplatzte, würde es Ärger bedeuten. Andererseits marterte ihn die Ahnung, die Angst. So leise wie möglich öffnete er die Tür einen Spalt breit – und erstarrte.

Tausende Emotionen gingen ihm durch den Geist, durch den Verstand, lähmten ihn, drückten ihn nieder, peitschten ihn auf, rissen ihn entzwei.
Seine Eltern lagen auf ihren Futons, die Augen weit aufgerissen und gebrochen. Blut floss über den Boden. Im Hintergrund des Zimmers lagen weitere leblose Gestalten, aber Eikichis Aufmerksamkeit wurde von dem einzigen Menschen gefesselt, der aufrecht stand.
Schwer atmend, auf seine Eltern herab starrend, in der Hand ein Katana, von dem Blut herab floss.
Seine Eltern waren tot. Und dies war ihr Mörder!
Mit einem Aufschrei riss er die Tür auf, zog die Klinge blank und sprang den Gegner an.
Sein Feind fuhr herum, die himmelblauen Augen hinter der Kapuze fixierten ihn, weiteten sich, dann kam das Katana hoch und wehrte den schlanken Kavalleriesäbel Eikichis ab.
Geblockt. Aber das war erst der erste Schlagabtausch gewesen! Er gab Druck auf die Klinge, schob seinen Feind vor sich her, und als seine Wut den Höhepunkt erreichte, da presste er den Maskierten mit einem KI-Schlag von sich fort, ließ ihn gegen die Wand schlagen.
Ein dumpfer Laut des Entsetzens erklang, dann sackte die Gestalt in sich zusammen.

„Eikichi“, erklang hinter ihm eine röchelnde Stimme.
Der junge Mann fuhr herum. „Karl! Karl, was ist hier geschehen?“
Er eilte zu dem Mann, der blutend an der Wand lehnte. Ein fürchterlicher Schnitt ging durch seinen rechten Arm, ein weiterer quer über seinen Bauch. „Karl, halte durch! Ich lasse Futabe-sensei rufen!“
Doch der deutsche Gefolgsmann umklammerte den linken Unterarm des jungen Mannes. „Eikichi. Hör mir jetzt genau zu! Deine Eltern sind tot, im Schlaf gemeuchelt. Der Mann, der dies zu verantworten hat, ist Juichiro Tora, unser ewiger Feind! Eikichi, jetzt wo deine Eltern tot sind, musst du das Familienerbe übernehmen! Jetzt musst du den Yodamas dienen, wie dein Vater und deine Mutter es getan haben! Es geht um die Sicherheit einer ganzen Welt, nicht nur um die Familie, nicht nur um Japan!“
Erschrocken sah Eikichi fort – und erkannte wie sein Gegner langsam hochkam. Wieder fixierten ihn die himmelblauen Augen. Dann schleppte sich die Gestalt zum nächsten Fenster hinaus.
„Verdammt!“ Wütend blieb der junge Mann an seinem Platz, presste einen Ballen Stoff auf die stark blutende Wunde des Gefolgsmanns.
„Ich lasse dich nicht sterben, Karl. Nicht dich auch noch!“
**
Der Salon war Licht durchflutet, aber Eikichi Otomo schien es, als würde er hier im Schatten stehen und sich vor dem mächtigen Mann verbeugen, dem seine Eltern gedient hatten.
Tatsächlich schien es in dieser Welt nur zwei Lichtflecken zu geben – ihn und Michael Berger.
„Wie geht es Karl?“ fragte Michael leise, nachdem Eikichi vom Tod seiner Eltern berichtet hatte.
„Er wird es schaffen. Futabe-sensei kam gerade rechtzeitig.“
„Ah, Futabe. Ein sehr großer Mann und ein formidabler KI-Meister. Einer der besten, den die Erde aufbieten kann. Es beruhigt mich zu hören, dass… Es tut mir Leid, was mit deinen Eltern geschehen ist. Aber ich bin sehr dankbar dafür, dass du am Leben bist, mein Junge.“
Eikichi senkte den Kopf. „Ich habe den Attentäter entkommen lassen. Karl hat vier von ihnen getötet, aber den fünften, um den ich mich kümmern musste, den ließ ich entkommen.“ Wütend schnaubte Eikichi Otomo aus.
Michael Berger runzelte die Stirn. „Aber deshalb bist du nicht den ganzen Weg nach Dresden gereist, mein Junge.“
„Nein, Tono. Ursprünglich bin ich hergekommen um Sie zu bitten, mich den Platz meines Vaters einnehmen zu lassen.“
„Ryuji und Nanakos Platz. Sie haben beide für mich gearbeitet. Schwer gearbeitet. Nicht zuletzt deswegen, damit du in einer guten Welt leben kannst, Eikichi.“
„Aber ich habe nachgedacht und bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich es nicht kann. Noch nicht kann.
Tono. Wer ist Juichiro Tora?“
Michael Berger zuckte zurück. „Woher kennst du diesen Namen?“
„Karl sagte, die Mörder seien von ihm geschickt worden. Wer ist er? Was will er?“
„Juichiro Tora… Er ist ein sehr mächtiger Mann. Ein großer Krieger und viele sagen, er sei ein Magier. Er ist sehr reich und kaum zu fassen. Sehr vorsichtig. Ich habe versucht ihn töten zu lassen und es auch einige Male selbst probiert, aber bisher war er mir immer einen Schritt voraus. Was er will? Er will die Menschheit versklaven. Und dies auf dem furchtbarsten Weg, den ich mir vorstellen kann. Hm, Eikichi, was denkst du darüber, auf ewig in einem Tank eingesperrt zu sein, während Tora die Kraft deines Gehirns für seine bösen Pläne benutzt?“
„Auf ewig?“
„Oh du würdest in so einem Tank nicht altern. Du wärst nahezu unsterblich, solange dein Körper versorgt wird. Aber du wärst gefangen.“
Eikichis Hände krampften sich. „Eher würde ich sterben.“
„Das ist auch meine Antwort“, murmelte Michael nachdenklich. „Ich lehne dein Angebot ab.“
Eikichi sah auf. „Was?“
„Ich lehne es ab, dass du in meine Dienste trittst. Du bist nicht so weit. Noch nicht. Eikichi. Ich verlange von dir, dass du Karriere beim Militär machst. Wenn du Oberst bist, sprich noch einmal vor.“ Michael sah den Mann ruhig und entschlossen an. „Werde Oberst binnen eines Jahrzehnts.“
„Ich habe mich noch gar nicht entschieden, euch zu dienen, Tono!“ begehrte der Japaner auf.
„Stimmt. Aber ich habe mich bereits entschieden, dich nicht anzunehmen. Kehre nach Japan zurück. Das Familiengeschäft überlasse Karl. Ich kümmere mich um weitere fähige Leute. Konzentriere dich voll und ganz darauf, ein fähiger Offizier zu werden.“
„Tono, ich…“
„Ich brauche einen Eikichi Otomo, der ein guter Offizier und Anführer ist.“
„Tono, zum Militär wollte ich sowieso. Aber zuerst wollte ich Juichiro Tora finden und vernichten!“
Michael Berger nickte. „Und damit du das kannst, brauchst du Macht. Toras Einfluss erreicht sogar die Armee. Du wirst von innen herausfinden wie stark er wirklich ist. Und du wirst diesen Einfluss vernichten.“
Erkenntnis glomm in den Augen des jungen Mannes. „Ich verstehe, Tono.“
„Und wenn die Zeit dafür reif ist, dann werden wir ich von allen Seiten ergreifen und ihn zerquetschen!“ Wütend ballte Michael eine Hand zur Faust und Begeisterung durchflutete Eikichi. „JA, TONO!“

„Vater? Wer ist dein Gast?“
„Oh, Helen, komm herein. Eikichi Otomo ist hier.“
„Eikichi? Ich… ich will nicht stören.“
„Helen?“ rief Eikichi erstaunt. Zuletzt hatte er die junge Dame gesehen, als sie ein zwölfjähriges Mädchen gewesen war. Das war lange, sehr lange her und er war sehr gespannt, wie sie nun aussah.
„Du störst nicht.“ Michael winkte den jungen Japaner zu sich. „Wir wollten gerade Kaffee trinken. Geselle dich doch zu uns.“
Eikichi trat zu Michael herüber in den möblierten Wintergarten.
Zögerlich trat die junge Frau zu ihnen. Sie war schlank, groß und braunhaarig. An die braunen Haare erinnerte sich Eikichi besonders gut. Dann die Augen, beeindruckend, himmelblau. Himmelblau…
„Eikichi.“ „Was? Oh, Helen-sama, bitte, setz dich doch. Darf ich dir einschenken?“
„Eikichi, setz du dich. Du bist hier Gast. Helen wird uns die Ehre geben und uns einschenken, nicht wahr?“
Die junge Frau lächelte und Eikichi fühlte Tränen aufsteigen. Verdammt. Verdammt. Verdammt.
„Natürlich, Vater.
Es ist sehr lange her, dass wir uns gesehen haben, Eikichi. Du bist groß geworden.“
„Und du bist noch hübscher als ich dich in Erinnerung habe, Helen-sama.“
Die junge Frau wurde rot. „Ach, damals war ich zwölf und ein Kind.“
„Du bist immer noch ein Kind“, tadelte Michael lächelnd. „Zwei Stück Zucker, bitte.“
„Ja, Vater. Eikichi, möchtest du Zucker oder Milch?“
„Wir können auch Tee ordern. Helen war neulich in Japan und hat ein paar sehr schöne Sorten mitgebracht, als sie ihre Mutter besucht hat.“
„Japan? Warum hast du mich nicht besucht, Helen-sama?“
„Lass doch dieses Helen-sama“, tadelte sie ihn. „Ich… Ich wollte dich besuchen, aber es kam soviel dazwischen und…“ Unwillkürlich berührte sie ihre linke Schulter. „Und dann hatte ich noch diesen Unfall und…“ Sie sah ihm in die Augen, Mitleid heischend und flehentlich.
Bist du mir böse, schienen sie sagen zu wollen.
Unwillkürlich schüttelte Eikichi den Kopf. Nein, er war ihr nicht böse. Konnte ihr nie böse sein.
Um ihre Augen entstand ein Lächeln, das schnell ihren Mund erreichte. „Aber jetzt geht es mir besser“, schloss sie.
Eikichi nickte. Und spürte Dunkelheit in seinem Herzen aufsteigen.
**
Er hatte ein Hotel in der Stadt genommen. Und eine Fahrkarte nach Berlin in der Jacke, um so schnell wie möglich den nächsten Flughafen erreichen zu können, wenn es nötig wurde.
Im Moment aber näherte er sich dem Stadthaus der Bergers. Nicht ganz auf herkömmlichem Weg und auch nicht auf der Straße.
Er huschte eher von Dach zu Dach, verharrte in der Dunkelheit für einen Moment und suchte sich den nächsten Punkt aus, auf den er springen wollte.
Auf dem Dach selbst hatte er eine schnelle und harte Auseinandersetzung mit zwei Wächtern, die er durch K.O. für sich entschied. In nicht ganz drei Sekunden.
Nun hatte er freie Bahn. Er suchte sich den Weg zum Innenhof, wartete die Wache ab und ließ sich hineinfallen.
Das Fenster, welches er heimlich am Nachmittag präpariert hatte, erlaubte es ihm, lautlos einzusteigen.
Von dort zu seinem Ziel im ersten Stock war es wieder ein kleiner Spießrutenlauf. Wie er erwartet hatte, waren die Wachen von Michael die besten. Aber Eikichi war weit mehr als ein verzogenes Rotzgör, das auf Kosten der Eltern weitab der Realität lebte.

Er erreichte sein Ziel, eine kleine Zimmerflucht und drang lautlos ein.
Innerhalb des Raumes löschte er seine Präsenz wie Meister Futabe es ihm tausendmal gezeigt hatte. Sein KI reduzierte sich auf ein Minimum und ein paar Spritzer aus einem der Parfumflakons vor der Schminkkommode überdeckten seinen Eigengeruch mit einem Duft, den sein Ziel gewohnt war. Tatsächlich hatte sie dieses Parfum heute selbst aufgelegt.
Derart gerüstet schlich Eikichi in das Schlafzimmer.
Dort lag sie, zusammengerollt unter der Decke, das offene Haar wie eine Flut mit eigenem Leben auf das große Kissen drapiert. Die Augen, die verräterischen himmelblauen Augen geschlossen. So wie sie da lag und friedlich schlief, da gab es keinen Augenblick, in dem Eikichi ihr etwas Böses zutraute. Sei es in Tat oder Gedanken.
Dennoch. Leise huschte er zum Bett herüber und mit einem entschlossenen Griff bedeckte er ihren Mund mit seiner Linken.
Erschrocken riss Helen Yodama die Augen auf, sah ihn an mit den himmelblauen Augen. Doch anstatt zu versuchen zu schreien trat ein Bein nach ihm!
Eikichi lächelte dünn und konterte mit seinem eigenen rechten Bein. Mehr noch, er trat hart zu und stemmte beide ihrer Beine gegen die Matratze.
Nun kamen ihre Arme ins Spiel, doch Eikichi bereitete es wenig Mühe sie mit rechts zu packen und gegen ihren Leib zu drücken.
„Die Augen haben dich verraten“, sagte er leise. „Die Augen des Attentäters, der über dem Bett meiner Eltern stand, mit dem blutbefleckten Schwert in der Hand. Das warst du, nicht wahr?“
Nun wurde die junge Frau ganz aufgeregt, stemmte sich gegen Eikichis Griff, doch der war unerbittlich.
„Du warst es, oder?“
Schließlich nickte sie. Tränen flossen ihre Wangen hinab und undeutlich hörte er sie seinen Namen murmeln.
„Was soll ich jetzt mit dir machen, Helen-sama? Soll ich dich ersticken? Oder soll ich es riskieren und schnell mein Schwert ziehen? Wie soll ich dich töten?“
Ihre Augen brachen, als er dies sagte. Ihr Blick wurde nicht verzweifelt, nicht ängstlich. Nein, sie brachen. Sie brachen auf die Art eines Menschen, der eine große Chance verpasste, der sich in sein Schicksal ergab.
Für einen winzigen Moment fragte sich Eikichi ob es vielleicht richtig war, die Hand von ihrem Mund zu nehmen und ihr die Chance auf Verteidigung zu geben. Aber hatten seine Eltern diese Chance gehabt?
Blitzschnell riss er die Hand von ihrem Mund, ließ ihre Hände fahren und griff nach seinem Kavalleriesäbel, erwartete ihren Schrei und zog die Waffe blank. In einer eleganten Geste ließ er die Klinge auf ihre Kehle niederfahren.
Doch sie schrie nicht, im Gegensatz zu ihm, dessen Stimme durch das ganze Haus hallte.

Dann war es vorbei. Eikichi wusste es mit einer Endgültigkeit, die sonst nur der Tod brachte.
Er ließ den Degen fallen und strich über Helens blasse Wangen. Tränen rannen nun seine eigenen Wangen herab und fielen auf ihr Gesicht.
„Ich kann es nicht“, hauchte er. „Du hast meine Eltern getötet, aber ich kann es nicht. Ich kann sie nicht rächen. Nicht, wenn du es bist.“
Sie sah zu ihm auf, berührte seine Wange. „Eikichi, ich…“

„YODAMA-SAMA!“
„Geh!“ rief sie ihm zu und deutete auf ein Fenster.
Eikichi verstand. Er ergriff seinen Säbel und sprang durch die Glasscheibe nach draußen. Kurz darauf wimmelte es in ihrem Raum nur so von Wächtern.
Einer von ihnen wollte ebenfalls aus dem Fenster springen.
„Nein, Onkel Seg, es war nur…“
„Es war nur der junge Otomo, hm?“ murmelte ihr Vater. „Was für eine ungestüme Art für ein Rendezvous.“
„VATER! Das war kein Rendezvous! Das war…“
Michael tätschelte seiner Tochter den Kopf. „Ich weiß. Aber so sind die Männer nun mal. Finde dich damit ab, dass es kaum einen unter ihnen gibt, der kein Idiot ist. Und die, die es nicht sind, sind keine Männer.“
„Vater!“ tadelte sie wieder.
„Wie dem auch sei, hier kannst du nicht schlafen. Nicht bei einem zerbrochenen Fenster. Komm, du kriegst einen Gästeraum.“
„Ich glaube nicht, dass ich noch schlafen will“, murmelte sie leise. Wehmütig sah sie auf das zerbrochene Fenster. „Warum muß es so sein?“
Michael lachte. „Weil du es nicht anders verdient hast. Warum soll es dir besser gehen als allen anderen?“
„Vater!“

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4.
„Zum Militär gehen, hat er gesagt! In zehn Jahren Colonel werden, hat er gesagt“, zischte Eikichi Otomo, während er sich in Deckung begab. In der Allgemeinsprache würde es wohl eher heißen, er drückte sein Gesicht in den Dreck. Und den Rest dazu.
Colonel war er nun, nach nicht einmal sieben Jahren. Dabei geholfen hatten ihm diverse tote Vorgesetzte, die ersetzt werden mussten – und ein massiver Krieg mit der halben Welt.
Hinter und neben ihm zischten die Kugeln der amerikanischen MGs durch den Dschungel, rissen Zweige, Blätter, japanische Körper und Knochen auseinander.
Es kam nicht oft vor, dass Eikichi sich hilflos vorkam. Es kam eigentlich nie vor. Das galt aber nur, bis dieser Krieg begonnen hatte.
Dieser Krieg, der ihn letztendlich bis hierher geführt hatte, eine kleine pazifische Insel namens La Cava, auf der sein Kommando von überlegenen Feindkräften zusammen geschossen wurde.
Weckt nicht den schlafenden Riesen, hatte man ihn einst an der Militärakademie gelehrt. Leider schienen seine Vorgesetzten genau das getan zu haben.
Zwei Zeros der japanischen Luftwaffe stürzten aus dem Morgenhimmel herab und feuerten ihre Bordwaffen auf die vorrückenden amerikanischen Truppen.
„JETZT!“ rief Eikichi und scheuchte damit seine Leute auf die Beine. „LAUFT!“
Der Strand war nicht besonders weit entfernt, lediglich einen guten Kilometer. Keine besonders große Strecke, aber unter Beschuss und mit einer Übermacht im Nacken beinahe unüberwindlich. Der Strand, die Evakuierungsboote, sie mussten ihn erreichen. Dann waren sie im Deckschatten der Geschütze eines Kreuzers, der ihnen soviel Zeit erkaufen konnte wie nötig war, bis alle Überlebenden den Strand verlassen hatten.
Seine Leute sprangen auf, einige feuerten auf die Amerikaner, aber alle rannten in Richtung Strand.
Links neben Eikichi wurde einer seiner Unteroffiziere von hinten getroffen, der junge Rekrut, der zwischen ihnen lief, schien durch die Luft geschleudert zu werden, während das Blut in Fontänen aus seiner Brust austrat.
Das nächste Opfer dieser Salve würde er selbst sein, das erkannte Eikichi Otomo mit seltener Klarheit.
Er wirbelte herum und die Welt verlangsamte sich für ihn. Er sah die Kugeln näher kommen, sah, wie sie sich rotierend durch die Luft heran schraubten, wie sie die Luft in kleinen Druckwellen von sich fort drückten… Und hinter den Kugeln, glaubte er den MG-Schützen sehen zu können, direkt in seine Augen.
Dann waren die Kugeln heran. Eikichi versuchte die Arme hoch zu reißen, aber…

Aber er war nicht mehr im Dschungel der subtropischen Insel. Er lief nicht mehr mit seinen Untergebenen ums Leben. Schwer atmend stürzte er zu Boden, eine Hand auf die Brust gedrückt, die andere in den Sand gepresst.
Mühsam, erst nach Minuten des Atem schöpfen, kamen ihm zwei Erkenntnisse. Er lebte noch, und er war nicht mehr auf La Cava.
Langsam hob er den Kopf.
„Keine Sorge. Es ist noch alles an dir dran, Eikichi Otomo“, sagte eine amüsierte Frauenstimme.
Eikichi wandte sich um. Vor ihm stand eine große, schwarzhaarige Frau und musterte ihn mit einem spöttischen Blick. „Und du lebst noch, falls es dich interessiert.“
Müde ließ sich Eikichi auf den Hintern sinken. „Danke. Ich war mir nicht ganz sicher und…“ Nervös kam er wieder in die Höhe. „MEINE MÄNNER!“
„Ich sagte doch, keine Sorge“, tadelte die große Frau und drückte ihn wieder auf den Boden zurück. „Dies hier ist die Dämonenwelt. Und hier ist Zeit relativ. Du verpasst dein kleines Gemetzel nicht, wenn du hier bleibst. Nun, falls es nicht allzu lange wird.“
Sie beugte sich zu ihm herunter. „Was zu trinken, Colonel Otomo?“
„Ich bevorzuge Tai-sa, aber ja, ich hätte gerne was zu trinken, wenn es keine Umstände macht.“
Sie schnippte mit der linken Hand. „Kitsune!“
Aus einem nahen Gebüsch kroch ein Fuchs hervor, stellte sich auf die Hinterpfoten und Eikichi mit klugen Augen musterte. „Was gibt es denn, Chef?“
„Dies hier ist Eikichi Otomo. Hole ihm was zu trinken. Was soll es denn sein? Bier, Sake, Wasser, Saft, Sekt, Schnaps…“
„Ich bin mit Wasser vollkommen zufrieden“, erwiderte der Japaner.
„Das ist Eikichi-chan? Wow, den habe ich mir ganz anders vorgestellt. Wesentlich klüger. Jedenfalls klüger, als in diesen Zeiten eine Uniform zu tragen.“
„Kitsune!“ tadelte die große Frau.
„Bin ja schon weg.“

Sie kniete sich vor Eikichi auf den Boden. „Entschuldige, aber die jungen Leute sind leicht zu begeistern und schwer zu bändigen.“ Sie strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht und lächelte ihn an. „Ich bin Dai-Kuzo, die Herrin dieser Welt.“
„Dai-Kuzo? Die große Spinne?“
Die Frau lächelte. „Dai-Kuzo. Ich bin eine Dämonenkönigin.“
Misstrauisch hob der Japaner die Augenbrauen. „Hast du mich gerettet?“
„Ich habe dich hergeholt. Aber nicht gerettet. Noch nicht.“ Ihr Lächeln wurde wahrhaft dämonisch. „Retten kannst dich nur du selbst.“
„Warum bin ich dann hier?“
Dai-Kuzo runzelte die Stirn. „Ich will dir ein paar Fragen stellen. Ich muss wissen, ob du bereit bist. Michael-tono hält große Stücke auf dich. Und Eri-tono hat dich sowieso schon an Sohnes statt adoptiert. Mich interessiert einfach, ob du die Mühe wert bist und ob du die Erwartungen erfüllen kannst.“
Sie lächelte traurig. „Dieser merkwürdige Krieg wütet jetzt schon eine ganze Weile, was? Meinst du, er endet irgendwann einmal wieder?“
Eikichi dachte an die letzten Befehle, die er bekommen hatte. An die Rückzüge in letzter Zeit. An die Nachschubprobleme seiner Einheit. „Sicherlich. Kein Krieg dauert ewig.“
„Aber bis er endet, werden noch ein paar hunderttausend Menschen sterben, oder?“ Es klang wehmütig, und Eikichi erschrak, weil er diesen Tonfall nicht erwartet hatte.
„Das ist wohl richtig.“ Eikichi ballte die Hände. „Er hätte gar nicht erst beginnen sollen.“
Amüsiert hob Dai-Kuzo eine Augenbraue. „Nanu? Sehe ich da einen Hauch Vernunft bei dir?“
Eikichi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ursprünglich wollte ich zum Militär, um mich zu beweisen. Meinetwegen Ruhm und Ehre zu sammeln. Das wurde egal als… Als meine Eltern im Schlaf ermordet wurden. Dann befahl mir Michael, Soldat zu werden. Ich gehorchte ihm. Aber jetzt halte ich das für keine gute Idee.
Die gesperrten Erdöllieferungen der Amerikaner, die Eroberung der chinesischen Mandschurei, der Philippinen-Feldzug, Indochina… Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ich gehört habe, dann bringt dieser Krieg das Schlimmste und das Beste im Menschen hervor. Und das vor allem bei meinem Volk, meinen Mitbürgern.“ Wütend ballte er die Hände. Würde er auf Verwundete im Lazarett schießen oder es gestatten? Würde er Zivilisten töten lassen, einfach weil sie da waren? Würde er… Würde er so tief sinken?
Was war das für ein Oberkommando, das solche Gräuel zuließ? Tolerierte und vielleicht sogar förderte? Gut, das galt für beide Seiten, in einem Krieg behielt niemand eine weiße Weste. Außer, er beteiligte sich gar nicht erst am Krieg. Aber im Moment hielt Eikichi jeden Krieg für sinnlos, bei dem nicht er selbst der Oberkommandierende war. Bei dem nicht jemand wie er so etwas wie einen Kodex vorgab.
Dass dieser Kodex wichtig war, sehr wichtig war, wusste er, wenn er daran dachte, wie unschuldige japanstämmige US-Bürger von den Amerikanern interniert worden waren, während Deutschamerikaner und Italoamerikaner dies nicht wurden.
Und wenn er an die Frontbordelle seiner Armee dachte, die mit koreanischen Frauen ergänzt wurden – gewiss nicht freiwillig - drohte ihm der Kopf zu platzen.

„Und, Eikichi Otomo? Was denkst du jetzt über diesen Krieg?“
„Er ist bemerkenswert sinnlos. Egal, mit welcher Begründung er begonnen wurde. Wir haben die Amerikaner angegriffen, weil wir glaubten sie würden verhindern, dass unsere Industrie lebensnotwendige Ressourcen bekommt. Unser Land ist arm an Bodenschätzen und reich an Erdbeben.
Die Amerikaner haben sich verteidigt und die von ihnen protégierten Gebiete zurück erobert. Sie stoppen nicht und rücken weiter vor. Und das werden sie auch noch tun, wenn sie Teile unseres Gebietes erobert haben. Ihnen geht es längst nicht mehr um Verteidigung. Unverhohlen wollen sie erobern und ihren schärfsten Rivalen im Pazifik unter Kontrolle bekommen.“
„Was nicht unbedingt schlecht sein muß.“
„Aber auch nicht gut“, konterte Eikichi. „Oder beides.“

Dai-Kuzo schwieg darauf einige Zeit.
Währenddessen kam Kitsune zurück, diesmal in Gestalt eines Menschen in einem kirschroten Kimono. Vor sich hielt sie ein Tablett, auf dem ein großes Glas Wasser stand. Sie reichte es Eikichi. „Und?“, meinte sie wie beiläufig, „was macht euer kleiner Krieg? Wie viele Menschen verwandelt ihr da draußen gerade in Krüppel? Und wie viele werden für Jahre verbittert und unversöhnlich wegen euch?“
„Kitsune-chan!“, ermahnte die große Spinne streng.
„Ist doch wahr“, maulte sie. „Wenn ein Krieg seine eigenen Ideale opfert, dann ist der beste Zeitpunkt ihn zu beenden lange schon vorbei.“
Entgeistert starrte Eikichi die Fuchsdämonin an. Nur zögerlich nahm er das Glas entgegen.
„Entschuldige bitte dieses vorlaute Gör“, sagte Dai-Kuzo ernst, während sie die Füchsin mit einem wütenden Blick fort schickte, „aber sie hat kein Recht die Handlungen der Menschen zu kritisieren, solange wir uns aus ihren Entscheidungen raus halten.“
Eikichi trank einen herrlichen Schluck kühles Nass, dann noch einen. Er sah über den Rand seines Glases zu der großen Spinne. „Ihr haltet euch aus den Entscheidungen der Menschen raus?“
„Das ist unsere Regel. Ihr Menschen habt eure Welt, wir Dämonen haben unsere Welt. Das ist hier so wie fast überall. Nun, es gibt Ausnahmen. Aber dafür seid ihr Menschen noch nicht bereit.“
„Könntet ihr Dämonen denn eingreifen? Könntet ihr zum Beispiel diesen Krieg beenden?“
„Natürlich könnten wir das. Binnen einer Woche wäre er vorbei. Wir könnten alle eure Schiffe versenken oder in ihren Häfen internieren, jeden einzelnen Mann entwaffen und nach Hause bringen. Wir könnten eure Politiker ersetzen und gegen Menschen austauschen, die in Krieg nicht das Wunderheilmittel sehen. Aber würde das etwas nützen?“
Traurig sah sie den jungen Mann an. „Einer der Gründe, warum wir unsere Kontakte mit den Menschen auf ein Minimum beschränken ist ihre Störrigkeit. Würden wir den Menschen befehlen, würden wir sie zwingen, würden sie nur trotzig werden. Eines Tages, ob fern oder nah, würden sie versuchen, uns zu besiegen. Egal ob wir Frieden und Wohlstand bringen. Egal ob wir besser regieren als ihre menschlichen Herrscher. Wir sind da, wir haben sie gezwungen. Also vernichten sie uns oder werden bei dem Versuch selbst vernichtet.
Sie sind so herrlich störrisch, diese Kurzlebigen.“
Eikichi dachte über diese Worte nach. Er dachte daran, wie in der Geschichte seines Volkes die Steinschlossflinten eingeführt worden waren, wie die Missionare als Verbündete ins Land gelassen worden waren… Und wie beides binnen von hundert Jahren ausradiert worden war.
Die Missionare hatten das Land verlassen müssen und die Feuerwaffen wurden vernichtet und nicht neu geschmiedet. Dann, Mitte des letzten Jahrhunderts, hatten die Amerikaner mit drei Kriegsschiffen den Shogun gezwungen, die Isolation Japans aufzuheben. Genauer gesagt Japan als Absatzmarkt für amerikanische Waren zu öffnen.
Es musste pure Ironie sein, dass die Wiedereinsetzung des Tennos und die damit beginnende industrielle Revolution Japan sehr gut getan hatte und sein Land binnen weniger Jahrzehnte zur führenden Macht Südostasiens wurde.
Anscheinend zu mächtig, dachte er grimmig.
Aber im Prinzip war dieses Schicksal genauso wie Dai-Kuzo es befürchtete. Japan hatte sich isoliert und mit der Außenwelt nur über einen holländischen Hafenkontor in Nagasaki gehandelt. Alle anderen Händler waren ausgeschlossen worden: Bis Perry mit seinen drei Schiffen gekommen war und die Japaner gezwungen hatte.
Was nicht hatte sein dürfen war beseitigt worden. Wie hatte sich Japan, ausgerechnet Japan der Segnung der amerikanischen Waren widersetzen können?
Es fiel Eikichi nicht schwer, dieses Gleichnis auf die derzeitigen Verhältnisse umzusetzen.
Eine Welt, in der ein erzwungener Friede herrschte, würde sich irgendwann gegen den richten, der diesen Frieden erzwang: Die Dämonen.

„Ihr könntet Menschen als Strohmänner einsetzen.“
„Und dann dabei zusehen, wie sie korrumpiert werden von ihrer Macht, von ihren Möglichkeiten? Über diesen Punkt hast du wohl nicht gut genug nachgedacht, was?“, tadelte Dai-Kuzo ernst.
„Es gibt Menschen, die nicht korrumpiert werden… Vielleicht…“
Dai-Kuzo musterte ihn wie einen Idioten. „Mein Junge. Mein guter, guter Junge. Sprich mir nach: Alle Menschen sind korrumpierbar. Und falls es dich tröstet, die Dämonen sind es genauso.“
„Wie? Seid ihr nicht auf einer höheren Stufe der Erkenntnis? Auf einer edleren Stufe des Bewusstseins?“
„Nun, so kannst du es durchaus ausdrücken, Eikichi Otomo. Wir fallen vielleicht nicht den gleichen Reizen zum Opfer wie ihr Menschen. Aber wir haben eigene Reize, denen wir erliegen können. Im Prinzip sind wir wie ihr.“
„Und was macht euch dann besser? Schlechter? Schlauer? Dümmer? Besonders? Einfacher?“
„Du solltest dringend mal einen Rhetorikkurs machen.“ Dai-Kuzo schmunzelte. „Wir sind nicht besser oder schlechter, auch wenn die meisten Dinge die euch Menschen interessieren für uns keinen Wert haben. Dafür kennen wir viele Dinge, die wir begehren, die für euch keinerlei Wert und nur wenig Substanz haben. Das ist vielleicht der Hauptgrund, warum wir so wunderbar nebeneinander leben können und Frieden halten.“ Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. „Meistens jedenfalls.“

„Ich verstehe. Ich glaube zumindest, ein kleines bisschen. Und wie passen Yodama-sama und Michael-sama da hinein?“
Dai-Kuzo strahlte ihn an. „Und schon sind wir wieder am Ausgangspunkt. Nun, unsere Beziehung zu den beiden und ihrem Gefolge ist… Delikat. Und unser gemeinsames Ziel ist etwas, was… normalen Menschen den Wunsch eingibt, sich eine Pistole in den Mund zu schieben und abzudrücken. Wenn du es genau wissen willst, gibt es noch einen Grund dafür, dass wir uns nicht in die Kriege der Menschen einmischen. Und eine wichtige Lektion, die du in diesem Krieg lernen musstest. Du hast sie gelernt, ich sehe es in deinen Augen. Aber bist du bereit, bist du wirklich bereit zu verstehen, was wir hier tun, ohne das du den Wunsch verspürst, vor deiner Zeit deinen Vorfahren zu begegnen?“
Dai-Kuzo schenkte ihm einen tiefen, zwingenden Blick aus vor KI nur so leuchtenden Augen. Es war ein Blick wie in eine Sonne, doch Eikichi konnte seine Augen weder schließen noch abwenden. Er fühlte sich nackt vor dieser Frau, bloß gelegt, aber nicht erniedrigt. Je länger er in diese Augen sah, desto mehr fühlte er sich erhoben, fühlte er Flügel auf seinem Rücken, die seinen Verstand in neue Höhen führten.
„Ich bin bereit“, zischte er. „Ich habe diesen Krieg gesehen und selten etwas Sinnloseres gesehen. Ich weiß nicht mehr wer mein Feind ist und wenn ich darüber nachdenke habe ich es vorher auch nicht gewusst. Ich sehe Leid und Tod um mich herum und weiß zu genau, dass der Verlierer dieses Krieges furchtbar wird leiden müssen. Aber vielleicht ist das nur ein kleiner Preis, um… Um diese Farce endlich zu beenden.
Dieser Krieg bringt in allen das Beste und das Schlechteste zutage, aber für welchen Zweck? Gibt es nicht einen edleren Grund, sein Leben zu wagen? Etwas, was auch Schmerzen, Tod und Verdammnis bringt, aber zum Teufel noch mal dieses Risiko wenigstens lohnt?“
„Die meisten Kriege, ach, alle Kriege sind Knochenmühlen, in denen sinnlos gestorben wird. Jeder Krieg der ausbricht, in dem gekämpft wird ist bereits verloren, sobald er begonnen hat. Verloren für jeden Menschen, der darin stirbt. Vielleicht ist das Ziel, das es zu erreichen gilt edel genug einen Tod zu rechtfertigen. Aber kein Kommandeur sollte jemals vergessen wofür ein anderer starb. Und dieses Opfer immer würdigen.
Das macht einen Krieg nicht besser, nicht verständlicher. Und es hilft nicht, ihn besser zu ertragen. Aber das ist die erste Pflicht im Krieg.
Eikichi Otomo, ich sehe das du verstanden hast. Ich werde dir jetzt etwas sagen und du wirst entscheiden ob du mehr wissen willst. Ob du bereit bist für die reine Wahrheit, für unsere Ziele und die reelle Wirklichkeit über diesen Krieg hinaus.
Michael-tono und Eri-tono sind Menschen, die auf einem anderen Planeten geboren wurden. Sie sind seit dreihundert Jahren auf dieser Welt und helfen uns Dämonen bei unserer großen Aufgabe: Die Erde zu verteidigen. Die ganze Erde und nicht nur einen Staat oder einen Kontinent.“ Sie sah Eikichi auffordernd an.
Der junge Offizier schluckte hart und nickte. „Ich will mehr wissen. Ich will die ganze Wahrheit wissen.“
**
Als die Kugeln auf ihn zurauschten, riss Eikichi Otomo die Arme hoch. KI brandete als sichtbare Aura an seinen Händen auf; er schlug nach den heißen Bleigeschossen und trieb sie aus ihren Bahnen. Seine KI-Beherrschung überraschte ihn, aber im Moment, nach all dem was er von Dai-Kuzo-sama erfahren hatte, wäre er bestimmt motiviert und stark genug gewesen, um die amerikanischen Truppen alleine auszuheben.
Er starrte auf seine Hände, während seine Gedanken sich zu ordnen versuchten. Nein. Nicht hier, nicht jetzt und nicht diese Soldaten. Eikichi warf sich herum, griff rechts zu Boden und packte seinen Rekruten und seinen Unteroffizier am Kragen. Dann schleppte er die beiden so schnell er konnte hinter sich her. „Heute wird nicht mehr gestorben, meine Herren!“

5.
Die Szenerie war gut gesetzt. Der Mond stand am Himmel, zu zwei Dritteln gefüllt, die Nacht erfüllte die Luft mit ihren Düften und Geräuschen und der Wald lag finster dar wie in einem Märchen.
Bis ein heller Lichtblitz die Szenerie erhellte. Zwei menschliche Silhouetten sprangen von Baum zu Baum, änderten ständig ihre Richtungen, blieben aber zusammen. Der Grund für die Kurswechsel waren Dutzende Kugeln, die hinter ihnen herzischten, Bäume und Laub trafen.
Danach folgten gut zwanzig weitere Silhouetten.

„Flieh!“, rief eine der fliehenden Gestalten. „Ich halte sie auf!“
„Nein, Karen, nein! Wir fliehen zusammen oder gar nicht! Vortein wird mir den Kopf abreißen, wenn dir auch noch etwas zustößt!“
„Darum geht es nicht, du Dummkopf!“ blaffte die Frau namens Karen. „Helen, du bist meine! Ich bin dein Bluthund, und es ist meine Pflicht, für dich zu kämpfen und notfalls zu sterben! Angrid… Angrid hat nur seine Pflicht getan und kam dabei um. Genau das hat Mutter auch gesagt. Genau das hat Vater auch ge… AUUUU!“
Zornig rieb Helen Berger ihre rechte Faust, mit der sie der anderen eine saftige Kopfnuss verpasst hatte. „Die Luft, die du mit reden verschwendet hast, hättest du mit laufen verbringen können! Und jetzt komm endlich!“
Helen setzte sich wieder in Bewegung und Karen folgte ihr automatisch. Wieder wichen sie Beschuss aus, wechselten erneut die Richtung.
„Wie viele sind es, Karen?“
„Drei Menschen, die KI beherrschen und achtzehn Cyborgs. Ich schätze, wir haben gefunden was wir gesucht haben! Jetzt sollten wir uns darauf konzentrieren, hier auch wieder raus zu kommen.“
„Wir. Das ist richtig“, stellte Helen zufrieden fest.

Der Verdacht, der die beiden Frauen, die beiden Naguad hier her gebracht hatte war zu heiß gewesen um ihn auf die lange Bank zu schieben. Seit Jahrhunderten jagten sie, das heißt die Dämonen und die Naguad den Magier Juichiro Tora. Und heute Nacht hatten sie vielleicht sein Versteck auf Hokkaido entdeckt.
Über die üblichen Kanäle hatten sie ihre Erkenntnis weiter gemeldet. Aber die Situation duldete keinen Aufschub. Sie hatten selbst sehen müssen, ob die Information richtig war – und wenn es die Gelegenheit zuließ hatten Helen und ihre Cousine Karen das tun wollen, was seit zweihundert Jahren regelmäßig Dämonen und Naguad misslang: Den Erzverräter töten.
Aber irgendetwas war schief gelaufen, von den heimlichen Schatten der Nacht waren sie zu Gejagten geworden.
Nun, zumindest hatten sie herausgefunden, dass der Magier seit der letzten Schlacht wieder enorm an Macht gewonnen hatte. Zeugnis davon waren ihre zwanzig Verfolger. Und auch wenn sie ihn nicht selbst fassen konnten, seine Basis zu vernichten, seine Gefolgsleute zu vernichten und vielleicht seine Ressourcen reduzieren war einen Angriff mehr als wert.

Karen sah halb nach hinten, zog ihre Pistole und feuerte zwei schnelle Schüsse ab. Die Kugeln flogen als gleißende Schemen in die Nacht hinaus und hinterließen einen Lichtblitz, als sie auf ihr Ziel trafen. „Neunzehn“, keuchte sie, wechselte erneut die Richtung und trieb Helen vor sich her. „Leider sind sie jetzt gewarnt. Das wird sie langsamer machen, aber auch schwerer zu treffen!“
Helen spürte eine Erschütterung in ihrer direkten Umgebung; etwas, was nicht in den Wald passte. Und das konnte nur ein Mensch oder ein Cyborg sein. Er umging sie seitlich und wollte von Rechts angreifen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie seinen Kugeln elegant auswich, auf einem niedrigen Ast Halt fand und sich zu einem Angriff auf den Feind katapultierte. Ihre Fingernägel glühten auf und schienen zu wachsen. Mit diesen zehn KI-Klingen fuhr sie dem Gegner über die Brust. Er verging in einer Fontäne aus Metall, Blut und Schrott.
Schnell holte sie Karen wieder ein. Sie konnten es nicht mit allen aufnehmen, nur jene vernichten die ihnen zu nahe kamen, bevor sie die beiden Frauen genug verzögert hatten, dass die Übermacht heran kam.
„Wie weit noch?“
„Unser Wagen steht einen halben Kilometer entfernt. Bete, dass sie ihn noch nicht gefunden haben“, antwortete ihre Cousine.
Helen lachte trocken. Sie stieß sich von ihrem Ast herab, rollte kurz über den Boden und lief ein paar Meter auf die Lichtung vor ihnen hinaus – und blieb abrupt stehen.

Ungläubig riss sie die Augen auf. Vor ihr stand… Eikichi?
Der Hochgewachsene Japaner hob ein großes Rohr und hievte es auf seine Schulter. Eine Bazooka?
Sie sah in seine Augen, tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wie kam er hier her? Was wollte er hier? Wo hatte er die Bazooka her, davon hätte sie auch gerne ein paar für ihr persönliches Arsenal. Litt er immer noch unter der Szene damals im Schlafzimmer seiner Eltern? Litt war in diesem Fall jedoch eine sehr starke Verniedlichung, gestand sie sich ein. Er musste sie abgrundtief hassen.
„RUNTER, DUMMKOPF!“ blaffte er sie an. Automatisch ging sie auf die Knie, und Eikichi feuerte die Panzerfaust in die Bäume ab.
Neben ihm stand ein großer grauhaariger Mann, hielt mit der Linken Karen gepackt – ausgerechnet einen ausgebildeten Bluthund der Taral – und mit der Rechten ein schweres MG, als wäre es nur eine leichte Pistole. Durch den Lichtblitz wurden menschliche Umrisse sichtbar, auf die der große Mann sofort das Feuer eröffnete.
Helen fand es bemerkenswert, dass die Waffe in seiner Hand nicht einmal zu rucken schien, geschweige denn ihren üblichen Rückschlag hatte.
Nun eröffneten auch neben und hinter Eikichi und dem großen Mann weitere Soldaten das Feuer.
Die angreifenden Menschen und Cyborgs liefen direkt in einen Hagel aus Blei.
Schon setzten sie zurück, flohen.
Eikichi zog seinen alten Kavalleriesäbel. Er sah den Weißhaarigen an, dessen MG rot nachglühte. „Karl.“
„Schon in Ordnung, Eikichi. Ich passe auf die beiden auf. Hol dir die Beute.“
Eikichi grinste schief und lief los. Seine Leute folgten ihm lautlos.
Helen richtete sich auf, sah Mündungsblitze im finsteren Wald aufleuchten, hörte grausige Schreie. Aber all das entfernte sich immer weiter von ihnen.

Karl ging vor ihr in die Hocke. Karen hatte er mittlerweile los gelassen; sie saß auf dem nassen Boden und rieb sich das schmerzende Handgelenk während sie über grobe Männer fluchte.
„Du bist mir ja ein Dummkopf, Kleines. Alleine mit deinem Bluthund ein Nest ausheben zu wollen. Willst du enden wie Angrid?“
Karens Kopf wurde knallrot und Helen duckte sich. Dies war der Mann, mit dem sie damals, im Schlafzimmer von Eikichis Eltern…
„Wenigstens warst du schlau genug, dem nächsten Posten Bescheid zu geben, wohin du aufbrichst. Eikichi war vollkommen aus dem Häuschen. Er hat alles zusammengerafft, was er auf die Schnelle kriegen konnte und ist dir hinterher. Wenn dir und Karen was passiert wäre, Mädchen, dann wäre er nie wieder froh geworden. Weißt du das?“
Helen sah den großen grauhaarigen Mann an. Übergangslos sank sie zu Boden und fiel in tiefste Finsternis.
**
Als sie erwachte, lag sie auf einem Futon. Sie war sauber, soweit sie das feststellen konnte und roch leicht nach Jasmin.
Das war Karens Handschrift, sie liebte Jasmin über alles.
Hatte sie ihrem Bluthund also doch wieder Arbeit beschert. Helen seufzte bei diesem Gedanken.
„Du bist endlich wieder wach. Das ist gut.“
Die Stimme elektrisierte sie, versetzte sie in Höhen und gleichermaßen in Panik. Sie wandte den Blick zur Seite.
Neben ihrem Futon kniete Eikichi. Er trug nun einen weißen Kimono. Neben ihm ruhte der Kavalleriesäbel, auf dem immer noch Blutflecken zu sehen waren. Ein dickes weißes Tuch aus Reispapier lag bereit.
Eikichi Otomo war etwas älter geworden, aber für seine fünfzig Jahre sah er noch sehr, sehr gut aus. Und sein Lächeln war weit intensiver als damals, als…
„Du bist jetzt in Sicherheit, Helen. Dies hier ist mein Privathaus. Karen ist nebenan bei meinen Leuten und trinkt mit ihnen Sake. Sie hat es sich verdient, denn sie hat sich von vorne bis hinten um dich gekümmert und in dieses Bett gesteckt.“ Abwehrend hob Eikichi die Hände. „Ich bin erst seit gut zehn Minuten hier.“

Die beiden musterten sich eine Zeitlang. „Wir haben den Stützpunkt ausgehoben. Aber Tora war nicht mehr da. Genauer gesagt scheint er seit Wochen nicht dort gewesen zu sein. Dennoch, ein vernichteter Stützpunkt ist ein Erfolg, den wir mit Stolz weitermelden können.“
Eikichi atmete tief ein und wieder aus. Dann sah er sie wieder an. „Apropos Stolz. Ich… Ich bin jetzt bereit und habe keine Bedenken mehr. Die Konsequenzen mögen sein wie sie wollen, ich werde sie tragen.“
Erschrocken riss Helen die Augen auf. Der Kimono war weiß! Dazu der Säbel und das Reispapier! Wollte dieser Idiot etwa Selbstmord begehen? Der japanischen Tradition des Seppuku folgen? Wollte er in den Tod gehen, weil er sie nicht töten konnte und anders sein Gesicht vor den Eltern nicht wahren konnte.
„Während ich rede werde ich…“, begann Eikichi und griff nach dem Schwert.
Helen schnellte sich vor, landete an seiner Brust und hielt seine Arme auf.
„Du Idiot!“ schluchzte sie. „Du verdammter Idiot, Eikichi! Warum lässt du mich auch nie reden? Ich habe sie nicht getötet! Du musst sie nicht rächen und du musst auch nicht für sie sterben!“
„Sterben? Für wen? Was? Worum geht es, Helen?“
„D-deine Eltern! Als ich damals mit Karl im Schlafzimmer deiner Eltern war, da hatte ich sie retten wollen! Aber ich kam zu spät, ich konnte nur noch Karl retten und die letzten beiden Attentäter töten. Als du dann rein kamst, da… Du hast dich nicht beruhigt und ich bekam es mit der Angst und… Als wir uns dann in Dresden gesehen haben da… Als du in meinem Zimmer standest da war ich bereit zu sterben, wenn nur du es bist, der mich tötet. Du musst nicht sterben, Eikichi! Und wenn doch, dann nimm mich mit dir!“
Der Soldat starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Kiefer war nach unten geklappt. Dann ging sein Blick auf den vorne offenen Kimono, seinen Säbel und das Reispapier. Schließlich zu der Frau, die sich an ihn drängte.
Er begann schallend zu lachen. „Dummkopf! Das Papier ist dazu da um meine Klinge zu reinigen, mehr nicht.
Denkst du wirklich, es können dreißig Jahre vergehen ohne dass Karl mir erzählt wie es damals wirklich war? Oder das dein Vater mir nicht irgendwann einmal erzählt – erzählen muss – was damals passiert ist?
Ich weiß schon seit ich dir in deinem Zimmer in Dresden in die Augen sah, dass du meine Eltern nicht getötet hast.
Entschuldige, aber ich habe versucht dich zu töten. Ich habe mich dessen sehr geschämt und selbst ein ganzer Krieg konnte diese Scham nicht aus meinem Herzen vertreiben. Ich habe mich auf die Jagd nach Tora eingelassen und versucht, dich aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich war richtig gut darin. Ich konnte drei Jahrzehnte auf dich verzichten.“
Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. „Aber dann tauchst du direkt vor mir auf und alles kommt zurück. Dreißig Jahre sind wie weg gewischt, als hätte es sie nie gegeben. Du stehst vor mir und ich fühle mich genau wie damals.“
„Du wusstest es? Und du hast es mir nie gesagt?“ Es war kein Tadel in ihrer Stimme. Nur Bedauern über verschwendete Zeit.
Langsam nahm Eikichi die Frau in seine Arme. „Helen. Wir haben unendlich viel Zeit. Wir haben tausend Jahre und mehr, um… Ich bin kein KI-Meister mit der Kraft deiner Eltern. Aber es reicht um tausend Jahre mit dir zu verbringen. Und ich werde den Teufel tun, noch einen einzigen weiteren Tag zu verschwenden. Mag kommen was da wolle, ich kann Tora jagen, die Erde beschützen und dich lieben.“
Entsetzt krallten sich ihre Hände in seinen Kimono. „Was?“
„Darf ich das nicht sagen? Ich liebe dich, Helen Berger“, sagte er mit sanfter Stimme.
Tränen flossen über ihre Wangen, auf seine Brust, während ihr Gesicht sich an seinen warmen Leib anschmiegte. „Sag es bitte noch mal, Eikichi.“
„Ich liebe dich.“ „Noch mal. „Ich liebe dich.“
„Gut.“ Sie sah auf. „Und jetzt beweise es mir.“

Langsam griff sie zum Gürtel ihres Yukatas und zog ihn auf. Ebenso langsam strich sie das Gewand nach hinten.
Eikichi betrachtete ihren wunderschönen, makellosen Körper. „Deine Cousine wird mich umbringen, wenn ich…“
„Pst“, machte Helen und verschloss seinen Mund mit ihrem rechten Zeigefinger. „Dieser Moment gehört einzig uns. Dieser Moment, diese Nacht und das ganze Leben, das darauf folgt.“ Sie griff seinen Gürtel und öffnete ihn.
„Ich lasse dich nicht mehr gehen, Eikichi. Nie wieder.“

Epilog:
Beim Gedanken an diese Nacht, beim Gedanken an die vielen Nächte die folgten, voller Gier, Leidenschaft, Liebe und Hunger, ging ein kalter Schauer über seinen Rücken. Er konnte nicht anders und für seine Kinder hoffen – für alle seine Kinder, für die ganze Rasselbande von Akira – dass sie in ihren Leben eine solche erfüllende, unglaubliche Liebe finden konnten.
Mit einem weiteren Seufzer kehrte er in die Realität zurück. Und das waren über zwanzig bewaffnete Kommandosoldaten mit auf ihn gerichteten Schnellfeuergewehren.
Er hielt für einen Moment den Atem an und lauschte. „Ich höre keine Schüsse, Major Stafford.“
„Natürlich nicht. Niemandem wird etwas geschehen, wenn sie kooperieren.“
„Ist die Operation abgeschlossen?“
„Die einzelnen Einheiten haben Vollzug gemeldet und befinden sich auf ihren Positionen.“
Ekichi atmete aus. „Gut. Ouroboros.“
Die Schlange, die sich selber fraß, ein mythologisches Symbol für was? Dummheit? Die Ewigkeit, Zyklen? Auf jeden Fall für unerwartete Handlungen. Eikichi grinste wölfisch.

In den Reihen der Kommandosoldaten entstand Unruhe. Der Mann, der mit Akira auf dem Mars gewesen war, trat einen Schritt vor. „Entschuldigen Sie, Commander, aber meinten Sie vielleicht Oruboru?“
Ein anderer meldete sich zu Wort. „Oder eventuell Oroburu?“
„Nein“, mischte sich der Major ein, „sicher war es Orosboros. Oder?“
Eikichi hatte plötzlich stechende Kopfschmerzen. Natürlich, das hätte er sich ja denken können! Ein so ungewöhnliches Wort konnte leicht bei Übersetzungen verstümmelt oder der Landessprache angepasst werden.
„Commander?“, fragte Stafford vorsichtig.
„Wie dem auch sei, wer auf meiner Seite steht, möge jetzt handeln.“
Nun entstand neue Unruhe in den Reihen der Kommandos.
Endlich riss der Erste in jähem Erkennen die Augen auf. „OROSBOROS!“
„ORBORO!“ „OROSBOROS!“ „OROBURU!“ „ORUBORU!“ Die hektischen verschiedenen Versionen des Codeworts wechselten sich schnell ab und die Soldaten reagierten. Jeder von ihnen trug eine kleine Fahne auf der rechten Brust, mit der seine Nationalität definiert wurde. Nun griffen die Soldaten nach dieser Fahne und rissen das mit Klett befestigte Stück Stoff ab.
Danach richteten die Kommandos die Waffen aufeinander, auf der Suche nach jemandem, der das Fahnentag noch trug.
„Keine Bewegung! UEMF!“ „Delta Force!“ „SAS!“ Die Namen der Spezialeinheiten wechselten in schneller Folge und schnell winkten die Waffenläufe eher hilflos auf der Suche nach Zielen durch den Raum. Keine einzige zeigte mehr auf Eikichi.
„Verdammt noch mal!“ blaffte Stafford wütend. „Gibt es denn hier im ganzen Raum nicht einen Soldaten, der wirklich im Dienst des Legaten steht?“
„Anscheinend nicht“, bemerkte Akiras Waffenbruder amüsiert. Er zog ein neues Tag hervor, das einen Hawk-Mecha vor dem Hintergrund des Pazifiks zeigte und befestigte es auf der rechten Brust – das Zeichen der United Earth Mecha Force. „Aber das heißt nicht, dass es da draußen nicht noch welche gibt.“
Lautes Gelächter ging durch den Raum.
„Na, von mir aus. Wäre mir auch schwer gefallen, die guten Teams auseinander zu reißen, die wir in den letzten Tagen gebildet haben. Also, Leute, Trupp eins bleibt hier, und der Rest räuchert diese kleine Rebellion aus!“
„JAWOHL, SIR!“
Stafford grinste Eikichi Otomo an. „Nur ne kleine Panne, Sir. Entschuldigen Sie die Störung.“

Otomo indes konnte nicht mehr an sich halten. Er lachte lautstark und musste sich schließlich den Bauch halten.
„Oh, ihr Menschen“, murmelte er, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, „ich liebe euch. Ich liebe euch alle.“
„Beruhigend zu hören“, ließ sich der Kommando vom Mars wieder vernehmen. „Lieutenant Riggs, Sir. U.S. Marine Corps. Habe damals mit den Kollegen von der Spetznats beim Schutz der Slayer geholfen. Habe die Zeit nicht vergessen. Und auch nicht, was Akira und Sie geleistet haben.“
Eikichi musterte den jungen Mann und seine drei Begleiter eindringlich. „Hm. Gut. Aber würden Sie das Dokument auf meinem Schreibtisch unterschreiben, das die Erde und den Mars zu Akira Otomos persönlichen Eigentum macht?“
Der große Marine zuckte die Achseln. „Ich bin hier, ich verteidige Sie, Sir. Nehmen Sie das als meine Antwort. Und als die Antwort meiner Kameraden.“
Wieder lachte Eikichi. Aber es war ein leiseres Lachen, wehmütig und ein wenig zu ernst. „Hat sich was damit, dass ich diesmal der Mittelpunkt bin, Akira“, murmelt er leise.
Dann setzte er schwungvoll seinen Namen unter das Dokument, machte einen Scan und schickte es um die ganze Welt.
Ein ganzer verdammter Planet gehörte nun Akira Otomo, nein, ein ganzes verdammtes Sonnensystem. „Hoffentlich kann er wirklich nichts damit anfangen“, murmelte Eikichi in einem Anflug von Panik leise.
**
„Colonel?“
Makoto sah auf. Auch wenn sich die Situation schlagartig beruhigt hatte, gab es noch immer eine Menge zu tun. Na, wenigstens hatte er ausschlafen können. Und Auge in Auge mit Kei Takaraha und Jora Kalis reden können. Der kleine Schwindel war übrigens mittlerweile aufgeflogen, aber Kenji, Takashi und die anderen Kommandeure der Hekatoncheiren hatten sich hinter sie gestellt und das Schlimmste verhindert. Immerhin, nicht alles entwickelte sich schlecht.
„Was gibt es denn, Hitomi?“
„Eben kamen zwei Anfragen auf ein Direktgespräch herein.“
„So?“ Direktgespräche. Mittels ihrer Kommunikationstechnik hielten sie eine permanente Standleitung zur Erde, auf der ein riesiger Strom an Daten in beide Richtungen ausgetauscht wurde. Auf diesem Weg wurden Fernsehen, Radio, Datenbanken und persönliche Post ausgetauscht. Und manchmal auch Direktgespräche.
„Durchstellen. Wer ist denn dran?“
„Eines kommt von Executive Commander Eikichi Otomo, OLYMP.“
„Gut, das wird wahrscheinlich endlich die Antwort auf meine Anfrage sein, ob Onkel Eikichi bei Akiras Spiel mitspielt – oder ob die Reservebank ihm den Spaß verdirbt. Und das andere Gespräch kann warten.“
„Nun, wie man es nimmt. Der Gesprächspartner sitzt im Nag-System, genauer gesagt auf Naguad Prime.“
„Akira? Stell durch, Hitomi!“

Ein Bildschirm erwachte vor Makoto zum Leben und zeigte Eikichi Otomo, der mit einer Miene als hätte ihn jemand gezwungen Natto zu essen in die Kamera sah und ein Dokument hoch hielt. „Hallo, Mako. Mit diesem Schrieb ist das Sol-System offiziell Akiras persönliche Spielwiese. Ich hoffe, das reduziert deinen Ärger ein wenig, mein Junge.“
„Dazu kann ich vielleicht was sagen, denn im Moment baut sich eine Standleitung nach Naguad Prime auf, Onkel Eikichi.“
„Eine Standleitung? Akira?“
Ein zweiter Bildschirm flammte auf. „Hallo, Makoto-chan. Du bist ja gr… Hm, hübsch geworden.“
Beim Anblick dieser Stimme fuhr Mako herum und riss die Augen auf. „Was zum… Tante Helen?“
„Ja, glaub es nur. Ich bin es.“
„Helen? HELEN!“
„Ist das Eikichi? Hast du ihn auf der anderen Leitung? Makoto-chan, ich werde dir alles haarklein erklären was die letzten Tage hier passiert ist, aber ich rede gerade über einen Prototyp mit dir. Wir kommen bis nach Kanto, aber nicht bis zur Erde. Kannst du mich über dein Relais direkt durch schalten? Ich muß… Ich würde gerne mit Eikichi reden.“
„Natürlich. Ich richte das ein“, sagte Mako. Oder bildete er sich nur ein, etwas zu sagen? Sein Mund war so merkwürdig trocken. Verdammt, war Helen nicht von Rechts wegen tot?
Oder was hatte Mutter damit gemeint, Helen würde nach dem Unfall zu ihren Ahnen geschickt werden?
Die verdammten Naguad und ihr verdammt blumiger Sinn für Simili!
„Hitomi.“ „Colonel?“ „Bitte schalte beide Verbindungen zusammen und verschlüssele den Kanal optimal. Ich will, dass niemand davon mitbekommt, was zwischen den beiden gesprochen wird, verstanden?“ Das meiste würde privat sein, sehr, sehr privat. Und Mako war nicht in der geistigen Verfassung, einem solchen Gespräch seiner Tante und seines Onkels zu folgen.
„Verstanden, Sir.“
Mako schmunzelte, als ein Countdown in beiden Fenstern die Zeit bis zur Vernetzung anzeigte. „Danach aber, Tante Helen. Ich habe viele Fragen.“
„Und ich werde sie alle beantworten. Übrigens, Megumi, Yohko, Yoshi, Aria, Joan, Gina und Akira geht es gut. Ich soll schön grüßen. Sie melden sich die nächsten Stunden, falls die Leitung stabil genug bleibt.“
„Das ist gut zu hören“, antwortete Makoto, aber da waren beide Bildschirme schon schwarz.

Leise seufzend ließ sich Mako zurück sinken. „Hitomi.“ „Ja?“
„Gib eine offizielle Verlautbarung raus. Das Sol-System ist ab sofort das persönliche Eigentum des größten Trottels der Galaxis.“
„Ach, du meinst Akira? Soll ich das wirklich zitieren? Ich habe ein wenig Angst, es mir mit dem mächtigsten Mann in diesem Bereich der Galaxis zu verscherzen.“
„Sehr witzig“, brummte Mako amüsiert. „Gib mir gleich mal ne Leitung zu Stela Sidon Ryon, unserem heißen Draht zum Komitee. Es wird sie freuen, dass die UEMF nachgezogen hat. Das wird ihren mutigen Schritt unterstützen, den sie mit der bedingungslosen Kapitulation vor den Arogad gegangen ist.“
„Gleich, aber erst mal hast du einen Anruf von deiner Cousine. Sie sagt es sei wichtig, bei Yoshis haarigem Hintern.“
Mako wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, auf jeden Fall klang diese Notfallformulierung verdammt witzig.
„Stell sie durch.“

Ein Bildschirm erwachte flammend zu Leben und bildete seine Cousine Akari Otomo ab. Seine Wahlcousine, seine Stiefcousine, einen ehemaligen Oni, dem ein neues Leben als Mensch gewährt worden war, nachdem er die ewige Finsternis nebst unendlichem Wahnsinn in Kauf genommen hatte, um seine Freunde zu retten.
Und neben dem hübschen schwarzhaarigen Mädchen stand ein weißhaariger Junge mit dunklen Augen, Michi Torah. Tag und Nacht hatte jemand das unzertrennliche Paar mal genannt und Mako fragte sich unwillkürlich, ob die beiden schon miteinander schliefen. Und wann sie von ihm Tipps wollten.
„Bei Yoshis haarigem Hintern?“ eröffnete er das Gespräch.
„Und bei den haarigen Ei…“, begann Akari, wurde jedoch von Michi übertönt.
„Makoto-o-nii-chan, es ist ernst, verdammt ernst! Wir hatten vorhin Kontakt mit der Dämonenwelt von Kanto und wir stecken in richtigen Schwierigkeiten!“
„Definiere Schwierigkeiten. Ich dachte, die Naguad hätten die Dämonenwelt bei ihrem Angriff damals so sehr in Unordnung versetzt, dass uns von dort keine Gefahr droht.“
„Du erinnerst dich an den ursprünglichen Plan der AURORA, in das Chaos von der Gaswelt Letus einzutauchen, sich im Trümmerfeld zu verstecken und von dort die Evakuierung der Anelph des Komitees voran zu treiben?“
„Ja, ging durch unseren Fehlsprung ja etwas daneben.“
Michi strich sich eine widerspenstige weiße Strähne aus dem Gesicht. „Verdammt, Makoto-o-nii-chan! Wir sind nicht die einzigen, die auf diese Idee gekommen sind. Sag mal, haben wir hier noch einen Feind zu fürchten, außer den Naguad?“
„Eigentlich nicht. Was ist denn da draußen, dass es sogar die Dämonenwelt spürt?“
Michi grinste kalt. „Wie wäre es mit ein paar hundert Angriffsschiffen vom Format einer imperialen Fregatte?“
„Scheiße. Und ich dachte, ich hätte hier mal Ruhe!
Hitomi! Stiller Alarm! Nutze sofort die Standleitung und lass dich mit Akira verbinden! Ich will wissen, was das da draußen sein kann! Und ich will alle wichtigen Offiziere zu einer Konferenz hier in der Axixo-Basis haben, persönlich, nicht virtuell! Und schick eine Korvette aus, sie soll sich vorsichtig bei Letus umsehen!“
„Verstanden. Die Kacke dampft also mal wieder, was?“
„Über das dampfen sind wir schon weit hinaus“, bemerkte Akari trocken.
„Und ihr beide kommt auch zur Konferenz. Sagt Ami Bescheid. Die Slayer sollen auch kommen!“
Plötzlich war Makoto sehr müde. Er rieb sich den Nacken. Ha, Joan hätte schon gewusst, wie sie ihre Finger ansetzen musste, wie sie seine Muskeln zu kneten hatte und ihm dieses warme Gefühl der Behaglichkeit verschaffen konnte. Aber sie war nicht hier. Und im Angesicht der Bedrohung, die dort unerkannt um Letus heranwuchs war er sehr froh darüber.
„Konferenzbeginn in einer Stunde.“ Er sprang auf. Anscheinend brauchte es nicht Akira, um etwas wirklich Verrücktes zu erleben. Aber irgendwie tröstete ihn dieser Gedanke gerade nicht.

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Anime Evolution: Past
Episode sieben: Die beiden Türme

1.
„Warum bist du noch wach, Akarin?“ Michi Tora kam in das spärlich erleuchtete Studierzimmer und setzte sich rittlings auf einen Stuhl. Er musterte seine Freundin, die ihre Haare hochgesteckt und eine Lesebrille aufgesetzt hatte.
Eigentlich übertrieben bei einer Sehkraft von einhundert Prozent, aber Michi fand, dass sie im Streber-Outfit eine gute Figur machte. Eigentlich in allem, was sie trug.
„Du bist noch nicht in deiner Stube?“ Akari sah kurz auf, lächelte für ihn und widmete sich wieder ihrer Studie. „Ich arbeite gerade ein paar historische Daten auf, die Erde und den Konflikt mit den Kronosiern betreffend. Wenn es dich interessiert, ich versuche herauszufinden, wann Megumis Eltern zur Erde gekommen sind. Was für eine Zeit das war. Wie ihre Eltern auf Akiras Eltern getroffen sind und wie Opa und Oma da rein passen.“
Michi lächelte dünn. Er hatte einen eigenen Raum auf der Axixo-Basis, ebenso wie Akari.
Nicht, dass sie aus ihrer innigen Beziehung ein Geheimnis gemacht hätten. Nicht dass es jemanden gab der es nicht wusste. Nicht dass sich ihnen auch nur ein einziger Mensch, Naguad oder Anelph, in den Weg stellen konnte, wenn sie beschlossen, sich fortan einen Raum zu teilen. Oder sogar… Michi spürte, wie er errötete. Er dachte in letzter Zeit immer öfters an Sex mit Akari, und er fragte sich, ob dies auf Kosten der Liebe war, die er für die junge Frau, die einst ein Oni war. Hastig schob er den Gedanken beiseite.

„Wie kommst du voran?“
„Leidlich. Ich muß mich auf sekundäre Informationen verlassen. Es gibt ja in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen direkten Hinweis auf sie, und Oma ist auf Naguad Prime und Opa mit der AURORA irgendwo auf halbem Weg nach Hause. Wen sollte ich also fragen?“
Michi zuckte die Achseln. „Wie wäre es mit Makoto? Ich habe eigentlich immer das Gefühl, dass unter der Frauenklamotten liebenden, niedlichen Fassade nicht nur ein ernsthafter, sondern auch sehr kontrollierter Mensch schlummert, der diese Kontrolle auch gerne auf seine Umgebung ausdehnt.“ Michi lachte leise auf. „Immerhin leitet er den ganzen Laden hier, oder?“
„Das wäre natürlich eine Idee, Micchan“, murmelte Akari nachdenklich. „Ich sollte ihm eine Notiz schicken und um einen Termin bitten.“
„Akarin, er ist dein Cousin. Dass ihr nicht blutsverwandt seid, zählt hier überhaupt nicht. Denn Akira und Yohko sind es ja auch nicht. Diese familiären Bindungen sind eher geistiger Art, aber nicht weniger fest.“ Eine geistige Bindung, die mittlerweile sogar ihn erfasst hatte, den Sohn von Juichiro Tora, jenem Mann, der als der Magier mit den Kronosiern kollaboriert hatte, um die Erde zu unterwerfen. Und der beinahe die junge Frau vor ihm vernichtet hätte.

Nicht, dass er begann seinen Vater zu hassen. Zu selten hatten sie sich gesehen, gerade nach Mutters Tod. Aber die wenigen Momente die sie zusammen verbracht hatten, waren… Angenehm gewesen.
Nun musste sich der junge Mann, ausgestattet mit den kronosianischen Genen, genauer gesagt dem Genotyp des Naguad-Hauses Elwenfelt, mit einem zwiespältigen Bild auseinander setzen. Einerseits war da der Vater, der selten für ihn da war, dennoch die wenige Zeit mit so viel Liebe erfüllt hatte wie ihm möglich war. Andererseits seine neue Familie, die eine neue und vollkommen berechtigte Sicht auf Juichiro hatte, als Feind, als Verräter.
Es gab eine Zeit, da hatte er Akira dafür töten wollen, dass er ihm Vater genommen hatte.
Bis Michi herausgefunden hatte, dass es Akari gewesen war, seine Akari, dieses hübsche, intelligente und warmherzige Mädchen, in das er sich auf den ersten Blick hoffnungslos verliebt hatte, beim ersten Mal, als er sie in der Schule gesehen hatte.
Die Schule, ja, sie war so weit entfernt, so unendlich fern, dass er sich fragte… Dass er sich fragte, wieso er weiterhin den Schulstoff lernen musste und von Makoto und den anderen Offizieren auch noch regelmäßig abgefragt wurde! Und dann diese Ankündigung, dass der Unterricht demnächst über die Standverbindung zur Erde fortgesetzt werden würde! Was war er? Ein KI-Spezialist, der Akari Otomo unterstützen sollte oder ein High School-Schüler?
Gut, er war kein Militär, aber beim Kampf um den Antrieb der AURORA gegen die KI-Meister der Naguad hatte er seinen Wert bewiesen. Hatte er die Effektivität von Akira Otomos hartem Training bewiesen. Hatte er…

„Was?“
„Komm mal wieder in die Wirklichkeit, Micchan“, sagte Akari und schnippte mit der rechten Hand direkt vor seinen Augen. „Ich spreche dich schon das dritte Mal an. Wo hängst du schon wieder mit deinen Gedanken? Muss ich eifersüchtig sein?“
„Das kommt drauf an“, meinte der junge Mann amüsiert. „Ich dachte an die Hausaufgaben.“
„Oh. Ja. Da bin ich eifersüchtig. Du hast mich in der letzten Arbeit um drei Punkte geschlagen.“
„Und davor um fünf, um zwei, in japanisch sogar um sechs Punkte. Ich bin jetzt im Schnitt bei dreiundneunzig Prozent, Akarin.“
„Mach mich nicht schlechter als ich bin, Micchan. Ich bin im Schnitt auch bei siebenundachtzig Prozent, und mit den mündlichen Nachprüfungen kann ich auch noch über die Zweiundneunzig Prozent-Marke hüpfen.“ Sie deutete auf ihren Bildschirm. „Dafür mache ich das alles ja. In Geschichte wackelt meine Eins, und wenn ich Initiative beweise und etwas Innovatives vorlege, kann ich mich vielleicht den Rest des Jahres zumindest in diesem Fach beruhigt zurücklehnen. Darum will ich einen Termin bei Mako. Als Referenzangabe.“
„Aha. Mal sehen, ob uns die Naguad das Schuljahr zu Ende durchstehen lassen.“
„Ach, die. Hausaufgaben sind schlimmer“, erwiderte Akari und winkte ab.
„Viel schlimmer.“ Michi schüttelte sich.

Als es klopfte, fuhr Michi herum, als hätte ihn jemand bei etwas verbotenem erwischt. Zu seinem Ärger spürte er, wie ihm das Blut bis in die Haarspitzen zu steigen schien.
„Herein“, sagte Akari.
Die Tür öffnete sich, und unwillkürlich fühlte sich Michi erleichtert. Der große, grauhaarige Mann, der gerade durch die Tür trat, war Okame-tono, einer der beiden Dämonenkönige, die sie auf dieser Reise begleiteten und im Kanto-System geblieben waren, um den Planeten Lorania und die junge Rebellion verteidigen zu helfen.
Okame ächzte wie ein alter Mann, ließ sich nach einem stummen Nicken in den nächsten Sessel fallen, wehrte ebenfalls mit der Geste eines alten Mannes das Glas Wasser ab, das Akari ihm anbot und stöhnte unterdrückt.
Dann öffnete er die Augen. Michi fühlte sich übergangslos fixiert, geradezu nackt, ohne jedes Geheimnis vor diesen Augen. Okame war ein Dämon, dazu ein unerreichter Meister in der KI-Beherrschung. Soweit Michi wusste, und das hatte er von Akira persönlich, bestand der grimmige, große Mann sogar aus KI. Was erklärte, warum er öfter mal in die Gestalt eines Wolfes schlüpfen konnte.

„Was für ein Tag“, brummte der sonst so wortfaule Mann. Dabei zog er eine Leidensmiene, als würde er gerade kräftig durchgeprügelt werden.
„Ist etwas passiert?“ argwöhnte Akari. „Hat die Raider-Flotte Letus verlassen?“
Die Raider-Flotte. Akira-o-nii-sama hatte über die neu etablierte Standleitung nach Naguad Prime von der Existenz der Flotte erfahren und sie verifiziert. Die Raider, Kampfschiffe der Core-Zivilisation, die sporadisch immer mal wieder Planeten und Schiffe im Imperium angriffen.
Soweit die Aufzeichnungen des Kanto-Systems zurückreichten, hatte es nie einen Raider-Angriff auf dieses System und seine Welten gegeben, und der letzte Vorfall eines Angriffs im Imperium selbst lag schon wieder vierhundert Jahre zurück. Dementsprechend war die Information über die Existenz dieser Schiffe, ja der Core-Zivilisation behandelt worden. Ein gravierender Fehler, wie die sich sammelnde Flotte nun bewies.
Keiner der Verantwortlichen im Kanto-System, egal ob Naguad oder Anelph, Mensch oder Dämon, zweifelte daran, dass sich die eleganten Rochenschiffe nicht sammelten, um von hier aus tiefer in das Reich vorzudringen. Später vielleicht, wenn hier kein Stein mehr auf dem anderen war.
„Nein, sie bewegen sich bisher nicht. Und es scheint auch nicht, als hätten sie unsere Korvetten die sie überwachen entdeckt. Aber alles andere schafft mich.“
Wieder seufzte der Riese. „Ich nehme jetzt doch das Wasser.“
Akari schenkte ihm ein und Michi nickte dem Dämon auffordernd zu, damit er mit seinem Bericht fort fuhr. „Diese verdammten Naguad schaffen mich. Fünf Divisionen Banges sind auf dem Weg hierher.“
„Fünf Divisionen?“ staunte Michi. Das war eine Menge Holz, bildlich gesprochen. Eine Division umfasste sechshundert Mechas plus unterstützendes Personal. Im ganzen System gab es fünftausend Banges zusätzlich zu den stationierten Truppen, also acht Divisionen.
Eine von ihnen, Ehre oder Tod, auch bekannt als 5. Banges, war zu ihnen desertiert.
„Ja, sie kommen auf Befehl der Regionaladmiralität auf Laccus, der neunten Welt. Da wir ja nun alle Akiras Eigentum sind, und die Gerichtsbarkeit im Nag-System diesen Umstand noch nicht widerrufen hat, haben sich die fünf Divisionen auf den Weg gemacht, um die alten Verteidigungsstellungen einzunehmen, die sie vor unserer Attacke rund um Lorania innehatten. Im Klartext, sie schützen das Eigentum eines Naguads.
Außerdem haben die Naguad-Truppen auf Lorania ihre Kasernen verlassen und nehmen gerade Verteidigungsstellungen gegen Weltraumangriffe ein. Diese verdammten Naguad bereiten sich darauf vor, dass die Raider über Lorania herfallen.
Und dabei ist es ihnen verdammt egal, dass der Angriff auch dem Hauptquartier auf Laccus gelten könnte.“
Okame trank sein Wasser in einem einzigen Zug aus. „Ich sehe es noch kommen, dass sie die Axixo-Basis wiederhaben wollen. Aber Makoto-tono wird sie nicht rausrücken, auch wenn sämtliche Naguad-Truppen in diesem System plötzlich zu Haus Arogad wechseln.
Es ist halt alles vertrackt, auch wenn wir die fünf Divisionen wahrscheinlich sehr gut gebrauchen können.“
„Das klingt wirklich nicht gut“, bestätigte Akari nachdenklich. „Stellt euch doch nur mal vor es fällt ein unbedachter Schuss zwischen den Hekatoncheiren und den Imperialen. Was dann hier los sein wird.“
„Und Mordred und Arthur trafen sich mit gleich starken Heeren“, zitierte Michi leise. „Da keine Seite einen Vorteil hatte, trafen sich die Anführer in der Mitte, um über den Abzug zu verhandeln. Da kam es aber, dass eine Natter einen Ritter Arthurs angriff. Dieser zog sein Schwert und tötete die Schlange. Jedoch missverstanden Mordreds Ritter dies als Angriff und zogen ebenfalls ihre Schwerter. Am Ende entbrannte die Schlacht, die eigentlich keiner wollte.“
Akari starrte ihren Freund aus großen Augen an. „Mach mir keine Angst, Micchan.“
„Zu spät“, murmelte der Junge mit den kronosianischen Genen ernst und müde. „Viel zu spät.“
Die drei wechselten einen langen Blick.

„Gut, also“, sagte Okame und versagte kläglich bei dem Versuch zu lächeln. „Die Raider und die Naguad sind noch weit entfernt. Wir kümmern uns darum, wenn die Zeit gekommen ist. Also, hier bin ich. Frag mich was du willst, Akari-tono.“
„Fragen was sie will?“ argwöhnte Michi. „Wirklich was sie will? Über die Vergangenheit, die Gegenwart, das Wechselspiel der Dämonenwelten, einfach alles?“
„Natürlich“, erwiderte der Wolf. Er grinste breit. „Ob ich drauf antworten kann, steht auf einem anderen Blatt.“
„Und hängt von der Art der Frage ab“, schloss Akari resolut.
Sie lächelte selbstsicher. „Ich habe siebenundvierzig Fragen im Katalog. Bereit, Okame-sama?“
„Worauf habe ich mich hier eingelassen?“ klagte der Wolf.
„Komisch, das habe ich auch gerade gedacht. Siebenundvierzig Fragen?“
„MICHI!“ tadelte Akari, halb belustigt, halb amüsiert.

2.
Lady Death war nicht einfach nur ein Name. Auch nicht einfach eine Institution, die für den Kampf gegen die Kronosier oder einen der erfolgreichsten Hawk-Mechas des Krieges stand. Lady Death war eine Legende.
Und diese Legende versuchte gerade, die internen Probleme zu beheben, die sich mit dem Einbau naguadscher Banges-Teile in die interne Struktur ergeben hatten.
Im Moment stand der Mecha, die Legende, die selbst eine Legende in so viele Schlachten getragen hatte, in einem Bodenhangar des Daness-Turms. Vergessen, verraten und verkauft.
Vielleicht auch nur vergessen.
Lady Death konnte es verstehen, soweit es ihr die Programmierung erlaubte. Immerhin war Megumi, ihre erfahrene und doch so junge Pilotin mit Akira Otomo wiedervereinigt worden.
Offiziell waren die beiden erst seit zwei Jahren und ein wenig ein Paar. Aber wenn Lady Death ihre Logs checkte und die letzten Seufzer, achtlos ausgesprochenen Worte und Verwünschungen heranzog, dann konnte das Verhältnis von Megumi und Akira durchaus mit einer Ehe mithalten, wenn man einschlägige Fernsehserien als Vergleich heranzog.
Mit einer Ehe, die eigentlich mehr Tiefen als Höhen gehabt hatte.
Aber Ironie gehörte eigentlich nicht zu ihrer Programmierung als Künstliche Intelligenz des Rotlackierten Hawk-Mechas, der neben Primus und Blue Lightning gefürchtet wie kein zweiter unter den kronosianischen Piloten und ihren Söldnern gewesen war.
Sie und ihr Mädchen, wie Lady Death die junge Pilotin gerne nannte, waren zusammen erst die richtige, wirkliche Lady Death geworden. Tödlich, effizient, gnadenlos.
So effizient, dass Megumi mehr als einmal so leise wie möglich in diesem Cockpit geweint hatte, weil sie ihre eigenen Taten nicht mehr ertragen hatte.

Die Subroutine schloss ab und Lady Death wandte sich einer neuen Aufgabe zu. Die neuen Waffen, die von den Naguad eingebaut worden waren, mussten noch besser koordiniert werden, um ihre Effizienz zu erhöhen. Extrem zu erhöhen, denn da sah Lady Death enormes, nicht genutztes Potential.
Die Kommunikation, die sich nebenbei etablierte und Peripherie-Daten auf Sensor-Ebene mit ihr austauschte, fiel ihr dabei anfangs gar nicht auf.
Bis sie registrierte, nach geschlagenen acht Tausendstel Sekunden, dass diese Kommunikation mit Hilfe eines Überrangcodes etabliert worden war – und das auf einer UEMF-Gefechtsfrequenz, die der Kommunikation der Künstlichen Intelligenzen im Einsatz vorbehalten war.
Und es gab nur eine Institution auf dieser Welt, die dazu in der Lage war – falls es sich nicht um den Versuch handelte, sich in ihren Computerkern einzuhacken.
Prime Lightning, den Mecha von Division Commander Akira Otomo.
Die anfänglich rudimentäre Verbindung wurde erweitert, neben den Sensorlogs tauschten sie aktuelle Daten und Protokolle der letzten drei Wochen aus.
Und dann etablierte Prime eine Sprechverbindung. Es war natürlich keine normale Sprechverbindung, immerhin waren sie beide künstliche Intelligenzen, die tausendmal so schnell kommunizieren konnten wie Menschen. Dementsprechend hastig erfolgte ihre Unterhaltung.
Aber wie das so war mit Intelligenzen, egal ob künstlich oder natürlich entstanden, irgendwann landeten sie beim Small Talk und unterhielten sich mit ihren normalen Stimmen bei normaler Geschwindigkeit.

„Wie hast du das denn geschafft, alter Junge?“ fragte Lady Death als erstes. „Eine Verbindung auf einer UEMF-Frequenz, quer durch diesen Moloch von Stadt, durch die Abschirmung von zwei Türmen. Das würde ich auch gerne können.“
„Was denn, was denn, hast du überhaupt nicht dran gedacht, einfach eine offizielle Verbindung zwischen den Türmen zu benutzen? Oder anders ausgedrückt, ich habe den Daness-Turm schlicht und einfach angerufen und mich von der Turm-Intelligenz hier runter durchstellen lassen. Sie überwacht natürlich unsere Kommunikation, aber wichtige Daten tauschen wir ohnehin nur chiffriert aus.“
„Punkt für uns“, stellte Lady Death zufrieden fest. „So sieht man sich also wieder. Okay, zumindest hört man sich.“
Der rotlackierte Mecha – wie oft hatte sie ihrer Kleinen vorgeschlagen, doch mal eine andere Farbe auszuprobieren, so ein netter Camouflage-Ton, ein Karmesin-Rot oder ein düsteres Violett – genauer gesagt die KI, stutzte. „Und was ist mit der KI deines Turms, drüben bei den Arogads?“
„Commander Otomos Mutter überwacht meine Kommunikation auch. Aber sie garantiert meine Privatsphäre.“
„Commander Otomos was? Und wer nimmt Rücksicht auf… Auf die Privatsphäre eine Künstlichen Intelligenz?“
„In den Datenpaketen, die ich dir geschickt habe, sind Informationen erhalten, die du bei der nächst besten Gelegenheit an die nächste UEMF-Einheit weitergeben musst. Einer von uns beiden wird schon durchkommen.“ Übergangslos klang die Stimme von Prime alt, und Lady Death fragte sich, warum der aufgemotzte Daishi mit der KI eines Hawks den Synthesizer seiner Stimme derart bemühte. „Darunter sind auch Informationen über Helen Otomo. Einiges über ihre Familiengeschichte, ein paar Details zu ihrer Genetik. Und Informationen darüber, dass sie schwer verletzt in einer Krankenstation des Turms in einem Biotank liegt, während ihr Geist mit der eigentlichen Turm-KI vernetzt ist. Sie steuert den Turm. Und das schon seit sieben Jahren. Sie sagte, sie als allererste kann die Bedürfnisse einer künstlichen Intelligenz nachempfinden und… Jedenfalls gibt sie mir Freiraum. Soviel Aufmerksamkeit bin ich von NIs gar nicht gewohnt.“
„NIs? Nützliche Intelligenzen? Nötige Intelligenzen?“ versuchte Lady Death zu erraten.
„Natürliche Intelligenzen. Halt mich nicht für so zynisch wie manch andere ältere KI. Die Verbindung mit den Überresten von Primus´ Computerkern hat mich nur weiser gemacht, nicht arroganter.“

„Was denn, was denn, die Symbiose der beiden wichtigsten KIs der Menschheit ergibt Bescheidenheit? Ich bin verwundert“, spottete Lady Death.
„Nicht Bescheidenheit. Nur Demut. Ich denke, das war die erste Emotion der NIs, von der ich mir eingebildet habe, sie zu verstehen. Wenn ich mir Commander Otomo ansehe, wieder und wieder, wenn ich sehe, was er ertragen, was er leisten musste, dann bin ich entsetzt, dass ich zu diesen Leiden beitragen muß. Aber ich bin auch froh, dass ich es sein darf, der ihn begleitet. Er ist meine NI, und ich bin seine KI. Wir sind ein Team und ein sehr gutes dazu, und mit ihm zu dienen bedeutet für mich, ihm zu dienen. Das ist Demut. Mit meinen begrenzten Fähigkeiten habe ich versucht, ihm so viel wie möglich abzunehmen, ohne seine Genialität einzuschränken. Und dennoch blieb so vieles für ihn über.“
„Ich denke, ich verstehe. Als meine Kleine und ich bei der Ankunft im Kanto-System vor dem Lauf dieser riesigen Kanone landeten und das Mistding auch noch feuerte, da war meine Hauptrechenoperation, mich so zu drehen, dass der Schaden auf das Cockpit minimiert wurde. An meine Existenz habe ich zuletzt gedacht, ganz zuletzt. Ich kann dir das Rechenoperationsprotokoll schicken, wenn du möchtest.“
„Ich glaube dir auch so. Mit dieser Aktion hast du Colonel Uno wahrscheinlich die eine Sekunde erkauft, die sie brauchte, um ihre KI-Rüstung zu aktivieren und dich per KI-Sprung zu verlassen. Sehr gut gemacht, Lady Death.“
„Würde das eine andere KI als jene sagen, die Akira Otomo bis hin zur eigenen Vernichtung beschützt hat, würde ich es als Schmeichelei klassifizieren. Aber nicht bei dir, Prime.“

Die beiden Mechas schwiegen geraume Zeit. „Übrigens, hat dir schon mal jemand gesagt, dass die Sache mit den KI äußerst verwirrend ist, wenn man zugleich über künstliche Intelligenzen redet? Selbst ich muß immer erst ein paar tausendstel Sekunden nachrechnen, bevor ich mir sicher bin, was gemeint ist.“
„Warum sollen wir es auch leichter haben als die NIs.“
„Prime, kann es sein, dass dich jemand auf Ironie programmiert hat?“
„Und wenn es so wäre, Lady Death?“
„Besorg mir einen Termin. Im Umgang mit meiner Kleinen kann ich sie gut gebrauchen.“
„Ich glaube, ich muß mir ein Programm-Update besorgen, eines das mir erlaubt zu lachen. Ich bin mir ziemlich sicher, du hast gerade einen rüden Scherz gemacht.“
„Du etwa nicht?“ konterte die künstliche Intelligenz von Lady Death.
„Touché.“

„Hey, fang jetzt nicht mit den Fremdsprachen an, ja? Wo hast du das überhaupt wieder aufgeschnappt?“
„Im Gefecht gelernt. Damals über Tobago. Die drei Fregatten, die Richtung Kuba unterwegs waren, um Havanna zu bombardieren. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Kuba um Hilfe rief. Wie es seine Luftflotte aufsteigen ließ, um sich wenigstens gegen sechzig Daishis wehren zu können. Und wie ihm niemand zu Hilfe kam. Für die Russen war die Strecke einfach zu weit, die Amerikaner wollten nicht.“
„Ich erinnere mich. Du warst schon drei Monate im Einsatz und ich hatte meine Feuertaufe mit meiner Kleinen hinter mir. Unsere Piloten waren die einzigen, die etwas tun wollten.“
„Ja. Die einzigen, die es nicht hinnahmen, dass eine Millionenstadt eingeäschert wird, nur weil die Politik Vorrang haben sollte. Wir starteten von der SARATOGA, ohne Erlaubnis der Amerikaner. Und benutzten einen französischen Träger, der zu ihren westindischen Kolonien unterwegs war, als Zwischenstation für eine letzte Orientierung für den Angriff.“
„Zwei Hawks gegen sechzig Daishi der Alpha- und Beta-Serie, von den drei Fregatten der November-Klasse ganz zu schweigen. Es war Wahnsinn.“
„Ja, das war es. Aber Commander Otomo wäre lieber gestorben, als es nicht zumindest zu versuchen. Ich weiß noch, wie er Colonel Uno überreden wollte, auf dem Träger zu bleiben – vor Dutzenden Franzosen, die sich nicht erklären konnten, wie Kinder die gefährlichsten Piloten der Menschheit sein konnten, und warum diese Kinder schon so schrecklich erwachsen waren.“
„Ha, ja, das war eine Geschichte. Erst wollten sie beide nicht fliegen lassen und dann haben sie versucht, den Commander zu unterstützen und meine Kleine an Bord zu behalten. Und damit haben sie genau das Gegenteil erreicht. Ja, wenn mein Mädchen erstmal in Fahrt kommt, dann hat nicht mal eine Fregatte eine Chance.“
„Das ist wahr. Sogar der Commander musste sich geschlagen geben. Ich weiß noch, Colonel Ino und Lieutenant Colonel Otomo waren auf dem Weg zu uns, mit den anderen beiden Mechas der Menschheit um uns zu unterstützen, aber es war abzusehen, dass sie zu spät kommen würden.
Dennoch wollte der Commander starten. Und mit ihm Colonel Uno.“
„Niemand konnte es ihnen verbieten. Und letztendlich… Ich habe mir damals die Akte von Capitaine Jean Muller angefordert, der uns mit seinen Kampfbombern „Begleitschutz“ geben wollte, bis wir in internationalem Luftraum waren. Er hatte ein Kind. Eine Tochter, im Alter des Commanders.“
„Wie ich hörte“, sprach Prime leise weiter, „wurden er und die gefallenen Piloten der Franzosen hoch geehrt. Aufnahme in die Ehrenlegion, hohe Orden. Großzügige Pensionen für die Hinterbliebenen. Verdammt, wenn die Amerikaner nicht so verbohrt gewesen wären, dann hätten nicht elf Kampfflieger der Franzosen dran glauben müssen! Wären sie eine halbe Stunde früher gekommen, nur eine halbe Stunde.“

„Oder erinnerst du dich an Oberst Wang? Ein exzellenter Mann und hervorragender Pilot auf der MiG. Die Chinesen haben mit ihm jemanden verloren, der die Daishis wirklich verstanden hatte.“
„Vor allem hatte er verstanden, dass die Menschheit damals zu dem Zeitpunkt nicht auf den Commander und Colonel Uno verzichten konnte. Er hat eine Entscheidung getroffen und die Konsequenzen getragen. Wie ich, wie du. Nur ihn konnte niemand mehr zusammenflicken.“
„Macht das die zerbrechlichen Menschen nicht größer als uns?“
„Nanu, Lady Death, ein Philosophie-Update?“
„Nur eine gute Beobachtungsgabe, Prime. Nur eine gute Beobachtungsgabe…“

3.
„Ich verlange eine Erklärung!“ Siryen Kalis stemmte wütend seine Hände auf den Schreibtisch. Mit vor Zorn funkelnden Augen sah er die Frau dahinter an.
Im Hintergrund stand Meia Daness, unfähig, auf den Wutausbruch ihres Gefährten zu reagieren.
„Und ich verlange eine verdammt gute Erklärung!“
„Eine Erklärung wofür, Daness?“
„Nenn mich nicht Daness, Arogad! Ich habe einen Namen, ich habe eine Identität!“, blaffte Siryen wütend. Der große, kräftig gebaute Mann mit dem Gesicht eines Preisboxers versuchte seinen Gegenüber nieder zu starren.
„Eine Erklärung wofür, Siryen Kalis?“, antwortete sie ungerührt.
„Für all das, für alles was uns passiert ist! Wir sind eine Rettungsexpedition, ausgesandt vom Rat, um dich aufzuspüren, falls du noch lebst, Admiral! Was ja wohl noch der Fall ist! Dich zu retten! Und was erwartet uns? Eine blamable Enterung, die Konfiszierung unseres Schiffes, die Internierung unserer Mannschaft! Und zu allem Überfluss werden ich als Expeditionsleiter und Lady Meia als Mitglied der Hauptfamilie auch noch inhaftiert!“
Eridia Arogad sah den Naguad lange an. Dann nickte sie.
„Also gut, es geht wohl nicht anders. Ich kann euch hier nicht guten Gewissens festhalten und ich kann euch auch nicht nach Hause schicken.“
Sie erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und ging zu Meia Daness. Sie verbeugte sich leicht vor der Frau, wie es Gleichgestellte bei den Naguad taten und bat sie an den Schreibtisch. Sie wies der Daness einen Sessel zu und bat dann Siryen ebenfalls Platz zu nehmen. „Was ich euch jetzt erzähle, wird diesen Raum nur einmal verlassen. Ihr werdet es nur ein einziges Mal erzählen.“
„Na, da bin ich aber gespannt“, raunte der Elitesoldat.
**
Ein Jahr später trafen sie sich im gleichen Büro erneut. Siryen Kalis war ungewöhnlich ernst, aber nicht besonders zornig. „Der Pakt gilt, Eridia Arogad“, stellte er tonlos fest. „Die KOMAS, das Schiff, das uns hergebracht hat, wird sein Fluglog automatisch löschen, sobald es unser Heimatsystem erreicht hat. Kein Daness wird in der Lage sein, ohne einen Arogad herzufinden, wo sich diese Welt befindet. Dieses System ist zu wichtig, um… Wir haben uns im Rat nicht vor der Wahrheit verschlossen. Aber.“
„Aber?“, fragte Michael Fioran amüsiert. Der Ehemann von Eridia schmunzelte, er ahnte, was nun kommen würde.
„Aber der Rat will nicht, dass dieses Spiel nur von Fioran und Arogad gespielt wird. Der Rat besteht darauf, dass ihr zwei einen Daness als Aufpasser akzeptiert. Dieser Daness werde ich sein.“
Michael nickte. „Ein guter Mann für eine wichtige Aufgabe. Dann musst du dich aber beeilen, Meia. Die KOMAS läuft in drei Stunden aus.“
Die junge Frau, Mitglied der Hauptfamilie, legte eine Hand auf den Arm des Kalis. „Ich werde ebenfalls hier bleiben. Siryen und ich haben geheiratet. Wir… Wir erwarten ein Kind. Und die Erde ist eigentlich ein so friedlicher Ort, dass wir dachten… Wir wollen keine hundert Jahre getrennt sein. Wir ziehen unser Kind hier auf und sehen einfach mal, was passiert.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ist das in Ordnung?“
„Warum nicht?“, murmelte der Fioran amüsiert. „Von Torah haben wir schon lange nichts mehr gehört und die Raider lassen sich seit Jahrhunderten hier nicht mehr blicken, was uns zur Vermutung bringt, dass wir sie damals wirklich schnell genug zerstört haben.
Die Erde brodelt von internen Konflikten, aber in einigen Ländern lässt es sich sehr gut leben. Wenn ihr beide es wünscht, werden wir Tarnidentitäten für euch erstellen.“
Eridia Arogad lächelte sanft. „Wir stellen euch genügend terranisches Geld zur Verfügung, damit…“
„Nein!“, brauste der Kalis auf. „Nein. Danke, aber es ist nichts für mich, auf einem hohen Ross zu sitzen und innerlich zu vergammeln. Ich würde mich gerne nützlich machen. Etwas tun.“ Er sah zärtlich zu Meia herüber und seine harten Züge wurden ungewöhnlich weich. „Ich will mir jeden Tag verdienen, was ich hier habe.“
Eridia und Michael wechselten einen schnellen Blick. „Die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte?“
„Akzeptiert. Ich lasse meine Kontakte arbeiten.“
„Wovon redet ihr zwei?“
„Von eurem zukünftigen Leben, meine liebe Meia. Und jetzt kommt. In einer Stunde beginnt die Taufe unseres Enkels. Ihr seid herzlich eingeladen.“
„Ein Enkel, hier auf der Erde geboren?“ Meia lächelte sanft. „Es wäre doch schön, wenn euer Enkel und unser Kind in dieser Welt Freunde werden.“
„Ja, das wäre nett. Es ist ein Junge. Er wird Akira Aris heißen.“
„Nicht gut“, brummte Siryen. „Ihm den Namen eines kriegerischen Iovar-Kaisers zu geben ist ein schlechtes Zeichen.“
„Du musst nicht kommen“, stellte Michael pikiert fest.
Abwehrend hob der Kalis die Hände. „So war das nicht gemeint. Wirklich nicht, Michael.
Unser Kind wird übrigens ein Mädchen. Wir werden sie Solia nennen.“
„Als Zweitnamen“, warf Meia ein. „Als Erstnamen wird sie einen terranischen Namen bekommen.“
Michael lächelte sanft. „Ich habe das Gefühl, uns stehen goldene Jahre bevor. Trotz der Tatsache, dass wir auf einem randvollen Pulverfass sitzen.“

4.
„Aber das ist Wahnsinn!“, blaffte Jeremy Thomas Eikichi an. „Purer, Menschenverachtender Wahnsinn!“
„Denkst du mir gefällt das? Denkst du mir macht das Spaß? Wir reden hier über meinen Sohn! MEINEN Sohn! Helen ist noch keine zwei Jahre fort, und ich bin gezwungen, ihn in das da raus zu schicken! In das Chaos, in die Verwüstung! Dennoch tue ich es! Und weißt du auch warum, Jerry?“
„Nein. Sag es mir. Sag mir warum!“
Eikichi machte eine hilflose Geste. „Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung.“
Die beiden Männer wechselten einen langen Blick miteinander.
„Tee, alter Junge?“
„Gerne.“

Der Amerikaner und der Japaner saßen sich gegenüber und starrten dumpf an die Decke, während sie ihren Tee tranken. „Es ist unfair“, begann Jerry ernst. „Wir waren darauf vorbereitet, uns gegen die Truppen der Core-Zivilisation zu stellen. Wir waren auf einen unvorstellbaren Geheimdienstkampf eingestellt, im Verborgenen, aber mit unglaublicher Zahl. Wir haben erwartet… Wir haben vieles erwartet, angefangen von angreifenden Raidern, die unsere Städte bombardieren bis hin zu einer kollabierenden Dämonenwelt. Warum waren wir nicht darauf vorbereitet? Warum nicht?“
Eikichi nickte in Richtung der Fotos auf seinem Schreibtisch, die etliche Daishis beim Kampf mit Jagdmaschinen der verschiedenen Luftwaffen der Erde zeigten. „Darauf? Auf eine Horde Banges, die aus dem Nirgendwo kommt und uns angreift mit dem ausschließlichen Ziel, Verwüstungen zu verursachen und Terror zu verbreiten? Die Proklamation, dass die Erde sich ergeben soll, um ab sofort ein steuerpflichtiges Protektorat zu sein? Niemand hat damit gerechnet. Niemand hat damit gerechnet, dass euer Imperium uns angreifen wird.“
„Unser Imperium, bitte“, mahnte Jerry. „Durch die Hochzeit mit Helen bist du Mitglied der Arogad-Dynastie geworden, mein Junge.“
„Nicht, dass ich diesen Job gewollt habe. Nur das Mädchen“, erwiderte Eikichi bissig.
„Hört, hört.“

Eikichi enthielt sich einer direkten Antwort. „Also, wer ist es? Wer greift uns an? Und warum holen wir nicht einfach eine, zwei Divisionen Banges herüber und räuchern ihr Nest aus?“
„Das können wir nicht. Die gefangenen und toten Piloten der Banges tragen das genetische Erbe der Elwenfelt. Du weißt selbst, dass sie Verbündete des Hauses Arogad sind, und das seit Jahren. Das Imperium kann uns in diesem Fall nicht helfen, einmal ganz davon abgesehen, dass wir selbst etwas tun müssen, weil Hilfe frühestens in acht Monaten hier sein könnte. Viel zu spät, um auf der Erde noch etwas zu retten.“
„Die Elwenfelt also. Ich wusste nicht, dass sie so rücksichtslose Eroberer sind.“
Jerry schüttelte den Kopf. „Sind sie auch nicht. Sie sind Pragmatiker, aber keine Massenmörder. Auch wenn Eri an ihnen nie ein gutes Haar lässt, sie sind nicht ohne Grund Verbündete der Arogad.“
„Jerry, ich… Wie viele Arogad und Fioran haben wir auf dieser Welt? Es muß doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht ein einziger Banges-Pilot unter ihnen ist, der weitaus besser geeignet wäre, gegen die Elwenfelt zu kämpfen als mein Sohn. Wenn wir schon auf uns allein gestellt sind, dann lass wenigstens die Erwachsenen kämpfen und nicht die Kinder!“
„Es tut mir Leid, aber Primus lässt sich nur von Akira steuern. Du weißt was fast mit deiner Nichte Sakura passiert wäre, wenn die Verbindung zur Künstlichen Intelligenz nicht von außen unterbrochen worden wäre.“
Eikichis Miene wurde mürrischer. „Du willst mir sagen, dass die Naguad diese Banges nicht steuern können.“
„Richtig. Nur jemand mit Elwenfelt-Genom kann sie steuern. Frag mich nicht warum. Aber dein Sohn ist der einzige, der es umgehen kann. Verdammt, wir brauchen ihn.“

Eikichi Otomo atmete sichtbar aus. Er lehnte sich nach hinten und begann die Tafeln der Deckenverkleidung zu zählen. „Ich hasse euch Naguad.“
„Er tut es nicht für die Naguad. Er tut es für die Menschen. Und ich habe noch eine schlechte Nachricht für dich. Wir müssen Siryen und Meia fragen, ob wir ihre Tochter Megumi testen können. Meias Mutter war eine Elwenfelt, bevor sie in den Daness-Turm gekommen ist.“
Eikichi schlug in stummem Entsetzen die Hände vor sein Gesicht. „Nein, nicht auch noch Megumi. Demnächst kommst du und willst auch noch Yohko haben.“
„Das wird hoffentlich niemals nötig werden. Wir haben Prime in den Gefechtspausen lange genug studiert, um eine eigene Mecha-Reihe aufzubauen. Wir haben genügend Wracks der Kronosier geborgen, um uns Anregungen und Ideen dafür zu holen. Akira wird schon bald auf den ersten Mecha dieser Klasse…“
„Banges. Es sind Banges.“
„Banges klingt zu sehr nach Naguad. Aus diesem Grund nennen wir sie Mechas. Jedenfalls sind die neuen Mechas vom Typ Hawk weit stärker als die Daishis. Akira wird auf seinem Hawk noch viel gefährlicher sein. Und sobald wir Primus auseinander nehmen können, finden wir vielleicht einen Weg, wie wir Menschen die Hawks steuern lassen können, ohne dass sie halbe Naguad sind. Es ist ein Trick dabei und wir werden ihn finden.“
„Ich freue mich auf den Tag, an dem ich meinen Sohn aus diesem Stahlmonster zerren kann und er nie wieder eines steuern muss.“
Jerry nickte ernst. „Dieser Tag wird kommen. Bis dahin brauchen wir ihn, um diese gottverdammte Welt zu retten. Eikichi, er ist jetzt bereits eine Legende. Er hat in Europa gekämpft, in Amerika, über dem asiatischen Kontinent und oft genug über Japan und Australien. Sein Kampfname, Blue Lightning, steht immer für gravierende Niederlagen der Kronosier. Wo er auftaucht, erhalten die Truppen einen Motivationsschub, steigt die Zuversicht. Er ist ihre Hoffnung.
Und wer hinter sein Geheimnis kommt und erkennt, dass er ein vierzehnjähriger Junge ist, der mit Gewalt erwachsen wurde, beschützt dieses Geheimnis mit seinem Leben.“
„Du spielst auf den Zwischenfall in der Yamato-Kaserne an, als kronosianische Agenten versucht haben, seinen Spind zu plündern“, stellte Eikichi amüsiert fest. „Sieben Tote, nur um seine Identität zu schützen, drei davon auf unserer Seite. Und Akira ist… Akira ist… Gott, Helen, hilf mir. Ich schaffe es nicht alleine. Ich werde hier noch wahnsinnig. Einfach wahnsinnig.“

Der erfahrene Soldat und jetzige Industriekapitän sah den Amerikaner an. „Alter Freund, ich hoffe doch sehr, dass die United Earth Force bald die United Earth Mecha Force sein wird, weil wir mehr als einen Piloten haben. Und bitte lass es kein Kind sein.“
„Not…“, begann Jerry Thomas leise, „…kennt kein Gebot. Aber es gibt etwas Gutes. Der Rat gibt dir das Kommando über die UEMF. Außerdem greifen wir auf die anvisierte Energiequelle, Hochangereichertes Helium 3 vom Mond zurück. Und wir bauen dein Plattformensystem. Teufel, die Welt investiert in dich in diesem Jahr dreihundert Milliarden Dollar. Dafür kannst du doch…“
„Was, meinen Sohn hergeben und ihn kämpfen lassen? Ihn sterben lassen oder noch schlimmer, ihm beibringen, dass töten Spaß macht?“ Mit einer wütenden Handbewegung räumte Eikichi seinen Schreibtisch leer. „Wenn es keinen anderen Weg gibt so sei es. Aber die Erde wird nie mehr dieselbe sein, nachdem ich sie in Händen hatte! Das schwöre ich dir, Seg Mitur!“
„Und das“, sagte der Naguad in der Maske eines amerikanischen Offiziers bedächtig, „ist dein ganzes Recht, Eikichi Otomo!“
**
Die Attacke kam für mich nicht überraschend. Es war nicht das erste Mal, dass einer von Onkel Jerrys Begleitoffizieren versuchte, mich aus der Flanke oder von hinten zu attackieren, während ich mit meinem Katana trainierte.
Also verzog ich nur gering schätzend den Mund, passierte Jerrys Karatake-Hieb und ließ den angreifenden Offizier ins Leere laufen.
Der junge Mann stolperte leicht, fing sich aber wieder.
Er schenkte mir ein bewunderndes Lächeln und trat wieder an den Rand unseres kleinen Kampffeldes.
„Gut, gut“, brummte der Amerikaner und senkte seine Klinge. „Dem bist du wirklich gut ausgewichen. Wir machen hier Schluss.“
Ich brummte unwillig. Normalerweise behandelte mich Onkel Jerry als Gleichwertigen, sprich: als Erwachsenen. Was ja auch wohl das Mindeste war für den einzigen Mecha-Piloten der Erde. Aber manchmal neigte auch er dazu, mit erhobenem Zeigefinger auf mich zuzugehen und zu sagen: Du bist doch erst vierzehn, Akira.
Ich hasste es, wenn er das tat. Ich kämpfte gegen sie, die Kronosier, wo immer ich auf sie traf, wohin auch immer ich geschickt wurde. Ich wusste, dass mindestens dreißig verschiedene Agenten darauf angesetzt waren um herauszufinden, wohin mein Mecha als Nächstes verlegt wurde, damit die nächste Offensive der Kronosier nicht direkt in meine Richtung ging.
Welche Ehre.
Ich ging kaum zur Schule, und wenn war ich übermüdet und geistesabwesend, weil ich eine Arbeit leisten musste, die noch kein Mensch vor mir bestritten hat. Meine Freundschaften litten darunter ebenso sehr wie das Familienleben.
Ich arbeitete, verdammt, und als solcher wollte ich behandelt werden.
Na ja, Familienleben. Vater war eh die meiste Zeit bei seinen Projekten und seit neuestem dabei, die ersten Mondbergwerke zu planen und einzurichten. Und Yohko… Manchmal hatte ich Angst, dass ich nach Hause kam und sie die Polizei rief, weil sie mich für einen Einbrecher hielt.

„Wenn es nach mir ginge, würde ich dich noch ein wenig durch die Mangel drehen“, gestand Jerry grinsend. „Aber Yohko spricht den Rest der Woche nicht mehr mit mir, wenn sie nicht auch mal ne halbe Stunde von deiner Zeit bekommt.“
Ich grinste matt. Okay, den Punkt konnte ich dann wohl abhaken. Sie vermisste mich. Aber das war ja auch verständlich. Auch wenn Sakura uns den Haushalt führte, auch wenn Mako ständig reinschaute, damit sie nie wirklich alleine war – sie musste auf mich verzichten.
Zugleich füllten die Berichte über den Krieg die Medien und die Geschichten über Blue Lightning, das Topass der Verteidiger mehrten sich.
Es musste Yohko ganz schön pricken bei dem Gedanken, dass sie mit mir nicht angeben durfte. Aber das hätte sie nur zum Ziel gemacht und unsere ganze schöne Geheimhaltung gleich mit. Was meinen Tod bedeutet hätte. Okay, zumindest wäre ich ins Fadenkreuz gerückt und hätte jederzeit mit einem Scharfschützen rechnen müssen. Oder Schlimmeren.

Ich nickte also und trocknete Gesicht und Nacken mit einem Handtuch ab. Die Klinge in meiner Hand, ein Erbstück von Eikichis Mutter, steckte ich mit Respekt und Vorsicht wieder weg. Die Waffe war rasiermesserscharf und brandgefährlich. Eigentlich genau wie ich.
Jerry musterte mich einen Moment, bevor wir auf die Holzveranda traten. „Warte mal. Hier, fang.“
Eine kleine blaue Schachtel landete in meinen Händen. Ich öffnete sie und fand einen goldenen, fünfstrahligen Stern an einem in weiß, blau und rot längs gestreiften Rand vor. Fragend sah ich meinen Mentor an.
„Der Silver Star. Für herausragende Tapferkeit in der Schlacht um New York. Es war, soweit ich weiß, Admiral Henrys letzter Befehl, bevor er starb.“
Die New York-Kampagne… Ich erinnerte mich daran, erinnerte mich, wie ich in einer Aktion, die ihresgleichen suchte, mit einer Horde Russen und Deutscher über Kanada in den Luftkampf um die Millionenmetropole eingegriffen hatte. Es war der größte Schlag gewesen, der jemals von den Kronosiern geführt worden war. Drei Fregatten, elf Korvetten und fast zweihundert Daishis der Klassen Alpha und Beta hatten den Angriff geführt. Die Amerikaner, bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kampf mit den Kronosiern gewesen, hatten sich unendlich schwer getan, sich auf die Strategien der Daishis einzustellen. Nicht so die Russen und Deutschen, die bereits über Wladiwostok und München gegen sie gekämpft hatten.
Nun, die Amerikaner lernten schnell, aber sie brauchten Zeit, um das Erlernte auszuprobieren. Und vor allem mussten sie lange genug überleben, um zu lernen.
Ich erinnerte mich daran, dass wir über zweihundert Jets aller Klassen verloren hatten, bevor sich die letzten siebzig Daishis mit der überlebenden Fregatte und den restlichen abgesetzt hatten. Auf dem Rückmarsch vernichteten die Amerikaner noch einmal zwanzig Daishis.
Und für diese Schlacht, die achtzehn Stunden gedauert hatte, sollte ich nun diesen Orden bekommen?
Ich schloss meine Hand fest um das Metall, bis sich die Strahlen des Sterns in mein Fleisch bohrten. Siebenundvierzig unserer Piloten waren da draußen gestorben. Hätten sie Mechas besessen, was wäre dann gewesen?
Nur zögerlich öffnete ich die Hand wieder. „Ich nehme an“, brummte ich tonlos.
Jerry legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du ehrst die Piloten, die mit dir in der Schlacht waren, mein Junge.“

„O-nii-chan! Tee ist fertig!“ Unwillkürlich musste ich lächeln. Das war Yohko, wie sie leibte und lebte. Grinsend bat ich Jerry und seine beiden Offiziere herein.
Wie immer gingen ihre Blicke zuerst zu Sakura, dem hübschesten Ding diesseits des Pazifiks. Das ging meistens solange gut, bis Jerry sich räusperte. Meistens nach… „Ähemm!“
…Nach fünf Sekunden, was dazu führte, dass die Männer verlegen den Blick senkten und nicht mehr aufsahen, bis sie das Haus verlassen hatten.
„O-nii-chan“, säuselte Yohko im Ich will mehr Taschengeld-Tonfall.
Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. „Ja, Yohko?“
„Wann darf ich es auch mal probieren? Ich meine, ich bin doch deine Schwester. Wenn es wirklich nach Gehirnstruktur geht, dann müsste ich es doch auch können. Oder? Oder?“
„Moment, Auszeit, Auszeit“, bat Jerry. „Yohko-chan, das klingt gerade so als würdest du Akira darum bitten, dich einmal an Primes Kontrollen zu lassen.“
„Ach Quatsch. Das ist doch Blödsinn.“
Ich atmete auf. Ein Soldat in der Familie reichte völlig.
„Ich will nur mal mit der KI synchronisieren. Ich kann ja einen Hawk nehmen, sobald die fertig gebaut sind.“
Erschrocken sahen Jerry und ich uns an. „Yohko, das sind Top geheime Informationen! Ich habe sie dir nicht erzählt, Jerry bestimmt nicht und Sakura weiß nicht mal was davon!“
„Ist doch egal woher ich es weiß. Ich will es ja nur mal probieren. Immerhin hast du Megumi-chan auch mit Prime synchronisieren lassen.“
„Du hast was? Akira, du hast was?“
„Ruhig Blut, Onkel Jerry. Ruhig Blut. Wir haben es ja nur mal probiert. Es war der komplette wissenschaftliche Stab dabei und wir hätten den Versuch jederzeit abgebrochen. Außerdem hatte ich Sakuras Okay dazu.“
„Sakura?“
„Was sollte ich machen? Sie hat mich erpresst, die niedliche kleine Megumi.“ Sakura versuchte desinteressiert an uns vorbei zu sehen. „Sie hat gesagt, dass sie aller Welt verrät, wer Blue Lightning ist, wenn ich es verbiete. Und entschuldige bitte, Akira ist gerade der beliebteste und gehassteste Mann der Welt. Die einen lieben ihn für seine Leistungen im Kronosier-Krieg, die anderen hassen ihn, weil sie denken, nur wegen ihm dauert der Krieg überhaupt noch an. Es war ja nur ein Experiment. Ein Spaß, um ein junges Mädchen, das zufällig gesehen hat, wie Akira Otomo in einen Daishi kletterte ruhig zu stellen. Ihre Eltern wissen Bescheid. Als Militärangehörige habe ich ihnen einen Schweige-Eid abgenommen.“
Frustriert schnaubte Jerry aus. „Schweige-Eid. Schweige-Eid. Mein Gott, wie konntest du dieses Mädchen, ausgerechnet dieses Mädchen auf das Gelände lassen? Sakura? Wir reden hier von Solia!“
„Solia?“, fragte ich verwundert.
„Megumi Uno, meinte ich.“ Resignierend starrte der amerikanische Offizier in seine Teetasse. „Und, wie war ihre Synchronisation, gemessen an Akira?“
„Fast hundert Prozent.“
Entsetzt sah Jerry mich an, dann Sakura.
Ich hob abwehrend die Arme. „Ich habe nicht vor, sie in einen Hawk zu lassen!“
„Als wenn wir bei dir die Wahl gehabt hätten!“, blaffte Jerry wütend und schlug auf den Tisch. „AKIRA! IDIOT, MANN!“
„Und deshalb will ich auch! Ich bin sicher ich synchronisiere auch so gut wie O-nii-chan und Megumi-chan mit der KI. Wir brauchen doch Piloten, oder?“
„Sicher, wir brauchen doch Piloten. Aber doch nicht dich oder Megumi!“
„Aber dich brauchen sie, was, O-nii-chan? Ich will dir doch nur helfen! Megumi-chan will dir doch nur helfen! Du kannst doch nicht alles alleine schaffen, das geht doch nicht! Sogar Sakura-O-nee-chan wollte dir helfen und wäre deshalb fast gestorben!“
„Yohko“, mahnte die Ältere sanft.
„Ist doch wahr. Du vergehst doch jedes Mal vor Angst, sobald er aufsteigen muß, weil du ihm nicht helfen kannst! Aber Megumi kann es vielleicht. Und ich vielleicht auch! Warum lasst ihr uns nicht? Wir wollen doch nur, dass…“

„Moment! Vergiss nicht, was du sagen wolltest, Yohko-chan“, sagte Jerry und griff in seine Uniformjacke. Er zog sein Handy hervor. „Ja? Kommodore Thomas hier. Blue Lightning ist hier, ja. Ein Handy ist immer an, seins oder meins, das wissen Sie doch, Captain. Ja. Ja. Ja. Hm. Ja. Okay.“
Er sah ernst zu mir herüber. „Tokio oder Kobe, in zwanzig Minuten. Wagen steht bereit. Prime wird vorbereitet. Du musst in achtzehn Minuten im Cockpit sein.“
„Ist gut“, erwiderte ich und erhob mich. Es ging also wieder einmal los.
„O-nii-chan!“, begehrte Yohko auf. „Du wolltest dich doch mit Megumi-chan am Hafen treffen!“
„Woher weißt du das denn?“
„Ihr wolltet ihre Mutter besuchen, schon vergessen?“
Ihre Mutter! Stabsdienstlerin bei den Selbstverteidigungsstreitkräften! Während Tokio vielleicht Ziel eines kronosianischen Angriffs wurde! Gehetzt eilte ich zur Tür. Mein Magen verkrampfte sich und fühlte sich plötzlich eiskalt an. Nein, oh nein, alles, nur das nicht!
Wenn etwas schief ging, und alle Zeichen deuteten darauf, dann griffen die Daishis Tokio an, und alles, was sich in der Nähe der militärischen Basen aufhielt! Und damit auch… „MEGUMI!“

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Die Geheimhaltung um Blue Lightning, den einzigen Mecha-Piloten der Menschheit war extrem aufwändig. Wenn ich von Japan aus startete, benutzte ich die neu erbaute Yamato-Basis, im Prinzip eine von einem enorm dichten Wachkordon umgebene Riesenhalle, in der man problemlos Zeppeline hätte bauen können, umgeben von einem Dutzend Gebäude, über die man die Halle durch schwer bewachte Tunnel betreten konnte. Der beste Schutz gegen visuelle Aufklärung von außen und aus dem Weltraum.
Wenn Primus startete, stellte sich für Beobachter die Frage, welche der eintausend Personen, die in einem der Gebäude arbeitete, wohl in diesem Mecha steckte.
Auf den Sohn des Wissenschaftlers und Geschäftsmann Eikichi Otomo achteten sie nicht. Noch nicht, und ich hoffte, es würde noch lange so bleiben.
Meistens wechselte ich während der Anfahrt das Fahrzeug oder die Nummernschilder wurden gewechselt. Manchmal holte mich auch ein Helikopter irgendwo aus Tokio ab.
In diesem Fall startete ich mit einer Bell direkt vom Dach eines Hochhauses, zog noch während des Fluges meinen Druckanzug an – der in solchen Situationen vorsorglich an Bord war – und landete mit dem Transporthubschrauber mitten in der Halle.
Kurz darauf stürmte ich in das Getümmel.

„Lieutenant! Primus ist bereit und voll aufmunitioniert! Die Selbstverteidigungsstreitkräfte sind informiert! AZ des Feindes bei Fünf Dreiunddreißig!“
„Fünf Minuten, dreiunddreißig Sekunden? Das ist nicht viel!“
Wir erreichten meinen Mecha, meinen Primus. Ich erklomm eine kleine Bühne, um in das Cockpit zu kommen, welches im Bauchbereich installiert war, direkt unter dem Fusionsreaktor, der Primus nahezu unerschöpfliche Energien garantierte. Und darüber hinaus mit einem ordentlichen Gewicht belastete. Die Hawks, unsere Weiterentwicklungen, würden mit Energiezellen betrieben werden. Reaktoren, die mit Helium 3 betrieben würden, sollten die Aufladespannungen liefern, um einen Hawk mit Energie für einen Tag oder länger zu versorgen. Ich hielt es für einen Vorteil, nicht mit einer kleinen Bombe über dem Kopf unterwegs zu sein.
„Bewaffnung?“
„Gatling Gun mit achttausend Schuss pro Minute mit panzerbrechenden Rounds. Viertausend Schuss sind geladen. Artemis-Lanze mit ultrahoch vibrierendem Carbonblatt. Vierzig Selbstlenkende Raketen. Weitere Fragen?“
„Keine weiteren Fragen, Colonel Hatake. Wünschen Sie mir einfach nur Glück und lassen Sie mich von der Leine.“
Tatewaki Hatake, ein Freund meines Vaters, nickte wirsch, konnte aber ein flüchtiges Grinsen nicht verbergen. „Treten Sie denen kräftig in den Arsch, Lieutenant.“
Ich nickte dazu, während Karl meinen Druckanzug mit dem Cockpit verband. Zum Schluss etablierte ich die Verbindung zur Künstlichen Intelligenz. „Guten Morgen, Primus.“
„Guten Morgen, Sir. Der Feind kommt schneller näher als wir erwartet haben. Um es präzise auszudrücken, ein Teil der Feinde scheint schon in der Stadt gewesen zu sein.“
Ich fluchte leise. Diese Taktik hatten sie schon mal gebracht, damals in Rotterdam, beim Angriff auf London. Nur hätte ich nie erwartet, dass die Kronosier auch in Japan komplette zwölf Meter hohe Kampfroboter einschmuggeln konnten. Doch darum würde sich der Geheimdienst kümmern müssen.

Die Hangartore öffneten sich, die Haltevorrichtung um Primus löste sich. Ich warf den Mecha herum und verließ im Laufschritt den großen Hangar. Draußen gab ich den Impuls für die Sprungdüsen und der Mecha erhob sich auf einem ultraheißen Plasmastrahl in den Morgenhimmel über Tokio.

„HQ meldet Angriffe auf die Yamato-Basis, Sir.“
Ich orientierte mich kurz auf der Basis. Drei Daishi Alpha griffen das Gebäude mit Raketenbeschuss an, aber fünf Goblin-Panzer, Neuentwicklungen für den Kampf gegen Daishis, hielten sie nicht nur auf respektvollem Abstand, sondern holten auch die Raketen weit vor der Basis runter.
Sehr effektiv, diese Dinger. Nur leider wurden sie noch nicht in Massenproduktion hergestellt.

„Nicht ablenken lassen, Lieutenant! Im Moment sind die Stellungen am Hafen unter Feuer! Beeilen Sie sich!“
Ich ließ mich nicht lange bitten, ging auf die Frequenz der Selbstverteidigungsstreitkräfte.
„Blue Lightning, hier Blue Lightning. Komme von zwo sieben null ins Kampfgebiet.“
„Major Itachi hier! Sie kommen genau richtig! Der Angriff der Daishis aus dem Lagerhallensektor am Hafen kam mehr als überraschend für uns, und wenn wir gegen sie kein Mittel finden, dann brechen die Hauptstreitkräfte durch!“
„Wie sieht es mit weiteren Verstärkungen aus?“
„Die SARATOGA ist in Reichweite und schickt uns alles was fliegen kann. Zudem steigt gerade alles auf, was Japan zu bieten hat!“
„Wie viele Angreifer sind es gleich noch mal?“
„Hat Sie niemand informiert, Blue Lightning? Es kommen fünf Fregatten auf uns zu, dazu dreihundert Daishis beider Klassen. Wir werden hier oben mächtig zu tun bekommen.“
„Das glaube ich auch!“

Schnell erreichte ich den Hafen. Noch drei Minuten, bis die Hauptmacht angriff. Über der Tokio Bay sah ich zwei TomCats brennend ins Meerwasser stürzen. Weitere Trümmer, von Daishis und anderen Jets schwammen bereits brennend in der Bay. Ich orientierte mich kurz und sah meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Diese Bastarde, die vom Hafen aus gestartet waren, hatten es auf das Hauptquartier abgesehen! Ich… Konnte nur noch mit ansehen, wie ein Bündel Raketen das Gelände verwüstete. Die drei Daishis, die für diesen Beschuss verantwortlich waren, begannen nun Jagd auf Bodentruppen zu machen!
Wütend warf ich die Artemis-Lanze, auf eine Distanz von vierhundert Meter traf ich den ersten Alpha mittig, spießte ihn auf und pfählte ihn an einer Stahlbetonwand. Der Treffer ging mittig durch sein Cockpit, der Pilot konnte unmöglich überlebt haben!
Der Nächste! Ich kam heran gerauscht, während die beiden übrig gebliebenen Daishis noch immer Jagd auf die Überlebenden machten.
Yohkos Worte hämmerten plötzlich in meinem Kopf, dass ich mich mit Megumi hatte treffen wollen, um ihre Mutter im Stab zu besuchen.
Von tiefer Angst erfüllt suchte ich das Gelände ab und fand Megumi tatsächlich! Wie ein hypnotisiertes Kaninchen stand sie vor einem Daishi und starrte zu ihm auf.
Ich bildete mir ein hören zu können, wie sie nach mir rief.

Primus ließ die Gatling fahren, wütend brüllte ich auf und fuhr auf den Alpha nieder. Die Hände des Mechas zuckten vor, bohrten sich in die Panzerung des Daishis.
Dann zerriss ich die Maschine in zwei Hälften.
Einen Teil warf ich dem dritten Mecha zu, der gerade noch mit seinen Raketen Infanteristen gejagt hatte.
Die Maschine wurde getroffen, kam herum, wollte feuern, aber da hatte ich selbst schon eine volle Salve Raketen ausgelöst.
Sie schlugen auf kürzester Distanz ein, schlugen mir eine Bresche. Und die Faust von Primus nützte diese Bresche, um das Cockpit und den Piloten auszulöschen!
Hastig begann ich mich abzuschnallen. Megumi! Hoffentlich war ihr nichts passiert!
„Blue Lightning hier. Gebt mir eine Minute!“
„Was ist passiert? Sir, was ist passiert?“
„Sie haben das HQ erwischt. Alle Einheiten sollen auf UEF-Frequenz wechseln, ich wiederhole, UEF-Frequenz. Die Yamato-Basis übernimmt ab sofort die Koordination.“
„Verstanden, Sir. AZ der Hauptmacht in eins siebzehn!“
„Das reicht mir, Major Itachi.“
Ich stürzte aus dem Cockpit, lief auf Megumi zu.
„Megumi!“ Ich drückte sie an mich, in der Hoffnung, dass sie unverletzt war, das sie überleben würde. „Megumi, geht es dir gut?“
Als Antwort weinte sie und drückte sich an mich.
„Dreißig Sekunden, Sir!“, meldete Primus und erinnerte mich wieder an meine Pflicht.
Da stand ich, drei Daishis zerstört, über mir eine Luftschlacht, die bald mit dreihundert Maschinen dieses Typs aufwarten würde, in den Armen ein Mädchen, das mir ebensoviel bedeutete wie meine Familie. Ich spürte die Last der Verantwortung schwer auf mir lasten. Und ich traf eine Entscheidung.
**
„Blue Lightning, hier Blue Lightning! Entschuldigt die Verspätung, aber ich musste noch schnell drei Alpha vernichten!“
„Schon in Ordnung, Lieutenant. Es wäre aber nett, wenn Sie uns jetzt zur Hand gehen könnten.“
„Akira!“ Megumi sah auf einmal anders aus. Konzentriert, ausgewechselt. Und so kühl, dass ich mir unwillkürlich ans Herz griff. Oh Gott, was hatte die Welt ihr angetan? Was hatte ich ihr angetan? Was hatten die Kronosier ihr angetan?
„Akira, der linke November ist fast schutzlos. Ihn verteidigen nur drei Beta! Wenn man dir diese Tür aufmacht, dann kannst du die Fregatte vernichten!“
Ich pfiff anerkennend. Das war eine bemerkenswert gute Analyse gewesen. Zudem korrekt.
„Wer spricht da, Lieutenant?“
„Das war mein Strategieoffizier, Major Itake“, erwiderte ich süffisant und erntete den Hauch eines Lächelns von der jungen Frau, die sich zwischen meinen Sitz und die Cockpitwand gezwängt hatte. „Und er hatte eine sehr gute Idee. Detachieren Sie die beiden Falcon Fulcrum auf meiner Flanke und lassen sie sie die drei Beta beschießen, die ich ihnen markiere. Danach breche ich zur Fregatte durch.“
„Zur Fregatte? Aber das ist Selbstmord! Selbst für Sie, Blue Light…“
„AUSFÜHRUNG!“
„Lieutenant Yorinaga hier! Fox two!“
Die beiden Fulcrum-Piloten beschossen die anvisierten Ziele mit Mavericks, woraufhin die drei Daishis seitlich auswichen.
Ich ging auf maximale Beschleunigung, durchbrach ihre Linie und befand mich in Waffenreichweite der Fregatte. Ich warf Primus herum, entging dem Waffenfeuer der großen Partikelgeschütze. „Hey, mit Kanonen auf Spatzen schießen, das habe ich gerne!“, blaffte ich wütend.
„Dieser Spatz hat aber ein extrem gefährliches Schwert in den Krallen“, gab Megumi zu bedenken.
Ich grinste flüchtig. Dafür, dass ich sie in meinem Cockpit mitgenommen hatte, würde Jerry mir die Hölle heiß machen, das wusste ich. Aber ich hatte sie da unten nicht zurück lassen können. Ich hätte die Ungewissheit niemals ertragen.

Raketen schossen aus den multiplen Werfern hervor, gingen mich an. Ich fixierte die einzelnen Kondensstreifen binnen weniger Augenblicke und die Raketenabwehr begann zu arbeiten. Was Primus nicht zerstören konnte, wurde von mir ausgetanzt.
Dann war ich über den Aufbauten der Fregatte, feuerte die Gatling Gun ab, jagte die panzerbrechenden Runden in den kalten Stahl der kronosischen Fregatte.
Zwei Geschütztürme explodierten, ein weiterer wurde derart arretiert, dass er sich nicht mehr bewegen ließ.
Dann war ich direkt vor der Brücke.
Ich konnte hinein sehen, erkannte Kronosier, die panisch zu mir heraus sahen… Und Menschen. Menschen? Söldner? Verräter an unserer Rasse?
Die Artemis-Lanze in der linken Hand von Primus zuckte vor, durchbrach das Panzerglas der Brücke. Dann aktivierte ich den Vibrationsmodus der Klinge und trieb sie durch den Boden. Stromleitungen wurden zerfetzt, elektronische Geräte explodierten, Feuer brach aus, die Fregatte begann seitlich zu gieren. Dann riss ich die Waffe hoch, aktivierte den Vibrationsmodus erneut und perforierte die Decke der Brücke. Meiner schlanken Stabwaffe folgte die Glutwolke einer Explosion.
Die Fregatte sackte durch, verlor rapide an Höhe.
„Major Itachi“, sagte ich leise, „bevor der Maschinenraum die Steuerung übernimmt, sollten wir diesem Kahn den Rest geben.“
„Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte… Du bist wirklich Blue Lightning! Sofort auf meine Höhe zurückfallen, Lieutenant! Ein amerikanischer Aegis-Kreuzer gibt der Fregatte den Gnadenstoß.“
Ich bestätigte und startete vom verwüsteten Deck der November-Klasse.
Schnell zog ich mich zurück auf die vage Linie, die von den Jets der Erdstreitkräfte eingehalten wurde. Im Gegensatz zu den Daishis konnten sie nicht einfach so in der Luft stehen bleiben.
Dann jagten die Schiffsraketen des Aegis heran, drei auf einmal, trafen die Fregatte schwer im Triebwerksbereich und in den unteren Aufbauten. Kein Abwehrfeuer schlug ihnen entgegen.
Stattdessen verging ein einstmals stolzes Schiff im Feuer und stürzte in die Bucht von Tokio.

„Gut gemacht, Blue Lightning“, erklang die Stimme des Majors.
„Mein Strategieoffizier hat die Lücke gesehen, nicht ich“, wehrte ich ab.
Megumi lächelte grimmig. Ob ich jemals wieder ein sanftes Lächeln von ihr sehen würde? Nach diesem für sie so furchtbaren Tag?
„Und wir sind noch lange nicht fertig! Ich brauche freie Flugbahn zur zweiten Fregatte!“
„Verstanden, Blue Lightning! Fox two! Fox two!“
Eine Wand aus fünfzig Mavericks, Sidewinder und Darts schoss auf die Daishi-Abwehrstellung zu, die vor der zweiten Fregatte auf meinem Speiseplan stand.
Grimmig beschleunigte ich.
**
Zurück auf der Basis, nach über neun Stunden Kampf, wollte ich eigentlich nur eines. Nach Hause gehen, schlafen, schlafen, schlafen.
Aber ich konnte es nicht. Ein eisiges Gefühl fraß sich durch meine Eingeweide, und jede Sekunde, in der ich Megumis Hand hielt, wurde es schlimmer. Ihr stand schreckliches bevor. Ich spürte es, ich wusste es.
Es war so furchtbar, dass Jerry mich nicht einmal dafür getadelt hat, dass ich sie in meinem Cockpit mitgenommen hatte.
Und das machte mir Angst.

Kommodore Thomas kam zu uns herüber. Von Onkel Jerry sehr gut zu unterscheiden an der extrem steifen Miene und dem Funkeln von Trauer in den Augen.
„Uno-kun, ich…“, begann er und brach wieder ab.
„Meine Eltern sind tot, nicht wahr?“, fragte sie tonlos.
Mir drehte sich der Magen um. Ihre Worte, ihr Blick, alles war so kalt, so eisig kalt. Wäre da nicht ihre Hand gewesen, die sich furchtbar fest um meine krampfte, ich hätte dieses Mädchen nicht mehr wieder erkannt.
Jerry nickte schwer. „Sie sind beide bei dem Angriff gefallen. Mein aufrichtiges Beileid, Uno-kun.“
„Verstehe. Wann holen sie mich ab?“
„Wer holt dich ab?“
„Die von der Fürsorge. Jetzt, wo ich eine Waise bin und…“ Wieder krampfte ihre Hand um meine. Ich drückte nicht minder fest zu. Sie wollten mir Megumi wegnehmen? Niemals! Wenn mein Status als Blue Lightning für irgendetwas gut war, wenn nicht dann, um sie zu beschützen?
„Niemand holt dich ab, Megumi-chan“, sagte Jerry ungewöhnlich sanft. „Niemand holt dich hier weg.“
Entsetzt sprang ich auf, ließ ihre Hand aber nicht fahren. „Nein, Jerry! Nein!“
„E-es wurde bereits alles arrangiert. Eikichi hat es erledigt, noch während du die zweite Fregatte vernichtet hast. Er hat gesagt, Megumis ruhiges Auge hat deine Performance um dreißig Prozent verbessert und…“
„Nein, Jerry, nein. Nicht Megumi!“
„Es ist nicht deine Entscheidung und leider auch nicht mehr meine.“ Er sah Megumi in die Augen. „Megumi-chan. Ich biete dir hiermit an, als Offiziersanwärter und Mecha-Pilot in die UEF einzutreten. Wir liefern diese Woche vier Hawks aus, und Akira wird einen übernehmen.“
Ich hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Ich hatte gewusst, dass ich Primus nicht für immer steuern würde. Primus, diesen mächtigen Verteidiger der Menschheit. Der weiße Mecha, der dem Feind Tod und den Menschen Hoffnung gebracht hatte.
„Einen sollst du übernehmen. Deine Synchronisationswerte waren ganz hervorragend. Und du hast deine Feuertaufe nun schon hinter dir.“
„Wann kann ich anfangen?“
Entsetzt riss ich an ihrer Hand, zog ihren Körper zu mir herüber und drückte sie an mich. „Megumi, verdammt, ich mache das alles doch nur aus einem Grund! Damit mir liebe Menschen wie du und Yohko nicht in diese Maschinen steigen müssen!“
„Und genau deshalb will ich in diesen Hawk klettern.“ Sie sah mich an, Tränen schimmerten in ihren eisigen Augen. „Damit du das nicht mehr alleine tun musst. Damit du jemanden hast, der dir den Rücken deckt. Damit nicht noch mehr Kinder ihre Eltern verlieren. Zu zweit können wir soviel mehr erreichen.“
„Megumi…“
„Akira, ich…“
„Wie dem auch sei. Für heute haben wir genug getan. Komm, wir fahren zu mir nach Hause. Ich bin sicher, das Essen wartet schon auf uns. Und mein Cousin Makoto ist auch gerade da.“
Ich stand auf, zog Megumi auf die Beine. Dann ließ ich ihre Hand fahren. „Ist da okay, Onkel Jerry?“
„Ich will dir nicht zur Last fallen, Akira“, sagte sie mit schwacher Stimme.
„Heute wirst du es, ob du willst oder nicht. Also, wie ist es, Onkel Jerry?“
„Ich kümmere mich um eine eigene Wohnung für dich, Megumi-chan. Und jetzt geht, ihr zwei. Beim aufräumen müsst ihr wirklich nicht mehr dabei sein.“
Erleichtert atmete ich auf und setzte mich in Bewegung. Megumi spürte ich dabei wie eine gewaltige Hitzequelle immer einen Schritt hinter mir.
Ihre Hand griff plötzlich nach meiner, hielt sie ohne dass wir beide stoppten. Und so gingen wir weiter durch den Hangar. Ich wusste nicht, ob ich froh oder zutiefst bestürzt sein sollte.
Ich brachte sie in Gefahr. Ich raubte ihr die Seele. Ich, nur ich allein.

5.
Mit einem dünnen Lächeln saß ich auf Blue Lightnings Fuß und las meine Korrespondenz. Im dreizehnten Monat der Kämpfe war ich reifer und erwachsener geworden. Ein frühzeitiger Wachstumsschub hatte mir fast die Größe eines durchschnittlichen Erwachsenen beschert und die ewigen Kämpfe einen äußerst trockenen Humor.
„Worüber lachst du, Akira?“ Megumi ließ sich neben mir nieder und nahm einen der gelesenen Briefe auf. „Du ekliger Bastard und Kriegshetzer! Mögest du ins Meer stürzen und von den Fischen gefressen werden… Akira, wer schreibt dir denn solche Briefe?“
Ich zuckte die Schultern. „Kriegsgegner halt, die mich anders hier auf der OLYMP-Basis nicht erreichen können. Lass sie doch. Das sind wenigstens Dinge, die ich nachvollziehen kann.“ Ich deutete auf einen großen, bis zum Rand gefüllten Postsack. „Die da machen mir viel mehr Sorgen.“
Interessiert sah Megumi herüber. „Was ist das?“
„Das ist die zweite Abteilung neben wüster Beschimpfungen für den Kriegshetzer. Das sind die Liebesbriefe.“
„Liebesbriefe?“ Die junge Frau zog die Stirn kraus. „Verstehe ich nicht. Deine Identität wird geheim gehalten, da unten kennen sie nicht mal dein wahres Alter. Was die Welt von dir weiß sind nur deine Einsätze auf Primus und Blue Lightning. Und du kriegst Liebesbriefe?“
„Jede Menge. Jede Menge. Von Frauen, von Männern, von Kriegsfanatikern, du glaubst nicht wie lang die Liste ist.“ Ich grinste sie über den Rand des Briefes an. „Kriegt Lady Death etwa keine Liebesbriefe?“
Sie errötete. „Ein paar vielleicht.“
„Definiere ein paar vielleicht.“
„So um die hundert.“
„Aha.“
„Am Tag.“
Ich wusste für einen Moment nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Ein lautes Spektakel enthob mich einer Antwort, als Sakura seufzend zu uns herüber trat und zu ihrem Bruder und meiner Schwester hinüber deutete.
„Was ist denn mit denen los?“ Thunderstrike und Zeus, die beiden anderen Mecha-Piloten der Menschheit alias Yohko und Makoto kamen ebenfalls näher, unterbrachen ihren Streit aber nicht für eine Sekunde.
„Und ich sage dir, ich hätte ihn auch ohne dich geschafft! Außerdem war dieser Schuss so verdammt knapp, ich wette, auf Thunder sind Schleifspuren von deiner Munition zu finden!“
„Abgesehen davon, dass ich der beste Schütze der Welt bin, Yohko-chan, ich war nicht bereit das Risiko einzugehen, dass du gegen zwei Daishi Gamma vielleicht nicht bestehen könntest! Basta!“
Die beiden schnauften sich wütend an.
„O-nii-chan, sag doch auch mal was!“
„Akira, kannst du ihr vielleicht mal erklären, dass die Hekatoncheiren kein Kuschelverein sind? Wenn sie nicht mit der Elite mithalten kann, dann…“
„Ich KANN mit der Elite mithalten! Ich BIN die Elite!“, schrie sie wütend.
Laut genug, dass mir die Ohren klingelten. „Yohko“, mahnte ich.
Sofort schaltete sie einen Gang zurück, drückte die Zeigefinger aufeinander und murmelte eine Entschuldigung.

„Wie war der Einsatz?“ Ich begleitete meine Worte mit einem Blick, der unmissverständlich klar machte, dass ich einen leichten Thema-Wechsel wünschte.
„Es lief ganz gut. Wir konnten die KAZE rechtzeitig erreichen. Beide Erzfrachter sind unbeschadet auf der Armstrong Basis gelandet. Wir haben sie und die KAZE dann bis zum Lagrange-Punkt Erde-Mond begleitet und ließen uns dann von der YAMATO ablösen. Die Frachter und die Fregatten treffen hier in zwei bis drei Stunden ein. Keine weiteren feindlichen Ortungen in Reichweite.“
„Wir hatten einen Zusammenprall mit zwei getarnten Korvetten und den zwanzig Daishis, die sie transportieren können. Es waren zwei Gammas dabei“, fügte Yohko hinzu. „Ich war gerade dabei, ihnen so richtig den Arsch aufzur…“
„YOHKO!“
Erschrocken sah sie zu Boden. „Sie so richtig fertig zu machen, da hat Mako so knapp an mir vorbei geschossen, dass ich dachte, er hätte auf mich gezielt!“
„HA! Hätte ich auf dich gezielt dann hätte ich auch getroffen! Großmäuler mit so einem großen Ego sind nämlich meine Lieblingsziele!“
„Wer ist hier das Großmaul? Wer nennt sich denn hier Zeus? Doch nur der größte großmäulige Idiot!“
Die beiden wandten sich brüsk voneinander ab und ich seufzte tief. Diese zwei. Diese zwei.

Unmerklich drehte sich Yohko in Makotos Richtung. „Mako-o-nii-chan…“
„Der größte Idiot hört dich, Yohko.“
„Mako-o-nii-chan, ich…“
„Es tut mir Leid, dass ich so knapp an dir vorbei geschossen habe. Ich hatte nur Angst um dich. Da habe ich einfach nur reagiert.“
„O-NII-CHAN!“, rief Yohko, wirbelte herum und drückte sich heulend an Makotos Rücken. „Es tut mir Leid, es tut mir Leid! Ich wollte nicht mit dir streiten! Ich wollte dir keine Sorgen bescheren!“
Makotos steife Haltung schmolz dahin wie Butter in der Sonne. „Yohko-chan, es kommt doch nur darauf an, dass du unverletzt bist.“
„Wirklich?“, hauchte sie und krallte sich in Makos Rücken fest.
„Ganz wirklich.“

„Und das sind die gefährlichsten Piloten der Menschheit“, murmelte ich. Aber es war keine Enttäuschung in meiner Stimme. Nur ein wenig Wut, weil ich mit meiner eigenen Rührung zu kämpfen hatte. Diese beiden.
„Bevor das ganze hier in Gruppenkuscheln ausartet, kommt zur Abschlussbesprechung. Vater hat uns einiges zu erzählen.“
Ich nickte und verließ den Hangar.
„Seht ihn euch an. Wie cool er tut“, flüsterte meine Schwester.
„Ja, tut so, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Aber ich wette, er würde heulen wie ein Schlosshund, wenn er auch nur in Megumis Richtung hätte feuern müssen“, fügte Makoto hinzu.
„Was? Wieso das denn? In meine Richtung? Ich verstehe nichts!“
„Und schon haben wir zwei von der Sorte.“ Mako seufzte laut genug, dass es von den Hangarwänden wiederzuschallen schien.
Ich wandte mich halb zur Seite. „Sakura.“
„Verstanden.“ Meine Cousine nickte mir lächelnd zu und wartete auf die drei Piloten.
Dann umarmte sie Makoto. „Oh, mein süßer kleiner Bruder, du musstest ja solche Angst um deine niedliche Cousine ausstehen. Wenn ich mir vorstelle, was du durchmachen musstest! Wie schrecklich! Wie gemein! Mako-nii-chan!“
„Schachmatt“, brummte ich gehässig.
Das war eine Sekunde bevor sich Megumi an meinen linken Arm hängte. „Was meinte Mako-chan denn damit, dass du heulen würdest wie ein Schlosshund?“
„Du, das ist jetzt wirklich eine schlechte Zeit, um das zu diskutieren“, wehrte ich ab. „Wir reden nach der Besprechung darüber.“
Zu meiner Erleichterung gab sie sich damit zufrieden. Aber vergessen würde sie es sicherlich nicht.
**
„Zuerst einmal möchte ich euch für die gute Arbeit danken. Dir, Makoto und dir, Yohko, für den Schutz unserer Flugrouten Erde-Mond. Und dir, Akira und dir, Megumi für den Einsatz im Orbit über Afrika. Ihr habt effektiv bewiesen, dass wir ein zweites Plattformsystem brauchen, wenn wir die Infiltration der Kronosier stoppen wollen.
Aber das ist nicht das Hauptthema. Akira, wie sieht es mit deinen Abschusszahlen aus? Wie viele Mechas hast du zerstört?“
Ich kratzte mir nachdenklich am Kopf. „So um die einhundertsieben. Warum fragst du, Eikichi.“
„Vater heißt das, mein Sohn. Soll sich deine Schwester vielleicht diese Unsitte bei dir abschauen? Es sind exakt dreiundsiebzig Alpha und achtunddreißig Beta. Dazu kommen siebzehn Korvetten sowie sechs Fregatten. Damit führst du die Topliste der besten Mecha-Piloten mit weitem Abstand an.“
„Warum erzählst du mir das alles, Eik… Vater?“
Vater sah in die Runde. „Wenn ich all das zusammen zähle, was ihr vier in diesem Jahr vom Himmel geholt und aus dem Weltraum geschossen habt, wisst ihr, zu welcher Erkenntnis ich da komme? Die United Earth Mecha Force hat alleine zweihundertsiebenundachtzig Daishis beider Klassen vernichtet. Dazu achtundzwanzig Korvetten und elf Fregatten – auf euch vier verteilt natürlich.
Darüber hinaus haben die Streitkräfte der Erde sowie unsere eigenen Kampfjets vom Typ Hawkeye und unsere Goblin-Panzer noch einmal ungefähr die gleiche Zahl an Mechas vernichtet. Unsere vier Fregatten darüber hinaus zwei gegnerische November und fünf Foxtrott.“
Hinter Vater erwachte der große Bildschirm zum Leben und zeigte die Statistik unserer Vernichtungen. Ich starrte die Zeitangaben und die Verlustzahlen an und stutzte. „Verdammt, das sieht nicht gerade aus, als würden es weniger werden. Das sieht so aus, als würden es von mal zu mal mehr Gegner, mehr Ziele. Mehr Schiffe.“
„Das hat sich die UEMF auch gedacht. Der Vorsitzende Fredriksson hat deshalb ein neues Programm ins Leben gerufen. Sakura.“

Die blonde Frau löste Vater am Sprechpult ab. Sie gehörte als Captain zur wissenschaftlichen Abteilung des OLYMP. Aber ich hatte mir sagen lassen, dass sie auch Schiffsdienst beantragt hatte. Und nebenbei kümmerte sie sich auch noch um uns Mecha-Piloten. Wie schaffte das Mädchen nur dieses Arbeitspensum?
Hinter ihr wechselte das Bild. Es zeigte nun einen Hawk-Mecha, aber die Lackierung stimmte mit keinem unserer vier Maschinen überein. Das Bild zoomte hinaus und stellte nun acht Hawks dar, alle im gleichen Schema lackiert. „Was ihr hier seht, sind die Titanen. Angelehnt an die griechische Mythologie sollen diese acht Mechas euch in Zukunft unterstützen.“
Ich atmete erleichtert auf. Endlich erhielten wir Verstärkung. Endlich wurden die Hawks in Massenproduktion hergestellt. Endlich würden wir…
„Moment mal, Sakura, Moment mal. Sag mir bitte nicht, dass ihr jetzt noch mehr Kinder in Mechas steckt?“ Unwillkürlich sah ich meine drei Kollegen an.
„Wen nennst du hier Kind, eh? Ich bin älter als du!“, blaffte Mako unwirsch.
„Nein, natürlich nicht.“ Sakura machte eine beruhigende Handbewegung. „Vier Piloten haben wir schon gefunden, die bereits eifrig auf den Maschinen trainieren. Sie sind alle älter als sechzehn.“
Ich schluckte hart. Okay, das war zwei Jahre mehr als ich auf dem Buckel hatte, aber zählte das schon als erwachsen?
„Es hat sich leider herausgestellt, dass wir noch immer keine erfahrenen Piloten auf die Mechas setzen können. Es ist uns noch nicht gelungen, die Künstlichen Intelligenzen weit genug anzupassen, um die reibungslose Synchronisation zu gewährleisten. Sie braten zwar keine Gehirne mehr…“ - unwillkürlich rieb sich Sakura die Schläfen, was mir erhebliche Bauchschmerzen bereitete – „aber die Synchonisationsrate bei Menschen über einundzwanzig ist zu niedrig. Zudem können nur die jungen Leute schnell genug die Synapsen ausbilden, die für die Kommunikation mit den KIs erforderlich sind. Darüber hinaus ist die Suche nach qualifizierten Piloten noch immer eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und gerade jetzt, wo der Hawk in Serie hergestellt wird, brauchen wir…“
„Sakura-chan, Sekunde. Du willst mir doch nicht erzählen, dass die UEMF zugestimmt hat, nun vermehrt und offen junge Leute für die Hawks zu rekrutieren?“
Sie deutete mit erschreckend bleichem Gesicht auf die Wand hinter sich. „Uns bleibt keine andere Wahl. Du siehst es selbst, für jeden Daishi, den wir zerstören bauen und bemannen sie zwei neue. Zudem haben sie schon herausgefunden, wie auch Erwachsene Menschen die Daishis steuern können. In letzter Zeit sind vermehrt menschliche Piloten aufgetreten. Sprich, die Zahl der Kronosier im Einsatz geht mehr und mehr zurück und die Zahl der menschlichen Söldner schießt in die Höhe.
Wir brauchen jeden verdammten Mecha, den wir einsatzklar kriegen können, sonst wird uns diese Welle bald überrollen.“

Schweigen antwortete ihr. Ich persönlich war frustriert. Was trieben unsere Wissenschaftler eigentlich? Wieso waren die Kronosier schon so weit und wir noch nicht?
Konzentrierten sie sich ausschließlich auf unsere hochwertigeren Waffen und bessere Panzerung und hatten sie die Synchronisation weit nach hinten geschoben?
„Verdammt.“
„Du sagst es, Akira“, brummte Makoto. „Und, Nee-chan, wer sind die Glücklichen vier neuen Piloten?“
„Ein Russe, ein Deutscher, ein Angolaner und ein Chinese. Sie kommen alle vier aus der Offiziersausbildung ihres Heimatlandes und gewöhnen sich relativ schnell an die Hawks. Zur Zeit trainieren sie noch in der Wüste von Arizona, aber in einer oder zwei Wochen werden sie bereit für die Verlegung auf den OLYMP sein. Bis dahin sind ihre Identitäten geheim.“
Sakura runzelte die Stirn, als sie unsere Blicke sah. „Nun, sie sollen euch nicht ersetzen. Nur verstärken. Sie übernehmen die Verteidigung des OLYMP und der Mond-Route, während die Hekatoncheiren und Zeus weiterhin weltweit an den Brennpunkten eingesetzt werden.“
„Das ist es nicht“, erwiderte ich, aber es war eine glatte Lüge.

„Was uns zum nächsten Punkt bringt.“ Vater löste Sakura wieder ab, sah uns ernst an. „Die KAZE und die YAMATO haben im Auftrag der UEMF den Mond genauestens abgesucht. Sie sind zur Erkenntnis gekommen, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit weder Stützpunkte der Kronosier noch Werften für Korvetten und Fregatten auf ihm befinden. Wir haben es bereits anhand der ballistischen Daten bei den Angriffen der Kronosier ermittelt, aber nun haben wir Gewissheit. Der Mond ist nicht die Heimatbasis unserer Feinde.“
„Bleiben noch Venus und Mars.“ Ich kratzte mir nachdenklich den Nasenrücken. „Okay, streicht die Venus. Dort herrscht ein Luftdruck von einhundert Bar auf der Oberfläche. Unter diesen Umständen kann man keine Basis unterhalten, wenn alles, was da unten landen will, zerquetscht wird wie ein Pappkarton in der Druckpresse.“
„Richtig. Bleibt noch der Mars. Und das macht unseren Gegner noch gefährlicher.“ Eikichi kratzte sich nachdenklich auf der Nase. Mist, von ihm hatte ich also diese schlechte Angewohnheit! Na, vielen Dank, Vater.
„Nicht nur dass er beständig expandiert und seine Truppe weiter ausbaut, er überwindet für seine Angriffe auch die beträchtliche Distanz zwischen Erde und Mars. Was die zwei Monate Ruhe erklärt, wenn sich die Erde, die sich in knapp dreihundertsechsundfünzig Tagen einmal um die Sonne bewegt, am weitesten vom Mars entfernt ist, der gut vierhundert Tage für diese Tour braucht.“
„Mit der Sonne zwischen uns verständlich“, murmelte Megumi. „Ist ein dreifacher Weg für die Kronosier.“
„Hast du etwa deswegen Mitleid oder sogar Verständnis für die Kronosier?“, neckte ich sie. „Weil sie es bei ihren Angriffen so weit haben?“
„Weit ist relativ“, warf Makoto ein. „Mit unseren hochmodernen Antrieben schaffen wir die Strecke von der Erde zum Mars bei idealer Konstellation in weniger als drei Tagen.“
„Die ideale Konstellation hat aber nur ein Zeitfenster von weniger als einer Woche“, warf Yohko ein. „Einen Tag vor der Konjunktion, die Konjunktion mit dem Mars selbst und die fünf Tage nach der Konjunktion. Da der Mars die Sonne langsamer als die Erde umkreist können wir uns von ihm quasi einholen lassen.“
„Wie dem auch sei“, unterbrach Vater unsere Fachsimpelei. „Wir haben Zugriff auf die Cassini-Sonde bekommen und die Erlaubnis erhalten, sie unauffällig in Richtung Mars zu bewegen. Ihren eigentlichen Auftrag wird sie damit nicht ausführen können, aber die UEMF verfügt nun sowieso über Schiffe, die weitaus schneller sind als der Antrieb der Sonde.
Sobald Frieden herrscht, werden wir das gesamte Sonnensystem mit unseren Fregatten erkunden.
Die Cassini-Sonde als eher primitive Technologie aus der Zeit vor der Attacke der Kronosier wird jedenfalls hoffentlich lange genug ignoriert werden, bis wir unseren Verdacht bestätigt sehen: Die Kronosier hocken auf dem roten Planeten.“
„Warum fliegen wir nicht gleich selbst mal rüber und machen alles platt was wir sehen? Wir sollten ihnen ein paar Werften zerstören, damit ihr Nachschub an Daishis und Schiffen zusammenbricht.“
„Akira hat Recht. Auf jeden Fall müssen wir uns ansehen, was die Kronosier als nächstes gegen uns aufbieten werden. Wir müssen dringend ihre Technologie und ihre Fortschritte feststellen“, unterstützte mich meine kleine Schwester.
„Das werden wir auch. Wir müssen die Kronosier wenigstens weit genug verlangsamen, damit wir technologisch aufholen können. Denn zerstören können wir sie nicht. Noch lange nicht.“ Vaters Blick schien in weite Fernen zu gehen. „So schwer es mir fällt einzugestehen, aber die Kronosier vergrößern ihre Truppen schneller als wir. Und sie haben auch bereits mehr Schiffe als wir.
Wenn wir uns nicht Zeit erkaufen, wenn wir nicht einen technologischen Fortschritt erzwingen, wie wir ihn bei den Mechas haben, wird dies vielleicht doch bald eine Kolonie der Kronosier.“
Ich war grimmig und entschlossen bei diesen Worten, denn ich fühlte, dass Vater jedes einzelne Wort gemeint hatte, wie er es gesagt hatte.

6.
Fasziniert lauschten die beiden jungen Leute den Ausführungen des Wolf-Dämons. Nie hätten sie erwartet, dass die Vorgeschichte, in die sie beide mehr oder weniger hinein gestolpert waren, so komplex, so aufregend und so gefährlich gewesen war.
Okame ließ sich ausnahmsweise mal nicht bitten und war ungewöhnlich redselig. So redselig, dass er neben Akaris siebenundvierzig Fragen auch noch Zwischenfragen und Spekulationen zuließ und nach bestem Wissen beantwortete.
Der geheime Pakt zwischen Dämonenwelt und Menschenwelt, federführend von den Arogad übernommen, nachdem die europäischen Großreiche in einem Krieg gegeneinander alle Moral und Menschlichkeit hinter sich ließen, die ewige Gefahr, erneut von der Core-Zivilisation entdeckt zu werden, die geheimen Vorbereitungen für genau diesen Fall, all dies breitete sich vor ihnen auf wie ein bunter Patchwork-Teppich, in dem jeder einzelne Flicken eine besondere Bedeutung einnahm.

„Zweitausend Jahre“, hauchte Michi fasziniert. Fasziniert und froh, sich letztendlich für die richtige Seite entschieden zu haben. Die richtige Seite, das waren Akira… Und seine Akari.
Der junge Kronosier fühlte eine Hand auf seiner Rechten ruhen. Er sah herüber und blickte direkt in Akaris lächelndes Gesicht.
Die Komplexität der Geschehnisse faszinierte sie auch, aber als ehemalige Oni und als langjährige Begleiterin von Akira konnte sie nur wenig erschüttern.
Er ergriff ihre Hand und drückte sie fest, die junge Frau erwiderte den Druck innig.
Der junge Mann mit den weißen Haaren, die das Genom der Elwenfelt verursacht hatte, spürte, wie er bis unter diese Haare errötete.
Akari lächelte süß dazu. Diese Seite an ihm mochte sie besonders, wie sie nie aufhörte zu betonen.
Aber Michi fragte sich, wie lange er noch schüchtern bleiben durfte. Oder noch schlimmer, bleiben konnte.
„Nicht so eilig, mein lieber Okame-tono“, sagte Michi, ohne in die Richtung des Dämonen zu sehen.
Der Wolfskönig, schon beinahe zur Tür raus, blieb stehen, als hätte ihn jemand bei etwas verbotenem erwischt.
„Eine letzte Frage haben wir da noch.“ Der junge Kronosier sah zu Okame herüber und seine Augen blitzten auf, als er den Dämonen fixierte. Eine KI-Reaktion, aber von ihm eindrucksvoll in Szene gesetzt.
Okame seufzte entsagungsvoll und setzte sich wieder. „Eine noch, okay, aber danach muß ich noch zu einer Besprechung mit Mako-chan.“
„Wieso nennst du Mako-chan eigentlich Mako-chan und nicht Makoto-tono, wie du es sonst bei allen anderen tust?“, fragte Akari.
„Bitte, lenk doch nicht vom Thema ab, sonst kann sich der Wolf herauswinden.“ Michi kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Aber diese Antwort interessiert mich auch. Also?“
Okame grinste schief. Das wirkte so unbeholfen und nett, dass die beiden sich unwillkürlich fragten, wo wohl der richtige Okame geblieben sein könnte.
„Mako-chan ist einfach viel zu süß. Habt ihr ihn noch nie in Frauenkleidern gesehen?“
„Frauenkleidern? Wieso Frauenkleidern? Akarin, was… Warum wirst du rot und siehst weg? Akarin, was verschweigst du mir?“
„Äh… Ich zeige dir nachher meine Sammlung. Du wolltest Okame doch was fragen.“
„Aber wirklich, ja? Und die Sammlung erklärt es? Echt?
Okay, Okame-tono, dann will ich eines wissen: Die Daima…“
„Daina!“ „Daima!“ „Daina!“ Dai-Ma!“ „Nein, es heißt Daina. Mit N.“
„Es ist beides richtig. Die Überlieferungen der Daina-Sprache ist nur phonetisch enthalten. Die Übersetzung selbst ist bei diesem Laut sehr ungenau, sodass man sowohl Daima als auch Daina sagen kann. Leider gibt es keine Daina mehr, die man fragen könnte. Und es gibt auch niemanden, der alt genug wäre, um noch mit einem lebenden Daina gesprochen zu haben. Denn dazu hätte er den Krieg miterleben müssen.
Also bleibt es jedem selbst überlassen, wie er den Namen ausspricht.
Was willst du über die Daina wissen, Michi-tono?“
„Du hast es gerade beantwortet“, murmelte der junge Kronosier und schüttelte wie benommen den Kopf. „Keine Daima mehr…“
„Daina!“
„Akarin, du hast doch Okame-tono gehört! Man kann es aussprechen wie man will. Ich…“
„Wenn es das jetzt war, dann gehe ich jetzt, meine Kleinen.“
„Was? Ja, danke dir, Okame.
Michi, in meinen Hausaufgaben schreibe ich Daima. Und das letzte was ich gebrauchen kann ist, dass mir mein eigener Freund phonetisch in den Rücken fällt!“
„In den Rücken fällt? Akarin, übertreib doch nicht immer so…“

Lächelnd zog der Riese die Tür hinter sich zu und ließ die jungen Leute alleine. Ihr kleiner Streit würde nicht ewig weitergehen. Und sie würden sich sehr schnell wieder vertragen.
Außerdem würde jeder verstreichende Tag dazu führen, dass sie der Erkenntnis über die beiden näher kamen. Waren sie für immer Verbündete… Oder wurden sie eine nie geahnte Gefahr?
Ihm schauderte als er für einen Augenblick mit dem Gedanken spielte, sie könnten eine Gefahr werden.
Aber er hatte ihre Kraft gespürt, damals, im Antriebssektor der AURORA. Bei der Großen Spinne, JEDER hatte sie gespürt. Welch unendliche Macht. Was für ein Schicksal.

__________________
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Clan Blood Spirit

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Anime Evolution: Past

Episode acht: Licht

Prolog:
In einem unbedeutenden Planetensystem, irgendwo zwischen dem offenen Sternhaufen der Hyaden und der Erde flog ein gigantischer Planetoid.
Dieser Planetoid wurde künstlich beschleunigt, die Triebwerke bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausgereizt, denn er war auf der Flucht. Der Planetoid, von der Menschheit entdeckt, ausgehöhlt, ausgebaut und genug isoliert um eine Atmosphäre zu halten, trug den Namen AURORA, nach der griechischen Göttin der Morgenröte.
An Bord waren gut hunderttausend Menschen und etwas mehr als eins Komma drei Milionen Kronosier, die Offiziere und Mannschaften in den Begleitschiffen mitgerechnet.
Der fünfzehn Kilometer lange und zwölf Kilometer breite Riesenfels war auf der Flucht.
Auf der Flucht vor den merkwürdigen, mantaähnlichen Kampfschiffen, die ihr in diesem Sonnensystem aufgelauert hat.
In den schweren Kämpfen zur Verteidigung des Giganten starben etliche Angreifer, aber auch viele Verteidiger, gute Menschen und Soldaten.
Die AURORA war vom nächsten Sprung noch weit entfernt, aber die Angreifer, die sich zurückgezogen hatten um sich neu zu formieren, flogen den Felsen erneut an – und würden ihn erreichen, bevor der Sprung gelang.

Dreißig Lichtjahre weiter, leicht versetzt hinter den Hyaden lag das Kanto-System. Es war vor allem für zwei Dinge interessant. Das eine war die naguadsche Regionaladmiralität, mit der die Schiffsbewegungen in einer ganzen Mark koordiniert wurde, das andere war Lorania. Die Heimatwelt der Anelph genannten Rasse, die den Menschen einst einen imperialen Eroberungscore geschickt hatten. Die damit die Kronosier erschaffen hatten und großes Leid verursachten. Sie hatten die Menschen um Hilfe und um Vergebung gebeten. Sie hatten beides bekommen.
Und die Menschen waren sogar bereit gewesen, sich mit dem ganzen, riesigen Imperium der Naguad anzulegen.
In diesem Moment schützten etliche Schiffe und Banges die Hauptwelt, dazu kreisten sechs spezielle Mechas um die Welt, jeder hatte einen Resonatorfeld-Torpedo an Bord, der für Menschen über vierundzwanzig eine unüberwindliche Barriere darstellte. Und wie der Angriff auf die Axixo-Basis bewies auch für Naguad.
Aber alles hatte sich verändert, von einem Tag zum anderen. Alles hatte sich egalisiert, Menschen, Anelph und Naguad sahen sich gezwungen, sich zu verbünden, gegen einen gemeinsamen, weit älteren Feind. Dieser Feind versammelte seine Flotte im Ortungsschatten eines Gasplaneten und lauerte auf seine Chance zum Angriff.

Noch einmal zwanzig Lichtjahre weiter lag das Nag-System mit der imperialen Hauptwelt Naguad Prime.
Prime war vor dreitausend Jahren eine Flüchtlingswelt gewesen. Aber nun war sie der Kern eines Imperiums, das Dutzende Systeme umfasste.
Hier waren die Angriffe der Manta-Schiffe schon lange bekannt, hatten sogar so etwas wie eine eigene Tradition.
Auch wenn die Hauptwelt seit fast zweitausend Jahren nicht erneut angegriffen worden war, hier kannte man den Feind, man kannte seine Stärken und Schwächen. Das Imperium existierte nur aus einem Grund: Die Angriffe dieses Gegners abzufangen.
Dieser Moloch, der bewohnte Welten mit Krieg und Eroberung überzog, der intelligente Wesen ihrer Körper beraubte, um die Gehirne in Tanks zu sperren und als organische Rechenmaschinen zu missbrauchen, wurde gehasst, aber nicht gefürchtet.
Mit jedem Jahr, dass verstrich wurde den Verantwortlichen, sowohl im Rat als auch im Vorsitz der neun großen Familien, klar dass der nächste Angriff auf die Hauptwelt nicht in die Ferne sondern in die nahe Zukunft rückte.

Und ich steckte mittendrin. Wieder einmal.

1.
Mit der steigenden Zahl an Mecha-Piloten kehrte nach und nach auch der Alltag zurück.
Ich meine, langsam aber sicher drängten wir die Kronosier zurück. Erst weg von den Städten, und dann in den Orbit. Drei Viertel aller Kämpfe in letzter Zeit hatte ich im Orbit der Erde bestritten. Die Kampflage hatte sich mit den Titanen, den neuen Beschützern des OLYMPS soweit entspannt, dass ich nun nur noch jeden zweiten Tag in der Schule fehlte. Nicht unbedingt regelmäßig, aber so war der Schnitt.
Und es freute mich ungemein, dass auch Megumi, meine Schwester und Makoto wieder ihre Schulen besuchen konnten.
Es brachte nach all dem Tod, nach all der Verwüstung, nach den ganzen Kämpfen so einen Funken Zufriedenheit. Nicht unbedingt in die alte Schulroutine einzutauchen, aber zu sehen, dass es junge Menschen gab, die dieses vollkommen ruhige und belanglose Schulleben genossen, das war es wert gewesen. Das war alles wert gewesen.
Neulich, Megumi und ich hatten gerade in der Fushida Mittelstufe gerade Pause gehabt, hatte es Alarm gegeben, die Schule hatte sicherheitshalber in den Keller evakuiert – und Megumi und ich waren nicht gerufen worden. Nach zwei Stunden war der Alarm beendet worden und die Nachrichten hatten davon berichtet, wie die mittlerweile auf acht Mechas angewachsenen Titanen zwei feindliche Korvetten im Anflug auf Japan vernichtet hatten.
Captain Jonathan Kreuzer, der deutsche Anführer der Titanen, gab nach Einsätzen gerne einmal Interviews und erfreute sich mittlerweile einer gewissen Medienpräsenz.
Er und die Titanen durften in den Medien erscheinen. Sie waren kaserniert und zudem volljährig.
Verdammt, wenn das so weiter ging würden Megumi, Yohko, Makoto und ich eines Tages nicht mehr gebraucht werden. Ich freute mich darauf.

„Hey.“
„Hey.“ Ich sah von meiner Lektüre auf. „Was ist los?“
„Scheiße ist los.“ Wütend und enttäuscht setzte sich Megumi neben mich auf den Boden der Boarding Bay. Sie trug ihre Schuluniform, was ich dankbar zur Kenntnis nahm. Ich hatte schon befürchtet, sie wäre wegen einem Einsatz zum OLYMP hoch gekommen.
„Wie, Scheiße ist los?“
„Hast du heute schon mal Nachrichten gesehen?“
Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Ich war gerade dabei, auf die eintausend Heiratsanträge in diesem Monat zu antworten.
„Sie haben es vermasselt.“
„Wer hat was vermasselt?“ Irritiert zog ich die Stirn kraus.
„Die UEMF haben es vermasselt.“
„Nun lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Was vermasselt?“
Sie ließ den Kopf auf meine Schulter sinken. „Akira, sie haben es raus gefunden. Es geht gerade durch die ganze Presse.“
Ich spürte kaltes Entsetzen in mir aufsteigen. „Du meinst, sie haben herausgefunden, dass…“
„Ja, die Presse hat herausgefunden, dass ich Lady Death bin. Es geht überall rauf und runter.“
„Aber… Aber… Aber… Wie? Warum? Weshalb?“
Sie schluchzte leise. Ich konnte Megumi verstehen. Wenn die Weltpresse wusste, wer Lady Death war, dann war es mit ihrem Privatleben vorbei.
„Es sind die Piloten im Training, Akira.“
Ich dachte kurz nach. Ach, das Programm. Letztes Jahr, als noch nicht abzusehen gewesen war, dass auch Erwachsene die neu gebauten Hawks steuern konnten, hatte die UEMF, damals noch UEF, das Programm der Piloten im Training ausgerufen und hunderte junger Menschen aufgerufen, sich auf die Synchronisation mit einer Künstlichen Intelligenz testen zu lassen. Die Piloten der Titanen entstammten diesem Programm, aber viele der fünfundzwanzig, über die Welt verteilten Piloten nicht.
Also hatte die UEMF das Programm schließlich eingestellt, weil es nicht mehr notwendig war, Kinder in den Tod zu schicken.
„Ich verstehe. Um dich zu tarnen wurdest du in der Schule als Pilotin im Training angegeben. Und als das Programm abgesagt wurde, hat irgendjemand in der UEMF den Fehler gemacht, dich trotzdem offiziell abzuholen. Dann hat jemand zwei und zwei zusammen gezählt und die Scheiße war passiert.“
„Genau so.“
„Es tut mir Leid, Megumi. Wenn ich den Verantwortlichen finde, dann reiße ich ihm den Arsch auf.“
„Das ist es nicht, Akira.“ Sie schniefte leise. „Was mit mir ist, ist noch so wild. Ich kann jederzeit in eine Kaserne ziehen, wenn es sein muß. Aber ich habe Angst, dass…“
Sie nahm den Kopf von meiner Schulter, sah mir in die Augen. „Akira, ich habe Angst, dass sie nun auch raus finden, dass du Blue Lightning bist. Ich meine, die Adresse von Lady Death zu bekommen ist schon ein Geschenk für die Kronosier. Aber Blue Lightning serviert zu bekommen muss für sie Weihnachten und Ostern zugleich sein.
Oder wenn sie herausfinden, dass Yohko Thunderstrike ist. Die kleine Yohko, wenn ihr etwas passiert, dann…“
„Vorsicht. Nicht aussprechen“, mahnte ich sie. Das Letzte was ich wollte war, dass meiner kleinen Schwester etwas passierte.
„Ist gut“, hauchte sie. Langsam erhob sie sich und strich ihren Rock glatt. „Wir werden uns die nächste Zeit nur hier oben sehen. Ich werde mich in der Schule rar machen. Wir müssen die Presse nicht zu offensichtlich darauf stoßen, wer die anderen drei Piloten der Hekatoncheiren sind, oder?“
„Was soll der Mist? Willst du den Kontakt zu den anderen Schülern auch abbrechen, damit niemand auf den Gedanken kommt, der eine oder andere könnte Blue Lightning sein?“
„Keine schlechte Idee.“
Ich erhob mich ebenfalls und schloss Megumi in die Arme. „Das machst du nicht, Megumi-chan. Du wirst dich nicht selbst isolieren und du wirst auch Yohko, Makoto und mich nicht meiden. Damit machst du es nur noch auffälliger. Das letzte was ich in dieser Welt sehen will ist, dass du nicht mehr lächelst. Und in eine verdammte Kaserne ziehst du auch nicht! Wenn es denn sein muß, zieh bei mir ein. Ich rede mit Eikichi und regle das schon.“
Ich lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Okay?“
„Okay.“
„Gut.“ Zufrieden setzte ich mich wieder.

„Was machst du da eigentlich?“
„Ich beantworte meine Heiratsanträge.“
„H-heiratsanträge?“
„Natürlich nicht an mich. An Blue Lightning. Es sind schon ein paar phantasievolle Ideen dabei. Und natürlich ist alles durch die Zensur der UEMF durch gegangen. Ich ziehe mir also weder ein Kontaktgift noch einen Virus zu. Hoffe ich.“
„Und zensiert bedeutet, dass manche Passagen geschwärzt sind?“
Ich spürte wie ich unter die Haarspitzen errötete. „Nein, das zensieren sie nicht.“
Ich riss einen weiteren Brief auf, nahm das Papier heraus. Dabei fiel mir ein Foto entgegen, rutschte mir durch die Hände und fiel zu Boden.
„Warte, ich hebe das auf.“ Megumi griff nach dem Bild und japste auf. Sie schlug eine Hand vor die Augen und linste durch die Finger. „I-ich glaube, das Bild ist ganz privat für dich gedacht, Akira.“
Verwundert nahm ich das Bild entgegen. „Warum wirst du rot, Megumi?“
Ich warf einen Blick auf das Bild. „Ach so.“
„Kriegst du öfters so etwas, Akira?“
„Na ja, also solche Bilder schon. Aber du musst zugeben, diese Verrenkung ist schon originell. Ist das echt? Kann sich ein Mensch so verdrehen? Ich meine, es ist ja eine nette Sicht.“
„AKIRA!“
Hastig steckte ich das Bild wieder in den Umschlag zurück. „Aber wenn es doch für mich ist.“
„Es scheint, dass die UEMF wirklich nicht zensiert, wenn sie so etwas durchgehen lässt.“
„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob man sich wirklich so verrenken kann. Anhand der Faltenbildung der nackten Haut sollte man das ja nachprüfen können. Oder ich zeige es mal Sakura, die kann dazu sicherlich was sagen. Mist, das spukt mir jetzt im Kopf rum.“
„D-du redest hier von Verrenkungen, dabei interessiert dich doch bloß nackte Haut“, stammelte sie.
„Zugegeben. Und?“
Megumi sah mich an. Dann begann sie zu schmunzeln. „Gut zu wissen, Akira-chan.“
Sie winkte mir mit einem süßen Lächeln zu. „Viel Spaß mit deiner Post. Ich gehe dann mal meine beantworten.“
Ich lüftete den Kragen meines Hemdes. Verdammt, war es eingelaufen oder warum wurde mir der Kragen zu eng?

2.
„Junger Mann, derartige Ausfälle sind für diese seriöse Sendung nicht adäquat! Außerdem sind diese Unterstellungen für Blue Lightning mehr als herabwürdigend!“
„Herabwürdigend? Wer weiß. Die Frage ist und bleibt: Wer ist Blue Lightning? Und warum ist Lady Death, seine Flügelfrau, ein vierzehn Jahre altes Mädchen? Ist er also entweder ein Arsch, der aus Lust und Laune Kinder in die Schlacht schickt oder einfach ein Idiot, der einen Lolita-Komplex hat? Warum enthüllt die UEMF nicht endlich seine Identität?“
„Ist es gerecht, mit Blue Lightning derart hart ins Gericht zu gehen? Immerhin, und das ist erwiesen, war er es, der tausenden Menschen in der ganzen Welt das Leben gerettet und die ersten Wellen der Angreifer zurückgeschlagen hat.“
„Natürlich hat er das. Und diese hervorragenden Leistungen will ich auch nicht herabwürdigen. Aber jetzt, wo der Krieg sich dem Ende zuneigt, kann und muss die Freie Presse sich mehr und mehr auch der Privatperson zuwenden können und dürfen.
Blue Lightning. Wer ist er? Wo ist er? Was ist er? Wir wissen, dass er neulich zum First Lieutenant befördert wurde. Und seine Heimatbasis ist in Japan, von der er zu Einsätzen in der ganzen Welt startet. Jetzt, wo der Frieden zu uns zurückkehrt, muss sich Blue Lightning die Fragen einer offenen und unvoreingenommenen Presse gefallen lassen.“
„Hm. Und was ist, wenn Blue Lightning ebenso ein Kind ist wie Megumi Uno?“
„Nein, Blue Lightning ist definitiv ein erwachsener Mann. So ein Ausnahmetalent wie Megumi Uno kann es in jeder Generation nur einmal geben.“
**
„Akira!“
Ich wandte mich der neuen Stimme zu. „Oh, Morgen, Yoshi.“
Der große Blondschopf klopfte mir auf die Schulter. „Alles klar bei dir?“
„Wieso sollte nicht alles klar sein?“
„Na, es gibt tausend Gründe. Ich meine, jetzt wo die halbe Welt weiß, dass deine Megumi die gefürchtete Lady Death ist, hast du doch keine ruhige Minute mehr für dich und sie.“
„Sie ist nicht meine Megumi. Und es ist mir auch egal, dass sie Lady Death ist.“
„Wie heroisch. Wirst du dich denn auch zwischen sie und einen kronosischen Attentäter werfen, wenn es sein muss?“
„Ich würde ihn zur Not mit bloßen Händen zerreißen. Reicht das?“
„Whoa! Wirf mir nicht so einen Blick zu! Es ist ja nicht gerade so, als hätte ich das Gerücht in die Welt gesetzt!“
„Was für ein Gerücht?“
„Ja, was für ein Gerücht, Yoshi-kun?“
„Oh, Morgen, Yohko-chan. Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“
„Guten Morgen, Yoshi-kun.“ Sie lächelte ihn freundlich an. „Es wundert mich dass ihr zwei mich überhaupt bemerkt habt, wo ihr doch über euer Lieblingsthema geredet habt: Megumi-chan!“
„Sie ist nicht mein Lieblingsthema“, wehrte Yoshi ab. „Es ist nur dieses dämliche Gerücht, dass…“
„Was ist das denn jetzt für ein Gerücht?“, hakte meine kleine Schwester nach.
„Na ja, sie ist ja nun Lady Death und Second Lieutenant in der UEMF und bildet die anderen Hawk-Piloten aus. Und sie ist ja auch in die Entwicklung des neuen Prototyps eingebunden, den Eagle“, referierte der Blondschopf.
Ich war ebenso involviert wie Makoto, außerdem baute die UEMF an einem weiteren Typ, dem Sparrow, an dem Yohko maßgeblich mitwirkte, aber ich wollte dieses Detail nicht extra breit treten.
„Und?“, frage ich scharf, weit schärfer als es hätte klingen sollen.
„Wow. Auf einem Kasernenhof würdest du dich auch ganz gut machen, Akira. Schöne kräftige Stimme. Und dann dieser düstere Blick – nicht schlecht.“
„Was ist das nun für ein Gerücht, Yoshi-kun?“
„Hä? Ach so. Ja, Megumi-chan ist ja nun mal in der UEMF. Und damit ist sie deinem Vater unterstellt, der ja mit dem Bau von OLYMP zum Executive Commander geworden ist. Und du…“
In meinem Kopf machte es laut und vernehmlich klick. So laut, dass Yohko mich erschrocken ansah.
„Du meinst doch nicht etwa… Ich und Megumi… Wegen meinem Vater…“
„Es ist ja absolut nicht meine Meinung, aber die Gerüchteküche behauptet steif und fest, du wirst gezwungen, mit Megumi-chan zu gehen, um die wichtigste Mecha-Pilotin der Erde bei Laune zu halten.“
Konsterniert starrte ich den Freund an. „Das ist das Gerücht?“
„Ja, schlimm, nicht? Wenn einem so der freie Wille aberkannt wird…“
Ich wechselte einen Blick mit meiner Schwester. Sie verbarg ihr Gesicht hinter der Rechten und gluckste leise.
„Da bin ich aber erleichtert. Anders herum wäre nämlich sehr gemein gewesen. Wenn man behaupten würde, man würde sie zwingen mit mir zu gehen, weil Eikichi das Kommando über sie hat und…“
„Siehst du, das ist ja das Problem bei diesem Gerücht. Megumi-chan ist schlicht und einfach wichtiger als du, viel wichtiger. Als exzellente Hawk-Pilotin ist sie unverzichtbar. Du aber bist nur der verwöhnte Sohn des Executive Commanders und kannst ja auch mal einen kleinen Beitrag für die Weltverteidigung leisten. Und wenn es ist Megumi bei Laune zu halten, dann soll es eben das sein.“
„Ach so“, ächzte ich. „So sieht das aus.“
„Also, ich weiß nicht wie es dir damit geht, aber mich würde so ein Gerücht wahnsinnig machen.“
Ich winkte ab. „Schon gut, Yoshi. Es ist gut. Mit so was kann ich leben, keine Sorge. Sollen sie mich doch zu Megumis Schoßhündchen klein reden, das ist mir egal.“

Yohko war nun nicht mehr zu halten. Sie begann schallend zu lachen und hielt sich dabei mit beiden Armen den Bauch. „O-nii-chan… Schoßhündchen… Für Megumi-chan… Ich glaub es nicht… Yoshi-kun, du hast heute meinen Tag gerettet. Ich habe es wirklich mal wieder gebraucht, so frei zu lachen.“
Yoshi musterte sie misstrauisch. „So, so… Schön, dass ich dir helfen konnte, Yohko-chan.“
Meine Schwester hielt inne, wischte sich die Lachtränen aus den Augen und lehnte sich leicht gegen Yoshi. „Was das Schoßhündchen angeht, Yoshi-kun, angenommen ich wäre Megumi-chan. Und ich würde dich haben wollen, was würdest du machen?“
„Äh, was?“ Yoshi sah verlegen zur Seite. „Nicht dass der Gedanke nicht sehr verlockend wäre, Yohko-chan.“
„Pass auf was du sagst, Junge!“, drohte ich düster.
„A-aber du siehst es ja, dein Bruder ist in der Beziehung wie ein schlecht gelaunter Wachhund.“
Wütend sah sie mich an. „Wir machen doch nur Spaß, O-nii-chan. Männer!“

Mit weit ausgreifenden Schritten, die nicht viele Verbindungen zu der kleinen, süßen Yohko zuließen, als die sie ansonsten auftrat, ging sie voran.
„Was stellt sie mir auch so eine Frage? Wie soll man darauf antworten?“
Ich lächelte dünn. „Stell dir mal vor, sie wäre einer der anderen Piloten der Hekatoncheiren. Kottos oder Gyes. Und sie würde dich wirklich, nun, anfordern. Was würdest du sagen?“
Yoshi musterte mich spöttisch. „Ich würde dir davon überhaupt nichts sagen, Akira. Du mit deinem Überbeschützerinstinkt würdest nur irgendein dummes Zeug veranstalten.“
„D-das war ne ernst gemeinte Frage!“
„Und ich habe dir ne ernst gemeinte Antwort gegeben.“
„Idiot!“
„Trottel!“
Wütend sahen wir beide zur Seite.

„Wen haben wir eigentlich in der ersten Stunde?“, frage ich schließlich beiläufig.
„Englisch, bei Takayama.“
„Na Klasse. Wieder so ein Zeug, was ich schon längst beherrsche.“
„Angeber“, brummte Yoshi amüsiert. „Andererseits, es wundert mich schon, dass deine Noten noch so gut sind. Ich meine, du warst so oft im Ausland mit deinem Vater, du hattest die ganze Zeit dieses Fernstudium und so und warst so selten in der Klasse. Da liegt ja irgendwie der Gedanke nahe, dass…“
Für einen Moment musterte Yoshi mich erschrocken.
„Da liegt der Gedanke nahe, dass was?“, hakte ich nach.
„Für eine Sekunde, für eine winzige Sekunde habe ich wirklich mit dem Gedanken gespielt, du wärst Blue Lightning. Dumm, nicht?“
„Danke für die Blumen“, knurrte ich als Antwort. „Mich mit einem Killer gleichsetzen.“
„Nicht schon wieder dieses Thema. Für mich ist er ein Held und bleibt ein Held, und im Krieg tötet man nun mal.“
„Noch schlimmer, mit einem Held gleichsetzen!“
„Dir kann man es wohl nie recht machen, was, Akira-sama?“
Ich grinste schief. „Hey, ich bin vierzehn.“
„Verteufelt gutes Argument, Akira.“

Als wir den Schulhof betraten, löste ich den Mandarinkragen. Das war für mich ein Ritual. Ich durchbrach die Kleiderordnung, kaum dass ich angekommen war. Nun, die Bekleidungsregeln auf der Fushida Mittelstufe waren nicht so streng, dennoch musste jeder Schüler die Schuluniform tragen. Wie er sie trug wurde dann höflich übersehen.
Meine kleine Rebellion mit dem Kragen war da eher eine kleinliche Spielerei.
Akane-sempai, Mitglied in der Schülervertretung, lächelte uns beiden zu. Sie hatte wie so oft Dienst am Tor.
Das war ein tolles Mädchen. Hübsch, immer korrekt, intelligent und engagiert. Etwas zu kühl vielleicht, etwas zu distanziert vielleicht.
Aber einer wie ich hätte bei so einem Mädchen auch keine Chance gehabt – ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin lieber Mädchen mochte, die richtig lachen konnten.

Yoshi lächelte sie an und machte diese affektierte Geste, als er durch sein goldenes Haar fuhr. Nun, bei drei, vier Mädchen, die erschrocken aufseufzten, hatte er damit ungewollt Erfolg.
Aber nicht bei Akane-sempai, wie ich zufrieden feststellte.
Grinsend stieß ich ihm einen Ellenbogen in die Seite. „Na?“
„Steter Tropfen höhlt den Stein, du wirst es noch sehen.“
„Warum machst du das überhaupt, Yoshi? Warum willst du die Mädchen zum seufzen und kreischen bringen?“
„Weil ich es kann“, erklärte der Freund resolut. „Und weil Mädchen Jungs am Halsband hinter sich herschleifen, wenn sie sie erst einmal am Wickel haben. Bevor ich in feste Hände komme, räche ich mich schon mal vorab.“
„So. Du hast also keine Hoffnungen, dem zu entkommen oder am richtigen Ende der Leine zu sein.“
Yoshi senkte den Kopf. „Nein.“
„Oh.“
Mein bester Freund, der Pessimist.

Es gab eine Sache, die ich an Schulen in unserem Land hasste. Das waren die Schuhboxen. Oh, es war nicht die Tatsache, die Straßenschuhe gegen die weichen Schulschuhe auszutauschen – es war die Box selbst. Jeder Schüler hatte seine eigene Box mit Namen dran, und diese Box wurde nicht immer nur für Schuhe benutzt.
In Yoshis Fall waren es Briefe, so ein bis zwei Dutzend, die ihm regelmäßig entgegen quollen. Liebesbriefe natürlich. Wenn er Glück hatte, nur von Mädchen.
In meinem Fall war es unterschiedlich. Es kam schon mal vor, dass ich eine Reißzwecke in meinen Schuhen fand, Rasierklingen waren eher selten; ab und an was totes und hier und da auch mal eine Herausforderung zu einer zünftigen Prügelei.
Der Grund für diese versteckte Feindseligkeit musste meine Persönlichkeit sein. War ich arrogant? Überheblich? Zu narzisstisch? Womit brachte ich die anderen Schüler gegen mich auf? Vielleicht mit meiner Freundschaft zu Yoshi? Oder damit, dass meine kleine Schwester immer an meinem Jackenzipfel hing und die Jungs somit keine Möglichkeit hatten, sie anzubaggern?
Eine Mischung aus vielem, nahm ich an.

Wie dem auch sei, mit einem Stoßseufzer öffnete ich meine Schuhbox, und nichts sprang mich an, keine Welle des Gestanks schlug mir entgegen und mir flatterte auch keine Herausforderung entgegen. Fast schon enttäuscht tauschte ich die Schuhe, natürlich nachdem ich mich versichert hatte, dass sie frei von kleinen Fallen waren.
Yoshi sortierte derweil seine üblichen Liebesbriefe, was mich für eine Sekunde davon ablenkte, was unter meinen Schuhen gelegen hatte.
Ich bemerkte es, als ich meine Straßenschuhe drauf abstellte.
„Oh. Wie niedlich.“ Ich nahm das Foto hervor und betrachtete es neugierig.
„Yoshi, kennst du den? Etwa so groß wie du, schwarze, kurze Haare, breite Schultern und Brille mit dünnen, aber großen runden Gläsern?
„Welcher Jahrgang?“
„Unserer.“
„Ataka-kun. Es geht das Gerücht um, dass er der Sohn von Yakuza ist. Ein eher stiller Typ sehr verschlossen. Wieso fragst du?“
Ich zeigte ihm das Foto. „Nun, hier wirkt er nicht sehr verschlossen. Muss an dir liegen, alter Freund.“
Entgeistert riss Yoshi mir das Foto aus der Hand. „AH! W-wir küssen uns! Wieso küssen wir uns? Wo kommt denn dieser Mist her?“
Ich grinste schief. „Beruhige dich. Ich unterstelle dir nichts. Es ist offensichtlich eine Fotomontage. Außerdem steht hintendrauf was von einem Preis für ein Zehner-Set. Dreitausend Yen. Hm, du bist aber ganz schön billig.“
„Sorgen hast du! Wer macht so einen Mist? Und warum kann er ihn auch noch verkaufen?“
Wütend stapfte Yoshi los. „Seine Klasse hat Sport! Na, den knöpfe ich mir mal vor! Und wenn er etwas weiß, dann…“
„Yoshi. Warte. Er hat da bestimmt nichts von. Überstürze doch nichts, hörst du, Junge?“
**
Am Sportgelände hatte sich Doitsus Klasse bereits versammelt, allerdings war von ihm nichts zu sehen.
„Ob der Halunke was ahnt und sich versteckt hält?“
„Quatsch. Er ist genauso Opfer wie du. Oder meinst du, er kriegt Anteile dafür, dass er für solche Fotos posiert?“
„Rede du nur, Akira. Ich frage ihn erst mal selbst! Wenn ich ihn nur finden würde…“

Ein Schmerzenslaut und ein Sempai aus den höheren Klassen, der mit blutender Nase um die Ecke der Sporthalle kam, wiesen mir den richtigen Weg. Ich klopfte Yoshi auf die Schulter und ging voran. Dabei vergrub ich meine Hände so tief ich konnte in den Hosentaschen.
Ich bog um die Ecke und konnte mir ein grinsen nicht verkneifen. Wir hatten Doitsu Ataka gefunden. Ihn und fünf weitere Sempais, die ihn ordentlich in die Mangel nahmen.
„Hey, Doitsu. Brauchst du Hilfe?“
„Wer bist du denn?“, erwiderte der große Schwarzhaarige und wich einem Schwinger eines Sempais aus. Leider geriet er so in Trittreichweite und bekam von einem anderen Gegner eine Ladung gegen den Oberschenkel verpasst.
Also, mir war der Junge sympathisch. Wenn er mich nicht kannte, musste das bedeuten, er hörte nicht auf Klatsch und Tratsch.
Ich nickte Yoshi zu, und nebeneinander gingen wir auf die Horde zu.
„Oi, ist das fair? Fünf gegen einen?“
„Halt dich da raus, Otomo, wenn du nicht auch ein paar auf die Fresse willst, klar?“
„Ach, wirklich?“
Zur Antwort sauste eine Gerade auf mich zu, auf die Nase gezielt.
Ich riss die Rechte aus der Tasche, ergriff das Handgelenk meines Gegners, zog ihn voran und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Danach wich ich seitlich aus, drehte den Arm nach außen, nahm die Linke zu Hilfe und rammte sie zwischen seine Schulterblätter. Damit drückte ich ihn brutal zu Boden.
Den überstreckten Arm drehte ich noch mehr ein und riss ihn nach oben.
Schließlich rutschte ich zum Handgelenk hoch und drehte die Hand selbst noch weiter nach außen. Ein Schmerzensschrei bewies mir, wie gut der Griff funktionierte.
Neben mir hatte Yoshi die Arbeit aufgenommen, war unter zwei Schwingern durch getaucht und hatte seinerseits seinem Gegner einen fetten Schlag aufs Sternum gesetzt.
„So sieht es doch schon besser aus. Doitsu, schaffst du die drei, oder sollen wir dir noch zu Hand gehen?“
Der große Junge verschränkte die Finger ineinander und ließ die Knöchel knacken. „Danke für das Angebot, aber mit den letzten drei Figuren werde ich fertig.“

Drei Sekunden später waren wir fast alleine. Mein Gegner strampelte einige Zeit in meinem Griff, bevor ich ihn entkommen ließ.
Ich streckte Doitsu die Rechte entgegen. „Akira Otomo.“
Er ergriff die Hand und schob mit der Linken seine Brille hoch. Dabei entstand ein glitzender Effekt. „Der Otomo? Freut mich dich kennen zu lernen.“
„Yoshi Futabe.“
„Yoshi? Hm, ich habe dich mehr als Weichei eingeschätzt, bei dem was man von dir so hört. Aber du kannst ja doch ganz schön zulangen.
Was bringt euch zu mir, meine Herren?“
Yoshi wollte das Foto zücken, aber dann ließ er es doch. „Wir suchen nach den zehn Gerechten“, sagte er stattdessen. „Lust auf ein Team up mit uns?“
Doitsu schob die Brille ein Stück die Nase herab und starrte uns über den Rand an. „Ihr wollt mich in eurem Team haben? Mich?“
Yoshi und ich wechselten einen Blick, dann ein grinsen. „Unbedingt“, sagte Yoshi.
„Wenn nicht dich, wen dann?“, bestätigte ich.
Doitsu schob die Brille wieder die Nase hoch. Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. „Hm, warum nicht. Ein paar schlagkräftige Freunde sind immer gut.“
„Dann willkommen in der Truppe.“
„Hat die Truppe auch einen Namen, Yoshi-kun?“
„Wir arbeiten dran.“

Ein zufrieden stellendes Ergebnis, fand ich, nachdem Doitsu wieder zu seiner Klasse zurückgekehrt war. Wir hatten zwar nicht mehr über die Fotos herausgefunden, aber irgendwie wusste ich, dass Doitsu ein guter Freund werden konnte.
„Das war ein guter Griff, Akira. Du kannst Aikhido? Wusste ich gar nicht.“
Ich hüstelte verlegen. Ich konnte Yoshi ja schlecht von meinem Cross-Training quer durch fünf Kampfsportarten erzählen, mit dem die Piloten der UEMF auch für den Nahkampf fit gehalten wurden – vom Training an diversen Schusswaffen ganz zu schweigen.
Und wenn ich ihm erzählt hätte, dass Yohko das gleiche Training genoss, dann… Dann wollte er womöglich mitmachen und in die UEMF einsteigen.
Die armen Kronosier. „Ach, Aikhido. Dein Opa hat mir den Griff gezeigt, als ich bei ihm meditiert habe. Du musst mich mal erleben, wenn ich richtig zornig bin, dann sieht das noch mal ganz anders aus.“
„Das ist es!“ Yoshi strahlte mich an.
„Das ist was?“
„Na, der Name unserer Gruppe. Akiras Zorn.“
Ich seufzte viel sagend. „Ein selten dämlicher Name.“
„Selten ist doch positiv.“ Er zwinkerte mir zu. „Oder?“
Mit einem leisen Lachen gab ich nach. „Okay. Akiras Zorn. Aber du bist auf ewig Schuld an diesem Namen, alter Freund.“
„Kann ich mit leben.“
**
„Hey, habt ihr schon gehört? Der legendäre Blue Lightning macht sich rar auf den Schlachtfeldern. Je mehr neue Hawk-Piloten es gibt, desto seltener steigt er in seinen Mecha. Findet ihr das nicht auch merkwürdig?“
Ich unterdrückte ein Grinsen, als ich die Konversation meiner Klassenkameraden überhörte.
Kei Takahara war schon eine Tratschtante, wie sie im Buche stand. Leider hatte er in den meisten Jungen unserer Klasse willige Verbündete.
„Vielleicht schonen sie ihn? Immerhin ist er der einzige terranische Pilot, der von Anfang an gekämpft hat?“
„Vielleicht ist er auch einfach nur ausgebrannt und nimmt eine Auszeit.“
„Ach. Und Megumi-chan kämpft weiter, was?“
„Ruhig, Kei.“ Yoshi machte eine beschwichtigende Geste. „Blue Lightning war drei Monate länger im Einsatz gegen die Kronosier als jeder andere Mecha-Pilot.
Er hat auch oft genug alleine gegen sie gekämpft, bevor Megumi-chan und die anderen Hekatoncheiren Zeus und Kottos dazu stießen. Es ist doch verständlich, dass das absolute Ass der terranischen Verteidigung nicht für jeden läppischen Kampf, nicht für jeden kleinen Angriff auf Versorgungsfrachter aufsteigen muß. Nicht mehr, meine ich.“
Ich fühlte mich geehrt bei den Worten des Freundes. Soviel Verständnis erfuhr ich, oder vielmehr Blue Lightning, selten.
Die Liebesbriefe waren immer hoffnungslos übertrieben und die Drohbriefe grundsätzlich extrem negativ verfasst. Verständnis, richtiges Verständnis begegnete mir kaum.

„Was sagst du dazu, Akira-kun?“
Ich sah auf. „Blue Lightning, wer ist schon Blue Lightning?“
„Spüre ich da eine gewisse Undankbarkeit für den größten Helden der Erde in deiner Stimme?“, konterte Yoshi kühl.
„Dem Helden? Wer sagt denn, dass es keine Heldin ist? Ich meine, Megumi-chan, das gibt einem doch zu denken. Was wenn die Hawks nur von Frauen geflogen werden können? Man sollte herausfinden, wer die anderen beiden Mechas der Hekatoncheiren steuert.“
„Pah. Die anderen Hawk-Piloten, abgesehen von den Hekatoncheiren, sind jedenfalls nicht nur Frauen“, wandte Kei ein.
„Es sind ja auch neue Hawks. Aber vielleicht gilt es für die ersten Hawks. Ich habe gehört, die Künstlichen Intelligenzen müssen mit dem Piloten synchronisieren. Das wurde mit zunehmender Forschung immer einfacher. Was aber wenn das anfangs nur Frauen gelang? Was wenn alle vier Hekatoncheiren Frauen sind?“ Innerlich amüsierte ich mich köstlich, als ich dieses Gerücht in die Welt setzte.
„Wenn die alle so gut aussehen, wie Megumi-chan…“ Kei bekam glänzende Augen.
„Kumpel“, sagte ich drohend und stand auf. „Du willst doch nicht etwa was von Megumi, oder?“
„Hey, stimmt das Gerücht etwa doch? Hat dein Vater dich als ihren Leibwächter eingesetzt?“
Verblüfft setzte ich mich wieder. „Quatsch. Und ist mir doch egal. Megumi kann auf sich alleine aufpassen.“
„Ach, auf einmal. Und gerade wolltest du dich noch wegen ihr prügeln“, spottete Yoshi.
„Halt doch einfach die Klappe.“
„Jetzt ist er sauer. Mist. Dabei ist Akira wohl der einzige, der herausfinden kann, ob seine Theorie stimmt.“ Nachdenklich strich sich Kei über sein Kinn. „Immerhin ist er Eikichi Otomos Sohn, oder? Und er hat Zugang zum OLYMP!“

Kei trat neben mich. „Weißt du vielleicht schon, wer die anderen drei Piloten sind? Kennst du Blue Lightning etwa persönlich? Und Kottos? Und Zeus?“
„Interessanter Gedanke“, brummte Yoshi amüsiert. „Bist du bestechlich, Akira?“
„Genau. Komm schon, wir sind doch Freunde, oder? Uns kannst du es doch sagen. Ich meine, wir verbreiten es auch erst morgen in der ganzen Schule. Ne?“
„Okay, okay.“ Ich breitete die Arme aus und sah zu den beiden herüber. „Ihr habt mich erwischt, Jungs. Ich gebe es ja schon zu. Ich bin Blue Lightning, der heldenhafte Mecha-Pilot. Der Sieger in unzähligen Schlachten. Der Zerstörer feindlicher Schiffe. Ich bin es. Zufrieden?“
Kei und Yoshi wechselten einen langen Blick, bevor sie lautstark zu lachen begannen.
„Du und Blue Lightning? Du kannst ja nicht mal einen Hawk von einem Daishi Gamma unterscheiden!“, rief Kei.
„Das ist ja noch gar nichts! Stell dir doch mal vor, Akira bereitet sich auf eine Mission vor. Wenn Megumi-chan, dann in diesem super engen Druckanzug vor ihm rum läuft, dann vergisst er doch glatt wo er ist!“ Yoshi beugte sich zu mir vor. „Das wäre doch mal eine Idee, oder? Wenn Megumi-chan das nächste Mal in einen Einsatz geht, kannst du dann auf dem OLYMP sein und ein paar Fotos von ihr schießen? Na?“
„Weiß nicht“, brummte ich. „Was zahlt ihr zwei denn so?“
Keis Augen schienen aufzublitzen. „Für Fotos von Megumi-chan im Druckanzug? Zehntausend Yen das Bild!“
Ich strich mir nachdenklich über mein Kinn. „Woher hast du soviel Geld, Kei-chan?“
„Ach, weißt du, Akira, das ist jetzt nicht so wichtig.“ Mit einem aufgesetzten, sehr breiten Grinsen setzte er sich wieder an seinem Platz.
Yoshi sah zu mir herüber, ich nickte. „Sehr verdächtig.“
„In der Tat.“

3.
„Akira! Du hast Besuch!“, hallte es von der Tür herüber.
Ich nickte, rieb mir kurz die Augen um den Schlaf loszuwerden und ging auf den Flur – mein Entsetzen sorgte dafür, dass ich schlagartig wach wurde. „MAKO!“
Mein Cousin lächelte mich freundlich, eigentlich sogar verschmitzt an. Das war ja auch kein Problem, der Minirock hingegen schon.
Entsetzt schlug ich eine Hand vor mein Gesicht. „Hat Sakura es endlich geschafft? Hat sie dich in den Wahnsinn getrieben?“
Das Lächeln verschwand und machte einer ernsteren Miene Platz. „Was? Steht mir die Kombination etwa nicht? Ist Bauchfrei nicht gerade sehr beliebt?“
„Mako, es ist mir egal, ob du dich nach dem vorherrschenden Trend anziehst. Aber kannst du das nicht als Junge machen?“
„Aber wieso denn?“ Er drehte sich einmal im Kreis, wobei sein Rock leicht hoch wehte. „Es steht mir doch, oder?“
Zustimmendes Geraune aus meiner Klasse klang auf.
Ich schloss die Tür.

„Mako, einmal abgesehen von deinem Outfit, was machst du hier?“
Wieder begann er zu lächeln, aber ich winkte ab. „Keine Spielchen.“
Enttäuscht sah er zu Boden. „Hmpf.“
„Ich höre.“
„Der Angriffsplan für den Mars steht. Ich wollte es dir nur schnell erzählen, bevor ich wieder an meine Aufgabe gehe.“
„Der Angriffsplan steht also. Dann geht es sicherlich bald los. Das ist gut. Vor allem überfällig. Und was ist deine Aufgabe hier, Mako?“
„Ich habe heute den Personenschutz von Megumi übernommen. Wir haben noch keinen ordentlichen Schutz für sie aufbauen können, die meisten Agenten sind einfach zu alt um als Mittelschüler durchgehen zu können. Aber ich, als Freundin, habe damit weniger Probleme.“
„Ach so.“ Das war der Grund für diese Klamotten. Irgendwie beruhigte mich das. Aber andererseits… „Makoto Ino, heißt das, du kommst jetzt öfter in diesem Outfit in die Schule?“
„Ach, was du gleich wieder denkst… Natürlich nicht.“
Erleichtert atmete ich auf.
„Ich habe mir von Sakura noch mehr Sachen besorgen lassen. Wie sieht das denn aus, wenn ich jeden Tag im gleichen Rock herum laufe?“
„Maaaaakoooooooo!“
„Hey, reg dich wieder ab. Es ist ja nur so lange bis wir den Personenschutz aufgestellt haben. Wir basteln bereits am Schutz in der Oberstufe. Und ich bin dazu da, damit sich der Aufwand auch lohnt und Megumi die Mittelstufe überlebt.“
„Du arbeitest doch nicht alleine?“
„Nein, ich habe ein Team von fünfzig Leuten da draußen. Dazu einen als Lehrer getarnten Agenten in der Schule und ständig ein paar Bauarbeiter, die rund um die Schule den Boden aufreißen und wieder zuschütten.“
„Sehr unauffällig“, kommentierte ich mit beißendem Spott.
„Fällt dir was Besseres ein? Soll ich vielleicht Hawks in den Bäumen verstecken?“
„Eher in den Hecken.“
„Ich werde deine Anregung weitergeben, Herr Meisterstratege. Aber vorher…“
Ich hielt ihn am Arm zurück. „Bevor du wieder zu Megumi gehst, sag mir mehr über den Auftrag.“
„Wir vier. Eine Zerstörungs- und Erkundungsmission. Die YAMATO bringt uns rein. Jerry kommandiert uns.“
„Wann?“
„Ende des Monats, kurz nachdem die Konjunktion mit dem Mars vorbei ist.“
Ich ließ seinen Arm wieder los. „Danke dir, Mako. Sag Bescheid, wenn dein Team Verstärkung braucht, ja?“
Makoto ging ein paar Schritte, dann lächelte er wieder und beugte sich leicht vor. „Das mache ich, Akira-chan. Sobald ich dich brauche, gebe ich Bescheid.“
Ich grinste und winkte ihm zum Abschied zu.

Ein kräftiger Arm umschlang mich und zog mich nach hinten. Kurz darauf fand ich mich in einem Wust von Jungs aus meiner Klasse wieder. Hatten die Bastarde gelauscht? Hatten sie herausgefunden, dass sich zwei Hekatoncheiren unterhalten hatten? War einer oder waren mehrere von ihnen womöglich Agenten der Kronosier? Ich spannte meine Muskeln an.
„Akira-kun, du Halunke! Erst Megumi-chan, dann Yohko-chan und jetzt dieses hübsche Mädchen! Musst du denn alle guten Mädchen für dich reservieren?“
„Mo-moment!“, rief ich hastig. „Sie ist n-…“
„Sie ist was?“
Es wäre in diesem Wust ein leichtes gewesen die Jungs darauf hinzuweisen, dass Makoto ein Junge war. Aber das hätte seine Tarnung zerstört. Und damit sowohl ihn als auch Megumi gefährdet. Ich erkannte, warum sich Mako bei mir quasi vorgestellt hatte. Damit ich seine Tarnung nicht bei einer zufälligen Begegnung im Flur platzen ließ.
„Sie ist nicht meine Freundin. Und sie wird demnächst öfters hier sein. Wenn ihr wollt, versucht doch euer Glück bei ihr.“
Ich wurde losgelassen und wieder auf die Beine gestellt.
„Meinst du das ehrlich?“ Ich sah in tränende und aufgeregte Gesichter.
„Klar!“
Yoshi beugte sich zu mir vor. „Was macht Makoto denn hier? Und warum trägt er Mädchenklamotten?“, zischte er mir zu.
„Weil sie ihm stehen“, erwiderte ich dreist.
Yoshi dachte darüber einen Moment nach, dann grinste er. „Stimmt.“
In diesem Moment wusste ich wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

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4.
„Ich halte dies Lösung nicht für optimal“, sagte ich leise.
Yoshi sah mich fragend an. „Was? Die Textausgabe für Blue Lightning? Ich finde, das ist eine adäquate Lösung. Da keiner weiß, wer Blue Lightning ist, kannst du so nicht enttäuscht werden.“ Er zuckte die Schultern. „Wie auch immer. Also, spielst du jetzt Megumi oder nicht?“
Mit einem Laut, einer Mischung aus Wut, Zorn, Niedergeschlagenheit und Ergebenheit, setzte ich mich neben den Freund vor die Spielkonsole.
Das Spiel hieß Daishi Dogfight und war eines der lizensierten Produkte der UEMF.
Ziel des Spiels war es, in zwei Dutzend Missionen die Kronosier davon abzuhalten, gewisse Gefechtsziele zu erreichen.
Mögliche Spieler waren die drei Hekatoncheiren und Zeus.
Yoshi hatte sich natürlich Blue Lightning geschnappt. War ja wieder klar.
Ich hatte also die Ehre, Lady Death zu spielen, genauer gesagt, Megumi. Das Pseudonym für sie hätten die Spielemacher eigentlich weglassen können, fand ich.
„Okay, los geht es. New York-Unterkampagne. Wir starten von der ENTERPRISE.“
„Blue Lightning hat über Land angegriffen und die ENTERPRISE nur als Notlandeplatz benutzt.“
„Ich habe schon vorgespielt. Der Durchbruch durch die Daishi-Linie liegt schon hinter mir.“
Gewinnend grinste er mich an. „Stell dir vor, ich habe mit dem Herakles-Schwert eine Korvette runter geholt.“
Ich lächelte dünn. Bei der gleichen Mission hatte ich es zu diesem Zeitpunkt bereits auf zwei Korvetten und eine Fregatte gebracht – von den Daishis einmal ganz zu schweigen.

Übergangslos fanden wir uns im Getümmel wieder. Die Sprachausgabe war aktiviert und wir konnten die englischen Stimmen der Katapultmannschaft und der Briefingcrew hören. Neben und vor uns starteten gerade TomCats, wir waren als Nächste an der Reihe.
Wir konnten zwar ohne weiteres aus dem Stand starten, aber es hatte sich bewährt, den Dampfkatapulten die Arbeit zu überlassen, uns auf Geschwindigkeit zu bringen.
Die Hawks waren nicht auf Aerodynamik ausgelegt. Im Weltraum mussten sie das auch nicht.
In einer Atmosphäre bewegten sie sich defacto mit rabiater Gewalt voran, alleine mit der Kraft ihrer Sprungdüsen, ohne Rücksicht auf den Luftwiderstand und den Mehrverbrauch an Energie.
„Blue Lightning – GO!“, rief Yoshi begeistert, als sein Hawk abgeschossen wurde.
Ich lächelte dünn. Ein merkwürdiges Gefühl, nun Lady Death zu spielen.
Yoshi sah mich an. „Komm, sag es. Sonst macht es doch keinen Spaß.“
„Ach…“
„Sag es, Akira.“
„Meinetwegen. Lady Death startet.“
„Etwas mehr Enthusiasmus bitte, Lady Death.“
„Ich gebe dir gleich Lady Death“, brummte ich belustigt.

Ich formierte mich knapp hinter Yoshi, in der klassischen Begleitschutzposition, während weitere TomCats und Falcons um uns Formation aufnahmen. Über der Riesenstadt New York tobte noch immer eine erbarmungslose Schlacht, die noch immer keinen Gewinner kannte.
Die Deutschen in ihren Tornados und die Russen in den verschiedenen MiGs fochten mit dem, was von dem Amerikanern übrig geblieben war, bis aufs Messer.
Dutzende Daishi-Wracks trieben neben Flugzeugresten im East River und im Hudson. Andere waren als brennende Trümmerregen über den verschiedenen Vierteln der Stadt nieder gegangen. Wenn es eine Hölle gab, dann sah sie sicherlich so aus.

Yoshi eröffnete das Feuer, auf zwanzig Kilometer Distanz, nur mit der Gatling, die er als Zweitwaffe trug. Das war die äußerste Reichweite der kleinen Granaten, bevor ihre Eigengeschwindigkeit zu gering wurde, um überhaupt die Sprengung auszulösen. Munitionsverschwendung. Ich hätte gewartet, bis ich auf zehn heran war.
Erschrocken blinzelte ich, als ich Explosionen in der Luftschlacht erkannte, wo es keine geben sollte, nämlich in unserer Richtung. „Yoshi, hast du…“
„Ja, die habe ich runter geholt. Ich habe festgestellt, wenn man eine Serie schießt, dann trifft man auf jeden Fall. Und je enger die Serie gefeuert wird, desto höher ist der Schaden.“
„Nette Idee.“ Ich zog Lady Death an ihm vorbei und fuhr auf Manhattan nieder. „Was hältst du davon? Ich übernehme den Straßenkampf gegen die Daishis, die sich zwischen den Wolkenkratzern eingeigelt haben, und du putzt mir den Himmel sauber.“
„Einverstanden. Und viel Glück, Lady Death.“
„Ich gebe dir gleich deine Lady Death.“

Mein Hawk, genauer gesagt die Cockpitsicht, sackte weg, zielte auf die Insel. Dann tauchte ich auf Höhe des Broadways ins Straßengewühl ein.
Das war ja fast wie damals. Die Alphas, die sich auf den Dächern und zwischen den hohen Gebäuden verschanzt hatten, um von hier Raketen- und Flakfeuerunterstützung zu geben, das erinnerte mich verdammt an die Realität.
Ich zog die Artemis-Lanze vor, köpfte den ersten Daishi und rammte einen zweiten.
Dann wurde ich getroffen, genau wie damals. Lady Death vibrierte unter den Treffern. Aber diesmal war ich schlauer, vorbereitet. Diesmal markierte ich die anderen Mechas mit Hilfe des Ziellasers der Raketenabwehr und verlinkte die Daten mit den TomCats.
Der Broadway wurde leicht verwüstet, tausende Fenster gingen zu Bruch, aber Daishis gab es danach in der Straße nicht mehr. Was soll´s, ich hatte Cats sowieso nie gemocht.
Wieder zog ich hoch, suchte mir meine nächsten Opfer. Wallstreet? Central Park? Wallstreet.
Ich hielt mich eng am Boden, während ich durch die Stadt raste.
Über mir erzielte Yoshi auf bemerkenswerte Distanz Abschuss auf Abschuss.
Verdammt, wäre dies kein Spiel sondern die Wirklichkeit, dann wäre ich froh gewesen, Yoshi an meiner Seite zu haben.
Ich erreichte die Wall Street und wurde von konzentriertem Feuer empfangen – schon wieder. Aber ich hatte damit gerechnet – auch schon wieder – und die Überreste eines Alphas als Schild mitgenommen.
Die Brustplatte erwies sich als sehr nützlich, um meinen Arsch zu retten. Wieder fegte ich durch die Straße, zerteilte zwei Daishis mit der Lanze auf Cockpithöhe, wirbelte herum und markierte die anderen Daishis mit der Raketenabwehr.
Dann wurde der Bildschirm schwarz.
„Was ist los? Haben wir gewonnen?“
„Verdammt, verdammt, verdammt, einen Abschuss mehr, und wir hätten uns die Fregatte vornehmen können! Wer war der Spielverderber?“ Wütend fuhr Yoshi herum.
„ICH war der Spielverderber. Wie könnt ihr das nur tun, verdammt? Da oben sterben wirkliche Piloten in wirklichen Mechas, um uns zu schützen! Ich meine, ich… Ich meine…“
Gefangen zwischen Wut und Verzweiflung sah Megumi Uno uns an. Sie hielt noch immer den Stromstecker in der Hand. „Ich meine, ICH riskiere da oben mein Leben, und ihr blödelt hier mit diesem dämlichen Spiel herum.
Außerdem ist Yohko…“ Sie schluckte hart und schwieg.

„Es ist nicht so als hätten wir vergessen, dass Yohko in dieser Steinlawine im Urlaub gestorben ist“, sagte Yoshi ernst. „Bestimmt nicht, Megumi-chan. Und niemand will deine Leistungen schmälern, um Himmels Willen. Du bist Lady Death, die mächtige Beschützerin der Erde. Aber ich dachte, Akira könnte endlich mal etwas Aufmunterung gebrauchen. Er hat sich die Sache so sehr zu Herzen genommen, seit über einer Woche ist er nicht mehr draußen gewesen.“
Ich unterdrückte ein Schluchzen. Da versuchte ich für mich, mit Yohkos Tod – auf dem Mars, um mich zu retten und nicht in einer Steinlawine in den Anden – klar zu kommen und es gelang mir nicht. Meine Freunde versuchten mir zu helfen. Aber es klappte nicht.
War es wirklich schon so lange her? Der Angriff auf den Mars, unsere Rückkehr zur Erde, die beiden Trauerfeiern? Meine Hände ballten sich gegen meinen Willen, der Spielcontroller in meinen Händen knirschte beängstigend.
Dieses Geräusch brachte mich wieder zur Besinnung.

Zögerlich ließ ich den Controller los und legte ihn ab. Da war sie wieder, diese Szene vor meinem geistigen Auge, der Feuerball hinter meiner Schwester, die Hand, die aus dem Feuer nach ihr griff, sie umschloss, Yohko verschwand in der Faust und wurde dann in die Tiefe gezogen.
Ich hatte nichts tun können, einfach nichts tun können.
Unverständnis erfüllte mich, Zweifel an dem, was ich getan hatte. All die Toten, auf unserer Seite, auf Seiten der Kronosier, wofür waren sie gestorben? Warum waren so viele gestorben?
Welchen Sinn hatte das alles? Ich hatte vorher schon nachts wach gelegen und mich gefragt, warum ich das machte, warum ich tötete, verstümmelte, zerstörte.
Aber nie war es so schlimm gewesen wie in den Tagen nach Yohkos Tod.
„AKIRA!“
Ich sah auf, in Megumis besorgte Augen.
„Akira, geht es dir gut? Du warst so weggetreten, ich hatte solche Angst um dich.“
„Es… Es geht schon wieder. Seit wann bist du eigentlich hier?“
„Ich habe vorhin ein paar Sachen von Makoto gebracht. Er wollte bei dir einziehen, schon vergessen?“
„Nein, natürlich nicht. Warum kommt Vater nicht einfach zurück? Das wäre doch viel einfacher. Immerhin ist das hier sein Haus, oder?“ Meine Stimme klang bitter. Richtig, wo war er, mein Vater, ausgerechnet jetzt wo ich Zuspruch brauchte? Jemand an dem ich mich aufrichten konnte? Die Ausrede, dass er die Verteidigung gegen die Kronosier koordinieren musste, konnte doch nicht immer gelten.
Okay, ich war ungerecht. Und ich wusste, dass Eikichi mit mir alleine in diesem Haus wahrscheinlich wahnsinnig geworden wäre. Entweder wegen mir oder weil ihn viel zu viel an die kleine Yohko erinnerte.
Aber es machte so vieles leichter, einen Teil seines Schmerzes auf einen anderen abzuschieben.
„Akira, geht es dir gut?“ Sanft strich Megumi mir über den Kopf. Das war eine der sehr seltenen Gelegenheiten, dass sie mich von sich aus berührte. Wir waren sehr eng verbunden, aber die Angst und Zurückhaltung, die sie sich nach dem Tod ihrer Eltern und als Lady Death auferlegt hatte, stand seitdem zwischen uns. Ohne ein Zeichen von mir, ohne meine Hand, die nach ihrer langte, war sie zu unsicher.
Das sie mir jetzt mit dieser Berührung zu verstehen gab, dass sie für mich da sein wollte, rührte mich.
Bis ihr Handy quäkend zum Leben erwachte.

Ich kannte den Rhythmus, hatte ihn oft genug gehört. „Einsatzzentrale?“
Sie nickte, öffnete das Handy und führte ein kurzes Telefonat. „Anscheinend haben wir die Kronosier nicht hart genug getroffen. Sie greifen mit ihren verbliebenen Schiffen die Frachterrouten an. Es tut mir Leid, aber Lady Death wurde angefordert.“
Ich wollte protestieren, aber sie war nun einmal die letzte Pilotin der Hekatoncheiren, die in der UEMF diente, und Schuld daran war ich. Ich hatte Yohko sterben lassen, war feige und verzweifelt aus dem Dienst geflohen und hatte Makoto damit angesteckt, der ebenfalls eine Auszeit genommen hatte.
Megumi war die einzige Soldatin der Top-Elite, die noch diente.
Aber ich konnte nicht in meinen Mecha zurückkehren. Noch nicht. Vielleicht nie. Es wäre um so vieles einfacher gewesen, wenn der Krieg ein Ende gehabt hätte. Aber dafür hätte ich nicht nur Phobos, sondern auch Deimos auf den Mars werfen müssen.
„Ich muss los. Tut mir Leid, Akira. Yoshi.“
„Es… ist in Ordnung, Megumi. Du tust deine Pflicht.“
Sie machte mir keinen Vorwurf, obwohl ihr meine Worte die Möglichkeit gelassen hätten. Stattdessen sah sie mich voller Mitgefühl an und nickte nur. Mitgefühl, und etwas, was ich manchmal in ihren Augen sah, bisher aber nie erklären konnte.
Sie nickte mir und Yoshi zu und ging.

„Tapferes Mädchen“, kommentierte Yoshi. „Kämpft da oben gegen wer weiß wie viele Daishis und steht ihren Mann. Hörst du, Akira, wenn dein Vater es dir nicht befiehlt tue ich es. Du hast gefälligst immer ganz besonders nett zu Megumi zu sein, verstanden?“
„Das bin ich doch immer. Sie ist doch jetzt meine Ersatzschwester.“
Yoshi musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Idiot bist?“
„Warum bin ich denn plötzlich ein Idiot?“
„Hast du schon mal einen langen Blick auf ihre Beine geworfen? Auf ihren Hintern? Auf das hübsche Gesicht? Nein, hast du nicht. Sonst würdest du nicht ihr Bruder sein wollen.“
„Es ist nicht gerade so als hätte ich das nicht bemerkt“, erwiderte ich pikiert. „Sie ist ein verdammt hübsches Mädchen.“
„Und sie steht auf dich.“
„Ja, und?“
Yoshi seufzte aus dem tiefsten Grund seiner Seele. „Und… Da könnte was laufen zwischen euch beiden!“
Nachdenklich kratzte ich mich am Haaransatz. „Na ja, würde man das nicht missverstehen? Ich meine, ich als Eikichis Sohn und sie als Pilotin der UEMF…“
„Phhh, ich habe dir doch von diesem Gerücht erzählt, nach dem du gezwungen wirst, Megumi bei Laune zu halten. Niemand würde auch nur eine Sekunde missverstehen, was zwischen euch beiden vor sich geht. Nämlich dass du das arme Opfer bist.“ Er zwinkerte mir zu.
„Hm, ich glaube, ich könnte damit leben, mal das Opfer zu sein.“
Yoshi grinste breit und klopfte mir auf die Schulter. „Das Leben geht weiter, mein Freund. Wir werden noch oft genug Rotz und Wasser heulen, wenn uns wieder irgendetwas an Yohko erinnert. Aber deswegen dürfen wir nicht stehen bleiben.“
„Du bist ganz schön weise für dein Alter, Junge.“
„Quatsch. Ich plappere nur nach, was mein Opa mir immer sagt.“
Ich lächelte dünn. „Aber du klingst, als hättest du verstanden, was er dir gesagt hat.“
„Du bist schon in Ordnung“, sagte Yoshi mit einem warmen Lächeln.
Er boxte mich gegen die Schulter und meinte: „Kann ich dich die halbe Stunde alleine lassen, bis Makoto kommt?“
„Was? Willst du ihn nicht noch begrüßen?“
„Geht leider nicht. Vater und Mum wollen mit mir koreanisch essen gehen. Das sollte vor einer Stunde losgehen. Wenn ich noch länger hier bleibe, lande ich noch selbst auf dem Grill.“
„Du bist entschuldigt“, erwiderte ich gönnerhaft. „Aber lass mir das Spiel da. Ich will auch mal Blue Lightning sein.“
„Oh, wie großzügig, Eure Lordschaft.“ Spöttisch verbeugte sich Yoshi vor mir.
„Aber versuch nicht Blue Lightning zu sein, ja? Akira Otomo ist doch bereits viel größer als er.“
Sprachlos ließ mein bester Freund mich zurück.

Ich weiß nicht wie lange ich so gesessen hatte, alleine, auf dem Boden hockend, bis in die kleinste Faser meines Herzens gerührt über diesen Jungen und seine Worte. Aber gewiss war es keine halbe Stunde, Makoto war noch nicht da.
Ein Telefonanruf riss mich aus meinen Gedanken.
Automatisch nahm ich ab. „Otomo-Haushalt.“
„Spreche ich mit Blue Lightning? Oder besser gesagt, spreche ich mit Akira Otomo, der so dumm war, auf dem Mars ohne Stimmzerhacker mit den Daishi-Piloten der Heimatverteidigung zu reden?“
Überrascht sprang ich auf. Hatte ich einen Fehler gemacht? Okay, hatte ich einen entscheidenden Fehler gemacht? „Wer sind Sie?“
„Jemand, der auf dem Mars war, als du uns Phobos auf den Kopf geschmissen hast. Zum Glück kam nur einer der kleineren Brocken runter, sonst hätten unsere Schilde nicht gehalten. Und ich müsste dir jetzt ein Killerkommando auf den Hals hetzen, anstatt dir ein Geschenk zu machen.“
„Zwanzig Sekunden. Wer immer Sie sind, reden Sie schnell, denn bei dreißig Sekunden hat die Fangschaltung der UEMF Ihre Adresse.“
„Hm. Die Idioten werden nicht einmal das Gespräch mitschneiden können, geschweige denn mich finden. Wir könnten stundenlang telefonieren, bevor sie überhaupt merken, dass du angerufen wurdest, mein Junge.“
Ich wusste, dass die Kronosier in einigen entscheidenden Punkten über bessere Technologie verfügten, die wir noch nicht in die Finger gekriegt hatten. Anscheinend lernte ich gerade eine weitere Technologie kennen.
„Was für ein Geschenk wollen Sie mir machen?“
„Wie gesagt, ich war auch auf dem Mars. Und ich habe eine sehr interessante Information für dich. Willst du deine Schwester wieder sehen?“
„Meine Schwester ist tot!“
„Nein, ist sie nicht. Sie schwebt in einem Biotank und regeneriert sich. Ich habe vielleicht die Möglichkeit, sie zur Erde schaffen zu lassen und dir wiederzugeben. Bist du dafür bereit, ein kleines Risiko einzugehen?“
Ich erstarrte. Alles in mir rief lautstark: Falle, Falle! Und die Stimmen hatten alle Recht.
„Falls du dir Sorgen um deine Sicherheit machst, mein Junge, keine Sorge. Außer mir wissen nur fünf weitere Kronosier, wer du bist, Blue Lightning. Ist das nicht nett von mir?
Es würde bei unseren Truppen zu, ah, Kommunikationsproblemen führen, wenn der Elitepilot der UEMF ein vierzehnjähriger Junge wäre. Wir haben es gesehen, als Megumi enttarnt wurde, keiner schießt gerne auf kleine Mädchen.“
„Wie nett. Was erwarten Sie von mir?“
„Oh, nichts Besonderes. Eigentlich will ich nicht mehr als eine Probe deines genetischen Materials. Uns interessiert, warum du einen Daishi steuern konntest. Als Belohnung schicken wir dir deine Schwester zurück. Dieses Angebot gilt aber nur, wenn du sofort nachdem du aufgelegt hast, vor die Haustür kommst, unbewaffnet, ohne Handy, und in den Wagen steigst, der dich dann abholen kommt.“
„Was habe ich davon? Wie kann ich mir sicher sein, dass Sie mich nicht betrügen?“
„Das kannst du nicht. Und du musst sehr wohl damit rechnen, dass ich dich betrüge. Aber ich werde dich nicht töten, weil du für uns lebend mehr wert bist. Und im Wagen wird ein Beweis sein, dass deine Schwester noch lebt. Ein sehr eindeutiger Beweis. Was ist, Blue Lightning? Hast du keine Lust auf ein wenig Risiko? Ist dir deine Schwester das nicht wert?“
Falle, Falle, Falle, hämmerte es in meinem Kopf. Ich wusste es, ich spürte es. Eine Falle, eine plumpe Falle, in der ich nichts, absolut nichts gewinnen konnte. Nichts gewinnen würde. Vielleicht würde ich sterben. Aber in meiner Verzweiflung, meiner abgrundtiefen Verzweiflung würde ich gerne in den Tod gehen, wenn es diesen Beweis gab. Wenn mein Versagen abgemildert wurde.
„Okay.“
„Gute Entscheidung, mein Junge. Du hast zehn Sekunden ab jetzt!“

Die andere Seite hängte auf. Ich zögerte nicht lange, warf das Handy fort, rannte auf den Flur, hielt mich nicht mit den Schuhen auf. Fünf Sekunden.
Ich trat auf die Straße, ein Wagen raste heran. Die hintere Tür ging auf, ich sprang hinein, der Wagen ruckte an. Wenn die UEMF Wachen aufgestellt hatte, dann würden sie spät reagieren. Zu spät. Und wieder einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler gemacht.
Der Fonds des Wagens war vom Fahrerbereich durch eine getönte Scheibe abgetrennt und leer, bis auf mich… Und einen weißen Druckanzug.
Ich zog ihn heran, erkannte das Namensschild auf der linken Brust. Es gehörte einem Hekatoncheiren, Thunderstrike. Yohko!
Der Anzug war angesengt, an einigen Stellen schwarz gebrannt, die Beine waren vollkommen verkohlt. Ich konnte nur ahnen, welche Temperaturen getobt hatten, um einen Druckanzug derart zu verheeren. Aber wenn es nur die Beine waren, dann…
Hastig suchte ich nach dem MedLog, dass alle Druckanzüge besaßen.
Ich wertete die Daten mit einem fachmännischen Blick aus und ließ mich erleichtert zurück sinken. Was jetzt auch immer kam, ich würde es ertragen. Ich würde es schaffen. Der MedLog zeigte eindeutig Lebenszeichen an, bis der Anzug geöffnet worden war.
Einigermaßen stabile Lebenszeichen. Wenn der Anrufer nicht gelogen hatte und Yohko wirklich in einem Biotank steckte, dann war ihr Leben gerettet.

„Ich habe doch gesagt, ich habe einen eindeutigen Beweis“, erklang die Stimme des Anrufers im Fonds. „Aber in einem anderen Punkt habe ich gelogen. Die Probe, die ich brauche, hm, sie fällt etwas groß aus. Genauer gesagt brauche ich ständig frische Proben von dir. Du wirst die Probe sein, junger Mann.“
Auf diese Art also wurde ich betrogen. Aber das machte nichts mehr. Ich hatte nicht völlig versagt. Der Rest würde sich finden.
Gas strömte ein, füllte meine Lungen und ließ mich langsam einschlafen. Den Rest würde ich schon irgendwie hinkriegen. Irgendwie…

5.
Auf meinem Weg zur Schule begegnete ich einer Menge Freunde. Daniel, Sven, Renata, Karen, Sarah, Dag, Dae-jung, Goeffrey… Wir alle lernten hier an der mathematischen Universität und gaben unser Bestes.
Wie immer war allerbestes Wetter, die Sonne schien aus allen Löchern, die Menschen auf den Straßen waren fröhlich und ich fühlte mich wohl. Sehr, sehr wohl.
„Was für eine ausgemachte Scheiße.“ Wütend ließ ich die Schultasche fallen. „Wie heißt dieses Land? Wie heißt diese Stadt? Warum scheint hier immer die Sonne? Warum regnet es nie? Es scheint immer Sommer zu sein, nie Herbst oder Winter! Es gibt keine Gefahren, keine schlechten Nachrichten und es gibt verdammt noch mal nicht den Hauch eines Konflikts!“
„Beruhige dich, Akira. Willst du lieber in einer anderen Welt leben, voller Elend und Gewalt? Überall an jeder Ecke einen Polizisten sehen, oder noch schlimmer vor den Kugeln eines Gangsters fliehen?“
„Woher kennst du diese Begriffe, Sarah?“ Ich ergriff ihre Schultern und sah sie ernst an. „Woher weißt du was ein Gangster ist? Wieso kennst du Kugeln? Und das Wort Gewalt kommt hier nicht einmal im Wörterbuch vor! Also, woher kennst du das alles?“
Mittlerweile hatten sich viele Menschen um mich versammelt. Einige meiner Freunde versuchten zu schlichten. „Akira hat wieder seine fünf Minuten, das geht vorbei. Gleich sagt er wieder, dass wir alle in einer Scheinwelt leben, dann kommt er wieder in Ordnung.“
„Halt die Klappe, Dag! Wir leben in einer Scheinwelt! Dies hier ist nichts weiter als eine große, böse Illusion!“
„Selbst wenn es eine Illusion ist, was ist daran böse? Wir leben hier wirklich nicht schlecht, alle sind gesund und die Sonne scheint.“
Ich machte ein abwertendes Geräusch. „Daniel, hast du schon mal eine Handvoll Dreck genommen? In deine Hände, zugegriffen, mit vollem Bewusstsein?“
„Nicht, dass ich mich dran erinnern würde. Aber hier gibt es doch überall Erde. Wenn du willst kann ich das schnell machen.“
„Dann greif in die Erde. Hol dir eine große Handvoll raus. Und dann iss sie.“
„Was? Ich soll Dreck fressen? Du spinnst, Akira!“
„Ich habe es gemacht! Und weißt du was ich festgestellt habe? Sie schmeckt nach nichts, nach absolut nichts! Und wenn ich drüber nachdenke, was ich sonst in dieser Welt esse, es schmeckt auch nach nichts!“
„Also, ich schmecke was, wenn ich was esse“, warf Sarah vorsichtig ein.
Ich lachte abfällig. „Dag, gib mir mal eine von deinen speziellen.“
„Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber was du sagst ist zumindest witzig. Hier.“
„Sarah, lutsch bitte diesen Bonbon. Und sag mir wie er schmeckt.“
Die junge Amerikanerin griff nach der Süßigkeit, wickelte sie aus und steckte sie sich in den Mund. „Süß.“
„Okay, lutsch weiter. Und du, Dag, grins nicht so breit.“
„Aber wenn sie gleich merkt, dass…“
„Klappe. Sarah, kannst du den Bonbon durchbeißen?“
„Ja, kein Problem. Aber wieso…“
„Mach es einfach.“
Man konnte deutlich sehen, wie sie die Kiefer spannte. Und das leise knacken, als der Bolschen zerbrach.
Dag grinste breit.
„Und? Wie schmeckt der Bonbon?“, fragte ich wütend.
„Immer noch süß. Ich weiß nicht was du hast, Akira, aber ich…“
„Er kann nicht süß schmecken!“, rief Dag wütend. „Ich bin Schwede, und dies ist eine Süßigkeit aus meiner Heimat! Der Bolschen ist innen mit Salz gefüllt! Er kann nicht süß schmecken!“
„Was?“ Entsetzt sah sie den großen blonden Mann an. „Aber… Aber ich schmecke doch dass er süß ist!“
„Nein. Du erwartest dass er süß schmeckt und deine Erinnerung redet dir ein, dass er süß schmeckt. In Wirklichkeit hast du gar nichts im Mund. Du isst weder süßes noch salziges. Weil dies hier nicht die Realität ist! Dies ist ein verdammter Traum, in dem wir gefangen gehalten werden!“
„I-ich glaube dir, Akira!“ Der Schwede war sichtlich erschüttert.
„Es schmeckt immer noch nicht salzig“, hauchte Sarah bestürzt.

Die Welt brach abrupt zusammen.
Ich fand mich übergangslos in einem großen, lichten weißen Raum wieder. „Was soll ich nur mit dir machen, Akira Otomo?“
Ich drehte mich um die eigene Achse, sah einen schneeweißen Schreibtisch. An ihm saß eine schwarzhaarige Frau in den Dreißigern. Sie trug einen hoch geschlossenen weißen Hosenanzug. Sie seufzte tief und ernst. „Was soll ich mit dir machen? Das ist das dritte Mal in dieser Woche, in der du die virtuelle Realität durchbrichst. Akira, das ist böse. Ich werde die Welt neu starten müssen, und das wird auffallen. Es wird eine Untersuchung geben, und dann werde ich sagen müssen, wer für die drei Neustarts allein in dieser Woche verantwortlich ist. Und dann kann ich dich nicht länger beschützen. Akira, ich will doch nicht, dass du getötet wirst. Wir leisten hier alle unsere nützliche Arbeit für die Kronosier, und solange wir das tun sind wir sicher. Verstehst du das denn nicht?“
„Ich verstehe, dass du überleben willst, Mother. Ich verstehe es und kann es nachvollziehen. Aber ich will nicht überleben! Ich will richtig leben! Da draußen gibt es eine riesige Welt, die nur auf mich wartet! Ich will dahin zurück!“
Wütend kam ich an den Schreibtisch heran, stützte mich schwer darauf ab. „Mother, du weißt, dass ich nicht mehr viel Zeit habe! Die verdammten Kronosier löschen mein Gedächtnis! Nicht mehr lange, und ich habe alles vergessen, bin eine leere Hülle!“
„Ist es also das?“ Die Frau sah mich bedauernd an. „Willst du vorher noch so viel Schaden wie möglich anrichten? Deine Rache haben?“
„Nein, Mother. Ich will hier raus. Und ich werde es schaffen!“
„Wie willst du es schaffen? Wie?“
„Hm.“ Ich grinste süffisant. „Mit den Mitteln, die du mir in die Hand gegeben hast. Mir und jedem anderen in dieser Konstruktwelt.“

Übergangslos begann der weiße Raum zu verschwimmen. Die Wände verloren ihre weiße Farbe, begannen einem Kaleidoskop gleich in allen Farben zu schimmern. Die Dimensionen verloren ihre Gültigkeit und der Boden verwandelte sich in eine tiefe, schwarze Grube.
Der Schreibtisch verschwand und Mother sprang erschrocken auf. „Du hackst das System?“
Mein Lächeln wurde eine Spur breiter. „Nein, nicht ich hacke das System. Die anderen hacken das System. Ich bin mit etwas anderem beschäftigt. Danke dafür, Mother!“
„Was? Was tust du? Akira, was tust du? Du bist nicht sicher, wenn die Kronosier es herausfinden! Sag es mir, und ich kann dich schützen! Akira!“
„Tut mir Leid, Mother, aber ich komme hier raus! Ich komme hier definitiv raus!“
Ich stützte mich im Nichts auf – das gelang überraschend gut – und sah Mother direkt in die Augen. „Mit jeder Sekunde die ich hier bleibe, mit jedem Moment der verstreicht, vergesse ich etwas wichtiges. Oder etwas unwichtiges, was vielleicht später erst wieder wichtig wird. Welche Note habe ich in Englisch in meiner letzten Arbeit bekommen? Wie schmecken Tomaten? Warum ist die Farbe blau die Farbe blau? Sehe ich zuerst nach rechts, wenn ich eine Straße überquere, oder zuerst nach links? Es fließt aus mir raus, es verlässt mich! Ich kann dabei zusehen, wie ich… Wie ich weniger werde! Verdammt, ich will nicht als leere Hülle vegetieren! Und ich halte auch nichts davon als reines Gehirn zu existieren!“

Mother sah mich an, erhob sich aus dem Nichts, das ihr als Stuhl gedient hatte, und kam zu mir herüber. Ihre Schritte klangen über der Dunkelheit, auf der sie ging, auf. Sie hob die rechte Hand und streichelte mein Gesicht. Die Berührung war nicht echt, aber für einen Moment glaubte ich sie zu spüren. „Es tut mir Leid, Akira. Ich konnte dich nicht beschützen.
Wir alle sind hier gefangen und müssen versuchen das Beste aus unserer Situation zu machen. Wir alle wollen letztendlich nur irgendwie leben. Ich habe versucht, für euch da zu sein. Ich habe versucht, euch zu beschützen. Ich habe versucht…“ Sie schluckte hart. „Ich wollte dir helfen, Akira. Weit mehr helfen als irgendjemand anderen, aber ich habe es nie geschafft. Letztendlich sind wir im Netzwerk der Supercomputer isoliert und ich kann nichts anderes tun als dich um Vergebung zu bitten. Dafür dass dein Gehirn systematisch gelöscht wird und dafür, dass ich es dir nie gesagt habe. Aber ich dachte, wenn du es nicht weißt, dann fällt dir das gehen leichter. Und mir das loslassen.“
Ihre Augen wurden mild, wässrige Tränen flossen ihre Wangen herab. „Akira, ich konnte nichts für dich tun. Aber jetzt tust du selbst etwas für dich. Ich wünsche dir, dass dein Vorhaben klappt. Das du dich rettest. Und damit uns.“
Sie zog die Hand zurück, wischte sich über die Wangen.

„Mother. Wenn mein Plan funktioniert, dann kommen wir hier alle raus, das verspreche ich.“
„Wie hast du es gemacht? Wie bist du an den automatischen Wächtern vorbei gekommen? Wie an den Wänden?“
„Das war einfach. Letzte Woche viermal. Diese Woche dreimal. Vor zwei Wochen auch dreimal, nicht wahr?“ Ich grinste schief. „Hast du wirklich gedacht, mit einem Neustart der Welt wäre es getan? Hast du wirklich geglaubt, alle würden wieder bei null anfangen?“
Der Triumph griff nach mir, aber ich wies ihn ab. Noch hatte ich nicht gewonnen. Noch war ich in der Hand der Kronosier. „Spätestens nach dem dritten Neustart hatte ich die meisten überzeugt. Die Wichtigsten auf meine Seite gezogen. Seither testen wir diese virtuelle Welt, seither suchen wir die Schwachstellen. Und wir versammeln uns, um die wichtigsten Dinge zu besprechen. Die Kronosier haben uns ein Tor überlassen, das uns die Kommunikation immer gestattet. Und wir haben es genutzt.“
„Dann war die Versammlung heute nur…“
„Ja, ich habe den Neustart wissentlich ausgelöst. Einmal habe ich meine wichtigsten Verbündeten um mich versammelt. Dann habe ich sie noch einmal auf die Strategie eingeschworen. Und dann hast du den Neustart ausgelöst und mich hierher geholt. An eine direkte Schnittstelle zum nächsten Supercomputer.“ Mein Grinsen wurde breiter. „Du hast mir in die Hände gespielt, Mother.“
„Und während deine Freunde die virtuelle Welt zerfetzen, die Rechenoperationen sabotieren, Chaos produzieren, tust du was?“
„Diese Frage kannst du dir selbst beantworten.“
„Eine andere Frage. Wie sieht das Tor aus? Wie kommuniziert ihr miteinander, ohne entdeckt zu werden, ohne dass eure Kommunikation enttarnt wird?“
„Wir benutzen die Datenströme, die uns der Supercomputer zur Bearbeitung zuteilt. Die Wächter prüfen nur deren Inhalte, wenn wir sie zwischen uns hin- und herreichen. Nicht aber ihr Aussehen.“
„Was?“
„Wir formen die Datenströme, geben ihnen ein visuelles Gesicht. Nicht nur, dass wir eine Rechenoperation für die Verbesserung eines Antriebs berechnen, wer diesen Datenstrom empfängt und ihn sich visualisieren lässt, erkennt, dass die einzelnen Operationen Wörter bilden.“
„Einfacher ausgedrückt: Die Wächter kontrollieren den Datenstrom auf versteckte Botschaften. Nicht aber dessen Form.“
„Richtig, Mother. Und damit haben wir absolute Narrenfreiheit. Und die nutze ich, um uns zu retten.“
Übergangslos fühlte ich mich, als würde man mir die Eingeweide heraus reißen. „Falls dann noch etwas von mir übrig ist, meine ich…“
„AKIRA!“ Mother stürzte heran, nahm mich in die Arme.
„Du wirst es schaffen, Blue Lightning“, hauchte sie.
Erstaunt sah ich auf. Den Namen hatte ich schon mal gehört, vor einer kleinen Ewigkeit.
„Und um deine Frage zu beantworten: In Ländern mit Linksverkehr wie Japan und England schaut man zuerst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links, und überquert danach die Straße.“
„Ich versuche es mir zu merken“, erwiderte ich.
Mothers Bild begann zu verschwimmen wie Farbe in einem Wasserstrudel. Mein Bewusstsein fiel und fiel. Der letzte Akt hatte begonnen.

6.
„Yo, Akira.“
Ich wandte mich um und grinste. „Hey, Yoshi. Alles klar?“
„Alles klar. Mir geht es gut. Wie geht es dir?“
Ich schnaubte aufgebracht. „Hey, ich kann meine Manga-Sammlung noch mal lesen. Die meisten habe ich total vergessen.“
„Na siehst du, da hat deine Entführung durch die Kronosier doch was gutes gehabt“, scherzte er. „Übrigens, ist dein Begleitschutz unsichtbar? Ich meine, falls sie dich noch mal entführen wollen?“
Ich winkte herrisch ab. „Die sollen bleiben wo der Pfeffer wächst. Ich habe vorhin Großmutters Schwert ausgemottet. Ich schütze mich ab sofort alleine.“
„Was, bitte, willst du mit einem Katana? Du schneidest dich bloß selbst.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Deshalb habe ich ja auch mit Kendo angefangen.“
Yoshi schnaufte überrascht. „Du hast was? Junge, Junge, du überraschst mich immer wieder.
Übrigens, ist Mako noch bei dir zu Hause?“
„Was? Nein, die verdammten Kronosier haben nicht so viel von mir gelöscht, dass ich ständig einen Aufpasser brauche, um das Haus nicht in Brand zu setzen. Irgendwie brauche ich das allein sein auch. Ich will mich beweisen. Ich will alleine klar kommen.“
Ich lachte unglücklich. „Ich bin ein Idiot. Dabei habe ich Makoto doch gerne bei mir.“
„Aber dein Stolz kommt dir direkt in den Weg. Sehe ich das richtig?“
„Wenn Eikichi meint, er bräuchte nur an meinen Cousin zu delegieren, dann meine ich eben, es auch alleine zu schaffen“, erwiderte ich eisig.
„Seit wann hast du was gegen deinen Vater?“
„Welchen Vater? Ich sehe keinen Vater!“
„Zirka eins achtzig groß, graumelierte Schläfen, leicht ergrautes, schwarzes Haupthaar, schlank, selbstsicher und gut aussehend. Eikichi Otomo mit Namen. Dein Vater.“
„Ich weiß, wer mein Vater ist. Er handelt nur eben nicht danach.“
„Na, genug davon, sonst kommen wir schnell wieder zu dem Thema, bei dem du dich mit Kopfschmerzen am Boden wälzt. So wie neulich, als dich jemand gefragt hat, wie es in dem Supercomputer war.“
„Supercomputer? Was redest du nur für einen Quatsch heute?“
Yoshi musterte mich als wäre ich ein Wesen von einem anderen Stern. Er wandte sich ab, stopfte seine Hände tief in die Hosentaschen seiner Schuluniform und meinte: „Ist vielleicht ganz gut so. Komm, beeil dich ein wenig. Akane-sempai hat Verständnis für das arme Opfer der Kronosier, wenn es sich verspätet. Aber mich wird sie definitiv in die Mangel nehmen.“
„Als wenn das etwas schlechtes wäre“, erwiderte ich.
Yoshi grinste in einer Mischung aus Zustimmung und Seelennot zu mir herüber.

„Akira-san?“
„Morgen, Hina-chan. Was kann ich für dich tun?“
„Hina redet mit dir? Seit wann hat sie so viel Courage?“, murmelte Yoshi amüsiert.
„Klappe, Kumpel. Hör nicht auf den großen Trottel. Was hast du auf dem Herzen?“
Das blonde Mädchen sah mich mit feucht glitzernden Augen an. „Akira-san, ich wollte dir nur sagen dass…“ Übergangslos verbeugte sie sich tief vor mir und verharrte so. „Du bist mein großes Vorbild, Akira-san. Du hast mir Kraft gegeben als ich sie brauchte und dafür stehe ich in deiner Schuld. Ich hoffe, wenn wir in die Oberstufe kommen, dass wir wieder in derselben Klasse sind, damit du mich wieder inspirieren kannst. Danke, Akira-san.“
Sie richtete sich wieder auf, wurde rot und lief davon. „E-entschuldige, Akira-san!“
„Ihre Inspiration?“ Nachdenklich kratzte sich Yoshi am Haaransatz. „Mir sagen die Frauen nie so etwas.“
„Für mich ist das auch neu, Kumpel.“
„Du verstehst dich gut mit Hina, oder, Akira?“
Erschrocken fuhr ich zusammen. Neben mir stand ein dunkelblondes Mädchen mit niedlichem Kurzhaarschnitt und lächelte mich reichlich übertrieben an. Sie war definitiv süß.
War sie mir vorher schon mal aufgefallen? Fiel sie in den Bereich, der von den Kronosiern gelöscht worden war? Verdammt, ich wusste, ich kannte sie. Irgendwie. Aber wenn ich sie ansah, dann sah ich nur diesen riesigen roten Mecha vor meinem geistigen Auge.
„Nicht, dass das was schlimmes wäre, Akira“, fügte sie hinzu und lächelte unglücklich.
Ich reagierte immer noch nicht, kramte in meinen Gedanken.
Ihr Blick wurde düster. „Es tut mir Leid, wenn ich dich gestört habe, Otomo-kun.“
Sie senkte den Kopf und wandte sich abrupt um.
„HEY!“, rief Yoshi, aber sie blieb nicht stehen.

Ich griff hart zu und bremste das Mädchen ab. Sie stand bereits am Straßenrand, und in diesem Moment rauschte ein Sportwagen auf ihrer Seite entlang. Viel zu schnell und viel zu rücksichtslos.
„Eine Bekannte hat mir mal gesagt, wenn ich in Japan eine Straße überquere, dann soll ich erst nach links, dann nach rechts und dann wieder nach links gucken. Ich glaube, blindlings drauflos laufen gehört da nicht zu, Megumi. Kannst du nicht etwas vorsichtiger sein anstatt mir fast einen Herzinfarkt zu bescheren?“
Erschrocken sah sie mich an. Dann zu Yoshi. „E-entschuldige, Otomo-kun, dass ich dich beunruhigt habe.“
Ich runzelte die Stirn. „Warum sagst du nicht wieder Akira? Ich finde, das klingt viel besser aus deinem Mund.“
„O-okay. Akira.“ Sie verneigte sich halb vor mir, was mich etwas irritierte. Ich wusste irgendwie, dass Megumi so etwas normalerweise nicht tat.
Yoshi legte jedem von uns eine Hand auf die Schulter. Er lächelte. Es war nicht das übliche breite Grinsen oder sein überhebliches Schmunzeln. Es war ein offenes, frohes Lächeln. „Nachdem das geklärt ist, sollten wir uns langsam beeilen. Die Schule fängt bald an.“
„Vieles fängt an, Yoshi“, erwiderte Megumi zweideutig. Ihre Miene war erschreckend ausdruckslos, aber in ihren Augen standen Tränen.
Merkwürdig, das Gefühl hatte ich auch. Irgendwie.

Epilog:
Nach und nach fielen tausende Puzzlesteine an ihren Platz, nach und nach formten sie ein großes, farbenprächtiges Bild, ein Gemälde, dessen Detailliertheit, dessen Kunstfertigkeit und dessen Einfallsreichtum mir den Atem raubte.
Das Leben schrieb eben doch noch immer die besten Geschichten.
Diese Geschichte, in der ich mich befand, und in der ich mich fühlte wie der Hauptprotagonist, konnte nur von tausenden Zufällen erschaffen worden sein. Kein lebender Mensch hätte soviel Phantasie und vor allem Vielseitigkeit aufbringen können.
Die Erzählungen von Oma, Urgroßvater, die Erzählungen Mutters und der Vorstände des Turms der Daness, all das trug bei zu dem Farbenprächtigen Bild.
Alle Erinnerungen zusammen entwarfen einen Teppich, der dennoch nur eine kleine Fläche bedeckte, die maximal hundertfünfzig Lichtjahre groß war und nur ein paar hundert Sterne abdeckte. Ein paar hundert von zweihundert Milliarden.
So groß unsere Sorgen auch waren, so groß es die Nöte waren, so gewaltig uns die Gefahr erschien, in der wir alle schwebten, so war es doch nur ein winziger Ausschnitt in diesem Universum.
Aber es war mein Ausschnitt, es war meine Momentaufnahme. Es war mein Schicksal und meine Zukunft. Und vor allem, es war meine Vergangenheit.

Da saß ich nun, im kleinen Appartement, dass man mir im Daness-Turm zugewiesen hatte, umgeben von meinen Freunden und Untergebenen und dachte über die letzten Worte von Sostre Daness nach, Megumis Onkel. Wie konnte ich mit Megumi zusammen bleiben, ohne dass die Pflichten meines Turms und die Pflichten ihres Turms miteinander kollidierten?
Seine Stimme hallte in meinem Kopf wieder, seine Worten standen so klar in meinem Geist, als würde er sie gerade aussprechen. Diese elenden, verdammten Worte, mit denen er mich und Megumi aufforderte, vernünftig zu sein. Erwachsen zu werden. Uns unserer Verantwortung zu stellen.
Und speziell an mich gerichtet, Haus Daness einen offenen Anreiz anzubieten, der es dem Turm erlauben würde, sein Engagement für die Arogads auch weiterhin fortzusetzen, obwohl die Familie nun im Sol-System nichts mehr zu gewinnen hatte.
Dies und unsere Pflicht als Offiziere der United Earth Mecha Force kollidierten enorm miteinander und produzierten einen riesigen Wall von Problemen, die ich irgendwie überwinden musste. Die wir irgendwie überwinden mussten.
Sostre in allen Ehren, ich hielt mich da lieber an seinen Vater Mitne, den Vorsitzenden des Hausrates, der mit freundlicher Stimme gesagt hatte: „Wir werden schon irgendwie zu einer Lösung kommen.“

Ich sah in die Runde, jeden einzelnen direkt in die Augen. „Vorschläge? Sora Fioran? Franlin Litov? Henry William Taylor?“
„Wie wir die Daness bei der Stange halten?“, stellte Taylor eine Gegenfrage. „Oder wie du Megumi behalten kannst?“
„Beides!“
Taylor zuckte mit den Achseln. „Wenn ich dir einen guten Rat erteilen kann, besorgst du mir dann die Erlaubnis, auch in den Daness-Archiven forschen zu dürfen?“
„Henry, wenn dein Rat was taugt, bekommst du in den Daness-Archiven Narrenfreiheit.“
Das wölfische Grinsen des Kronosiers wollte mir gar nicht gefallen. Andererseits bedeutete es, dass er eine Idee hatte.

„Entschuldigen Sie, Meister Aris“, meldete sich Franlin zu Wort. „Ich bekomme gerade eine Mitteilung. Der Oberste Gerichtshof wird sich in einer Schnellentscheidung zur Schenkung von Sol- und Kanto-System äußern.“
Ich schluckte hart. Krieg würde es auf jeden Fall geben. Die Raider, von deren Existenz ich erst seit kurzem wusste, lauerten bereits im Kanto-System, wie Makoto mir mitgeteilt hatte. Aber die Frage war einfach, mussten wir Menschen dies alleine durchstehen? Oder konnten wir die beiden Türme Arogad und Daness oder das ganze Imperium auf unsere Seite ziehen?
Franlin drückte den Empfänger an sein Ohr, während seine Miene immer ausdrucksloser wurde. Schließlich deaktivierte mein Stabschef das Gerät und sah zu mir herüber. „Meister Aris. Sie haben sich gerade zwei komplette Sonnensysteme aufhalsen lassen.“
Ich schwieg erschüttert. Es hatte geklappt? Verdammt, es hatte geklappt? Ich spürte meine Beine schwach werden.
Taylor stand sofort neben mir, hielt mich aufrecht. „Gratuliere, Akira. Ohne einen Schuss abzugeben hast du geschafft, was die Legaten über sechs Jahre mit Gewalt versucht haben.
Du wolltest einen Rat von mir. Ich gebe dir jetzt einen: Divide et empire.“
„Mein Latein ist lausig“, erwiderte ich. Lausig ja, aber ich hatte ihn dennoch verstanden.
Und ich hatte verstanden, was noch hinter seinen Worten steckte. Divide et empire; teile und herrsche. Die interessanten Zeiten rissen einfach nicht ab, verdammt.

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