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Zum Ende der Seite springen Anime Evolution: Krieg
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Anime Evolution: Krieg Auf diesen Beitrag antworten Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       Zum Anfang der Seite springen

Anime Evolution: Krieg

Episode eins: Spezialisten


1.
Vor einem halben Jahr:
Die Halle war riesig. Sie hatte keine Entsprechung auf einem beliebigen Militärstützpunkt auf der Erde oder dem Mars. Sie war schlicht und einfach gigantisch genug, um einen Kampf zwischen zwei Hawks zu zu lassen. Ironischerweise war das auch ihre Aufgabe. Sie gehörte Luna Mecha Research und stand auf dem Mond. Hier testete die populäre internationale Firma ihre Verbesserungen wie den LRAO, den Booster und die verbesserte Energieaufnahme für durch KI katalysierte Kraft. Im Moment jedoch standen keine Mechas in dieser Halle.
Dennoch war sie gut gefüllt. Auf der stadionartigen Grundfläche hatten sich mehr als fünfhundert Personen versammelt. Für jeden gab es einen Klappstuhl, aber keiner von ihnen wollte wirklich sitzen. Die Mischung dieser Versammlung war zu exklusiv und viel zu gefährlich.
Die Anwesenden hatten sich grob orientiert und sich anhand der Eigeninteressen sortiert. Es gab zwei große Blöcke, die aber von diversen Unterströmungen unterwandert waren, welche die beiden Hauptgruppen irgendwie unterminierten. Dazu kam die Herkunft der Leute, nach denen sie sich ebenfalls sortiert hatten.
Admiral Torum Acati seufzte lang und tief, als er dieses Chaos sah. Denn er war der Unglückliche, der es sortieren musste.

Acati, Admiral und Oberbefehlshaber der neu eingerichteten Regionaladmiralität des Naguad-Imperiums, dem Terra pro forma angehörte, warf seinen beiden Beisitzern fragende Blicke zu. Die sahen sich rechts, beziehungsweise links am Tisch um, bis insgesamt neun gestandene Offizier ratlos die Schultern hoben.
Erneut seufzte Acati. Natürlich blieb alles wieder an ihm hängen.
Er räusperte sich vernehmlich und erhob sich. Wenigstens stritten die Männer und Frauen nicht, das hätte die Situation erschwert, ihr Vorhaben von vorne herein vielleicht unmöglich gemacht.
Fünfhundert Augenpaare wandten sich ihm zu. Es hätte nicht viel gefehlt, und einer der anwesenden Offiziere hätte die ganze fünfhundert Mann starke Truppe ins Achtung gerufen.
„Meine Damen und Herren. Wir haben sie alle aus einem bestimmten Grund auf den Mond gerufen.“
Ironische Blicke aus Naguad- Anelph- und Menschenaugen trafen den Halb-Dai. So weit hatten die Zuhörer auch schon mit gedacht.
„Ich will die Katze aus dem Sack lassen, bevor die Spannung im Saal noch jemanden umbringt: Sie alle sind hier, um fortan Akira Otomo zu dienen.“
Leichte Unruhe enstand. Der eine Hauptblock setzte sich aus direkten Unterstützern des Sohns von Eikichi Otomo zusammen, der andere Block, der für das raunen verantwortlich war, hielt sich hingegen eher an Megumi Uno.
„Wem das nicht gefällt, der hat genau jetzt die Gelegenheit den Saal zu verlassen. Wer allerdings bleibt, steht unter direktem Befehl der Admiralität und ist zu striktem Stillschweigen verpflichtet. Verlassen Sie uns jetzt, oder sie stehen unter Befehl.“
Diese Worte lösten erneut Unruhe aus. Wortfetzen drangen an die Ohren der Gruppe am Tisch.
Dann aber klang ein kräftiger Bariton auf. Es war lautes, weithin schallendes Gelächter. „Machen Sie Witze, Acati? Sie haben um sich einige der interessantesten und fähigsten Soldaten versammelt, die wir alle kennen! Aris Taral! Doitsu Ataka! Sora Fioran! Daisuke Honda! Kei Takahara! Sostre Daness! Jaques Beauchamp! Jano Avergan Ryon! Egal was Sie hier veranstalten, es wird die Party des Jahrzehnts, und ich werde einen Teufel tun, hier raus zu gehen.“
Zustimmendes Gemurmel erklang. Als kurz darauf die Türen zum Saal geschlossen wurden, hatte nicht einer von ihnen den Raum verlassen.
„Also gut“, sagte Torum Acati ernst, „dann wollen wir mit der Party beginnen. Sie alle, meine Damen und Herren, Terraner wie Anelph und Naguad, wurden von uns Handverlesen, um eine vollkommen neue Einheit zu bilden. Sie werden die zukünftigen Kommandos der United Earth Mecha Force bilden. Ihr Einsatzgebiet wird alle möglichen Orte umfassen: Den Raum, die Luft, das Wasser, den Boden und wenn es sein muss sogar unter dem Boden. Sie werden die Schutzengel unseres jungen Bündnisses sein und notfalls ihr Leben geben, um es zu bewahren. Sie werden im geheimen arbeiten, kämpfen, töten, hinter den Linien, Undercover, auf Raumstationen ebenso wie auf Raumschiffen, mit Mechas, Panzern oder wenn es sein muss mit bloßen Händen.“
Torum Acati stand auf und schlug beide Handflächen auf die Tischplatte vor sich. „Sie, meine Damen und Herren sind die besten der besten der besten! Und es ist mir eine besondere Freude, dass sie sich alle dazu entschlossen haben, im Saal zu bleiben, denn auf diese Weise können wir unsere Vorstellung von dem was wir tun wollten, komplett in die Tat umsetzen. Sie alle werden das Blue Lightning-Regiment bilden. Ihre Ausrüstung wird das beste sein, was wir aufzubieten vermögen und ihre Aufträge werden die gefährlichsten sein. Vom Spionageauftrag über Sabotage bis hin zur gezielten Eliminierung einzelner Personen verlangen wir ihnen alles ab.
Die Menschen, die sie mit mir an diesem Tisch sehen, werden für das Blue Lightning-Regiment Weisungsbefugt sein, aber sie werden sich nicht in die Arbeit der Truppe einmischen. Und das bringt uns zum spaßigen Teil.“ Torum Acati lächelte hämisch. „Wir neun werden den Saal nun für vier Stunden verlassen. Wenn wir wieder herein kommen, erwarte ich, dass sie einen gemeinsamen Oberbefehlshaber haben. Ich erwarte außerdem, dass sie eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie das Regiment gegliedert sein soll. Und ich erwarte, dass sich ein Geflecht aus Anführern entwickelt. Arbeiten sie selbst aus, wie groß die kleinste Truppe ist, nach welchen Spezialisierungen aufgeteilt werden soll und wer fähig genug ist, in welcher Umgebung wen an zu führen. Ihr Spezialisten jammert ja immer über Offiziere, die nicht vom Fach sind und unsinnige Befehle geben. Nun habt ihr Gelegenheit, euch selbst zu organisieren. Ach, und Ränge spielen ab sofort keine Rolle mehr. Alle Anwesenden sind mit sofortiger Wirkung ihrer Ränge enthoben. Alle tragen den neuen Rang eines Spezialisten. Ein neues Rangsystem gehört ebenfalls zu den Aufgaben, die ich dieser Versammlung stelle. Oh, das ist wirklich der schönste Tag meines Lebens. Vielleicht wird dies die schlagkräftigste Truppe aller Zeiten. Vielleicht aber auch nur ein guter Lacher für uns neun. Es liegt einzig und allein an ihnen. Bis nachher.“
Die anderen acht erhoben sich und verließen mit Acati den Saal. Die letzte Tür schloss sich mit der Endgültigkeit eines Sargdeckels.
Ein junger SAS-Offizier sprach aus, was in ihnen allen vorging: „Und was jetzt?“
***
Als Torum Acati und seine Begleiter wieder eintraten, wusste der Admiral noch nicht, dass ihn der Schock seines Lebens erwarten würde.
Am Tisch erwartete ihn eine Gruppe aus der Personen. Eine Frau und zwei Männer. Sie trugen die unterschiedlichsten Uniformen, aber Torum erkannte natürlich, dass die Frau eine Fioran-Einsatzuniform trug, während der Mann in der Mitte eine schwarze Uniform ohne Rangabzeichen trug, die von so ziemlich jeder Armee der Welt getragen werden konnte. Der dritte im Bunde hatte die Dienstjacke ausgezogen, aber die grauen Hosen mit dem Fingerdicken orangen Litzen verrieten genug über ihn, um ihn als Anelph zu identifizieren.
„Also, was haben Sie mir zu bieten?“
Der Mann in der Mitte erhob sich. „Jason Stafford. Ehemals Army Ranger. Ich habe die Ehre, das Kommando über das Blue Lightning-Regiment inne zu haben.“
Die Frau erhob sich. „Eryn Lycast aus dem Haus Fioran. Ich habe die Ehre, dem Blue Lightning-Regiment als Stellvertretende Befehlshaberin zu dienen.“
Der dritte erhob sich. „Und ich bin der Notnagel, wenn einer von den anderen beiden nicht zu erreichen oder tot ist.“ Die Flapsigkeit aus Auftreten und Stimme verschwanden. „Len Nox Ryon, Zweiter Stellvertreter.“
Stafford räusperte sich. „Sie sehen hier das gesamte Offizierskorps vor sich.“
„Das ganze?“, fragte Aris Taral erstaunt.
„Wir haben uns dazu entschlossen, die gesamte Einheitsstruktur extrem flexibel zu halten. Wir drei stehen aus Sicherheitsgründen als Oberbefehlshaber zur Verfügung, vor allem weil es jemanden geben muss, der Diskussionen abkürzt und das letzte Wort hat. Aber die restliche Truppe wird ausschließlich anhand der Aufträge und der Anforderungen der Aufträge zusammen gestellt. Anführer und eventuelle Unterführer werden für diese Aufträge temporär befördert und nach dem Einsatz zurück gestuft. Somit sichern wir uns nicht nur höchste Flexibilität, sondern bewahren uns auch vor einengenden starren Strukturen. Dies erfordert natürlich eine nahezu perfekte Kommunikation, deshalb ersuche ich Sie, Stabs-Gruppen zusammen zu stellen und den jeweiligen Gruppen im Einsatz zur Verfügung zu stellen, die den Kommunikationsbereich übernehmen. Ebenso brauchen wir eine feste Stabsgruppe für die Versorgung. Ich brauche Garantien, dass wir auch bekommen was wir anfordern. Die üblichen militärischen Spielchen über Anforderung und Tauscherei wäre der absolute Tod für eine Truppe wie das Blue Lightning-Regiment. Im Gegenzug werden wir einmal jährlich Kassensturz machen und offenlegen, ob wir wirklich ausschließlich nach Bedarf angefordert haben. Meinetwegen können Sie mir Überbestände dann vom Sold abziehen.“
Torum Acati betrachtete den Mann schmunzelnd. „Ich glaube, wir haben ein Monster erschaffen.“
„Gratuliere, Doktor Frankenstein“, kam es von Sostre Daness.
Auf den fragenden Blick Acatis meinte der Daness-Erbe nur: „Eine Figur aus der terranischen Weltliteratur. Ein Mann, der Gott spielt und Leben erschaffen will. Hier scheint etwas ähnliches geschehen zu sein.“
„Geht die Geschichte gut aus, Sostre?“
„Nein, das tut sie nicht. Ich hoffe, das wird mit dieser nichts zu tun haben.“
„Das ist egal, Sostre. Das Blue Lightning-Regiment muss nicht ewig leben – nur lang genug.“
Entschlossenes Raunen von den frisch gebackenen und härtesten Kommandos dreier Reiche antwortete ihm.
„Kommen wir zum ersten wichtigen Punkt: Das Training.“ Acati grinste wölfisch. „Ich wusste, die Geschichte würde mir noch richtig Spaß machen.“

2.
Viereinhalb Monate später.
Die meisten Bewegungen der geheimen Sondereinheit wurden mit Hilfe der Anelph- oder Naguad-Schiffe vollzogen, weil sie selbstständig sprungfähig waren. Die meisten terranischen Einheiten waren dies nicht und auf ein Trägerschiff angewiesen. Oder einen Pulk sprungfähiger Schiffe, sie sie quasi in den Sprung mitnahmen, ein Manöver, das den klangvollen Namen Takahara-Sprung trug.
Und so war es auch diesmal eine schnelle Fregatte der Anelph, die das kleine, zwanzigköpfige Team ins Ziel brachte. Für die Dauer der Mission war ein Anführer ausgewählt worden, der in der Lage war, einen Phoenix zu fliegen und zu benutzen. Fünf weitere Mechas, drei auf Nahkampf umgerüstete Banges, ein Eagle und ein Sparrow, vervollständigten das Bild. Dazu kamen sechzehn Infanteristen unterschiedlicher Herkunft. Einige von ihnen waren terranische SpecOps, also Soldaten die für Special Operations trainiert worden waren. Einige waren Bluthunde der Arogad oder stammten aus vergleichbaren Einheiten der anderen großen Naguad-Häuser.
Man konnte mit Fug und Recht sagen, dass hier einige der Besten zusammengezogen waren, die sich selbst nicht als KI-Meister hatten qualifizieren können, aber im Kampf gegen sie effektiv ausgebildet waren. Sie hatten auch schon erfolgreich gegen feindliche KI-Meister gekämpft, zumindest die meisten von ihnen.
Das Ziel des Einsatzkommandos war ein kleiner imperialer Stützpunkt mit einer wichtigen Kommunikationseinrichtung. Das Kaiserreich der Iovar schlief nicht, im Gegenteil. Erstaunlich schnell war es ihnen gelungen, die Hand auf die mittlerweile bei den Naguad verbreiteten neuen überlichtschnellen Kommunikationsgeräte zu bekommen. Nun bauten die Überreste des Kaiserreichs eine eigene Kommunikationsstrecke auf, und diese Welt war ein wichtiger Knotenpunkt für die Übermittlung der Daten. Wenn sie diesen Posten eliminierten, dann brach die gerade beginnende Koordination der kaiserlichen Truppen, die sich gegen das Unvermeidliche stemmten, in sich zusammen, und sie kamen einem Frieden und sinnvolleren Verhandlungen sehr viel näher. Ohnehin war der regierende Clan bereits zerrissen und würde nur wieder zusammen finden, wenn jene, die dem toten Kaiser die Treue hielten, endlich die Unsinnigkeit ihres Widerstandes einsahen. Und das bitte bevor sich zahllose außerirdische Völker daran erinnerten, wer ihnen all die Jahrtausende Unrecht getan hatte und im Moment reichlich schwach war.
So gesehen hatte die Mission dieses Splitters des Blue Lightning Regiments eine äußerst sinnvolle Mission. Leider, eigentlich wie immer, würde sie aber damit enden, dass eine Menge Tote herum lagen. Vielleicht eigene, aber hauptsächlich ihre.

„Fünfzehn Minuten!“, brüllte der Anführer der Truppe in den Raum. Der junge Anelph mit Namen Zang Kyr Terar hatte sich schnell als kleines Genie auf einem Phoenix entpuppt und war damit die logische Wahl für die Koordination von Mechas und Bodentruppen geworden. Dies war bereits der vierte Einsatz dieser Art den er anführte, und es war abzusehen, dass Stafford und Ino ihn noch des Öfteren berufen würden. Man munkelte sogar, dass Terar einen der drei Offiziere ersetzen würde, sollte einer von ihnen fallen. Und das konnte ihnen jederzeit passieren. Jeden Tag und jede Stunde. Sie waren Soldaten, sie waren Spezialisten und sie riskierten jeden Tag ihr Leben, um die Leben jener anderen, die nicht kämpften, ein wenig sicherer zu machen. Es hatte irgendwie etwas von einem Menschen, der freiwillig in die Hölle ging, um vielen anderen dieses Schicksal zu ersparen.
Die wartenden Soldaten bestätigten leise und professionell. Jeder gestand dem jungen und erstaunlich effektiven Anführer zu, ein wenig nervös zu sein. So lange sich das nur in brüllen äußerte, hatte wirklich niemand etwas dagegen. Vor allem, da Terar ansonsten mehr als effektiv arbeitete. Wie gesagt, er war vielleicht der kommende große Mann im Regiment, das den Kampfnamen des unvergleichlichen Akira Otomo trug, der gerade in diesem Moment mit der AURORA in einen größeren Kampfeinsatz ging. Dabei war der Bursche erst vor kurzem aus seinem medizinischen Sarg befreit worden.
Anderson Lee schüttelte in einer Mischung aus Frustration und tiefer Bewunderung für Akira Otomo den Kopf. Konnte diesen Mann denn gar nichts aus der Ruhe bringen? Konnte ihn nichts töten? Obwohl, er war persönlich sehr dankbar dafür. Denn diesem Mann war es zu verdanken, dass er sich heute an einem Ort befand, von dem er vor drei Jahren noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Und er arbeitete in einem unglaublichen Team, das seine Grenzen der Vorstellungskraft beinahe jeden Tag zu sprengen drohte.
Langsam erhob er sich, überprüfte seine Waffe. Sie waren drei Fünf Mann-Teams, die den Auftrag hatten, in die Kommunikationsanlage einzudringen und die Hardware zu zerstören. Vorher aber hatten sie den Auftrag, einen Virus in die Kommunikation einzuspeisen. Danach wandte er sich zur Seite und überprüfte die Ausrüstung seines Nachbarn. Tykoral war zwar eine Sauerstoffwelt, aber die Mission war als Nachtangriff ausgelegt. Ein Fehler bei den Nachtsichtgeräten oder fehlerhafte Ausrüstung konnte Leben kosten. Danach überprüfte er die Ausrüstung zum Nachbar auf der anderen Seite. Währenddessen überprüfte ein Kamerad seine Ausrüstung.
Schließlich nickten ihm die anderen vier Mitglieder seines Trupps zu.
„Alpha bereit“, meldete er Terar.
„Beta bereit.“ „Gamma bereit.“
„Zehn Minuten“, erwiderte der Anelph und ließ mit keiner Regung erkennen, ob er die Klarmeldung seiner Infanterie-Unterführer überhaupt mitbekommen hatte. „Komm aktivieren!“
Jeder der Infanteristen aktivierte nun die kleine Helmkamera und das dazu gehörige Kommunikationsset, bestehend aus Ohrhörer und Kehlkopfmikrophon.
Sämtliche Daten wurden ab sofort permanent in den Phoenix von Terar gesandt. Zudem übernahm ein zusätzliches Auswertungsteam in der Fregatte die Analyse und gab notfalls Anweisungen. Terar konnte nicht überall sein.
„Mechas bemannen“, befahl er und trat an der Spitze von vier erfahrenen Piloten ab.
Lee lächelte dünn. In keiner anderen Einheit hätte man das Potential dieses schmächtigen Jungen so schnell erkannt. Nur hier, im Blue Lightning Regiment.
„Fünf Minuten!“, rief Lee nun selbst. Die anderen Unterführer nickten.
Die Fregatte würde zuerst die Mechas ausschleusen, welche die Banges-Verteidigung der Kommunikationsstation hinweg fegen würde. Danach würden sie sofort abspringen und mit Fallschirmen nahe des Zielgebiets landen. Sie würden sich über Land heran arbeiten, die Station nehmen und Kleinholz aus ihr machen.
Ihr Sprung würde zwanzig Sekunden nach dem Sprungmanöver der Mechas erfolgen.
„Und all das für Blue Lightning“, murmelte er, während er sich vor der Sprungschleuse einhakte.
Dank des Kehlkopfmikrophons hörten ihn die anderen. Zustimmendes Gemurmel klang auf und der Terraner konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Fertig machen!“ X war erreicht, die Mechas sprangen ab und waren vielleicht schon in dieser Sekunde in einem schweren Nahkampf verwickelt. Kurz darauf, nach einer kleinen Ewigkeit oder nur einem winzigen Augenblick fuhr die Schleuse vor ihnen auf. Die trainierten Männer und Frauen reagierten sofort. „GO!“
Nacheinander sprangen sie in die Tiefe.
Nun würde er wieder für Blue Lightning töten. Nicht in seinem Namen, denn die Existenz dieser wichtigen und notwendigen Militär-Einheit hätte ihm sicherlich nicht gepasst. Ihm, dem Mann, der den Rekord mit den Abschüssen hielt, und der in den letzten Jahren von sich reden gemacht hatte, weil er keinen Gegner mehr getötet hatte. Lee würde für ihn töten, auch wenn Otomo dies niemals erfahren durfte und ihn niemals honorieren würde. Aber nicht in seinem Namen. Niemals in seinem Namen.
***
Lee hatte intensive Nahkampfausbildung erhalten, hatte mit der Fremdenlegion trainiert, war mit den Gurkhas gelaufen und hatte sich bei internationalen Wettkämpfen mit Spetznatz und Seals gemessen. Damals hatte er noch zu den Besten gehört. Doch nun wusste er, dass es im riesigen Universum immer wieder bessere gab. Die Attentäter der Fioran, die Bluthunde der Taral oder auch die zähen und bestens trainierten Untergrundkämpfer der Anelph bildeten kleine Eliten für sich.
In dieser Einheit zu dienen und mit diesen Leuten zu kämpfen war das Beste, was ihm je passiert war. Und er tat das, was er am besten konnte: Töten. Eigentlich ein trauriger Gedanke und eine traurige Einstellung, aber er persönlich fand es besser, hier und jetzt ein paar wenige Iovar zu töten, als in einem halben oder ganzen Jahr ganze Heere gegeneinander zu stellen und in den Tod zu hetzen. Und solange er Akira Otomo folgte, glaubte er daran, war er kein Automat, kein simples Werkzeug, sondern ein trainierter Soldat mit einer spezifischen Aufgabe, die er mit all seiner Kraft erfüllte, um jenen zu dienen, denen auch Otomo diente. Diese Philosophie vertrug sich einwandfrei mit jener von Blue Lightning, und auch einer eher humanistischen Philosophie, wie sie in der UEMF allgemein vorherrschte. Denn immerhin war es Akira selbst, der mit über dreitausend verifizierten Kills eine einsame Bestenliste anführte. Nicht, dass ihm das jemals jemand aufs Brot geschmiert hätte. Vor allem nicht in solch einer Situation, in der ein einfacher Einsatz in ein blutiges Gemetzel verwandelt worden war. Blutig für die kopflosen Verteidiger.
„Lee, gehen Sie rein und suchen Sie die Information!“, hörte er Terar über Funk rufen.
„Bestätigt.“ Rund um ihn herum wurde geschossen und wurde gestorben. Sein Team hatte noch keine Verluste erlitten, was vielleicht auch daran lag, dass die Verteidiger sich auf die angreifenden Mechas konzentrierten.
Ihr Fehler. „Alpha Leader, hier Alpha Leader. Wir gehen rein. Wachtnest ausschalten, Eingang sprengen. Gezieltes vorgehen.“
Vier Bestätigungen trafen ein. Sekunden darauf zischte eine Panzergranate auf eine Wachstellung zu, traf sie mittig und zerstörte das automatische Geschütz, welches darin gelauert hatte. Dann huschten zwei geduckte Gestalten auf eine Bunkertür zu, ihre Waffen im Anschlag vor sich haltend. Einer lief, der andere sicherte. Sie brachten Sprengstoff an der Nahtstelle an und brachten sich schnell wieder in Sicherheit. Das Ganze hatte nur wenige Augenblicke gedauert.
„Zünden“, befahl Lee kalt.
Eine Explosion untermalte den Mecha-Angriff noch zusätzlich, dann fiel die schwere Tür, ihres Rahmens beraubt, nach innen.
Sofort stürmten die anderen beiden Teammitglieder heran, warfen Handgranaten in die Öffnung und sicherten.
Lee erhob sich, winkte den beiden Sprengstoffspezialisten. Die drei näherten sich ebenfalls der Tür auf einer Route, von der aus sie nicht von innen eingesehen werden konnten. Was automatisch den Beschuss verhinderte.
„Schneller. Wir haben uns hier etwas übernommen. Die Hauptgarnison ist aufmerksam geworden. Sie haben zehn Minuten, Lee, danach Rückzug zum Sammelpunkt.“
„Wir werden da sein, Terar“, antwortete Anderson Lee.
Sie gingen vor wie im Bilderbuch. Zwei Soldaten gingen voran, zwei Kameraden sicherten sie. Lee als fünfter Mann folgte, sah ab und an nach hinten und betrachtete all das, was seinen Kameraden entging. Und das war nicht viel. Ein kurzer Feuerstoß vorne, und eine Hand winkte sie weiter.
Kurz darauf erreichten sie die Bunkerzentrale. Auch hier wieder das gleiche Spiel. Sprengstoff, ein Knall, jemand warf Handgranaten.
Lee hoffte nur bei sich, dass sie sich dadurch nicht die Chance verbauten, einen der Rechner anzuzapfen, um an die Information zu kommen. Als er in die vor Nebel wallende Zentrale trat, empfingen ihn nur Tote und Verletzte, die nicht mehr zu Widerstand fähig waren.
Anderson Lee lächelte verächtlich. Genau gegen diese Art Angriff sollten diese Iovar eigentlich trainiert sein. Sie hatten kläglich versagt. „Sichern“, befahl er. Zwei Soldaten sicherten die Tür, die anderen gingen umher und räumten auf. Die Verwundeten wurden ihrer Waffen entledigt und die Toten wurden kontrolliert, ob sie auch wirklich tot waren.
Lee wandte sich seinem Spezialgebiet zu: Einen Iovar-Rechner zu hacken und seinen Inhalt runter zu laden. Es gelang ihm relativ schnell und war durchaus im Rahmen der Vorgabe durch Terar.
„Bravo! Charly! Zurück! Zurück! Alpha, Sie sind auf sich gestellt! Wir ziehen den Feind seitlich fort!“, klang Terars Stimme auf.
Lee runzelte nicht einmal die Stirn. Es war Teil der Missionsparameter gewesen, dass ein starker Verstärkungsverband zu früh eintreffen konnte. Aber das konnte ihn nicht erschüttern. Er war bereits beim Download. „Verstanden.“
Nachdem die Dateien auf seinem Datenträger geladen waren, brach er sofort ab und jagte mehrere Schüsse in die Anlage, um wenigstens einen Teil seiner Spuren zu verwischen. Anschließend befahl er dem Abmarsch. Ihnen standen nun fünf lange, entbehrungsreiche Tage bevor, um den einhundert Kilometer entfernten Ausweichtreffpunkt zu erreichen. Und das bei möglichem Feindkontakt. Die Fregatte würde nicht auf sie warten, und der Feind würde jede Blöße ausnutzen. Aber wer mochte es schon leicht?
***
Vier Tage und achtzehn Stunden später traf ein ausgelaugter, müder Fünfer-Trupp am Treffpunkt ein und wurde dort von den eigenen Leuten empfangen. Nachdem ihre Identität verifiziert worden war, eskortierten die Spezialisten ihre Kameraden zur wartenden Fregatte. Dort übergab Lee den Datenträger, den er wie seinen Augapfel gehütet hatte. Und obwohl ihm vor Erschöpfung fast die Augen zufielen, bestand er darauf, bei der Auswertung dabei zu sein.
„Informieren Sie so schnell wie möglich General Ino“, sagte Terar schließlich. „Wir konnten den Knotenpunkt ausschalten. Und wir haben die Information, die wir befürchtet haben. Dem Kaiser der Iovar ist die Flucht gelungen, bevor sein Palast zerstört wurde.“
Lee unterdrückte ein Gähnen. Das versprach weitere, interessante Einsätze für das Blue Lightning-Regiment.

3.
Gegenwart:
Ein kluger Mann hatte mal Krieg als eine lange Zeit der Untätigkeit und Langeweile, unterbrochen von Momenten des Wahnsinns und den tödlichen Schreckens definiert, und ich fand wirklich, das er damit Recht hatte. Kaum das die AURORA mit ihrer Begleitflotte aus dem Sprung gekommen war, hatten wir einen Verband Strafer der Götter geortet. Zum Glück weit von uns entfernt, zum Glück nicht in die Richtung, in die wir triangulierten, um das Sonnensystem verlassen zu können. Und zum Glück ließen sie die hiesige Iovar-Siedlung in Ruhe, was Bände darüber sprach, welche Prioritäten die weißen Schiffe der Götter mittlerweile setzten. Aber sie hatten sich redlich bemüht, uns einzuholen, und mit den Möglichkeiten der Götter bedeutete dies, dass sie beinahe auf Schussweite heran gekommen waren. So dreist, das von uns benutzte Wurmloch ebenfalls zu verwenden waren sie dann doch nicht gewesen, und das hatte uns eine Möglichkeit gegeben, die Maschinenschiffe der Götter ein wenig... Nun, zu irritieren. Durch unsere KI-Meister verstärkt hatten wir das Ziel des Tunnels über die sonst üblichen knapp dreißig Lichtjahre hinaus geweitet und sprangen nun fast vierzig. Eine bessere Methode, die Götter eine Zeitlang unsere Spur verlieren zu lassen gab es nicht. Dadurch dauerte der Flug zwar eine Woche länger als geplant, übersprang aber zwei Sonnensysteme, von denen eines unser Ziel gewesen wäre. Und in dem eventuell bereits ein paar Strafer auf uns lauerten. Wir waren zuversichtlich, dass unser kleiner Streich die Robotschiffe irritierte, denn die Fähigkeit für derart weite Sprünge hatten wir nach dem Zwischenfall im Andea Twin-System nie wieder präsentiert. Damals war ein Riesenplanet mit der zehnfachen Masse des Jupiters zwischen seinen beiden Muttersonnen regelrecht zerrissen worden und hatte dabei einen einer Nova nicht unähnlichen Effekt ausgelöst. Seine verlorene Materie war zu ultraheißem Plasma umgewandelt worden und hatte sich wie bei einer Druckwelle im System verteilt. Wir hatten damals mit Hilfe unserer KI-Meister den Sprung ins nächste System forciert, lange bevor es eigentlich möglich war, weil wir noch nicht den Rand der Schwerkraftsenke erreicht hatten – und die Druckwelle hatte uns durch unser Fluchtwurmloch getrieben wie den Sektkorken aus dem Flaschenhals.
Aber das war Vergangenheit. Und eigentlich auch Allgemeinwissen, sowohl bei uns, als auch bei den Naguad und den Anelph. Aber ich gestand den Göttern zu, dass sie wohl leichte Probleme hatten, sich in die Datennetze dieser Völker einzuklinken.
Für mich und für alle anderen bedeutete dies vor allem eins: Einen Wurmlochsprung und selige Ruhe. Ruhe, die von den Menschen in Fushida City genutzt wurde, um die vielfältige Kultur zu würdigen. Oder, banal ausgedrückt, es wurde mal wieder gefeiert, dass die Schwarte krachte.

Mit Zuckerwatte in der einen Hand und einem Hot Dog in der anderen schlenderte ich über das Straßenfest. Nicht nur das Japanische Viertel verstand etwas davon, eine große Party aufzuziehen. Auch die Deutschen konnten überraschen mit Schaubuden, diversen ungesunden Leckereien, Jahrmarktsattraktionen vom Karussell bis zur Looping-Bahn... Mit einem Wort, ich war beeindruckt, was Mutters Volk auf die Beine zu stellen vermochte. Besonders interessant fand ich in dem Zusammenhang, dass sie sowohl französische Crêpes als auch italienische Pizza und türkischen Kebab anboten. Für mich ein Beweis für das multikulturelle Selbstverständnis einer Nation. Ich wünschte mir, alle Völker wären so unbefangen und bereitwillig, neue Impulse aufzunehmen. So dachte ich zumindest, bis ich tatsächlich einen Stand entdeckte, an dem Crash-Eis mit Aufgüssen aus verschiedenen Geschmacksrichtungen verkauft wurde. Eine typische japanische Speise. Aber immer noch besser, als wenn sich die Verkäufer an Sushi vergangen hätten.
Natürlich begleitete Yoshi mich, wie bei allen solchen Gelegenheiten. Das hatte nichts mit unserer Freundschaft zu tun, es war eher ein Überlebensinstinkt. Die Frauen waren shoppen, und wir bildeten eine Zweckgemeinschaft, ein Bruderschaft des amüsierens, um nicht mitgeschleppt zu werden. Denn ehrlich gesagt war Lady Death vielleicht die beste Mecha-Pilotin in diesem Teil des Universums, aber Megumi Uno war eine typische „Kannst du mal diese fünf Einkaufstüten tragen?“-Frau. Dem entging ich, indem ich mit Yoshi abhing. Für ihn und meine Schwester galt das gleiche, und so waren alle zufrieden. Megumi, Yohko und die anderen weiblichen Mitglieder konnten in Ruhe stöbern und einkaufen, und ich schlenderte mit Yoshi gemütlich über das Fest. Es gab Ausnahmen, nicht so gut trainierte Exemplare der Gattung Mann, die den Damen als Packesel dienten... Deren Schuld. Ich hatte versucht, Kei und Doitsu zu warnen. Aber vielleicht hatten sie einfach zu sehr auf den guten Willen ihrer Mädchen vertraut und vergessen, dass darin das Problem lag: Sie waren auch Mädchen.
Aber es war eine legitime militärische Regel, manchmal eine Einheit zu opfern, um eine andere zu retten. Mehr hatten Yoshi und ich nicht gemacht. Ein böses Erwachen für die Freunde.
Andere würden diese schmerzhafte Erfahrung erst noch machen müssen. Ich dachte da speziell an meinen besonderen Freund Tetsu, den Kommandeur der AURORA. Er würde schon bald merken was es bedeutete, zu nahe an Sakura zu leben... Oder Michi. Der arme Bengel ahnte noch nicht, was ihm da bevor stand.
„Wenn man vom Teufel spricht...“, murmelte ich amüsiert und stieß Yoshi in die Seite. „Schau mal. Tag und Nacht im Kimono.“
Kurz musterte mein bester Freund das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren in ihrem weißen Kirschblütenkimono, danach den weißhaarigen Jungen im eher schmucklosen dunkelblauen Kimono. „Ich komme mir gerade etwas unjapanisch vor, so in Bermudas und Polohemd, wenn ich die so sehe.“
Ich grinste leicht. „Unjapanisch. Was du für Wörter kennst. Vergiss nicht, dass du halber Deutscher bist.“
„Vergiss du nicht, dass du zur Hälfte Naguad bist“, konterte er. „Was tragt ihr eigentlich zu Festen so?“
„Keine Ahnung. Ich war immer nur bei Gelegenheiten, wo sie ganz formell das getragen haben, was bei ihnen als Geschäftsanzug gilt, oder wenn sie Cosplay mit UEMF-Uniformen betrieben haben.“
„Cosplay mit UEMF-Uniformen? Ich erinnere mich dunkel, auf Nag Prime stellenweise zu Tode entsetzt gewesen zu sein“, murmelte Yoshi. Er hob die Hand. „Michi! Akari-chan!“
Die beiden fuhren zusammen, als seine Stimme aufklang. Ich sah belustigt, wie sich ihre Hände lösten. Ja, die zwei waren mittlerweile so eng miteinander, dass man ein Brecheisen benötigt hätte, um sie wieder zu trennen. Mein Lächeln erstarb, als ich mich zu fragen begann, wie weit die beiden schon gegangen waren. Ich hatte meinen ersten Sex immerhin erst mit achtzehn, und für eine Frau galt mindestens das doppelte Alter und... Okay, da ging wohl der große Bruder mit mir durch. Mühsam zwängte ich diese Gedanken in die große, verbotene Kiste in meinem Unterbewusstsein zurück. Die würde ich erst öffnen dürfen, wenn Michi es wirklich versaut hatte. Und ehrlich gesagt wusste ich dann noch nicht, ob ich nicht eher ihm beistehen sollte, immerhin mochte ich den Kleinen, der mich einst hatte töten wollen mittlerweile wie einen kleinen Bruder.
„Akira-onii-chan!“ Akari setzte ein falsches Lächeln auf und kam auf uns zu. Zögernd folgte Michi ihr. Zögernd? Normalerweise hatte er keine solche Angst vor mir. Geschweige denn Yoshi. Was hatte der Bursche verbrochen?
Michi stockte im Schritt, er musste meine Miene gesehen haben. Und das machte mich erst Recht misstrauisch. Was ihn dazu brachte, noch langsamer zu gehen. War ich wirklich so schrecklich? Oder war sein Gewissen so schlecht?
„Dieser blassrosa Lippenstift steht dir, Akari-chan“, sagte ich freundlich und strich meiner kleinen Adoptiv-Schwester, die vor gar nicht langer Zeit noch ein Oni gewesen war, über den Kopf. Sie quittierte das mit einem beinahe kindlichen Lächeln, das leicht darüber hinweg täuschte, dass sie bereits siebzehn war, und die achtzehn schon am Horizont sehen konnte.
„Dir steht er übrigens auch ziemlich gut, Micchan. Aber ich empfehle für dich doch eher einen dunkleren Ton.“
Michi erschrak furchtbar, trat einen Schritt zurück und stolperte. Die beiden hatten offensichtlich rumgeknutscht. Einerseits erleichterte mich das, andererseits ließ das meine kleinste Schwester noch weiter von mir fort driften, mehr oder weniger. Aber ich war ja keiner dieser Besitz ergreifenden, dominanten und furchtbar engstirnigen großen Brüder. Lächelnd bot ich Michi Torah die Hand und zog ihn hoch.
Dies war eine Sache, die ich den Rest meines Lebens bereuen würde, als eine Blume aus seinem Blut auf seiner Brust aufging und seine Augen sich ungläubig nach oben drehten. Ich hatte ihn beim hoch heben direkt in die Schussrichtung eines Snipers gezogen.
***
Zwei Stunden nach dem Zwischenfall am deutschen Fest erwachte Michi Torah aus einem tiefen traumlosen Schlaf. „Was ist passiert?“, fragte er mit rauer Stimme. Kurz darauf umarmte ihn etwas weiches, Vertrautes. „Micchan, du lebst!“ Heiseres Schluchzen erfüllte die Luft und warme Tränen durchnetzten sein Haar. Er öffnete die Augen und erkannte Akari, die beinahe auf ihm lag und dabei Rotz und Wasser heulte. „Micchan, ich bin so froh. Ich bin so froh.“
„Was ist denn passiert? Ich weiß nur noch... Wie alles so hell wurde.“
„Das kann ich dir wohl am besten erklären“, sagte Yoshi Futabe ernst. „Da draußen war ein Sniper, der Akira töten sollte. Eigentlich war er dazu da, ihn zu beschützen, aber ein KI-Agent hatte ihn übernommen. Akira und die anderen jagen und stellen ihn gerade.“
„Verstehe. Hat er stattdessen mich getroffen?“
„Das hat er. Und er hat dich getötet“, klang eine weitere Stimme auf.
Irritiert sah Michi zur Seite und erkannte eine blonde Frau in UEMF-Uniform, die ihn mit ernster Miene musterte. „Sprich: Ein Mensch, vielleicht sogar ein KI-Meister wäre getötet worden. Du aber wurdest von deiner Dai-Hälfte gerettet.“ Sie hielt ein Foto hoch. Es stellte einen stark blutenden Tiger dar, der auf einem Krankenbett lag. „Du hast deine Fähigkeit der absoluten Körperkontrolle genutzt und dich in diese KI-Rüstung gehüllt. Sie hat verhindert, dass du wirklich gestorben bist. Und sie hat dich vor Akari gerettet.“
„Gerettet? Vor Akari? Was soll dieser Unsinn? Autsch!“
„Liegen bleiben, Michi“, befahl die Frau ernst. „Du wurdest von einem halben Dutzend der besten KI-Meister behandelt, aber du bist nicht gesund. Du musst hier mindestens noch eine Woche liegen.“
„In Ordnung. Aber was soll dieser Quatsch über Akari?“
Yoshi seufzte schwer. „Lass mich das bitte übernehmen, Cynthia-baa-chan.“
Die Miene der Blondine verzog sich zu einem unwilligen, bösen Gesicht. „Hast du mich Baa-chan genannt, Yoshi-kun?“
„Cynthia-chan?“
„Schon besser“, säuselte sie. „Auch als fünftausend Jahre alte Dämonin bin ich nicht wirklich alt genug, um alte Tante genannt zu werden. Merk dir das.“
Yoshi nickte hastig. Aber er fand seine Mitte schnell wieder. „Akari hat...“
„Es tut mir so Leid. Micchan, es tut mir so Leid“, hauchte Akari aufgelöst.
„Nun halt doch endlich mal die Luft an!“, blaffte Yoshi wütend. „Es ist ja nichts passiert, als du deine eigenen Dai-Kräfte entfaltet hast!“
Ängstlich vergrub sie sich neben Michis Kopf auf dem Bett.
„Was?“ Ungläubig sah Michi seine Freundin an.
„Ihr seid beide Dai“, fuhr Yoshi fort. „Halb-Dai, wohlgemerkt. Wobei fest steht, dass ein Elternteil Dai war, der andere jedoch ein Mensch. Bei dir und Juichiro Tora war das anzunehmen, aber bei dir ist das doch eine Überraschung, Akari.
Jedenfalls hat sie ihre gesamten Kräfte auf einen Schlag entfesselt als sie dachte, du wärst gestorben, Michi, und damit hätte sie beinahe Fushida City ausgelöscht. Aber Akira ist immer noch wesentlich stärker als sie, und hätte ich nicht deine Vitalwerte stabilisieren müssen, hätte ich ihm dabei geholfen. Wäre nicht nötig gewesen, aber dann würde nicht Akaris Sold in Zukunft für Straßenreparaturen drauf gehen.“
„Ich sagte doch, es tut mir Leid“, murmelte sie.
„Jedenfalls macht vieles jetzt Sinn“, meldete sich die blonde UEMF-Offizierin zu Wort. „Die Geschichte, du seist ein Oni, der zum Menschen geworden ist, die Tatsache, dass Tora dich vergiftet und für deine Verfluchung gesorgt haben soll... Kein Wunder, das er dich interessant fand. Immerhin hat er eine Halb-Dai in dir erkannt. Nein, eigentlich eine Viertel-Dai, denn deine Mutter war die Halb-Dai. Natürlich konntest du damals nicht an Gift sterben. Und natürlich hast du in deinem Grab die Flüche der Witwen gehört. Damals hast du den Schritt zur Dai gemacht, und nur deshalb konnte dein Vater dich in diesen engen Schrein sperren. Sicherlich war auch er es, der dir eingeredet hat, ein versiegelter Oni zu sein. Ich wünschte, ich wäre damals da gewesen. Ich hätte so vieles ändern können, verhindern können.“
Vor den Augen der anderen verwandelte sich die Offizierin in eine Löwengestalt mit Frauenkopf, bekannt als die klassische Sphinx. Dieser Eindruck währte aber nur Sekunden, dann stand bereits wieder die uniformierte Frau vor ihnen. „Ich bin Dai-Sphinx-sama. Eine der großen Dämonenkönige unter Dai-Kuzo. Und ich bin deine Großmutter, Akari-chan.“
Erschrocken sah die junge Frau auf. „Was?“
„Glaub es ruhig. Traurig, das wir das nicht früher herausgefunden haben. Das mit dem Dai-Blut und so“, murmelte Yoshi. „Aber mein Opa hat bestätigt, das ihr zwei eng verwandt seid. Es erklärt auch deine Macht und deine Fähigkeiten als Slayer. Es erklärt, warum ihr beide so mächtig seid.“
„Vielleicht etwas zu mächtig. Aber da das nun geklärt ist, werde ich euch beide in den Wegen der Dai unterweisen“, fügte Cynthia hinzu. Sie streckte eine Hand aus, die sie Michi auf die Stirn legte. Die andere reichte sie Akari. „Das heißt, wenn ihr mir vertraut.“
Einen Augenblick zögerte sie, dann ergriff Akari die Hand. „Du erinnerst mich an Akira“, sagte sie zögerlich.
„Einer meiner Nachfahren ist ein Vorfahre von Eikichi. Ihr seid also verwandt, um ein paar tausend Ecken“, sagte sie freundlich. „Akira muss das von Anfang an gespürt haben, sonst würde er dich nicht so sehr lieben.“
In den Augen des Onis standen plötzlich wieder Tränen. „Und ich enttäusche ihn so.“
„Niemand ist enttäuscht. Und ich habe endlich eine Spur meiner verschollenen Tochter gefunden. Besser noch, ich habe einen Beweis gefunden, das sie gelebt hat.“ Cynthia zog Akari um das Bett herum und dann an ihre Brust. Niemand, der die beiden sah, hätte auch nur eine Sekunde am Wahrheitsgehalt ihrer Worte gezweifelt.
Michi warf Yoshi einen unsicheren Blick zu.
Der KI-Meister winkte ab. „Frag nicht. Hake nicht nach. Denk nicht mal dran. Es klärt sich alles die nächsten Tage.“
„Alle dreitausend Fragen?“, spottete der junge Halb-Dai.
„Vielleicht zweitausend“, murmelte Yoshi. Der Tag bot einige Überraschungen bisher, und er war noch lange nicht um. Da würde bestimmt noch was kommen. Und er würde Recht behalten.
***
Eine gute Hetzjagd bestand aus zwei Teilen. Erstens, man durfte den Kontakt zur Beute nicht verlieren. Zweitens, man musste den Weg bestimmen, den sie ging.
In meinem Fall war es ein Sniper, ein Scharfschütze des zivilen paramilitärischen SWAT-Teams, das wir auf der AURORA etabliert hatten. Mir war klar, dass der junge Mann, ein Sergeant vom LAPD, der sich quasi ein Bein ausgerissen hatte, um auf dieses Schiff kommen zu können, nicht der Täter war, sondern genauso ein Opfer wie Michi und Akari. Wir hatten es mit einem KI-Agenten zu tun, und das machte alles doppelt zu schwer. Wir mussten nicht nur den Attentäter stellen, sondern auch den jungen Sergeant retten. Die beste Methode, um dies zu erreichen, war ihn zu hetzen und ihn glauben zu lassen, er könnte immer noch entkommen.
Ich selbst beteiligte mich an der Treibjagd, und ich hatte nicht vor, jemand anderem den Vortritt zu lassen, wenn der Zugriff befohlen wollte. Ich wollte das nicht nur, weil der Bastard eigentlich auf mich gezielt hatte, oder weil er den Freund meiner Schwester, meinen einzigen Schüler beinahe getötet hätte. Das alleine war schon Grund genug, die Sache persönlich zu nehmen. Aber ich wollte diese Technik, das eigene KI in einen fremden Körper zu verpflanzen, ein für allemal einen Riegel vorschieben, und dabei vielleicht auch erfahren, wohin der Core damals Corinne Vaslot entführt hatte, die KI-Agentin, die zu uns übergelaufen war. Man hatte ihren Körper vor ihren Augen entführt, und ihr war gerade so der Rücksprung gelungen. Sie war eine Freundin geworden, und Freunde ließ ich nie im Stich. Also hatte ich mich relativ spät noch eingeschaltet, nachdem die hervorragende Polizei, unterstützt durch Doitsus Yakuza, den Attentäter bereits aufgestöbert hatte.
In meiner linken Hand ruhte mein Katana. Ein Erbstück aus einer Zeit, in der die Dämonen noch weitaus zahlreicher gewesen waren, und eine ganz formidable Waffe, die mein eigenes KI bereitwillig aufnahm, um eine noch tödlichere Waffe zu werden. Mit ihr würde mir alles gelingen.
Kurz schweiften meine Gedanken zurück zu dem Moment, als Michi die Augen verdreht, vor mir zu Boden gesackt, und Überschlagblitze seines KIs über seinen Körper gehuscht waren... Und Akari neben ihm in Entsetzen und Hysterie ausgebrochen war. Noch immer sah ich sie vor mir, schreiend, weinend, umgeben von einer Aureole, die jener ähnelte, die ich einst im Kampf gegen Torum Acati emissiert hatte, und mit der wir beide uns durch mehrere hundert Meter Gestein gefressen hatten. Auch ihre Aura hatte begonnen molekulare Bindungen zu lösen und die Materie unter ihren Füßen zu vernichten, während ihre Aura sich mehr und mehr aufgepumpt hatte.
Mir war keine andere Wahl geblieben, als meine eigene Schwester mit einem gezielten KI-Stoß zu betäuben, bevor sie in ihrem Schock die ersten Menschen in ihrer Umgebung unwissentlich zu verletzen. Dann hatte ich sie wie ein totes Bündel Stroh in meinen Armen gehalten, und mir war erst bewusst geworden, was der Oni eingetauscht hatte, als er von Dai-Kuzo wieder zum Menschen gemacht worden war. Dieser schmale, leichte Körper war so zerbrechlich gewesen, so zart und so leicht zu verletzen, dass es mich geschaudert hatte. Mehr denn je hatte ich ihre Existenz und ihr Glück beschützen wollen, mehr als ohnehin schon.
Nachdem man mir Akari abgenommen hatte, und Michi, der sich mittlerweile in eine KI-Rüstung versetzt hatte, versorgt worden war, hatte ich mich nach einem kleinen Umweg mit auf die Jagd gemacht. Ich wusste Yoshi bei ihnen, mehr Garantien für ihre Sicherheiten brauchte ich nicht.

Der Mann war schnell, präzise, gut trainiert und hatte sich schon lange seiner Dienstkleidung und seiner Waffen entledigt. Dennoch war er uns nicht entkommen, und gezielte Straßensperren und auffällig eingesetzte Zivilfahnder trieben ihn mehr und mehr in die Richtung, in die wir ihn haben wollten. Nachdem einer unserer KI-Meister seine Aura erfasst hatte, gab es für ihn kein Versteck mehr.
Der Ort des Zugriffs war ein kleiner Park, den wir in aller Eile geräumt und durch unsere Agenten ersetzt hatten. Somit konnten keine unbeteiligten Bewohner Fushidas in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich selbst kam relativ spät in den Park, war ich doch einer von denen, die permanent die Position der Beute kontrolliert hatten. Aber den Zugriff wollte ich selbst durchführen.
Also setzte ich mich mitten im Park auf eine Bank und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis der Mann aus L.A., der einen KI-Agenten in seinem Körper trug und von ihm kontrolliert wurde, ebenfalls in den Park kam.
Als er weit genug auf den Wegen ausgeschritten war, gab ich das Zeichen, und die Ausgänge wurden von Streifenwagen besetzt, die Agenten zogen ihre Waffen und bedrohten den Scharfschützen und ein Sauerstoffdistributor, einer der gigantischen Zeppeline innerhalb der AURORA, senkte sich über der Szene herab und gestattete eigenen Scharfschützen, Ziel zu nehmen.
Ich erhob mich und ging zu dem Mann herüber. „Du bist gescheitert“, sagte ich ernst. „Jetzt ist die beste Zeit, um aufzugeben. Wir versprechen dir, dich nicht auszulöschen. Eine weitere Flucht ist sinnlos, wir kennen jetzt dein KI-Muster.“
Der Mann sah sich verzweifelt um, dann ruhte sein Blick auf mir. Je näher ich kam, desto zufriedener wurde er. Der Halunke plante etwas, und ehrlich gesagt war mir das gerade sehr willkommen. Ich würde mich überraschen lassen.
„Kam dir das folgen meines KI-Musters nicht viel zu leicht vor, Otomo?“, raunte er, als wir uns fast erreicht hatten.
Ich ersparte es mir, den Überraschten zu spielen, zu versuchen fortzulaufen oder eine sonstige Dummheit zu machen. Stattdessen lächelte ich dünn, die Rechte auf dem Griff meines Katanas und sagte: „Gib dein Bestes!“
„Dafür bin ich hier!“ Übergangslos hüllte uns eine Lichtexplosion ein.

„Dies ist eine höhere Ebene, die dem Geist vorbehalten ist, Otomo“, sagte der Attentäter mit einer gewissen Vorfreude in der Stimme. „Nur sehr gut ausgebildete Krieger können sie erschaffen und stabilisieren. Sie hat nichts mit KI zu tun, sondern ist ein Ausdruck höchster geistiger Disziplin. Wahre Meister trainieren und kämpfen fast nur auf dieser Ebene... Und manchmal... Manchmal töten sie auch auf dieser Ebene.“
Ich musterte den anderen. Kleiner, etwas dicker und eindeutig asiatisch war sein Erscheinungsbild, was mich wohl zu Recht vermuten ließ, dass ich diesmal den KI-Agenten vor mir hatte.
„Ich kenne diese Ebene. Ich habe früher oft hier trainiert“, sagte ich sinnierend. „Hier habe ich so manche Schlacht geschlagen.“
„Gut, damit mussten wir rechnen. Deshalb ist diese Welt modifiziert. Hier gibt es nichts stärkeres als mich, und ich werde dich vernichten! Ist dein Geist verloren, wird Dein Körper schon bald nachfolgen!“
Langsam ging der Agent auf mich zu.
„Bevor du mich tötest, gestatte mir eine Frage. Du hattest nie wirklich vor, auf mich zu schießen, oder?“
Der andere lachte. „Nein, natürlich nicht. Zuerst hatte ich das Mädchen im Visier, aber dann dachte ich, wenn ich den Jungen erschieße, während du ihm beim aufstehen hilfst, dann wirst du dich eher selbst an der Jagd beteiligen und mich persönlich hetzen. Damit ich dich dort habe, wo ich dich haben will.“
„Nächste Frage“, sagte ich ohne eine Miene zu verziehen. „Warum willst du mich töten?“
„Ich werde dafür bezahlt.“ Wieder trat er einen Schritt näher.
„Ist das alles? Ich kann dir weit mehr zahlen. Mir gehören mehrere Planeten und Monde.“
„Nun, es geht mir nicht ausschließlich ums Geld. Ich sehe in dir und deinesgleichen eine, hm, Krankheit. Ihr KI-Meister mit euren monströsen Fähigkeiten seid wie ein schlechtes Gen, das sich in die Menschheit eingeschlichen hat, und nun droht es auf alle Menschen überzugreifen. Wir können das nicht tolerieren. Wie gefährlich ihr KI-Meister seid hat man doch gesehen, als das Mädchen ausgetickt ist. Sie ist ein Monster, und ich werde mir die Zeit nehmen, auch sie bei passender Gelegenheit zu töten. Aber egal. Du bist da wo ich dich haben will, Otomo. Mehr wollte ich nicht erreichen.“
Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. „Dieses Monster ist meine Schwester! Alleine deshalb hättest du schon Strafe verdient. Aber da du auch noch ein mieser kleiner Rassist bist, werde ich mich nicht zurück halten.“
„Hallo? Otomo, hast du mir nicht zugehört? In dieser Sphäre bin ich das stärkste Wesen! Ich allein! Du kannst hier nichts machen, nur sterben!“ Mein Gegner begann von innen heraus zu glühen. „Und genau das werde ich mir nun aus nächster Nähe ansehen.“
Ein Lichtblitz ging von ihm aus, erfasste mich und schleuderte mich Meterweit davon. Mühsam rappelte ich mich wieder auf. „Was war das?“
„Nenne es einen Virus. Er wurde speziell entwickelt, um dein KI zu vernichten. Und damit auch dich, Otomo. Du musst nur einmal davon zu schmecken kriegen und bist bereits verloren. Also ab jetzt läuft deine Uhr ab. Und ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob ich dir beim langsamen Sterben zuschauen sollte, oder ob ich dir noch weitere qualvolle Dosen verabreichen sollte. Beides hat seinen Reiz für mich.“
„Warum greifst du mich überhaupt an? Wir haben Frieden mit dem Legat.“ Mühsam kam ich wieder auf die Beine. Alle Gliedmaßen fühlten sich an als wären sie mit Blei ausgefüllt.
„Oh, der Legat. Ich bitte dich. Diese Versager-Organisation, die zu deinem Schoßhund geworden ist, hat mir nichts mehr zu sagen. Aber es gibt andere, mächtige Menschen, die den Naguad-Bastard auch gerne tot sehen. Ich habe viele einflussreiche Gönner. Ja, auf der Erde denken viele Menschen, dass du Monströsität endlich verschwinden solltest. Und ich führe ihren Willen aus.“
Ich lächelte kalt. „Idiot.“
Eine weitere Welle erfasste mich, trieb mich mehrere Meter nach hinten. Aber diesmal fiel ich nicht.
„Vergiss nicht mit wem du sprichst, Otomo! Ich bin dein Tod!“
„Nein, Dummkopf! Ich bin der deine!“ Langsam legte ich beide Hände zusammen, auf die gleiche Art, auf die ich mein Katana hielt. Ebenso langsam entstand die Waffe aus Licht, aus Wärme und meinem Willen.
„Das ist unmöglich! Du kannst keine Waffe herbeirufen! Dies ist meine Welt!“
„Das mag sein. Aber ich trainiere in diesen Dimensionen schon seit sieben Jahren. Sie haben keine Geheimnisse mehr vor mir. Hier oder in der Realität, es ist für mich dasselbe.“ Ich lächelte dünn. „Und übrigens, deinen Virus kannst du dir in die Haare schmieren. Ohne KI keine Wirkung, und ich habe, seit ich hier bin, mein KI komplett gelöscht.“ Langsam hob ich die leuchtende Waffe über meinen Kopf. Dann machte ich einen Schritt auf meinen Gegner zu.
„Moment, warte! Warte! Das geht so nicht! Da läuft etwas falsch, wirklich falsch!“
„Findest du? Ich denke, im Moment läuft alles verdammt richtig!“ Mit zwei schnellen Schritten in meinem bevorzugten Kendo-Stil war ich heran. Ich ließ die Waffe herab sausen und brüllte: „MEN!“ Dann trieb ich die gleißende Klinge durch seine Erscheinung. Für einen winzigen Augenblick bot sie mir tatsächlich etwas Widerstand.
***
„Akira. Geht es dir gut?“
Ich sah auf. Megumi stand neben mir, hatte sich besorgt vorgebeugt. Mit einem kurzen Griff hatte ich sie umfasst und auf meinen Schoß gezogen. „A-akira! Was machst du denn?“
Ich legte mein Gesicht auf ihre Schulter und war unfähig zu sprechen. Lediglich ein paar Tränen flossen von meinem Gesicht auf ihre Schulter.
Sie umarmte mich mit beiden Händen, drückte meinen Kopf sanft an sich. „War es so schlimm?“
Ich nickte nur und genoss ihre tröstende Nähe und ihre zarten Hände, die liebevoll mein Gesicht liebkosten.
„Michi war nur ein Mittel zum Zweck, oder? Er wollte dich, und er wollte dich ganz in seiner Nähe haben“, stellte sie fest. Mein Mädchen hatte schon immer eine gute Kombinationsgabe gehabt.
Wieder nickte ich. Und diesmal begann ich mit krächzender Stimme zu sprechen. „M-megumi, sind... Sind wir Monster?“
„Monster?“, echote sie. „Hat der KI-Agent dir das gesagt?“ Sanft hob sie meinen Kopf an und sah mir in die Augen. „Du bist kein Monster. Und auch wir KI-Meister sind keine Monster. Wir sind das was wir sind. Menschen.“ Sie legte kurz den Kopf schräg. „Okay, ich bin eine Naguad, aber du weißt was ich im Prinzip meine.“
Gegen meinen Willen musste ich leise lachen.
„Akira.“ Der Blick in ihre Augen war wundervoll. Er erinnerte mich an all das, was ich immer hatte haben wollen, und befürchtet hatte nie zu erlangen. Und nun war es mir so nahe, so wundervoll nahe.
„Akira, damals, als die Kronosier die Erde angegriffen haben, lange bevor wir unser KI haben nutzen können, was waren wir da? Wir, die einzigen Mecha-Piloten der Menschheit?“
„Wir waren Soldaten.“
„Effektive und tödliche Soldaten. Solange wir in unseren Hawks saßen waren wir Waffen. Aber sobald wir aus dem Cockpit gekommen waren, da... Waren wir wieder wir selbst.“
„Das kannst du nicht vergleichen. Als KI-Meister verfügst du immer über deine Fähigkeiten“, murmelte ich.
„Aber du setzt sie nicht permanent ein. Und die meisten KI-Meister sind auch nicht so dumm wie wir und werden Soldat“, tadelte sie. „Ich möchte dir ein Beispiel aus der Geschichte Japans erzählen.“
„Du weißt, ich sehe mich schon lange nicht mehr als Japaner. Ich weiß wo meine Wurzeln liegen, und ich verehre sowohl mein deutsches, als auch mein naguadsches und mein japanisches Erbe, aber mittlerweile bin ich längst Erdenbürger geworden. Ein Terraner.“
Sie zog einen Schmollmund. „Darf ich meine Geschichte erzählen?“
Gegen diese Mimik gab es keinen Konter. „Gerne.“
„Weißt du, als die ersten Schusswaffen in Europa auftauchten, da kamen sie auch auf verschlungenen Wegen nach Japan. Die hiesigen Schmiedemeister kopierten diese neue Waffe recht schnell, adaptierten sie, verbesserten sie und produzierten sie teilweise noch besser als die Schmiede in Europa, welche die Waffe erfunden hatten. Aber mit einem Gewehr konnte jedermann einen Samurai töten, obwohl dieser vielleicht zehn Jahre, zwanzig Jahre oder noch länger mit seinem Schwert trainiert hatte. Einen Pfeil konnte ein Samurai zerschlagen, aber eine Kugel? Es gibt Gerüchte über einige wenige, denen dies gelungen war, aber die hießen alle nicht Akira Otomo. Was also passierte? Die Schwertmeister verlangten vom Shogun zu handeln, und binnen weniger Jahre verschwanden die Gewehre wieder aus Japan, bis zum Zeitpunkt der Meijin-Restauration. Dann kamen sie wieder ins Land, und die Ära der Samurai wäre fast zu Ende gewesen.“
Ihr Blick wurde ernst. „Was denkst du, was du bist, Akira? Ein Samurai zur damaligen Zeit war eine schreckliche Waffe, aber ein Gewehr war schrecklicher, weil es auf Entfernungen töten konnte, die für einen Samurai an einen Albtraum grenzten, und für viele auch ein Albtraum wurden. Ein Gewehr war furchtbar und leicht zu bedienen und konnte Verderben und Tod über Männer bringen, die mit ihren Waffe seit Jahrzehnten hart trainiert hatten. Aber der Samurai hatte seine Schwerter, und das Gewehr hatte jemanden, der es bediente, damit zielte und es abschoss. Man sagte damals, ein Samurai legte seine Schwerter nur zum schlafen und zum baden ab. Man sagt aber auch heute noch, ein guter Soldat lässt sich nicht von seinem Gewehr trennen. Verstehst du was ich dir sagen will? Eine Waffe ist nur, was auch von jemanden als Waffe eingesetzt wird. Ein Schwert wird nur gefährlich, wenn es gezogen ist. Ein Gewehr ist nur dann tödlich, wenn du auf der falschen Seite der Mündung bist. Und ein KI-Meister ist nur gefährlich, wenn er seine Fähigkeiten einsetzt, was leider vorkommt, wenn er verletzt wurde. Akari wurde verletzt, schwer verletzt, als sie glaubte, Michi würde vor ihren Augen sterben. Also aktivierte sie ihr KI. Das macht sie nicht zum Monster. Aber sicher zum Neidobjekt für viele Frauen, die sich insgeheim wünschen, in so einem Fall ihrer Verzweiflung ebenso Luft machen zu können. Ich, du, Mako, wir sind keine Monster. Glaubst du vielleicht, in dem Fall wäre die AURORA mit verstärkter Begleitflotte aufgebrochen, um dich zu suchen? Glaubst du, die Anelph und Naguad hätten Kontingente gestellt, um uns zu unterstützen? Sicherlich nicht.“ Sie lächelte mich auf eine Art an, die jeden Widerstand, wäre er denn noch vorhanden gewesen, weg geschmolzen hätte wie Butter in der Mittagssonne und beugte sich vor, um meine Lippen zu küssen. „Geht es wieder, Schatz?“
Bedächtig schüttelte ich den Kopf.
„Akari und Michi geht es gut. Michi ist außer Lebensgefahr, und Akari ist überglücklich. Ist es das?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Dann griff ich an meine Seite und zog das Katana hervor. Das hieß, nicht das Katana, nur den Griff.
„Moment Mal, war da nicht sonst immer eine Klinge dran?“, fragte Megumi argwöhnisch.
„Ein Nebeneffekt meiner Schlacht mit dem KI-Agenten“, murmelte ich betrübt.
„Du solltest Eikichi die nächsten fünfzig Jahre besser nicht unter die Augen treten.“
„Das Gefühl habe ich auch. Ich habe das Familienschwert zerstört.“
Allerdings lag der Ärger mit Vater in der Zukunft. Die Gegenwart hatte eine Megumi zu bieten, die auf meinem Schoß saß, und deshalb konnte ich den Teil meines Lebens weit von mir schieben. Vorerst.

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Angry Eagles

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4.
Gegenwart:
„Sir, wir haben zu reden.“
Makoto Ino, seines Zeichens General und zuständig für sämtliche Armee-Einheiten – was die auf dem Riesenschiff stationierten Daishis, Hawks und Banges einschloss – nickte nur, als der große Mann mit der Uniform eines UEMF-Captains im den Weg versperrte. Einige Mitarbeiter der Poseidon-Flottenzentrale sahen auf, aber als sie den Mann erkannten, gingen sie wieder ihrer Arbeit nach. Er war bekannt, und wenngleich kaum einer wusste, was er genau tat, so hatte er doch permanent Besuchsrecht bei einigen der ranghöchsten Offizieren der AURORA. Makoto Ino war einer davon.
Einladend öffnete der junge General die Tür zu seinem Büro. „Also“, sagte Mako, nachdem er sich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, „was kann ich für Sie tun, Jason?“
Captain Stafford, ehemals Army Ranger, räusperte sich leicht, um seine Stimmbänder frei zu bekommen. „Der Scharfschütze, der auf Commander Otomo geschossen hat, war einer unserer Leute.“
Makoto schluckte trocken. Der Zwischenfall war noch keine fünf Stunden her, die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, und dieses wichtige Detail bisher noch nicht zu ihm vorgedrungen. Andererseits waren Belange des Blue Lightning-Regiments Stabsangelegenheit, genauer gesagt Chefsache, und über den Einsatz der Soldaten entschieden ausschließlich Stafford, Lycast und Ryon, die Offiziere der Truppe.
„Interessant an der Geschichte ist, das ein KI-Meister ihn im Turnus vor gut drei Wochen überprüft hat und dabei die Anwesenheit eines zweiten KIs nicht festgestellt hat. Sie wissen, dass wir speziell unsere Einheit permanent mit solchen Tests sauber halten.“
Makoto nickte. Als die Statuten der Spezialeinheit festgeschrieben worden waren, hatten die Mitglieder nicht nur Wert auf absolute Selbstständigkeit gelegt, sondern auch auf Sicherheit. Dazu gehörte, die Infiltration der Truppe zu verhindern, und einer der bekannten Wege war ein KI-Agent. Selbstredend war die Truppe darauf vorbereitet.
„Das heißt, irgendwo in diesen drei Wochen gibt es einen Termin, zu dem der junge Mann... Wie nennen die Eierköpfe das, wenn ein fremdes KI in einen Körper implantiert wird... Gekapert wurde?“
Stafford schüttelte ernst den Kopf. „Nein, Sir. Die Mission des Snipers wurde erst vor wenigen Stunden entschieden. Wie Sie wissen, übernimmt das Blue Lightning-Regiment teilweise den Personenschutz für Akira Otomo, indem es die Einheiten, die zu seinem Schutz abgestellt sind, infiltriert. Der Befehl, der den jungen Mann auf eines der Dächer von Fushida gebracht hat, war noch nicht einmal trocken, als er auf Michi Torah geschossen hat. Drei Wochen sind schon ein relativ sicherer Hinweis, aber weniger als vierundzwanzig Stunden sind schon ein Beweis: Das KI wurde dem Sniper an Bord der AURORA implantiert. Bevor Sie fragen, körperlich geht es ihm gut und er ist auf dem Weg der Genesung. Aber geistig... Er hat es nicht verkraftet, mit welcher Leichtigkeit er überwältigt wurde, und das es sein Körper war, der auf Blue Lightning geschossen hat.“
„Was geschieht mit ihm?“
„Wir werden ihn die nächsten Tage mehrfach sondieren, um sicher zu gehen, dass vom KI-Agenten nichts in ihm geblieben ist, nachdem er den Kampf mit Akira Otomo verloren hat. Danach wandert er für fünfzehn Tage in den Bau.“
Makoto hob fragend die Augenbrauen.
„Weil es ihm nach dem Anschlag nicht gelungen ist zu entkommen“, erklärte Stafford mit einem dünnen Grinsen.
„Das erinnert mich an einen alten englischen Fernsehfilm, der in Indien spielt. Dort schoss ein indischer Soldat versehentlich auf einen englischen Prediger. Er bekam siebzehn Tage Strafe. Zwei, weil er auf einen Zivilisten geschossen hatte, und fünfzehn, weil er nicht getroffen hatte.“
„Ich sehe, wir verstehen uns“, erwiderte Stafford mit einem sehr dünnen Lächeln. „Aber es ist in erster Linie ein psychologischer Trick. Er konnte letztendlich Blue Lightning nicht entkommen. Wenn das in sein Bewusstsein gesickert ist, wird er auch wieder gesund da oben.“
„Verstehe. Das heißt also, wir müssten die AURORA eigentlich von oben bis unten komplett durchsuchen, oder? Es gibt hier irgendeine Maschine, die es mit KI geschulten Attentätern erlaubt, in fremde Körper zu wechseln, und dieses Ding müssen wir finden. Und die leblosen Körper zählen, um zu wissen, wie viele neue KI-Agenten wir jetzt an Bord haben.“
„Das ist richtig, Sir. Ich habe bereits Einheiten bilden lassen, welche die Industriekomplexe, die alte Gray Zone und wenig frequentierte Regionen der AURORA untersuchen. Wenn das zu keinem Erfolg führt, werden wir die Appartements in den Innenwänden des Schiffs zwangsdurchsuchen. Sie sind nicht weit entfernt von Hangars und Maschinenparks. Es ist relativ unauffällig, komplexe technische Apparaturen zu ihnen zu schaffen. Weitaus weniger auffällig, als mit komplexem Gerät durch Fushida City oder eine der kleinen Ortschaften zu fahren.“
„Genehmigt. Vergewissern Sie sich der Hilfe der Polizei. Ich werde Aris Taral bitten, dass er Sie mit einer Abteilung Bluthunde unterstützt. Sollte es wirklich soweit kommen, dass wir Fushida City durchkämmen müssen, werde ich Doitsu Ataka um Amtshilfe bitten. Er und seine Yakuza kennen die Stadt besser als jeder andere.“
„Dafür danke ich Ihnen, General.“
Makoto runzelte die Stirn. „Es kommt ein Aber, oder?“
Stafford grinste leicht. „Zwei Aber, Sir. Das erste ist, dass ein Mitglied des Blue Lightning-Regiments gekapert wurde. Wir können nicht wissen, wie viel Wissen über uns weitergegeben wurde. Zumindest unsere Existenz dürfte dem Gegner nun bekannt sein.“
„Und das zweite Aber?“
Stafford griff in seine Uniformjacke und zog ein Papier hervor. Er platzierte es vor Makoto auf dem Schreibtisch. „Lesen Sie.“
Der junge General öffnete das Papier und begann es zu lesen. Spätestens nach der zweiten Zeile wurde er bleich. „...sind KI-Meister eine öffentliche Gefahr und ein Risiko für Jedermann. Ihre Fähigkeiten gefährden die öffentliche Sicherheit und die Leben unserer Schutzbefohlenen. Akira Otomo, der Anführer dieser Clique überflüssiger Mutanten... WAS, BITTE?“
„Sie werfen sie von den Dächern der größeren Städte und lassen sie in die Stadt wehen. Alles relativ schnell und unauffällig. Die wenigen Male, bei denen Überwachungskameras Aufnahmen machen konnten, sind nicht besonders gut auswertbar. Das sind, wenn schon keine Profis, so zumindest doch gut ausgebildete Leute.“ Stafford räusperte sich. „Wir müssen klären, in wessen Zuständigkeit dieser Fall fällt: Polizei, weil eine Persönlichkeit des Öffentlichen Lebens verunglimpft wird, Militär, weil ein indirekter Angriff auf unseren Oberbefehlshaber erfolgt, oder die Stadtreinigung, weil jemand die Straßen Fushida Citys gleich doppelt mit Dreck verunreinigt.“
„Gut formuliert“, brummte Makoto. Er tippte kurz auf der in seinen Schreibtisch eingelassenen Tastatur herum. „Wussten Sie, dass die AURORA drei Klimazonen mit eigenem Wetterbericht hat? Wir haben einmal das Serenity-Meer, über dem die größte Verdunstung geschieht, dann den Großraum Stadt, der die meiste Abwärme produziert, und schließlich noch die Felder, Wälder und kleineren Ortschaften. Und wissen Sie, was der Wetterbericht heute für die Stadt vorhersagt?“
„Ich bin sicher, Sie werden es mir gleich sagen, Sir.“
Makoto grinste breit. „Dauerregen. Schwerer, dicker und lang anhaltender Dauerregen. Er kommt nicht oft vor, aber wenn die Luft stark genug mit Wasserdampf gesättigt wurde und diese Luft dann von der Warmluft über Fushida bis an den holographischen Himmel gezogen wird, kühlt sich der Wasserdampf ab, die Mikrotröpfchen verbinden sich und regnen ab. Genau das ist hier der Fall. Dieses Phänomen tritt mit ziemlicher Regelmäßigkeit alle zwanzig Tage auf. Ein Indiz dafür, dass es entweder unsere Flugpostverteiler nicht interessiert, oder sie es nicht wissen, beziehungsweise noch nicht bemerkt haben, das es regelmäßig stattfindet. Sie wissen, was das bedeutet?“
Stafford nickte und erhob sich. „Wir werden unser Hauptaugenmerk auf Neuankömmlinge richten, die für die zweite Mission der AURORA an Bord gekommen sind.“
„Sie sind ein guter Mann, Stafford.“
„Das Kompliment kann ich zurückgeben, General.“
„Danke.“ Makoto lächelte zufrieden. Auch er war für ehrliches Lob empfänglich. „Schnappen Sie die Burschen.“
Der ehemalige Army Ranger salutierte stramm. „Das werde ich, Sir!“
***
Ein wenig irritiert starrte Torum Acati auf das frische Graffitti an der Außenwand der Regionalen Flottenzentrale. Mit ihm taten dies drei weitere hohe Offiziere und ein paar Zivilisten, unter ihnen Juichiro Tora.
„Wie lange steht das da schon?“, fragte Tora amüsiert.
„Keine Ahnung. Der letzte Kontrollgang liegt jedenfalls erst drei Stunden zurück. Länger kann es noch nicht sein. Außer, die Wachen haben mehr als ein Auge zugedrückt. Überhaupt scheint es ein Insiderjob zu sein, denn dieser Bereich liegt im toten Winkel der Außenkameras“, sagte Acati ernst. „Allerdings würde ich das nicht unbedingt als Problem bezeichnen, im Gegenteil. Man hat seit der Erschaffung der Daimon schon fünfmal versucht, mich zu, hm, retten.“
„Retten?“ Tora runzelte die Stirn. „Retten vor wem?“
„Vor dem Legat. Die Menschen auf dem Mars gehen davon aus, dass die gemeinsame Erklärung von UEMF und Legat eine Fälschung ist, und das in Wirklichkeit das Legat die Zügel fest in der Hand hält. Sie halten gerade hier auf dem Mars eine wirkliche Zusammenarbeit der beiden Gremien für unmöglich. Im Gegenteil, es gibt Untergrundbewegungen, die versuchen die alte Ordnung wieder her zu stellen.“
„Sie wollen also sagen, diese Menschen, Anelph, Kronosier und Naguad glauben nicht daran, dass sie wirklich frei sind und das dieser ganze Putsch nur ein riesiges Schauspiel für die Götter war, um unsere vermeintliche Vernichtung zu verkaufen?“ Tora lachte laut auf. „Super. Ich kann mich noch dran erinnern, wie die Legaten hier die absolute Macht hatten, zudem das letzte Wort und dass sich die Menschen hier angstvoll jedem Kommando gebeugt hatten. Es war eine strenge Hierarchie mit klar abgegrenzten Rechten und Pflichten, die sich durch die Stufe definierten, auf der man stand. Und die meisten standen sehr weit unten und hätten niemals daran gedacht, aufzubegehren. Das heute so etwas möglich ist, das ist für mich ein kleines Wunder.“
„Ein kleines Wunder, das Sie den Kopf kosten kann, Tora, wenn jemand auf die Idee kommt, Sie zu töten“, brummte Acati.
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Admiral. Ich habe hier schon überlebt, als schon damals der eine oder andere Legat versucht hat, mich auszuschalten.“ Er deutete auf das Graffiti. „Also, was machen wir damit?“
„Hm. Ich würde sagen, wir lassen es stehen und bringen darunter eine Tafel an, die auf den Zeitpunkt und die Umstände dieser Tat hinweist. Als historisches Beispiel.“
Tora sah den Admiral erstaunt an. „Das meinen Sie ernst, oder?“
„Todernst“, bestätigte Acati. Er machte eine einladende Handbewegung. „Sie sehen, der Mars ist nicht mehr ganz das, was Sie verlassen haben. Willkommen im Flottenhauptquartier, Legat Tora. Hier geht es lang.“
„Gibt es denn auch Begrüßungskaffee?“, fragte der Dai mit quengelndem Ton in der Stimme. Manchmal liebte er die Menschen wirklich, wenn sie ihm nicht gerade tödlich auf die Nerven gingen. Im Moment liebte er sie, für dieses simple Graffiti, das nur aus zwei Worten bestand: Akira lives. Es sagte genug über die Menschen auf dem Mars aus.

„Seit knapp einem Monat leben wir unter dem Schutz der Daimon“, sagte Acati, während er dankbar den Kaffee von der Ordonnanz entgegen nahm. „Wir haben die Übernahme von Erde, Mars und Mond inszeniert, um den Liberty-Virus unauffällig ausbreiten zu können. Zweck des Manövers war es, die Erde, den Mars und den Mond davor zu bewahren, durch eine Überreaktion der Götter vernichtet zu werden, bevor wir zu wirklicher Gegenwehr bereit sind. Seither sind alle drei Daimon über Wurmlöcher miteinander verbunden. Es gibt auch Kontakt zur Außenwelt über so genannte Schleusenstraßen, über die der Schiffsverkehr fließt, den wir weiterhin mit den Naguad unterhalten, aber wir sind in der Lage, diese jederzeit dicht zu machen, falls sich die Götter zu sehr für uns interessieren. In der Tat hält sich ein Strafer permanent auf der Höhe der Jupiterbahn auf.“
„Das ist, wenn ich mich recht entsinne, der Rand der Schwerkraftsenke der Sonne, oder? Also der ideale Ort, um in ein anderes Sonnensystem zu springen.“
„Das ist korrekt“, bestätigte der Admiral. „Wir sind die Götter nicht losgeworden, aber das war von vorne herein auch nicht das Ziel.“
„Das Ziel erscheint mir ein wenig schwammig zu sein. Gut, gut, wir befinden uns nun innerhalb der Daimon, die vom KI der in ihr befindlichen Menschen aufrecht erhalten wird. Aber genau jenes KI wird ab einer bestimmten Frist in einem Maße regelrecht abgesaugt werden, dass es zu Todesfällen kommen kann, ja kommen wird. Wo also liegt der große Vorteil darin, sich zu verstecken, frage ich mich.“
„Hm. Sie erinnern sich an den Probeschuss? Der, den die KI-Meister über der amerikanischen Küste abgewehrt haben? Die Außenflotte unter Admiral Bhansali hat kurz vor dem Aufbau der Daimons im Alpha Centauri-System einen Aufmarsch von zehn Strafern beobachtet. Zu dem Zeitpunkt und ohne die AURORA wären diese Schiffe in der Lage gewesen, alle drei Planeten zu vernichten. Mit allem, was sich darauf befindet.“
„Und wenn unsere Zeit in den Daimons abgelaufen ist, soll es besser werden? Bedenken Sie, dass es die ersten Toten auf Mars und Mond geben wird. Deren Daimons sind zwar kleiner, aber die Bevölkerungszahlen sind extrem gering. Hier wird gestorben werden, um etwas aufrecht zu erhalten, was eines Tages ohnehin zusammenbricht. Wo also liegt der Vorteil dabei?“
„Sie kennen die Antworten, Tora“, mahnte Acati ernst.
„Sicherlich. Aber ich will Ihren Standpunkt kennenlernen.“
Torum Acati seufzte ernst. „Gut, gut. Erst einmal sind wir zu sehr ins Interesse der Strafer gerückt. Wir haben sie auf ein System aufmerksam gemacht, das höchst wahrscheinlich die Urheimat aller Daina und Daima ist. Sie haben es ohnehin sporadisch überwacht und teilweise - über den Core – versucht zu infiltrieren. Doch solange alle hier still gehalten haben, gab es keinen Grund für die Götter, die eigene Vernichtung zu riskieren, indem sie diese Welt angriffen. Als wir aber die offene Macht unserer AO-Meister – Verzeihung, Macht der Gewohnheit – unserer KI-Meister gezeigt haben, waren sie bereit, dieses Risiko einzugehen. Sie wurden wach gerüttelt, möchte ich sagen. Das erklärt auch den Angriff auf Iotan und den dortigen Kaiserpalast. Unser erster großer Vorteil war eindeutig, dass wir für eine gewisse Zeit unangreifbar wurden. Wir nutzen diese Zeit, wir, und auch die AURORA, wie man an der ADAMAS und ihrer Besatzung sehen kann. Auch der Besuch der BATARIK von der Iilak-Föderation ist ein Zeichen unserer Vorbereitungen. Wir sammeln unsere Kräfte für den entscheidenden Schlag. Und der wird wohl hier in diesem Sonnensystem stattfinden.“ Acati nahm sich eine volle Kaffeetasse und deutete an, dass sich auch der Magier bedienen sollte. „Sorgen macht mir in diesem Zusammenhang, ob die Konvois von den Naguad, den Anelph und hoffentlich vom Core und den Iovar es bis zu uns schaffen. Einzeln sind sie unglaublich angreifbar durch Götterschiffe. Erst in der Masse sind sie ernsthafte Gegner für Strafer und Beobachter. Habe ich die Ziele soweit richtig interpretiert?“
Tora lächelte, und dabei hatte er große Ähnlichkeit mit einem Zähne fletschenden Tiger. „Ganz gut, ganz gut. Aber es gibt da ein paar Informationen, die Sie noch nicht haben. Ich wollte zuerst wissen, was Sie wissen. Das macht es leichter, meine Informationen zu, hm, dosieren. Was denken Sie, werden wir wirklich am Ende der acht Monate tun, in der die Daimons aufgebaut sein dürfen, ohne Menschenleben auszulöschen? Wobei wir schon jetzt bei jedem einzelnen Todesfall kritisch hinterfragen müssen, warum er oder sie starb?“
„Ich denke, wir warten auf die AURORA und stellen die Götter dann in offener Feldschlacht. Das erscheint mir die viel versprechenste Methode zu sein. Zusammen mit der ADAMAS haben wir dann auch eine reelle Chance.“
„Eine etwas unfaire Chance, wenn die Gegenseite Robotschiffe einsetzt, während wir Leib und Leben unserer Leute riskieren. Nicht einmal die Raider der Core-Zivilisation können das wirklich kompensieren“, wandte Tora ein. „Nein, wir warten nicht nur auf Akira. Er wird der Schlüssel unserer Abwehr sein. Das ist eine Erkenntnis, die ich schmerzvoll auf mich nehmen musste. Aber wir sind in der Lage, unsere Chancen noch zu verbessern. Was wir auch tun müssen, denn letztendlich kann niemand sagen, wie viele Strafer die Götter aufbieten werden. Wir wissen nicht, wie viele Schiffe sie in den letzten zwanzigtausend Jahren wirklich gebaut haben, wie sie gewartet wurden und wie lange sie brauchen, um sie zur Erde zu schaffen. Wir haben absolut keine Ahnung. Vielleicht werden wir nicht nur eine Schlacht kämpfen, sondern zwei, vier, acht, sechzehn, oder gar unendlich viele Schlachten. Und dafür müssen wir die Ausgangslage erheblich verbessern.“
Tora nickte in Richtung des großen Bildschirms, der sich in diesem Konferenzraum befand, und er aktivierte sich ohne einen Fingerzeig von ihm. „Was Sie jetzt sehen, passiert live.“ Tora sah kurz auf seine Armbanduhr. „Ich glaube, wir sind sogar etwas spät dran.“
Ein Eiland war darauf zu sehen. An sich nichts spektakuläres, aber der Sprecher sprach von einem Wunder ohne Gleichen und versprach eine Wiederholung der Bilder, welche die Welt verändern würden.
Zuerst wechselte das Bild auf eine Karte der Pazifik-Region, einem Bereich südlich von Hawaii und östlich von Midway, einer Region, die sechstausend Meter Wassertiefe aufwies. Dann wechselte das Bild auf eine Live-Aufnahme, die eben diese Fläche auf dem Pazifik zeigte, eine endlose Wasserwüste. Plötzlich aber begann die Luft zu flimmern, Wasser schäumte und bäumte sich meterhoch auf, und wieder flimmerte die Luft, zeigte verschwommene Umrisse eines kleinen Kontinents. Satellitenaufnahmen verdeutlichten die Dimensionen dieses Dings, das gerade aus dem Nichts entstand. Schließlich und endlich ruhte ein kleiner Kontinent im Wasser des Pazifiks, der vielleicht ein Viertel der Größe Australiens hatte.
Wieder war der Sprecher zu hören, und diesmal drehte Acati lauter. „Es ist vollbracht! Die ursprüngliche Daimon wurde abgebaut! Damit ist die Welt der Dai für uns ebenso zugänglich wie es die Menschenwelt für die Dai sein wird! Doch das ist erst der Anfang, denn nun wird die Erde eingebunden sein in der Suche nach menschlichem Personal für die Kommandoschiffe DAI, AO und LEMURIA sowie ihre jeweils acht Trabantenschiffe.“ Juichiro Tora räusperte sich. „Es sind, wenn Sie so wollen, Ausbildungsschiffe. Die Daima und Daina sowie ihre Dai werden uns weitere überlebende Schiffe aus dem großen Krieg bringen, und das eröffnet uns die Chance, unsere Leute nicht verheizen zu müssen. Das hat den Dai damals im Krieg das Genick gebrochen.“
„Verständlich. Aber sollen wir wirklich Leute ausbilden, ohne zu wissen, wie viele Schiffe wir erhalten können?“
„Es gibt da noch ein kleines Geheimnis, Admiral. Aber das wird nicht ohne zwingende Not gelüftet“, erklärte Tora mit einem dünnen Lächeln. „Merkwürdig. Noch vor einem Jahr war ich der größte Feind von Kuzo. Und jetzt bin ich ihr wichtigster Mann. Wieder einmal.“
„Sie stehen nicht auf der falschen Seite, Tora“, mahnte Acati.
„Das stand ich vorher auch nicht“, erwiderte der Dai verärgert.
„Ansichtssache. Geben Sie mir einen Tipp, was dieses Geheimnis betrifft?“
„Nein, leider nicht.“
„Ich ahnte es“, seufzte Acati. „Was ist mit Amerika? Es scheint, als würde sich dort ein effektiver Widerstand gegen den Legat formieren. Wie werden Sie vorgehen? Ich weiß, Sie halten das Land weiterhin besetzt, weil es gegen die UEMF intrigiert hat, und um die Weltlage ruhiger zu halten, aber das wird nicht auf ewig klappen. Im Gegenteil. Es schlägt irgendwann auf die UEMF und den Legat zurück.“
„Der Legat kann das vertragen. Aber was die UEMF angeht, gebe ich Ihnen Recht, Admiral. Wir arbeiten an einer Lösung, mit der wir alle leben können. Amerikaner, Kronosier und UEMF. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir schlicht und einfach alle Rebellen vernichtet. Hm, nein, das war gelogen. Ich bewundere ihren Chuzpe, aber ich frage mich, wo der war, als Wilson alle geradewegs in die Hölle und gegen die UEMF geführt hat.“
„Ein Kurs zu dem er durch das Legat verführt wurde“, erwiderte Acati.
„Den Weg wäre er auch ohne uns gegangen. Nur vielleicht nicht so schnell. Sehen Sie es so, wir haben ihm die Maske vom Gesicht gerissen, bevor er uns wirklich schaden konnte.“
Tora deutete auf den Bildschirm, der nun Nahaufnahmen von Atalantis zeigte, dem gerade wieder entstandenen Kontinent. „Im Moment haben wir mehr als genügend Ärger, wie Sie sehen. Aber wir werden uns um Nordamerika kümmern. Auf einem sinnvollen Weg, der nicht automatisch Blutvergießen bedeutet.“
„Aber zufällig vielleicht?“
Tora starrte den größeren Naguad böse an. „Zeigen Sie mir einen Plan, der nicht nur ohne Blutvergießen auskommt, sondern auch den Kontakt mit der Realität überlebt, und ich nehme ihn sehr gerne an!“
„Schon gut, Tiger. Fahren Sie Ihre Krallen wieder ein. Die Nachricht kam an. Wie also sieht die Lösung aus? Sie muss schnell gehen, bevor es zum ersten Blutvergießen zwischen Air Force und dem Legat kommt.“
„Und genau deshalb bin ich hier. Kann ich mir Ihren Kriegsheld haben? Ich brauche jemanden, der nach dem Wunschtraum jedes kleinen Mädchens auf der Erde riecht, der den Nestgeruch unseres großen Superhelden Akira Otomo am Leib hat, der ihm mit Rat und Tat als treuer Verbündeter zur Seite stand, in allen Zeiten. Wissen Sie, die Menschen schreien nicht nur hier nach ihm, auch in Amerika.“
„Es klingt nach Heiland-Verehrung, oder?“
Tora machte eine abwehrende Geste. „Es ist wohl eher so, dass die Leute eine Menge von ihm erwarten, weil sie wissen, dass er es leisten kann. Also, borgen Sie mir den einzigen Gefährten von Akira Otomo, der noch im Sol-System ist?“
„Zu welchem Zweck soll ich Ihnen Admiral Richards, hm, ausleihen?“
Tora lächelte wieder wie ein Tiger, nur diesmal wie ein satter, zufriedener. „Es ist nichts Schlimmes. Ich will, dass er die Regierungsgewalt übernimmt und Neuwahlen organisiert. Ist das für ihn möglich?“
„Das müssen Sie ihn schon selbst fragen. Sein Büro ist in diesem Flur.“
„Dann werde ich gleich mal rüber gehen“, sagte der Dai und erhob sich.
„Tora“, hielte Acati ihn zurück. „Er wird sich nicht benutzen lassen.“
„Keine Sorge, ich gebe ihm nur das Ziel vor“, beschwichtigte der Magier.
„Tora“, hielt Acati ihn erneut auf. „Er wird vielen nicht willkommen sein.“
„Ich habe meine Leute, die auf ihn achten können“, widersprach Tora.
„Ein Einwand noch. Haben Sie die algerische Legats-Agentin gefunden, die vor den Augen meiner besten Leute entführt wurde?“
„Sie meinen Corinne Vaslot? Nein, bisher noch nicht.“
„Also machen Sie sich Gedanken um eine dritte Partei in diesem Spiel, die ihr eigenes Süppchen kocht.“
Der Dai erstarrte mitten in der Bewegung. „Verdammter Mist, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“
„Dann tun Sie es jetzt. Und vergessen Sie es nicht mehr.“
„Das drückt jetzt auf meine Stimmung, irgendwie“, murmelte Tora und trat auf den Gang hinaus.
Acati sah noch lange auf die Tür, durch die der Dai verschwunden war. Seine Aufgabe war es, das gesamte Sonnensystem zu verteidigen, die Erde fiel nur im Bereich Außenverteidigung in seine Zuständigkeit. Natürlich nahm er sich weit mehr heraus als er eigentlich sollte, was wieder einmal zu beweisen gewesen war. Aber er war doch ganz froh, ab und an vorschützen zu können, nicht zuständig zu sein. Diesmal ersparte es ihm vielleicht, in einen Bürgerkrieg involviert zu werden. Oder besser gesagt, ihn auszulösen, denn ein Naguad auf Legatsseite wäre vielleicht der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum überlaufen gebracht hätte. So aber, mit einem Helden wie Richards, konnte die Situation fast, beinahe und eventuell gerettet werden. Aber auch das war nicht seine Entscheidung, auch wenn er sie getroffen hatte.
„Viel Glück auf der Erde, und bleiben Sie nicht zu lange, Richards. Ich brauche Sie hier oben“, murmelte Acati und nahm noch einen Schluck Kaffee.

5.
Vor der amerikanischen Nordküste kreuzte seit Beginn der Eroberung durch den Legat der Mecha-Träger ENTERPRISE. Das stolze Schiff, dass schon so manchen Kampf gesehen hatte, gerade gegen die Kronosier, konnte noch über vier Monate autark auf See bleiben, bevor die Vorräte soweit aufgebraucht waren, sodass der Träger gezwungen war, einen befreundeten Hafen anzulaufen. Ursprünglich hatte sich Admiral Nichol, der neue Kommandeur der ENTERPRISE-Gruppe, von der Position seines Trägers versprochen, dass er hier wenigstens ein Mitglied von Regierung, Senat oder zumindest dem Abgeordnetenhaus aufnehmen konnte, um eine Exilregierung zu gründen. Nicht einer hatte es zu ihm raus geschafft. Nun kreuzte das riesige Schiff im Atlantik auf und ab, während sich die Kapitäne und Offiziere die Köpfe darüber heiß redeten, welche Maßnahmen sie zum Wohl der Republik ergreifen konnten. Sie waren nach über einem Monat noch immer zu keinem Ergebnis gekommen, im Gegenteil. Relativ schnell hatten sich zwei Fraktionen gebildet, von denen die stärkere verlangte, die UEMF zu Hilfe zu rufen. Die andere hingegen sah das als unheilvollen Kniefall an, von dem sich die Weltmacht nie wieder erholen würde. Sie erinnerte an die noch immer schwelenden Wunden während der Evakuierung der UEMF-Stützpunkte im Land, bei der die Streitkräfte erbärmlich abgeschnitten hatten, trotz des neuen Wunder-Mechas Stars and Stripes, und an die Beinahe-Vernichtung der Ostküste, die durch KI-Meister der UEMF verhindert worden war. Nicht wenige verglichen das mit einem räudigen Hund, dem ein gnädiger Mensch einen halb abgekauten Knochen hinwarf. Nichols war klug genug, die Männer und Frauen streiten zu lassen, um sie beschäftigt zu halten, bis sich wirklich eine reelle Chance für eine Aktion ergab. Insgeheim hatte Nichol Depeschen an sämtliche ehemals verbündeten Nationen geschickt, sogar an das mittlerweile von der Besetzung wieder geräumte Russland. Aber die Reaktionen waren durch die Bank negativ gewesen oder auch gar nicht erst erfolgt. Nein, es gab keine reelle Möglichkeit. Alles was sie tun konnten war warten. Wenigstens hatte er bereits einen Trumpf im Ärmel, und der hieß Commander Jessica Ehrenfeldt. Er hatte die erfahrene Hawk-Pilotin und drei ihrer Piloten zusammen mit einem Geheimdienstteam nach Kanada entsandt, um einen wirksamen Widerstand innerhalb des geschlagenen Militärs aufzubauen. Die ersten Aktionen versprachen viel versprechend zu sein, mehrere Stars and Stripes waren bereits vernichtet worden. Es waren nur Nadelstriche, aber vielleicht kam es zu einem landesweiten Aufstand, der auch die Nationalgarde erfasste, und das war dann der richtige Zeitpunkt, um die UEMF zu Hilfe zu rufen und die Legaten wieder von der Macht zu verjagen. Insgeheim beglückwünschte er sich dazu, dass er dem Rat seines alten Lehrmeisters gefolgt war, und die Stars and Stripes nicht an Bord stationiert hatte. Seine dreißig Mechas – nun nur noch sechsundzwanzig – waren die bewährten Modelle Hawk, Eagle und Sparrow.
Vielleicht konnte die Commander, die als eine der besten Piloten der Vereinigten Staaten galt, die es noch nicht zur UEMF gezogen hatte, die Chance erschaffen, die er brauchte.
Vielleicht...

„Admiral, Sir!“, rief die Ordonnanz aufgeregt, die ohne anzuklopfen ins Admiralsbüro gestürmt war.
„Ruhig, Jennings. Gehen Sie noch mal raus und klopfen Sie an wie ein zivilisierter Mensch.“
„Aber Sir, ich...“
„Jennings“, sagte Nichol in mahnendem Tonfall.
In einer Mischung aus Entsetzen und Verzweiflung stöhnte der Petty Officer auf, verließ das Büro wieder, schloss die Tür und klopfte an.
„Herein!“
Der junge Mann trat wieder ein, nahm seine Mütze in die Hand und salutierte. „Sir. Wichtige Meldung vom CIC: Admiralsbarke nähert sich!“
Das weckte das Interesse des Kommandeurs der ENTERPRISE-Gruppe. „Welche Nation?“
„Amerikanisch, Sir.“
Nun war er vollends interessiert. Bekam er hier vielleicht Besuch von einem der anderen Sternträger, deren Flotten über die Welt verteilt waren, die sich aber noch nicht zu einem offenen Aufstand hatten entschließen können. Er griff nach seiner Dienstmütze. „Welche Flotte ist es denn? Erste? Zweite? Fünfte?“
„Siebte, Sir.“
„Unsinn. Die Siebte besteht nur aus der ENTERPRISE-Gruppe und zwei ihr zugeteilten Versorgerverbänden. Ich bin ihr einziger Admiral hier, und im Pentagon hat es nur noch einen für uns zuständigen Konter-Admiral und einen Air Force-Viersterner.“
„Es ist Admiral Richards, Sir“, sagte der Mann bedeutungsschwer.
Für einen langen Moment vergaß Nichol zu atmen. Dann holte er tief Luft. „WARUM HABEN SIE DAS NICHT GLEICH GESAGT?“
„Ich habe es ja versucht, aber Sie haben mich ja wieder vor die Tür geschickt“, murrte der Petty Officer.
Da war der Admiral aber schon längst an ihm vorbei und auf dem Flur. Im Dauerlauf sprintete der Mann zur Gefechtszentrale des Trägers.

„Admiral an Deck!“, brüllte ein Marine, und sofort hatte Nichol volle Aufmerksamkeit.
„Bericht!“, schnarrte er.
„Sir, Admiralsbark im Anflug. Es ist Admiral Richards mit einer Korvette. Offener Anflug, keine Tarnung. Wir werden gerufen.“
„Haben Sie Landeerlaubnis erteilt, Lieutenant?“
„Nein, Sir. Aber ich habe vier Hawks rauf geschickt, die den Admiral eskortieren. Sie befinden sich gerade auf einer Ehrenrunde.“ Der Mann wagte ein schüchternes Lächeln. „Hören Sie das, Sir? Das ist Jubel. Das ganze Deck ist voll mit unseren Leuten. Und auch von den anderen Schiffen wird das berichtet.“
„Ja, Himmelherrgott, wenn Sie das wissen, warum lassen Sie Richards dann nicht landen?“, polterte Nichol.
„Ich hole es sofort nach, Sir!“, rief der Lieutenant aufgeregt.
„Falls mich jemand sucht, ich bin auf dem Landedeck!“, sagte Nichol hastig und verließ das CIC wieder.
Er kam gerade rechtzeitig, um dabei zu zu sehen, wie die gigantische Korvette auf dem Landedeck aufsetzte. Es vergingen nur ein paar Sekunden, dann öffnete sich eine Schleuse, und Admiral Richards trat hervor. Er trug die weiße Gala-Uniform der Navy, und auf seiner Brust prangten seine Kampagnenabzeichen, Orden und Ehrenbänder. Spötter behaupteten ja, nur Blue Lightning hätte mehr als er.
„Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“, rief der Admiral.
„Erlaubnis erteilt!“, erwiderte Nichol und salutierte scharf.
Die Worte wurden vom Jubel der Männer und Frauen begleitet.
Richards trat näher und schüttelte Nichol die Hand. „Tut gut, mal wieder auf der alten Lady zu stehen.“
„Tut gut, Sie wieder auf der alten Lady zu sehen. Was treibt Sie vom Mars runter, dazu noch in der amerikanischen Version der Gala-Uniform?“
„Dienstliches, Dienstliches. Richards sah in die Runde. Viele der hier versammelten Leute kannte er mit Namen, einige hatte er noch nie gesehen. Ein Teil der Leute, die mit ihm auf diesem Schiff gekämpft hatten, war ihm damals zu UEMF gefolgt, und teilweise noch immer dort. „Kursänderung, Admiral Nichol. Wir fahren zur Hudson-Mündung.“ Richards warf dem ehemaligen Untergebenen einen abwägenden Blick zu.
„Kursänderung zur Hudson-Mündung, Aye“, sagte Nichol. Er vertraute diesem Mann noch immer mehr als jedem anderen. „Darf ich fragen, warum wir New York ansteuern?“
„Natürlich. Wir übernehmen mit dem Zeitpunkt unserer Einfahrt in den New Yorker Hafen die administrative Gewalt über die Stadt. Und das ist nur der Anfang.“
Die erstaunte Erwiderung Nichols ging im aufflammenden Jubel unter.

Eine halbe Stunde und eine improvisierte Jubelfeier später saßen die beiden in Nichols Büro. Eigentlich war es das Büro von Richards, aber die Zeiten änderten sich, und deshalb saßen sie diesmal auf vertauschten Seiten des Schreibtisches.
„Admiral, ich...“, begann Nichol.
„Die Lage ist relativ einfach. Wir übernehme die Stadt vom Legat und nach und nach das ganze Land. Ich werde in New York eine provisorische Regierung ausrufen und ihr vorstehen, bis freie Wahlen ausgerufen und durchgeführt sind.“
„Präsidentschaftswahlen?“, argwöhnte Nichol.
„Präsidentschaft, Senatorenkammer, Abgeordnetenhaus, alles.“
„Aber wir haben all das.“
Richards sah ihn spöttisch ein. „Sie meinen die Bande, die gegen die UEMF intrigiert hat? Verzeihung, aber ich werde keinen Mann an der Spitze der U.S.A. dulden, der vermeintliche Wirtschaftsinteressen über das Wohl der Welt setzt.“
„Aber Sie können mit jemandem leben, der die Welt in einen gigantischen Kokon hüllt, sie an einen kleinen Jungen überschreibt und uns nicht geholfen hat, als das Legat unser Land übernommen hat?“
„Ja, ja und nein. Bei letzterem haben wir selber Schuld. Wir, die Soldaten. Nicht die Bevölkerung. Ich persönlich hätte damals schon meinen Vize-Admiral in der Flottenzentrale aufgeben sollen. Ich hätte zurückkehren müssen, als amerikanische Piloten auf die internationale UEMF-Riege gefeuert hat. Ich habe das versäumt, und deshalb hatte das Legat überhaupt erst die Ansatzmöglichkeit, um unser Land im Handstreich zu nehmen. Der Ex-Präsident ist ein zu verschlagener, durchtriebener Politiker, um ihn für einen Verbündeten zu halten. Wer weiß, in welches Abenteuer er uns als nächstes führt, während die Welt auf Rettung wartet.“
„Eine verschenkte Welt, für die es keine gesetzliche Handhabe gibt“, hielt Nichol dagegen.
„Das ist ein Aspekt, über den wir schon tausendfach diskutiert haben. Und das sehr kontrovers“, sagte Richards mit einem Schmunzeln. „Fakt ist, dass auf uns naguadsches Recht angewendet werden musste, in dem Moment, als wir vor Aris Arogad kapituliert haben. Fakt ist aber auch, dass die UEMF dazu ermächtigt wurde, unsere Außenverteidigung und unsere Außenpolitik zu vertreten. Ihr oberster Vertreter, Eikichi Otomo, hat kapituliert, und damit auch wir.“
„Das steckt mir quer im Hals, Sir.“
„Genauso quer wie ein Angriff auf die UEMF-Stützpunkte in unseren Landesgrenzen? Oder glauben Sie etwa wirklich, die Verteidigungsbasen wären Stützpunkte für die Eroberung unseres Landes gewesen, wie es Wilsons Propaganda behauptet hat?“ Richards sah seinen Nachfolger ernst an. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Andrew. Mein Land braucht mich, ich habe einen Weg, um es zu retten, aber ich bin ein Weltenbürger geworden. Ich werde mein Land nie über die anderen Länder erheben, weil ich stets die ganze Erde sehe. Ich weiß, viele sehen in der UEMF eine okkupierende Möchtegern-Regierung, aber leider haben wir versäumt, die UNO mit Außenhandelsvollmachten auszustatten, als die Existenz der Naguad bekannt wurde. Ja, schon bei den Anelph, den Kronosiern, hätten wir dies tun müssen. Es war die Wilson-Administratur, die das immer wieder verhindert hat, und die UEMF unter Otomo als einziges Sprachrohr beließ. Wir Amerikaner haben uns die Grube selbst geschaufelt, in der wir nun hocken.“
„Heißt das, Sie werden die UNO nicht blockieren, wenn sie diese Außenhandelsrechte bekommt?“
Richards schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Das ist Quatsch, und das wissen Sie. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und wenn Wasser drin ist, holt man es nicht mehr trocken raus. Dieser Zug ist für uns abgefahren. Das einzige, was uns noch bleibt, ist, die UEMF erneut durch die UNO zu bestärken und zu bestätigen. Schließlich ist die UEMF der Exekutiv-Arm der UNO.“
„Das bestreite ich nicht. Und was tut die UEMF, um uns Klatschnass wieder hoch zu ziehen?“
Richards lächelte dünn. „Wir übernehmen offiziell das Kommando über die Legats-Truppen auf amerikanischem Gebiet. Wenn die Krise beigelegt ist und ein neuer Präsident gewählt wurde, werden wir uns die Situation erneut ansehen und das Legat möglicherweise aus dem Land weisen.“
„Möglicherweise. Kommando übernehmen“, brummte Nichol unwillig.
„Sie müssen noch viel lernen, was Politik angeht. Politik heißt grundsätzlich, dass jeder mindestens eine Kröte schlucken muss. Die Kunst ist es, für sich selbst die kleinste auszuwählen. Wir können das Legat nicht mehr aus dem Land werfen. Dazu ist es bereits zu sehr vernetzt mit unserer Wirtschaft, mit unserer Infrastruktur. Ein Erbe der Wilson-Regierung, die sich davon Vorteile versprach. Sie hatten die UEMF und das Legat benutzen wollen. Was dabei heraus gekommen ist, sehen wir ja jetzt.“
„Ich gebe zu, die Übernahme der U.S.A. durch das Legat erfolgte nicht nur überraschend, sondern auch unblutig. Aber ich sehe als freier Bürger meines Landes nicht ein, warum ich das hinnehmen sollte.“
„Und genau aus diesem Grund fahren wir nach New York und nehmen das Schicksal unseres Landes wieder in eigene Hände“, schloss Richards. „Konnte ich Sie überzeugen, Andrew?“
„Sie hatten mich schon beim Hallo, Sir“, erwiderte der Kommandeur der ENTERPRISE-Gruppe mit einem schiefen Lächeln.
***
„Nein, ich setze mich da definitiv nicht rein!“, rief Michi Torah aufgeregt.
„Micchan, bitte! Es ist nun mal Vorschrift, dass du das Krankenhaus entweder liegend oder in einem Rollstuhl verlässt. Du darfst sofort aufstehen, sobald wir vor der Tür sind. Aber das sind versicherungstechnische Gründe“, flehte Akari.
„Ich bin kein Krüppel! Ich meine, Versehrte aller Welten und Zeiten, verzeiht mir, aber ich gehöre nicht zu euch! Ich bin eben ein Dickschädel, und das weißt du auch!“
„Micchan, ich bitte dich. Je eher du dich hier rein setzt, desto eher sind wir Zuhause.“
„Eine dämliche kleine Kugel bringt mich nicht um“, murmelte er gereizt. „Und sie zerstückelt mich auch nicht für den Rest meines Lebens. Nein, mir geht es gut! Mir geht es wirklich gut. Und ich brauche dieses Mistding nicht!“
„Es sagt ja auch keiner, dass du es brauchst.“ Flehentlich sah sich Akari nach Hilfe um, doch anscheinend wollten sich weder Pfleger noch Ärzte ernsthaft in den Disput einmischen. Aber sie schienen durchaus bereit zu sein, Michi am verlassen des Raums zu hindern, wenn dies nicht Vorschriftmäßig geschah.
Ich beschloss, der Farce ein Ende zu bereiten. „Michi.“
„Sensei! Ich habe dich gar nicht kommen gehört!“, rief er überrascht.
„Weil ich schon länger hier bin. Bringst du gerade meine kleine Schwester zum weinen?“
„Was? Nein, ich... Ich will nur nicht in dem Knochencontainer fahren und...“
„Rein in den Rollstuhl! Sofort!“
„Ja-jawohl!“ Hastig platzierte der Junge seine vier Buchstaben im Rollstuhl. Dabei machte er allerdings einen recht unglücklichen Eindruck, der noch verstärkt wurde, als er das Gesicht seiner Freundin sah.
„So, so. Ich bitte dich, rede mit Engelszungen auf dich ein, und ein kurzer Blaff von Oniichan, und du sitzt? Soll ich daraus auf deine Prioritäten schließen?“
Michi machte sich ein wenig kleiner, als er Akari derart in Rage geraten sah. „Das siehst du falsch! Ich...“
„Ich bin sein Meister, Akari. Oder hast du das schon vergessen?“ Ich stieß mich von der Wand ab und ging auf die beiden zu. „Tut mir Leid, aber vor mir hat er mehr Angst als vor dir.“
Übergangslos wich die finstere Miene einem erschrockenen, niedlichen Gesicht. „Aber nein, ich will doch nicht, das Micchan Angst vor mir hat.“
„Dann ist ja gut“, erwiderte ich und tätschelte ihr den Kopf. „Es wäre auch ein wenig unfair gewesen, weil Michi nämlich Angst vor dem... Knochencontainer hat. Das Ding zeigt ihm zu deutlich, was beinahe mit ihm passiert wäre. Es ist kein Wunder, wenn er nicht freiwillig drin sitzen möchte.“
Akari warf ihrem Freund einen scheuen Blick zu. „Das ist es also?“
„Ich weiß, es ist kindisch. Aber die Leute sollen auch nicht sagen, dass du einen Krüppel zum Freund hast. Ich...“
Weiter sprechen konnte er nicht mehr, denn Akari verschloss seine Lippen mit einem langen Kuss.
Als ich meinte, der Kuss würde lange genug dauern, also ungefähr nach zwei Sekunden, legte ich noch einmal zwanzig obendrauf, bevor ich direkt neben den beiden kräftig in die Hände klatschte. „Das reicht, das reicht. Manche sind beim küssen schon zusammengewachsen. So, Michi lässt sich jetzt von seiner Traumfrau aus dem Krankenhaus schieben, und dann geht es ab heim.“
Ich schmunzelte, wenngleich ein stetiger, pochender Schmerz meine nächsten Gedanken begleitete. „Du wirst bis zu deiner vollständigen Genesung an Körper und Geist bei mir einziehen, Michi.“
„Was? Aber das heißt ja...“
„Ja, das heißt, dass du mit Akari unter einem Dach wohnen wirst, wenigstens für einige Zeit. Und nein, das heißt nicht, dass ich euch rund um die Uhr überwachen werde. Verzeiht, aber ich versuche gerade euch zu vertrauen und euch außerdem nicht im Wege zu stehen, wenn passiert, was sowieso passieren würde.“ Ich hüstelte verlegen, um den frisch entstandenen Kloß aus meinem Hals zu vertreiben. Derweil ruhten die extrem weit aufgerissenen Augen der beiden auf mir.
Dies war für mich der richtige Zeitpunkt zum kontern. „Wie das die anderen sehen, weiß ich natürlich nicht.“
Diese Worte holten sie aus ihrem Hoch schneller runter als ein Bleigewicht.
„Oniichan!“, tadelte Akari.
„Wusste ich es doch“, brummte Michi.
Ich lächelte. „Lasst uns gehen.“
„Ja, Oniichan!“ „Darf ich auch fahren, Sensei?“
„Bengel“, tadelte ich. Aber wenigstens lächelten beide wieder.
Und der Weg aus dem Krankenhaus hinaus wurde noch recht lustig.

Epilog:
Sie nannten dieses Gebiet die Kruste. Es war ein Bereich in der Nähe jener Region, die einst Gray Zone genannt worden war, ein ursprünglich rechtsfreier Raum, in dem der AURORA-Führung erhebliche Schwierigkeiten bereitet worden waren. Nachdem diese Zone nach „oben“ in den eigentlichen Innenraum gezogen war, hatte man hier automatische Fabriken und Zuchtanlagen für Klonfleisch aufgebaut, die dringend nötig für die Versorgung der vergrößerten Begleitflotte geworden waren. Auch die Daina von East End benötigten Versorgung, die gewährleistet werden musste.
Die Kruste war ein poröser Bereich im Gestein. Die Blasen, oft mehrere Meter groß, konnten es nicht mit der Gray Zone aufnehmen, bei weitem nicht. Aber manche Blasen waren miteinander verbunden und führten oft Kilometertief durch den Bodenbereich der AURORA, in Bereiche, die nie zuvor ein Mensch betreten hatte – weil es nicht nötig war.
Eine dieser Spalten überwachte gerade ein Team des Blue Lightning-Regiments mittels heimlich angebrachter Minikameras. Das Team war gegnerischen Agenten auf der Spur, die definitiv gegen die Führung der AURORA arbeiteten. Bisher war auch ein relativ reger Verkehr in den Spalt hinein und wieder heraus festgestellt worden, aber kein Gesicht hatte zu den Fahndungslisten gepasst. Ihre Verweildauer war auch zu kurz, um irgendein Verbrechen anzunehmen; diskrete Untersuchungen dieser Menschen hatte auch keine illegalen Substanzen zutage gefördert, geschweige denn eine Form von Anweisungen. Terar, der Teamleiter, brachte es auf den Punkt. „Sie bringen etwas rein.“
Er sah in die Runde, sah seine Unterführer nicken. „Wir fangen einen ab, der rein will. Dann sehen wir, was er bei sich hat.“
Anderson Lee nickte ernst. Er griff zum Feldtelefon des Überwachungsstützpunktes. „General Ino, bitte. Wir brauchen eine Personendurchsuchungserlaubnis.“
Niemand konnte ahnen, was mit diesem Anruf ausgelöst werden würde. Niemand.

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Anime Evolution: Krieg

Episode zwei: Vae Victor

Prolog:
Der Hawk wirbelte um die Längsachse, setzte die Düsen ein und brach dadurch zur linken Seite weg. Eine kluge Entscheidung, denn da wo er sich eine Sekunde später befunden hätte, kreuzten sich die Leuchtspurgarben der Zwillingsgeschütze zweier Mahlstrom-Panzer.
„Vorsicht, Junge!“, rief First Lieutenant McHaile über die KommLeitung und begleitete seine Worte mit einem amüsierten Lachen.
„Ich BIN vorsichtig!“, erwiderte der Pilot gereizt, warf seine Maschine erneut herum und versuchte die Mahlstrom-Panzer ins Visier zu nehmen. Aber trotz Automapping seiner Künstlichen Intelligenz musste er erst einmal suchen, wo sie sich befanden. Die Biester wechselten in dem unübersichtlichen Waldstück nach jedem Schuss die Stellung. Von seiner Antwort bis zur ersten Zielerfassung brauchte der amerikanische Sergeant genau drei Sekunden. Zeit genug für die Panzerbesatzungen, wieder auf ihn zu feuern. Aber er war nicht umsonst Hekatoncheire des Gyes-Regiment, das man hinter vorgehaltener Hand immer noch als Akiras Eigenes betitelte. Und er war nicht umsonst einer von Daisuke Hondas Red Team-Piloten gewesen. Zwar hatte er sich nie dafür interessiert, mehr als eine Hekatoncheiren-Hand zu kommandieren, was defacto eine Halbkompanie war, aber dennoch gehörte er zu den Besseren. Beweis dafür war sicherlich auch die Artemis-Lanze, die er als einziger in der Kompanie führen konnte.
Er wich aus, setzte neu an, musste sich wieder orientieren und hatte endlich eine Zielerfassung.
Mist, hätte er seine Lanze nehmen können, wäre er einfach unter die Panzer gefahren und hätte sie aufgeschlitzt. So aber... Er feuerte, verpasste dem Mahlstrom einen Volltreffer und nahm ihn damit aus dem Geschehen. Im Gegenzug wurde er aus weiter Entfernung am rechten Bein seines Hawks gestreift. „Clint, du solltest doch...“, begann er wütend, aber McHaile fuhr ihm dazwischen.
„Tut mir Leid, Rod, aber du bist der Letzte. Sie haben Clint runter geholt.“
„Heißt das, ich stehe alleine gegen zehn Panzer?“ Na Klasse. Wegen Orson McHailes dämlicher Wette steckte er jetzt in der Tinte.
„Die Dinge sind nun mal wie sie sind“, erwiderte der First Lieutenant. „Also steh die Sache durch wie ein Mann.“
Nach und nach vereinigten die überlebenden Mahlstrom-Panzer ihre Feuerkraft, um den einsam am Himmel kurvenden Hawk zu treffen. Dabei gingen sie gut strukturiert vor und trieben ihn nach und nach in Richtung Wand. Eine gefährliche Position, in der sie ihn problemlos davon wischen konnten, wie es ihm beliebte.
Noch tanzte er die Schüsse aus und kam sogar dazu, zurück zu feuern, aber wie es aussah, wurde die Panzertruppe, eine Elite-Einheit zu sein, vollkommen gerecht, denn im Moment stand es vier Hawks zu zwei Panzern. Ein blamables Ergebnis für seine Hand. Aber noch blamabler war natürlich die Tatsache, dass es überhaupt so weit gekommen war.
„Aktivitäten einstellen!“, gellte ein scharfer Ruf über seine Leitung. Roderik Benton erkannte die Stimme sofort und bremste scharf ab. Als Ergebnis trafen ihn die abgefeuerten Salven von acht Mahlstrompanzern. Aber auch die Panzerbesatzungen stellten nun das Feuer ein und fuhren aus ihren Deckungen heraus.
Die Stimme gehörte zu Yoshi Futabe, dem Kommandeur des Gyes-Regiments, und das konnte nichts gutes bedeuten. Auch nicht für die Panzerkompanie, obwohl Futabe eigentlich keine Befehlsgewalt über sie besaß. Aber er hatte eine ganz eigene Autorität, wie er sie schon bei vielen Veteranen des Marsfeldzugs erlebt hatte. Kleiner Akira, nannten ihn manche Spötter. Rod wusste, dass es sich nur um neidische Idioten handelte. Yoshi Futabe war wie viele andere aus Akiras Clique ungewöhnlich fähig. Und im Moment war er sauer. Sauer auf ihn.
Langsam driftete er zu Boden, ließ den Hawk federnd aufsetzen. Er schaltete auf Zoom und suchte die Umgebung ab. Da waren die anderen vier Hawks seiner Hand, die abgeschossen worden waren. Dort kamen die Panzer aus dem Dickicht hervor. Und der Elektrowagen, der sich beständig näherte, musste Yoshi Futabe als Transportmittel dienen. Mist, Rod konnte den Ärger riechen.
***
Streng musterte der hoch gewachsene Blondschopf die angetretenen Soldaten. Dann wandte er sich ab und marschierte vor ihnen auf und ab. „Also, wenn ich sie alle richtig verstanden habe, dann geht es hier um eine Wette?“ Yoshi blieb stehen und fixierte den Kommandeur des Arms, First Lieutenant McHaile.
„Eine Meinungsverschiedenheit, Sir“, korrigierte der Offizier.
Captain Sascha Andropowa meldete sich zu Wort. „Sir, wenn ich sprechen darf...“
„Nur zu, Lady, lüften Sie meine Verwirrung.“
„Es ist so. Der First Lieutenant hat die Offensivfähigkeiten der Panzereinheiten angezweifelt. Das konnten wir Tank-Fahrer natürlich nicht auf uns sitzen lassen. Wir wollten ein für allemal zu klären, wie kampffähig ein Tank wirklich ist.“
„Und? Sind sie kampffähig?“
Die Russin lächelte leicht. „Sir, ich habe zwei Panzer verloren, aber alle fünf Maschinen runter geholt.“
„Sie bekommen einen Tadel wegen bewusster Lüge gegenüber einem Vorgesetzten“, versetzte Yoshi. „Sergeant Benton wurde erst getroffen nachdem ich den Abbruch befohlen habe. Sie haben also nur vier runter geholt.“
Betreten sah die Frau zu Boden. „Natürlich, Sir. Sie haben Recht.“
Yoshi sah weiter zu McHaile. „Und was Sie angeht, was halten Sie vom Ergebnis?“
„Nun, es ist beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass die Panzer doch so effektiv sind. Natürlich wäre das Ergebnis anders ausgefallen, wenn ich mit meiner Hand gekämpft hätte.“
„Sie erhalten ebenfalls einen Tadel. Anstatt selbst zu kämpfen haben Sie Ihren Zugführer vor geschickt, um genau für solch einen Fall große Reden schwingen zu können. Es gibt nichts was ich mehr hasse als Menschen, die sich ihre Realitäten zurecht biegen, wie sie sie brauchen.“
McHaile erbleichte. Erwischt, getroffen und versenkt, nannte man das wohl. „Ich bedaure das, Sir.“
„Das will ich auch hoffen. Wenn nämlich Amanda hiervon erfährt, haben Sie nichts zu lachen. Ganz davon abgesehen, dass Akira Otomo hiervon erfahren wird!“
Unter dem wütenden Blick des Obersten wurden alle nach und nach klein.
„Gyes, Third Head, Second Arm, Second Hand“, sprach Yoshi die offizielle Bezeichnung für den zweiten Zug der zweiten Kompanie des dritten Gyes-Bataillons aus, „ihr werdet bestraft. Zwei Wochen Strafdienst sowie Ausgangssperre für die nächsten drei Wochenenden. Die Strafe setzt sich zusammen aus zwei Tagen Strafdienst für dieses nicht angemeldete Manöver, zwei weiteren Tagen für die angerichteten Manöverschäden, die während des Strafdienst beseitigt werden sowie einer Woche dafür, dass sie verloren haben, Ladies und Gentlemen. Sie können wegtreten. Benton bleibt noch.“
Die vier Piloten salutierten und traten ab.
„Was Sie angeht, Captain Andropowa, wird ein offizieller Bericht meinerseits auf dem Schreibtisch Ihres Regimentskommandeurs landen. Und ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht unter einer Woche Strafdienst davon kommen, falls der alte Fred meint, Ihre Kompanie hätte keine Strafe nötig, weil es ja gewonnen hat.“ Ein verräterisches Grinsen umspielte seine Lippen, und für eine Sekunde musste der weibliche Captain auch mit einem Lächeln kämpfen. „Verstehe, Sir. Wir haben es verdient, Sir.“
„Oh ja, das haben sie. Sie können wegtreten.“
Die Russin salutierte, gab einen scharfen Befehl, und nach einem allgemeinen Salut in Richtung Yoshi traten die Panzerbesatzungen ab.
„Bleiben nur noch Sie, Orson. Eine Wette annehmen, Kameraden diskreditieren und dann nicht mal selbst kämpfen. Das könnte man durchaus als mutwillige Beschädigung von Militäreigentum auslegen. Und darauf stehen drakonische Strafen.“
Der First Lieutenant straffte sich. „Sir!“
„Ich nehme Ihnen das Manöver nicht besonders übel. Auch nicht die Niederlage, denn ich weiß, dass Saschas Truppe die Beste an Bord ist. Aber ich werde ab sofort ein genaues Auge auf Sie haben. Wenn ich meine mich geirrt zu haben, als ich Ihnen eine Kompanie Hawks gegeben habe, werde ich das wieder korrigieren. Sie stehen das nächste halbe Jahr unter meiner direkten Beobachtung. Treten Sie weg, McHaile.“
Der sichtlich erbleichte Offizier salutierte und trat ab. Über seinem Haupt schwebte nun das beständige Damokles-Schwert der Degradierung, ja sogar der Versetzung. Die Hekatoncheiren waren die absolute Elite, und von ihnen ohne Reue fortzugehen war beinahe unmöglich. Eine Entlassung bedeutete automatisch die Feststellung der Unfähigkeit und damit das Ende der Karriere. Man verließ die Truppe entweder verwundet, tot oder mit einer Versetzung samt Beförderung. Alle anderen Varianten waren für die absolute Elite unstatthaft.
„Sir, wenn ich sprechen darf, Orson ist ein guter Mann. Er...“
„Er hätte selbst kämpfen sollen. So aber kann ich nicht anders, als ihn unter Aufsicht zu stellen. Denken Sie, ein Akira Otomo hätte sich vor dem ersten Marsangriff gedrückt? Oder vor dem zweiten? Vor dem Kampf gegen das Ehre oder Tod-Regiment? Vor irgendeiner Herausforderung?“
„Man kann kaum einen Piloten ausgerechnet mit Akira Otomo vergleichen“, protestierte Rod.
„Aber man muss jeden an ihm messen“, erwiderte Yoshi ärgerlich. „Meine Entscheidung steht fest. Und was Sie angeht, Rod Benton, wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, dass Sie in einem illegalen Manöver partizipieren, dann reiße ich Ihnen persönlich die Streifen runter und das Gyes-Abzeichen ab! Dies ist keine Bagatelle, sondern ein ernstes Anliegen! Wäre jemand bei dieser Aktion gestorben, ja nur verletzt worden, dann hätte ich nicht mehr in meinen Spiegel sehen können! Wegen so einer... Einer Idiotie das eigene Leben zu riskieren ist krank! Haben wir uns verstanden, Rod?“
Der Hawk-Pilot straffte sich. „Vollkommen, Sir. Es wird nicht wieder vorkommen, Sir.“
„Gut, dann treten Sie weg.“
Der Sergeant salutierte und trat ab.
„Sergeant!“ Benton stoppte. „Sir?“
„Sie sind ab sofort First Sergeant.“
Irritiert sah er Yoshi Futabe an. „Sir?“
„Gut geflogen, da oben. Verdammt gut geflogen. Ihre Leute haben dank Ihnen länger durchgehalten als ich gedacht habe“, erwiderte Yoshi grinsend und gab damit zu, das ganze Manöver mitverfolgt zu haben. „Weitermachen, Soldat.“
Futabe stieg wieder in seinen Wagen und fuhr davon. Zurück blieb ein irritierter, frisch beförderter First Sergeant, der sich nun auf seinen Strafdienst und eine dickere Lohntüte freuen konnte.

1.
Im Innenraum der AURORA gab es viele schöne Ecken. Das kleine Wäldchen zu Beispiel, das sich an der Südwand erhob. Das Serenity-Meer mit seinen wundervollen Stränden an der Westwand. Oder das legendäre Feld an der Ostwand, auf dem so oft schon Geschichte geschrieben worden war, mit Joan Reilleys Konzerten und der genialen Evakuierung von eins Komma drei Millionen Anelph.
Eine stark unterschätzte schöne Ecke war die Nordwand, an die sich die Stadt Fushida schmiegte. Zwar konnten hier über einhunderttausend Menschen miteinander leben, aber es gab nur einige wenige Wolkenkratzer, die sich in den künstlichen Himmel erhoben. Die meisten von ihnen existierten an der Nordwand. Das höchste Gebäude aber war teilweise in die Wand verbaut worden. Es überragte alle anderen künstlichen Bauten im Innenraum, sogar die Poseidon-Flottenzentrale inmitten des Serenity-Meers. Nahezu fünfhundert Meter Höhe machten die Aussichtsplattform und das Restaurant auf der Spitze zu einem absoluten Ausblick für den gesamten Innenraum. Hier wurde die junge Geschichte des Fernraumschiffs lebendig. Man konnte jeden einzelnen Fleck sehen, an dem sich moderne Historie abgespielt hatte. Bei Nacht war dies eine wundervolle Ecke, und hochmoderne Prallschirme verhinderten, das der manchmal bitterkalte Nachtwind das Vergnügen, hier oben stehen zu dürfen, trübte.
Ich seufzte beim Anblick des künstlichen Sternenhimmels über mir. Es hatte den halben Tag warme, dicke Tropfen geregnet, und eine Zeitlang hatte ich gedacht, dieser Abend würde ins Wasser fallen oder unter einen großen Pavillon verschwinden müssen. Aber letztendlich war doch alles gut gegangen. Die Sterne über mir waren animiert. Während die AURORA auf ihr nächstes Ziel zuflog, war der Sternenhimmel so manipuliert worden, das es aussah, als würden die fernen und nahen Fixsterne über sie hinweg wandern. Der Nachthimmel war ein so genanntes Event. Normalerweise zeigte der Sternenhimmel genau jenes Bild, das man sehen konnte, wenn man auf der oberen Hülle der AURORA stand. Sie hatten hier schon prächtige Bilder gesehen von Gasriesen, ultradichten Sternhaufen und faszinierenden Nebeln. Im Sprung gab es natürlich keinen Himmel, in solchen Zeiten wurde der Sternenhimmel projiziert, wie man ihn von der Nordhalbkugel der Erde aus sah. Oder von der Südhalbkugel, das kam auf den Wochentag an.
Diesmal aber war ein Event vorgeschlagen worden, nämlich diese driftenden Sterne. Events wurden nur dann durchgeführt wenn mindestens achtzig Prozent der Bewohner dafür stimmten. Erweckte das Event nicht genügend Interesse, wurde automatisch die normale Einstellung beibehalten. Dieser Mechanismus sollte verhindern, dass einige wenige die breite Mehrheit mit eigenen Vorlieben malträtierten. Oder das eine schwache Mehrheit eine starke Minderheit kompromittierte.
Ich fand den Effekt gelungen. Vor allem weil einige der Sterne beinahe Daumennagelgroß abgebildet wurden, ohne die entsprechende Leuchtkraft zu imitieren. Eine gelungene, romantische Nacht, genauso wie ich es mir erhofft hatte.

Ein Glas wurde mir vor die Nase gehalten, und dankbar ergriff ich den Champagnerkelch.
Megumi Uno gesellte sich zu mir, ebenfalls ein Champagnerglas in der Hand und nippte vorsichtig an dem teuren Schaumwein. „Das war ein tolles Essen bisher“, sagte sie lächelnd. „Du hast alles aufgefahren was ich gerne mag, sogar die Speisen, die ich erst auf Nag Prime zu schätzen gelernt habe.“
Ich erwiderte das Lächeln. „Sostre hat gepetzt. Er hat mir all die leckeren Sachen verraten, die du in dich rein gestopft hast, als du im Daness-Tower warst.“
„Sostre? Ich werde mich bei ihm bedanken müssen.“ Sie nahm einen weiteren Schluck Champagner. „Das beste Essen von drei Welten. Vier, wenn man das Brot hinzurechnet. Das Getreide stammt von einer Core-Welt, nicht?“
Ich nickte zustimmend. „Es war mir wichtig, dass dieser Abend etwas besonderes wird.“
„Dummerchen“, tadelte sie mich. „Jeder Abend mit dir ist etwas besonderes. Aber ich weiß deine Mühen zu schätzen, Aki-chan.“
Ich lächelte für sie und widmete mich dann wieder dem Sternenhimmel.
„Wie hast du nur Tag und Nacht dazu gekriegt, die Kellner zu spielen? Ein denkwürdiges Ereignis, Akari in dieser strengen schwarzen Uniform zu sehen. Hätte Hina das mit gekriegt, wäre die nächste Cosplay-Party fällig gewesen. Mako-chan hätte dann nichts zu lachen gehabt.“ Sie legte kurz den Kopf schräg und lachte. „Na ja, diesmal wären es ja Männersachen gewesen. Und Michi sah auch gut aus in seinem weißen Smoking. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass seine weißen Handschuhe noch immer makellos sind? Als würde er mit seinem KI verhindern, das auch nur ein Staubkorn auf sie fällt.“
„Tja, nach der Sache mit dem KI-Attentäter hatte ich noch einen gut bei den beiden. Ehrlich gesagt waren sie nur zu gerne bereit hier zu kellnern, als sie hörten das es für uns beide sein soll.“
Ich sah kurz zurück zu dem einsamen Ausgang zu unserem Separée des prominenten Arabischen Gartens, dem Restaurant mit der schönsten Aussicht der Stadt. Die Reservierung zu erhalten war absolut kein Problem gewesen. Durchzusetzen wer uns bediente hingegen war ein härterer Kampf gewesen, weil sich der Eigentümer bei der Ehre gepackt gesehen hatte. Aber mit dem Anlass hatte ich ihn – oder vielmehr sie – wieder beschwichtigt und die pure Seelennot der Kellner und Ober trösten können.
„Wer hätte gedacht, das dieser schreckliche Tag auch sein gutes haben würde“, murmelte Megumi nachdenklich. Dann sah sie mich ernst an. „Eines hat mir heute aber überhaupt nicht gefallen. Und das bist du, Akira. Du bist irgendwie so unruhig. Ich würde sogar fast sagen, übernervös. Liegt es am KI-Attentäter? Ich weiß, dass du ihn getötet hast, und das musstest du schon eine lange Zeit nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass dich das mitgenommen hat.“ Mitfühlend sah sie mich an.
Ich lächelte dünn und spielte mit dem Stiel meines Glases. „Das ist es nur zum Teil. Es gibt eine andere Sache, die mir viel mehr Sorgen bereitet.“
„Du weißt, dass du jederzeit und überall mit allem was dich belastet zu mir kommen kannst. Immerhin bin ich nicht nur die Kommandeurin deiner Division, ich bin auch deine Verlobte. Egal was mit dir da draußen noch passiert, Reyan Oren oder Maxus, selbst wenn dich jemand zum Kaiser des Universums ausruft, ich bin an deiner Seite.“
Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf meine Züge. „Du wärst dann Kaiserin, das ist dir doch klar, oder?“
„Jetzt wo du es sagst...“, erwiderte sie gedehnt und gespielt unschuldig. Ihre Linke strich über meine Wange. „Akira. Du weißt wie sehr ich dich liebe und...“
„Und ich habe dir so oft und so schrecklich weh getan. Du hast es mir vergeben, wieder und wieder und wieder und...“
Sie verschloss meine Lippen mit einem langen Kuss. „Wir sind zusammen. Das ist alles was zählt.“
„Nein, das ist es eben nicht. Es tut mir Leid, aber ich muss mich bei dir entschuldigen.“
Ich atmete tief durch, sah noch einmal zu den Sternen und dann wieder auf meine Freundin. Sie hatte ihr Haar in letzter Zeit wachsen lassen, dunkelblonde Strähnen rahmten es bis auf die Schultern ein. Für den heutigen Tag hatte sie sich eine Dauerwelle machen lassen, und ich fand sie wirklich hübsch, egal wie sie ihre Haare trug. Ich hätte sie auch mit Glatze geliebt. Aber ich wusste ihre Anstrengungen zu schätzen, wenngleich Outfit und Frisur sicherlich auf Sakura zurückgingen. In dem Punkt war ich mir sicher. Ich liebte sie sehr und hatte ihr oft weh getan. Wenn ich nicht an diesem Tag all das aus der Welt schaffte, dann vielleicht nie.
„Es tut mir Leid, das ich die ganze Zeit so blind war und nicht gesehen habe, das du die Frau für mein Leben bist“, sagte ich ein wenig stockend und spielte damit auf die Zeit vor dem zweiten Marsangriff an.
„Es... Es ist in Ordnung. Immerhin hatte ich eine Menge Konkurrenz. Da waren schon ein paar mächtige Gegner dabei. Eine Zeit lang war ich mir recht sicher, dass Hina oder Joan mich überholen würden. Ich hatte sogar Akari auf meiner Liste.“ Megumi lächelte ein wenig unsicher.
„Sakura nicht?“, fragte ich verwundert.
„Wieso deine Cousine?“
„Wir sind nicht Blutsverwandt. Sowohl nach terranischem Recht als auch nach Naguad-Recht hätten wir heiraten und gemeinsam Kinder zeugen können.“
Entsetzt wich Megumi einen halben Schritt zurück. „Und das erzählst du mir erst jetzt? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich damals Joan und Hina von vorne herein abgeraten, denn wer hätte sich denn mit dieser wunderschönen, gut proportionierten, intelligenten und lebensfreudigen Blondine messen können? Sie ist so superhübsch, das...“
„Du konntest dich mit ihr messen“, merkte ich an. „Aber dann wiederum sieht Makoto im Kleid um einiges besser aus als du.“
„Lenke nicht ab“, murrte sie. „Wir sind immer noch bei Sakura, der schönsten Frau des Planeten. Der schönsten Frau von drei, vier, ach von allen Welten, auf denen ich bisher war!“
„Protest. Der zweitschönsten.“ Ich beugte mich zu ihr herüber. „Die Schönste steht gerade neben mir.“
„Ach“, meinte sie und machte eine abfällige Handbewegung. „Das ist deine Meinung.“
„Und die zählt, oder?“
„Zugegeben“, erwiderte sie mürrisch, ließ es aber zu, dass ich sie küsste.
„Es tut mir Leid, dass ich dich nach dem Säureanschlag auf mich in Stich gelassen habe. Ich war eine so lange Zeit nur auf mich fixiert, es war grauenvoll. Und bevor ich mich versah war ich schon zu lange fort, um einfach wieder zu dir zurück zu kehren. Ich musste erst...“
„Du musstest erst der großartigste Hawk-Pilot aller Zeiten werden. Ich habe heute noch Anfragen nach John Takei auf meinem Schreibtisch, nach dem Piloten, der sogar Akira Otomo überflügelt.“ Ihre Miene bekam einen ironischen Zug. „Außerdem war mir klar, dass du dich nur mit einem Knall zurück melden würdest.“
Kurz reflektierte ich meine Erlebnisse in Argentinien und den ganzen Ärger, den ich damals hatte, weil die Marodeure – die heutzutage in der UEMF-Flotte dienten – unbedingt hinter das Geheimnis der Booster hatten kommen wollen. Die Geschichte war so vertrackt gewesen, dass ich letztendlich in einem Daishi Beta gegen meine Megumi in einem Gamma hatte antreten müssen. Wir hatten dort Gina getroffen und Mamoru wäre fast getötet worden. Eine unruhige Zeit, an deren Ende meine Heimkehr gestanden hatte. „Und mit was für einem. Du hast auf dem Boot dieses wundervolle weiße Kleid getragen. Das war das erste Mal, das ich dich in einem so weiblichen Kleidungsstück gesehen habe, abgesehen von der Schuluniform.“
„Ich hatte einfach keine Ahnung, wie gut es mir steht.“ Kurz sah sie an sich herab, auf das hauteng sitzende schwarze Abendkleid, welches sie heute trug. Es stand ihr hervorragend, einfach hervorragend. Wenngleich ich nicht gewusst hatte, dass ihr Busen solch ein Dekolleté ergeben konnte.
„Atemberaubend gut.“
„Du siehst im Anzug auch nicht schlecht aus“, erwiderte sie. „Sind das Schulterpolster, oder hast du so ein breites Kreuz?“
„Was denn? Du hast es letzte Nacht in deinen Händen gehalten und kannst das nicht abschätzen?“
„Verdammt, Kleider machen wirklich Leute. Du siehst sexy und männlich aus, Akira.“
„Ach.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du bist verliebt in mich. Natürlich sehe ich dann für dich gut aus.“
„Ja und nein, Akira Otomo.“ Sanft legte sie ihre Hände um meinen Nacken. „Ja und nein.“
Langsam löste ich ihre Arme wieder. „Ich bin noch nicht fertig. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, das ich von Nag Prime entführt wurde. Oder das ich versucht habe Joans Leben zu retten, indem ich mit Torum Acati mitgegangen war. Oder für meinen Alleingang gegen eine ganze Division Banges und... Okay, dafür sollte ich mich vielleicht doch entschuldigen.“
„Nicht bei mir. Aber bei deiner Hausdivision schon.“
„Ich glaube, in dem Punkt könntest du Recht haben. Aria dient bei ihnen. Ich weiß nicht ob das reicht, um die allgemeine Stimmung zu heben.“
„Ich vermisse Aria. Ob dies alles irgendwann mal vorbei ist und die ganze Familie zusammen kommen kann?“ In ihre Augen trat ein feuchter Schimmer. Die Familie, das war ein weiter Begriff. Und bisher war sie immer nur gewachsen, niemals geschrumpft. Der neueste Spross, Laysan, würde jetzt wahrscheinlich gerade wieder mit Spike baden, Yoshis KI-Biest. Wie eigentlich jeden Abend. Und wie jeden Abend würde sein Fell fürchterlich stinken, aber das Tier hatte relativ schnell begriffen, das es mir in diesem Zustand nicht unter die Augen zu treten brauchte. Wie groß würde unsere Familie denn noch werden? Ich wusste es nicht, freute mich aber auf die Antworten.
„Eines Tages“, murmelte ich und strich ihr sanft über die Wangen. „Eines Tages.“
Etwas ernster sah ich sie an. „Es gibt aber etwas, für das ich mich in jedem Fall entschuldigen muss. Als wir im Daness-Turm eingesperrt waren und ich nach einer Möglichkeit gesucht habe uns alle zu retten, da... Da habe ich dir eine Verlobung aufgezwungen, ohne dich zu fragen.“
„Du weißt, das meine Antwort ja gelautet hätte“, tadelte sie mich. „Außerdem hast du mir später die Wahl gelassen. Was war ich böse mit dir, als du mir ins Gesicht gesagt hast, das ich von der Verlobung zurücktreten kann, wenn ich will. Ich habe da lange drüber nachgedacht und bin zu einem Entschluss gelangt.“ Ihre Augen funkelten. „Du kannst mir nicht mehr entkommen. Egal was du tust oder sagst, Akira. Wie würde Joan sagen? Du bist meine Beute, und was Megumi Uno einmal zwischen ihren Zähnen hat, gibt sie nicht mehr her. Nur für den Fall, dass du heute Abend irgendeine merkwürdige Sache vor hast, Akira.“ Ihr Blick wurde lauernd und feurig.
Sie kannte mich gut, das war nicht abzustreiten. Aber noch war sie etwas zu naiv, um mit mir mithalten zu können.
„Nun, wenn du meinst, ich würde etwas merkwürdiges machen...“
Ich sank vor ihr auf ein Knie. „Ich habe nie wirklich formell um deine Hand angehalten. Und wenn sogar Yoshi und Kenji das schaffen, kann ich doch nicht nachstehen.“
Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und zog eine schmale Schachtel hervor. Ich öffnete sie und hielt sie Megumi entgegen. „Und ich habe deinen Verlobungseid noch nicht gehört. Darum frage ich dich jetzt und hier, Megumi Solia Kalis Uno, willst du mit dem größten Unglücksmagneten des Universums fortan dein Leben teilen? Willst du mich heiraten?“
Sie sah mich aus großen Augen an. Und ich meine wirklich große Augen. Ich sah, wie es in ihrem Blick arbeitete. Beinahe konnte ich ihre Argumente hören, von „nicht nötig so was“ bis „warum nicht früher“.
Dann aber verwandelte sich ihr Blick in pures Strahlen. „Ja, Akira. Ja.“
Erleichtert erhob ich mich wieder und nahm den Ring aus dem Etui. Das Schmuckstück aus Platin und Weißgold trug drei Steine. Einen kleinen Brillanten, einen kleinen Rubin, der die Daness darstellte und einen blauen Topas für die Arogads. Ansonsten bestach der Ring durch seine schlichte Schönheit, genau wie mein Mädchen. Vorsichtig steckte ich ihr den Ring an.
„Akira, die andere Hand“, tadelte sie mich. „Sonst musst du mich sofort heiraten.“
„Oh, entschuldige.“ Eine Hochzeit auf der AURORA hätte sicherlich mindestens zwei Planeten gegen uns aufgebracht. Das konnte ich nicht auch noch gebrauchen.
Nachdem der Ring endlich an der rechten Hand prangte, schloss ich sie in die Arme und küsste sie sanft.

Über dem Serenity-Meer stieg ein Feuerwerk auf, welches von der glatten See gespiegelt wurde. Auch in den Straßen der Stadt stiegen hier und da Feuerwerksraketen in den Himmel und explodierten als feuriger Blumen. Eine Kompanie Hawks zog auf flammenden Düsen an unserem Aussichtspunkt vorbei und salutierte für uns. Einer der Sauerstoffdistributoren, die nebenbei auf riesigen Schautafeln Werbung präsentierten, stieg aus einer Straßenschlucht auf und präsentierte eine Botschaft für uns: „Die Familie und die Freunde gratulieren Megumi Uno und Akira Otomo zur richtigen Verlobung“.
„Die Hawks und das Feuerwerk über dem Meer habe ich bestellt, aber das war ich nicht“, gestand ich leise. Ich entließ Megumi aus meinen Armen, während der Zeppelin näher schwebte.
Der Schriftzug wechselte: „Tipp: Schaut hinter euch.“
Wir fuhren herum, und tatsächlich, durch den Ausgang strömte eine wahre Menschenmasse zu uns auf den Balkon, bestehend aus eben der Familie und den Freunden, die uns gerade erst mit dem Schriftzug auf dem Distributor gratuliert hatten. Wenigstens wusste ich, wer diese wüste Party im offiziellen Teil des Restaurants gefeiert hatte, die man sogar im Séparée hatte hören können. Natürlich hatten Akari und Michi sie rein gelassen, diese kleinen Verräter.
„Und ich dachte, ich hätte alles so geheim wie möglich gehalten.“
„Hast du auch. Die da stehen auf meiner Liste“, sagte Megumi lächelnd. „Oder glaubst du wirklich ich kenne dich nicht gut genug, um zu wissen, was du vorhattest?“
Unglaublich. Wieder einmal wurde ich daran erinnert, warum ich sie so sehr liebte. Dann waren auch schon die ersten Gratulanten heran, vorneweg Yohko und Yoshi. Das würde eine lange Nacht werden. Aber ich freute mich darauf.

2.
Es war schon etwas merkwürdig, in diesen Tagen dieses Haus zu betreten. Entweder brodelte es vor Leben, oder es war menschenleer. Und Joan Reilley, ehemals selbst ernannte Akira-Jägerin Nummer eins, war sehr oft hier. Ein wenig nostalgisch dachte sie an die Zeiten zurück, als sie ihre Großwildjagd auf den Otomo-Spross durchgeführt hatte – und an seine Dickköpfigkeit geraten war. Der schnelle Weg hatte nicht funktioniert, nur seinen Trotz geweckt. Wo doch wirklich jeder ledige junge Mann bei einem Traummädchen wie ihr, intelligent, wunderschön und mit perfekten Maßen, dankbar dafür sein musste, ja musste, wenn sie sich für ihn interessierte. Danach hatte sie es auf die langsame Art probiert, die „steter Tropfen höhlt den Stein“-Methode. Leider funktionierte die in beide Richtungen, und bevor sie es sich versah, hatte sie sich in einen jungen Mann verliebt, der drei Zentimeter kleiner als sie war – und im Minirock auch noch besser aussah.
Nun, sie war trotzdem zu ihrer Erfahrung mit Akira gekommen, als Torum Acati sie und Akira nach Nag Prime entführt hatte. Akira und sie hatten nur einander gehabt, und sie hatte ihn furchtbar gebraucht. Je mehr von ihrem Ich zurück gekehrt war, umso dringender. Akira hatte sich auf sie eingelassen, und Joan war dankbar dafür gewesen. Das war ein Zeitpunkt gewesen, an dem sie nicht erwartet hatte, noch länger als ein paar Wochen zu leben. Damals hatten weder sie noch Akira gewusst, dass der junge Mann Direkterbe einer der wichtigsten Aufgaben im ganzen Imperium war. Auch wenn dieses Erbe noch zwei Generationen von ihm entfernt war, oder um es in Naguad-Zahlen auszudrücken, lockere tausend Jahre. Sie hatten leben dürfen, und das Leben war zu ihnen zurück gekehrt. Sprich, ein Rettungsteam mit Megumi Uno und Eridia Arogad war eingetroffen, und Joan hatte erkannt, wie tief die Liebe Akiras für Megumi war. Im Gegenzug aber hatte sie erlebt, dass ihre Liebe für Makoto mittlerweile ebenso tief geworden war.
Aber wenn sie ehrlich war, wenn sie ganz, ganz ehrlich war, dann stand Akira bei ihr auf der Notfallliste – für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr Makoto genommen wurde, auf welche Art auch immer. Im Gegenzug, da war sie sich sicher, hatte sie den gleichen Platz auf Akiras Liste. Und das stimmte sie sehr zufrieden.
Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. Ihre Arbeit mit der Band und ihr Job als Stellvertretende Chefin der Infanterie der AURORA hatten sie immer beschäftigt gehalten. So beschäftigt, dass sie eine eigene Wohnung mit Proberaum hatte, nicht weit entfernt, aber eben eine eigene Wohnung. Dennoch war sie die meiste Zeit hier gewesen, und langsam fragte sie sich, ob es wirklich nur praktisch für sie war, oder ob sie gedacht hatte, auf diese Weise würde sie Megumi und Akira nicht zu sehr im Wege herum stehen. Dass dieses Gefühl mehr und mehr geschwunden war nahm sie nun als Hinweis, um ernsthaft daran zu denken hier einzuziehen. Wenn sogar Michi eines der freien Zimmer im Obergeschoss beziehen durfte – und man wusste ja, dass junge Leute in seinem Alter Instinktgesteuerte kleine Tiere waren, genau wie sie in dem Alter – dann musste sie sich wirklich überlegen, ebenfalls einzuziehen, solange noch ein Raum frei war. Wenn nämlich erst einmal Aria wieder einzog oder Kei Ami Shirai dazu bewegen konnte zu ihm zu ziehen, dann war es bald Sense mit den Räumen. Außerdem wuchs die Familie wesentlich öfter an, als zu schrumpfen. Laysan war das beste Beispiel dafür. Der Naguad-Junge hatte Akiras KI befördert und fast ein Jahr war er für den Geist des besten Kriegers der UEMF ein Container gewesen. Nun gehörte er zur Familie und wurde behandelt wie ein kleiner Bruder, beinahe schon wie ein Sohn.
Der Gedanke trieb ihr ein paar Sorgenfalten auf die Stirn. Denn das erinnerte sie daran, das sie eigentlich selbst einmal Kinder haben wollte. Ursprünglich hatten sie von Akira sein sollen, aber Makotos Kinder würden hoffentlich nicht ganz so groß sein und eine komplikationslosere Schwangerschaft bedeuten. Aber konnte sie überhaupt Kinder kriegen? Und mit den ganzen Biotechnischen Verbesserungen in ihrem Körper, was würde sie den Kindern antun? Von den Naguad hatten sie eine Technik übernommen, aber noch nicht angewendet, mit deren Hilfe Kinder in einer künstlichen Gebärmutter heran gezogen werden konnten, was den Stress und die Belastung der Schwangerschaft ad absurdum führte. Aber irgendwie erschien ihr das wie ein ferner Traum und zu sehr geplant. Blieb immer noch die Frage, ob sie überhaupt fruchtbar war. Die Bastarde, welche ihren Körper aufgepeppt hatten, konnten immerhin auf die Idee gekommen sein, ihre Eierstöcke zu manipulieren, damit sie sich eben nicht auf natürlichem Weg fortpflanzen konnte. Wobei aufgepeppt schon eine sehr freundliche Formulierung für all den Schmerz und all die Qualen war, die sie im Zuge der Experimente hatte durchleben müssen. Und es stimmte sie mehr als zufrieden, dass sie die meisten dieser Bastarde, Männer wie Frauen, bei ihren vielen Aktionen gegen Geheimdienstzentren der Kronosier auf der Erde angetroffen hatte. Mit solchen menschlichen Bestien hatte sie keine Gnade gekannt. Freilich hatten weder sie noch die anderen in der Band je über Details gesprochen, aber sie war sich sicher, die UEMF wusste zumindest grob darüber Bescheid, was, wann und wo sie eingegriffen hatten. Immerhin hatte man nur einen Plan ihrer aktuellen Tournee über eine Karte legen müssen, auf der vernichtete Kronosiernester verzeichnet waren und die Daten abgleichen müssen. Die Ergebnisse waren stets unübersehbar gewesen.
Den Rest der Truppe hatte man den Prozess gemacht und zu langen Haftstrafen verurteilt. Dabei war es Joan als Kronzeugin nicht um Rache gegangen, sondern darum, dass diese so genannten Wissenschaftler diese schrecklichen Experimente jemals wiederholten. Zu viele waren gestorben oder fürs Leben gezeichnet, weil diese Männer und Frauen keine Grenzen und kein Gewissen gekannt hatten.
Rache war es nicht gewesen. Das war es früher einmal, bevor dieser Super-Moralapostel Akira viel zu nahe an ihrer Haut gewesen war. Zumindest redete sie sich das gerne ein. Denn sie wusste, es war die Grundvoraussetzung dafür, dass sie Teil der Familie blieb, wenn sie sich nicht von Rache leiten ließ. Akira hatte nie Rache genommen, obwohl er oft genug dafür Gelegenheit gehabt hatte, und obwohl er tausend Gründe dafür gehabt hatte.
Vielleicht war das auch ein Grund dafür, das sie sich irgendwann in Makoto verliebt hatte. Er war kein verdammter Supermann, sondern nur ein etwas feminin wirkender Wunderknabe.
Obwohl diese Supermann-Masche Akira wirklich attraktiv machte, irgendwie. Damals, nach der Flucht aus den kronosianischen Labors, hatte sich ihre Persönlichkeit erst wieder finden müssen, und sie war geprägt von dem Wunsch bei Akira zu sein. Als sie mehr und mehr gereift war, hätte sie diesen Wunsch mit Leichtigkeit verbannen können. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte es nicht gekonnt. Sie hatte bereits zu viel über ihn gewusst. Super in der Schule, gut aussehend, außerdem der geheimnisvolle elitäre Blue Lightning, dann noch seine trockene, manchmal etwas zu kühle Art, der Mann ging ihr einfach unter die Haut. So war es eigentlich immer noch, aber es war nicht mehr so stark, seit sie sich aneinander satt gemacht hatten. Und Makoto war nicht ihre zweite Wahl, sondern derjenige für den sie Akira hatte stehen lassen.
Joan musste lächeln. Ihr süßer Makoto. Sie hatte wirklich Lust, ihn mal wieder in das eine oder andere Outfit zu stecken, die sie für ihre Videos getragen hatte. Vielleicht diese neckische Schuluniform für das Joint Venture mit Garkan Front? Oder doch lieber der fast durchsichtige Badeanzug aus dem „Angels all Hail“-Video?

Hinter ihr erklang ein lauter Summton. Erschrocken fuhr sie zusammen, bis sie realisierte, dass es die Gegensprechanlage war. Sie drückte den Sprechknopf. „Reilley.“
„Miss Reilley, hier ist Posten drei. Wir waren nur etwas besorgt, weil sich die Tür seit zehn Minuten nicht geschlossen hat und Sie reglos in der Tür stehen. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte eine leicht zittrige Frauenstimme.
Joan lächelte dünn. Das Haus wurde natürlich von außen überwacht. So war es immer, auch schon auf der Erde. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass die UEMF hier drin keine Kameras hatte. Wenn doch, dann ruhten in irgend einem Archiv mittlerweile ein paar Datenträger, die so heiß waren, dass man sie sich nicht einmal ansehen musste, um sich dran zu verbrennen. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur ein wenig in Erinnerungen geschwelgt“, erwiderte sie.
„In Ordnung. Werden Sie noch länger schwelgen, Miss Reilley?“
Joan lachte auf. „Nein. Tagträumen kann ich auch drin. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“
„Das ist unser Job. Einen schönen Tag noch, Miss Reilley.“
„Einen schönen Dienst noch“, erwiderte sie und ließ die Sprechtaste wieder los. Dann schloss sie die Tür hinter sich und zog ihre Schuhe aus.
Das Haus war modern mit japanischen Elementen eingerichtet. Das bedeutete, das Straßenschuhe im Eingang bleiben mussten. Joan lächelte, als sie aus den bereit stehenden Hausschuhen ihr persönliches Paar hervor zog. Sprach wirklich noch etwas dagegen, wenn sie hier ein Zimmer bezog? Ihre Wohnung konnte sie ja dennoch behalten. Sonst fehlte ihr eine Menge Stauraum und... Hm, Laysans Schuhe standen hier unten und seine Latschen fehlten. Das bedeutet dann wohl, dass... Dass der Junge allein zu Hause war? Er war doch erst sieben! Konnten die anderen so leichtsinnig sein? Hastig eilte sie auf den Flur und von dort zum Wohnzimmer. Sie riss die Tür auf – und starrte in das entsetzte Gesicht des jungen Naguads. Und in das Gesicht von Spike, dem KI-Hund, den Yoshi erschaffen hatte. Und in die geschlitzten Augen eines Adlers. Und in ein paar kluge Kojotenaugen. Und in die einer Katze. Und die eines riesigen Bären. „Was ist denn hier los?“
***
Mitfühlend nahm Laysan Joan den nassen Lappen von der Stirn und tauschte ihn gegen den frischen Lappen aus, den der Bär ihm vorsichtig reichte. „Geht es wieder?“
„Danke, ich fühle mich schon etwas besser“, ächzte der Popstar. „Was ist hier los, Laysan?“
„Du darfst das gar nicht wissen“, murmelte der Junge betreten. „Niemand darf es wissen. Es ist ein Geheimnis von Yoshi und mir. Auch Papa darf...“ Der Junge biss sich auf die Lippen, als ihm das P-Wort über die Lippen rutschte. „Akira und Megumi dürfen es auch nicht wissen, hat Yoshi gesagt.“
Nun war es an Joan, mitfühlend zu sein. Sie richtete sich ein wenig aus der liegenden Haltung auf und strich Laysan über die Wange. So ganz wusste sie nicht, ob sich der Junge nach seinen wahren Eltern sehnte, oder ob er Akira bereits so sehr liebte, dass er ihn als Vater ansah. Das Papa war ihm bei dem Division Commander jedenfalls schon ab und an über die Lippen gekommen. Akira würde bald entscheiden müssen, wie es mit Laysan weiter ging. Sie würden ihre Beziehung vielleicht legitimieren müssen. Sprich, Akira sollte den Jungen endlich adoptieren. Aber welche halbwegs Verstandbegabte Jugendrichter würde Laysan in so einen vertrackten Haushalt geben? Es war ein Wunder, das der Junge überhaupt so lange hatte hier bleiben können. Und dann war Akira nicht einmal verheiratet. Ohne verantwortungsbewusste Frau an seiner Seite hatte der Jugendrichter gleich noch mehr Einwände. Hm, ob er seine Verlobung mit Megumi deshalb noch einmal richtig gefeiert hatte, um genau darauf hin zu arbeiten?
„Also, was hat Yoshi genau für ein Geheimnis? Keine Sorge, ich werde es nicht weiter erzählen. Aber jetzt wo ich diese Bande hier gesehen habe, kann ich ja schlecht so tun als hätte ich nichts gesehen.“
Der junge Naguad rang sichtlich mit sich. Endlich gab er sich einen Ruck. „Du musst schwören!“
Auffordernd hielt er ihr den kleinen Finger hin.
Joan griff zu und hakte ihren eigenen kleinen Finger ein. „Ich verspreche nichts hierüber den anderen zu sagen. Und wenn ich es doch tue, muss ich tausend Nadeln schlucken.“
„Gut“, meinte der Junge und wirkte für einen Augenblick entsetzlich erwachsen. Er holte tief Luft, atmete theatralisch aus, wirkte dabei ein klein wenig wie Akira selbst, und machte eine alles umfassende Bewegung. „Spike kennst du ja schon. Yoshi hat ihn erschaffen, und jetzt ist er mein bester Freund, der mich überall wo ich hin gehe beschützt. Yoshi hat ihn aus KI und dem Geist eines toten Hundes gemacht.“
„So weit bin ich informiert“, erwiderte Joan. „Hat er die anderen Tiere hier auch so gemacht?“
Der Junge erschrak. „Das habe ich doch noch gar nicht erzählt. Woher weißt du das?“
„Oh, es war nicht schwer zu erraten“, erwiderte sie mit einem Lächeln und setzte sich auf. Bei dieser Bewegung fing sie die Kompresse auf und legte sie neben sich.
„Er hat gesagt, er hat sie für mich gemacht, aber ich glaube, er konnte einfach nicht aufhören. Genau wie Spike passen sie auf mich auf, wenn er sie nicht selbst braucht. Aber er hat gesagt, das er sie bestimmt ins Tierheim geben muss, wenn Akira herausfindet, das es schon so viele sind. Und das will ich nicht.“ Der kleine Junge flüchtete sich in die Arme des Grizzlys, und dieser Anblick wirkte so komfortabel, das Joan sich unwillkürlich wünschte, selbst so einen riesigen Teddy zu haben.
„Wie viele sind es denn? Die hier und noch mehr?“
„N-nein, das sind alle. Aber Yoshi meinte, er will auch noch einen Delfin machen. Später mal. Du wirst Pa... Akira nichts sagen?“
„Natürlich nicht“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. „Ich habe immerhin darauf geschworen, und wer sein Wort nicht hält, muss tausend Nadeln schlucken.“
Mit einem sanften Lächeln fügte sie hinzu: „Ich nehme dir doch nicht deine Freunde weg.“
„Danke! Danke!“ Der Junge stürzte in ihre Arme und lächelte glücklich. Joan umarmte ihn und wunderte sich selbst über die Gefühle, die sie überwältigten. Hoffentlich konnte sie Kinder kriegen, ging es ihr durch den Kopf. Denn gab es schönere Momente als solche? Die sie vielleicht einmal mit Makoto teilen konnte? Ihr Herz schmolz dahin wie Butter in der Sonne.

Spike stellte plötzlich die Rute auf und begann zu knurren. Auch der Bär kam schwerfällig auf die Beine und richtete sich auf seine drei Meter Körperhöhe auf. Die Katze fauchte und der Kojote wich zur Seite aus. Der Adler entfaltete seine Flügel und zog sie unsicher wieder ein. Joan sah alarmiert auf. Diese Tiere machten sich kampfbereit.
Als tatsächlich die Tür aufging und ein Mensch darin erschien, begann Spike wild zu bellen.
„Ruhig, Spike! Das ist doch nur Jora!“, rief Joan. Die anderen Tiere waren immer noch da, was bedeutete, das die Zahl der Mitwisser von Yoshis Geheimnis gerade um eins gestiegen war.
Sie seufzte schwer. „Hör mal, Mädchen, ich kann das erklären und...“
Sie runzelte die Stirn. War das wirklich Jora Kalis, die Cousine von Megumi? Sie hatte sich im letzten halben Jahr ein wenig verändert und sah Megumi nun nicht mehr so frappierend ähnlich, aber eine Doppelgängerin hätte Joan sofort erkannt. Nein, das war es nicht. Was störte sie dann an der jungen Frau?
„So viele Tiere?“, murmelte sie und streckte ihre rechte Hand aus. Ihr KI begann darum hell auf zu flimmern. „Ich hatte nur mit dem Hund gerechnet. Verdammter Mist, das bedeutet Überstunden.“
Joan fuhr hoch und nahm den Jungen hinter sich. „Eine KI-Agentin!“
Jora, oder vielmehr die kronosische Attentäterin, die den Körper gerade steuerte, lächelte spöttisch. „Gut erkannt, Joan Reilley. Das ist ein kleines Problem. Das du hier bist, meine ich. Einerseits muss ich dich töten, aber andererseits mag ich deine Musik. Ich stehe hier vor einem echten Dilemma.“
„Ich bin sicher, das Dilemma für Jora ist noch viel größer“, erwiderte Joan. Sie hatte den Kampf gegen KI-Meister trainiert, aber sie kannte die Fähigkeiten der Attentäterin nicht. Allein der Anblick der KI-Aura um ihren Arm ließ vermuten, dass die Attentäter, von denen die UEMF noch immer zwischen zehn und zwölf an Bord der AURORA vermutete, hervorragend ausgebildet waren. Und sie schienen beim letzten Stopp auf der Erde das Gerät an Bord gebracht zu haben, mit dem sie das Bewusstsein transferieren konnten, denn sonst hätte eine übernommene Jora Kalis, die praktisch überall Zugang hatte, schon längst zuschlagen können.
„Ich will nur den Jungen. Für dich habe ich keinen Auftrag. Und um dich zu beruhigen, ich werde es schnell und schmerzlos machen.“
Joan war sich sicher, dass Joras Bewusstsein innerhalb ihres Körpers gerade einen mittleren Aufstand beging. Aber es nützte nichts. Hilfe konnte sie von dieser Seite nicht erwarten.
„Warum, zum Henker, wollt ihr den Jungen töten? Er hat mit all dem doch überhaupt nichts zu tun!“, rief Joan aufgebracht. „Laysan ist doch nur ein Kind!“
„Er soll lernen, dass er ihn nicht hat schützen können“, sagte die Frau im Körper der Daness leise und ein wenig bedauernd. „Und jetzt tritt beiseite. Wo ich mich schon dazu entschlossen habe, dich nicht zu töten, würde es mir wirklich weh tun, wenn du mich dazu zwingst. Du kannst ihn nicht beschützen! Nicht gegen mich.“

Joan rührte sich nicht einen Millimeter. Was, wenn einer der KI-Meister nach Hause kam? Was wenn es Jora doch noch gelang, die Gewalt über ihren Körper zurück zu erhalten? Was wenn die KI-Biester, die Yoshi erschaffen hatte, selbst gegen eine KI-Meisterin wie diese Attentäterin effektiv waren? Nein, dann hätten sie längst angegriffen. Die Tiere spürten, das ihr Gegenüber zu mächtig war. Wenn sie freilich Laysan angriff, würden sie ihre Leben opfern, dessen war sich Joan sicher. Und was würde sie tun? Bestimmt würde sie Laysan nicht dem Tod überantworten. Niemals!
Wenn sie doch nur etwas stärker wäre... Sie hatte schon gegen KI-Meister gekämpft, und das half ihr nun... Nichts? Die Welt konnte grausam sein. Und sie konnte Laysan nicht opfern. Abgesehen davon stand es in den Sternen, ob diese Frau ihr Versprechen hielt und sie verschonte.
„Egal!“, zischte Joan.
„Dann wird das ein trauriger Tag für das Universum, wenn es Superstar Joan Reilley verliert!“, rief die Attentäterin wütend. „Ich bin nicht Schuld! Du zwingst mich!“ Langsam ging sie auf die Sängerin zu.
In diesem Moment schrie der Adler auf. Er entfaltete die Flügel und machte einen Satz. Er landete auf Joans Schultern, schrie erneut und senkte dann den Kopf. Er sah Joan direkt in die Augen, tief, unglaublich tief, bis er fand was er gesucht hatte. Dann schrie er erneut, aber nicht im Zimmer, sondern im Geist des Superstars. Der Schrei stieß auf Resonanz, hallte tausendfach in ihr wieder und weckte etwas. Es war ein Gefühl, das sie immer schon in sich erahnt hatte, aber sie hatte nie wirklich darum gewusst oder auch nur gehofft es zu besitzen. Es war Macht!
Joan schrie auf und fühlte, wie ihr Körper ohne ihr Zutun heiß wurde. Es war eine vollkommen andere Hitze als nach dem Sport oder körperlicher Liebe, es war eine vollkommen andere Form des fühlens. So mächtig, und dennoch so devot, ein Gefühl, das sie nach Aktivität verlangen ließ, nicht unbedingt Kampf. KI trat aus ihrem Körper aus, umspülte sie, hüllte sie ein, verdeckte sie. Dann verschwand das Zimmer in einem hellen Lichtblitz.

Als das Licht sich wieder normalisiert hatte, brauchte Joan keinen Spiegel um zu wissen, dass sie nun wesentlich größer war, fast so groß wie Akira. Sie trug nun langes braunes Haar, das ihr fast bis auf den Po fiel. Und sie trug eine KI-Rüstung, die recht viel von einer Schuluniform mit viel zu kurzem Rock hatte. Sie wusste einfach, dass der Grundtenor dieser KI-Rüstung die Farbe scharlachrot war. Dankbarkeit erfüllte sie, Dankbarkeit für Dai-Kuzo-sama, die sie letztendlich doch, im Zeitpunkt ihrer größten persönlichen Not zum Slayer erweckt hatte.
„U-unmöglich!“, rief die Attentäterin entsetzt. „Alle Slayer sind beim Otome-Training!“
„Ich müsste lügen, würde ich sagen, das wäre nicht auch für mich neu. Aber sieh den Tatsachen ins Auge. Ab heute gibt es eine Slayer mehr. Ich bin Scarlet Slayer, wie es ausschaut.“ Sie verschränkte ihre Hände ineinander und drückte sie nach außen, bis die Knöchel knackten. „Und jetzt unterhalten wir uns mal über deinen Auftrag, Laysan zu töten!“
Die Attentäterin in Joras Körper schluckte trocken. „Scheiße.“
***

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Langsam begann ich zu glauben, das das Krankenhaus von Fushida City meine Zweitwohnung werden würde. Beinahe hätte ich beim Eintreten befürchtet, das man mir meinen persönlichen Kaffeebecher oder meinetwegen meine eigene Teeschale reichen würde. Nicht weil ich selbst so oft hier war. Mehr wegen den anderen mehr oder weniger dringenden Fällen in meiner Umgebung.
Diesmal hatte es Jora erwischt, die ältere Cousine von Megumi, die seit unserer Zeit auf Nag Prime mit ihr zusammen war.
Die reichlich blessierte junge Frau saß nun aufrecht in ihrem Krankenbett und zählte gerade einer zerknirschten Joan Reilley die Liste ihrer Verletzungen auf.
Ich musste mich dabei zurückhalten um nicht anerkennend zu pfeifen, denn anscheinend hatte Joan ganze Arbeit geleistet. Sie hatte nur vergessen, die inneren Organe irreparabel zu schädigen.
„Und? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragte Jora mit vor Zorn blitzenden Augen.
„Äh... Du warst besessen?“
„Ein Armbruch, fünf gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung, ein angebrochenes Fußgelenk...“
„Ich weiß, ich weiß! Es tut mir Leid, Jora-chan! Ich bin gerade erst als Slayer erwacht und habe meine Kraft noch nicht unter Kontrolle! Außerdem konnte ich den Gegner nicht richtig einschätzen! Kann sein, dass ich es etwas übertrieben habe...“
„Etwas?“, warf ich ein.
„Fall du mir nicht in den Rücken, Aki-chan“, flehte sie.
„Wenigstens siehst du es ein“, schloss Jora und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wenn wir schon mal dabei sind... ...“
Joan spitzte die Ohren. „Was hast du gesagt, Jora-chan?“
„...“
„Ich verstehe dich nicht.“
„...“
„Aki-chan, hast du das gehört?“
„Ich bin mir nicht sicher. Es klang wie ein sehr zurückhaltendes Danke.“
Joans Augen verloren den um Mitgefühl heischenden Blick. „Ach, meinst du wirklich?“
Jora sah sich plötzlich von zwei Raubtieraugen fixiert. „Hast du etwa wirklich...
„In Ordnung! Ich gebe es ja zu! Danke, Joan! Danke, dass du mich gerettet hast! Danke, dass du verhindert hast, das ich Laysan etwas tue. Danke, das du die Agentin aus meinem Körper verjagt hast! Danke, das du da warst.“
Joan Reilley lächelte ihr süßestes Lächeln. „Oh, wie schön. Das beruhigt mich doch. Ich dachte, du wärst ernsthaft böse mit mir. Aber es sieht aus, als würdest du mir vergeben.“
„NATÜRLICH vergebe ich dir. ICH war ja so dumm, mich überwältigen und von einem KI-Agenten infiltrieren zu lassen.“
„Und es ist alles gut ausgegangen“, fügte ich hinzu, was das Eis zwischen den beiden Frauen vollends brach. „Wie lange musst du hier bleiben?“
„Futabe-sensei hat mich behandelt. Ich soll die Nacht noch zur Beobachtung bleiben, aber ich durfte meine Aussage bereits der Polizei aufgeben. Sie versuchen herauszufinden, wo sich die Anlage befindet, die mir die KI-Agentin initiiert hat.“
„Die AURORA ist groß“, schränkte ich ein. „Aber es ist nicht unmöglich.“
„Dennoch! So etwas darf nicht noch mal passieren! Akira, kannst du nicht... Persönlich ermitteln?“
Abwehrend hob ich beide Hände. „Langsam, langsam! Ich bin ein erstklassiger Mecha-Pilot, ein passabler Offizier, und auf dem politischen Parkett habe ich mir auch schon den einen oder anderen Lorbeerzweig verdient, allerdings die Anfängervariante mit Außenseiterbonus. Aber ich bin wirklich ein ganz miserabler Privatdetektiv. Aber ich verspreche dir etwas anderes. Wenn die Polizei ihr Versteck findet, dann werde ich ganz vorne mit dabei sein, um sie ein für allemal auszuräuchern.“
„Oh. Damit bin ich zufrieden.“ Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass Jora lange nicht gelächelt und wenig gesagt hatte... Und das ihr Lächeln wunderschön war.
***
Ein paar Kilometer entfernt, und das nicht unbedingt auf horizontaler Ebene, begann ein maskierter Elite-Offizier heftig zu niesen. Das Team, das ihn begleitete, warf ihm besorgte Blicke zu, aber er winkte ab. „Muss jemand an mich gedacht haben. Weiter im Text. Wir warten auf die angeforderten KI-Meister und auf Agent Chiba, dann nehmen wir die Anlage von beiden Seiten zugleich. Wir werden dafür über einhundert Mann einsetzen, die meisten von ihnen gehören zum Blue Lightning-Regiment. Dies ist die letzte Besprechung. Kehrt jetzt zu euren Teams zurück und bereitet alles vor. Einsatzbeginn ist in vierzig Minuten.“
Die Truppe verstreute sich vom provisorischen Besprechungsplatz, irgendwo in der Bodenplatte der AURORA, und die einzelnen Leute nahmen neben ihren Trupps Position ein. Dabei taten sie ihr Möglichstes, um von den Verteidigern nicht entdeckt zu werden.
„Eine nette Truppe. Ich hätte nicht gedacht, das sie sich so gut entwickeln würde, nachdem wir ihre Gründung auf der Erde beschlossen haben“, merkte eine Stimme hinter dem Einsatzleiter an.
Er wandte sich um und erkannte drei Personen: Makoto Ino, Doitsu Ataka und dessen Gefolgsmann Chiba. Die KI-Meister waren da.
***
Merkwürdig, das es mir erst nach mehreren Wochen auffiel, in denen ich mich schon auf der AURORA aufhielt, aber eigentlich war es irgendwann unausweichlich, das ich darauf stieß: Ich hatte nichts zu tun. Bisher hatte ich dankbar die Pause angenommen, die sich mir geboten hatte, nachdem die AURORA ihren ersten und kurz darauf ihren zweiten, von den KI-Meistern verstärkten Sprung gemacht hatte, um mich von den Strapazen, Verwirrungen und allgemein dem Ärger zu erholen, den ich im letzten Dreiviertel Jahr erlebt hatte, aber danach sah ich mich mit der harten Realität konfrontiert. Ich war immer noch Oberbefehlshaber des Cores, de facto im Moment sogar sein oberster Verwalter, aber ich hatte alle auswärtigen Angelegenheiten in die Hände fähiger Leute gelegt. Den Core, den wir samt zivilisatorischem Material hatten auf die AURORA retten können, verwaltete Maltran Choaster für mich, ein Daima, den ich durchaus als engen Freund bezeichnete.
Natürlich war ich immer noch General des Intendenten, im Moment namentlich meine Urgroßmutter Aris Ohana Lencis, aber abgesehen von einer Lencis-Verbindungsoffizierin und einem kleinen Stab an Bord hatte ich zum Aufstand keinen großen Kontakt.
Natürlich war ich auch immer noch Erbe der Arogads, und amtlich gesiegelt und gestempelt Besitzer des Daness-Turms, was eigentlich nicht nur in der Theorie eine Verschmelzung der Familien Daness und Arogad bedeutete. Ein Umstand, der wohl alle Häuser, die nicht mit einer der beiden Familien verbündet waren, schlaflose Nächte bereitete, denn wenn diese Koalition, diese Vermischung wirklich in dem Maß zustande kam, dann bedeutete sie ein unglaubliches Übergewicht. Alle anderen Häuser waren dann vom Wohlwollen, vom Anstand und vom Gerechtigkeitssinn der Anführer beider Häuser abhängig, wobei ich mir in dem Punkt keine Sorgen machte, denn Uropa Oren war ein wirklich feiner Kerl, und Megumis Großeltern im Daness-Turm hochanständig.
Cicero wurde der Spruch zugeordnet: Die Diktatur ist die beste Staatsform, wenn der Diktator der beste Mann des Staates ist.
Wahrscheinlich hatte er Recht damit, dabei aber vergessen, das auf einen guten Diktator durchaus ein schlechter folgen konnte und irgendwann sogar musste. Dementsprechend wünschte ich Uropa ein langes, gesundes Leben.
Churchill hatte gesagt: Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, aber sie ist die beste die wir haben. Wahrscheinlich hatte er auch Recht, denn kein anderes Staatsgebilde erlaubte dem Individuum maximale Freiheiten und maximale persönliche Entfaltung, dies aber auf Kosten eines ordentlich geführten Staatsgebildes. Außerdem war das Prinzip anfällig für Manipulationen und Suggestionen. Man musste wirklich jeden verdammten Tag um die Demokratie kämpfen, und selbst dann gab es Nutznießer dieses Systems, die „jene da oben“ im Verdacht hatten, sowieso den ganzen Tag nur in die eigene Tasche zu wirtschaften und sich von ihrer Aufgabe, an der Demokratie teil zu nehmen drückten, indem sie behaupteten, sie seien „Politikverdrossen“.
Oh, was lobte ich mir da das System, mit dem wir den Sternhimmel im Innenraum der AURORA bestimmten. Maximale Demokratie bei minimalem Missbrauch.
Wenn ich es genau nahm, war ich weder Diktator noch demokratischer Vertreter. Eigentlich war ich für die Naguad gar nichts. Abgesehen vielleicht von meinem gerichtlich bestätigten Eigentumsrecht auf das Kanto-System sowie Mond und Mars.
Was mich zur Erde brachte. Hier war ich einmal Executive Commander der UEMF gewesen, einer Einrichtung der United Nations, die unter der Federführung eines internationalen Rates und unter der Regie eines beinahe allmächtigen Kommissars – der mein Vater war, und den ich zwischenzeitlich ersetzen musste – die Welt gegen die Kronosier verteidigt hatte, danach gegen die Anelph, später gegen die Naguad, die Iovar übersprang und sich direkt des Cores annahm. Nun existierte die United Earth Mecha Force, um gegen die Götter zu bestehen, einer unheimlichen Roboterzivilisation, die einst das Urreich der Dai vor gut fünfzigtausend Jahren vernichtet hatte. Und nun wieder drohte, uns zu vernichten. Warum eigentlich? Wir hatten ihnen nichts getan. Dazu waren wir noch gar nicht gekommen. Wir hingegen hatten mehr als genügend Grund, uns bei den Göttern und ihren Hilfskräften, den Kindern der Götter, Beschwerde einzulegen, denn abgesehen von dem Ärger, den wir persönlich gehabt hatten, weil die Götter den Core auf uns gehetzt hatten, kamen noch einige Daima- und Daina-Völker hinzu, die heftig unter den Göttern gelitten hatten. Konkret gesprochen waren viele ausgerottet worden, und etliche waren an dessen Rand getrieben worden.
Aber welche Aufgabe hatte ich dort? Okay, als Bestandteil der Daness-Arogad-Koalition, essentieller Bestandteil wohlgemerkt, war ich wichtig für die Erde. Aber meinen neuen Job des Division Commanders der neuerlich aufgeblähte Hekatoncheiren hatte Megumi übernommen, und sie führte dieses Kommando immer noch. Mir blieb nur mein Mecha Prime Lightning. Was war also ein Division Commander, der nur über einen Mecha verfügte? Okay, ich konnte die Spötter schon hören, die sagten, ich würde mit Prime alleine eine Division darstellen, aber es änderte nichts an der Tatsache, das ich das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder auf eines reduziert war: Schüler zu sein. Schlimmer noch, manchmal hatte ich fast das Gefühl in der AURORA nur geduldet zu sein. In der Admiralität zum Beispiel, oder in den Hangars der Hekatoncheiren. Selbst mein alter Kumpel Kei, der mittlerweile Admiral Richards´ alten Job als Chef der Begleitflotte inne hatte, sah mich seit neuesten mit jenen Mitleidsvollen Augen an, die Militärs immer dann bekamen, wenn sie einen bedauerlichen ehemaligen Kameraden ansahen, der ins Zivilleben zurück gezwungen worden war. Und dabei konnte ich nicht einmal was dazu. Ich hatte mich einfach nur entführen lassen und... Der arme Torum Acati. Man hatte mich quasi in einer Nacht und Nebel-Aktion unter seinen Augen verschwinden lassen. Der Knabe war in Ordnung und ein dufter Kumpel, wenn man nicht gerade auf Leben und Tod mit ihm kämpfte. Außerdem hatte er mir einen meiner besten Fights geliefert, die ich je zu bestehen hatte. Ich war sicher, der arme Junge hatte eine sehr ungewisse Zeit hinter sich gebracht, bis ihn endlich die erlösende Nachricht von meiner Rettung erreicht hatte. Nun, er war als Oberbefehlshaber der Rettungsaktion in den strahlungsverseuchten Vorstädten nicht vollkommen unschuldig an meiner Entführung gewesen. Er hätte drauf bestehen können, das ich Holzkopf eine Leibwache mitnehme. Oder gleich ganz aus den Städten raus bleibe. Okay, das hätte wohl nicht besonders viel genutzt, dennoch hielt sich mein schlechtes Gewissen in absehbaren Grenzen.
Was blieb übrig, wenn ich all das zusammenzählte, differierte und gegeneinander aufwog? Was war ich dann letztendlich? Eine Ein Mann-Armee? Ein Reyan Maxus, wie mich die künstliche Intelligenz des Strafers bezeichnet hatte? Eine schlichte Symbolfigur, wie schon Jahre zuvor, als die Taten des anonymen Blue Lightnings eine ganze Welt inspiriert hatten? Oh, als Symbolfigur war ich ganz, ganz schlecht. Mir fehlte die emotionale Distanz, die so eine Rolle erforderte.
Oder war ich die graue Eminenz im Hintergrund, die lenkte und steuerte?
Wenn ich an Chausiku Aris dachte, die Herrin des Cores, die in ihrem KI-Container wie ein normales Mädchen in die Schule ging und diese Körperlichkeit sehr genoss, war die Frage klar. Ich war ihr Statthalter, auch wenn dies im Moment nicht viel bedeutete. Der Core war an Bord der AURORA in relativer Sicherheit, seine Kampfschiffe begleiteten uns oder kamen zu uns, wann immer wir einen Zwischenstopp einlegten und bald würden wir die gesamte Core-Zivilisation zur Erde gebracht haben. Oder zu einem anderen Planeten, auf dem Chausiku sagen würde: Stopp, Akira, danke fürs Mitnehmen, aber hier wollen wir raus. Für den anderen Fall, das wir eine solche Welt nicht fanden oder die Götter uns zu sehr im Nacken saßen hatte ich vorgesorgt. Der allerletzte Halt für den Core würde der Mars sein. Spätestens auf dieser Welt würden wir die ganze Zivilisation ausladen. Ohnehin war der Rote Planet dabei, von der Welt des Krieges zur Welt des Handels und der Verständigung zu werden. Nirgends sonst siedelten die Abkömmlinge so unterschiedlicher Abstammung friedlich nebeneinander. Menschen, Anelph, Kronosier und Naguad waren hier schon vertreten. Die paar in KI-Containern umher laufenden Core-Daima und Daina würden da nicht weiter auffallen. Außerdem war ich sicher, dass das Paradies der Daima und Daina erhebliche Möglichkeiten für unsere Zivilisation bedeuten würde; es war also eine gehörige Portion Selbstnutzen, wenn ich den Core nicht vor dem Mars von Bord ließ.
Und was dann? Wenn wir die Erde erreicht hatten? Was geschah mit uns, mit der AURORA, was mit unseren Welten? Die Götter existierten, sie waren mächtig und sie waren tot.
Paradox erklärt, aber leider zutreffend. Man konnte sich mit dem, was von den Göttern übrig geblieben war, sicher nicht verständigen. Die Roboter, die das Erbe der Götter verwalteten und die Kinder der Götter, ehemals unterworfene Völker unter ihrer Regentschaft würden ihrem Programm folgen. Und dies war die Vernichtung der Dai, die sie als die größte Bedrohung im Universum ansahen. Vielleicht zu Recht, vielleicht auch nicht. Denn wenn die Götter die Dai auslöschten, rückten sie selbst als größte Bedrohung nach. Ich glaubte nicht eine Sekunde daran, das die K.I. der Götter jemals so weit gedacht hatte.
Und ich glaubte auch nicht daran, das mein neuester Titel als Reyan Maxus irgendeine praktische Bedeutung haben würde. Es war ein Titel, mehr nicht. In der Zivilisation der Dai mochte er eine gewisse Bedeutung, ja sogar eine Art Amt dargestellt haben, aber heutzutage war es nur eine negative Feststellung durch die Götter, gewissermaßen eine Gefahrenklassifizierung.
Staatsfeind Nummer eins, das war doch schon wesentlich besser als stumme Galeonsfigur der AURORA oder Großkaiser eines interstellaren Großreichs, das nicht wirklich existierte und mit mir untergehen würde, sobald ich mein Leben ließ. Außerdem versprach es bis zum bitteren Ende Spaß. Wobei das Ende, das ich gewinnen konnte, die bitterere Variante darstellte.
Zusammengefasst war ich in der Ferne alles und Zuhause nichts. Das war nicht sehr nett, nicht sehr konstruktiv, aber auch nicht zu ändern. Nicht solange eben doch ein gewisser Teil Arbeit auf mich entfiel, was die Arbeit für den Core, den Intendenten und für die fragile Daness-Arogad-Allianz bedeutete, summiert als riesiger Berg Arbeit, den ich größtenteils delegieren konnte. Leider blieb noch genügend übrig, was ich weder Sora, noch Franlin oder Makoto aufdrücken konnte. Ärgerlicherweise.
Sehnte ich mich etwa danach zurück, im Mittelpunkt zu stehen? Den Hekatoncheiren vorzustehen? Inmitten von Gewalt und Tod zu sein? War ich ruhmsüchtig? Oder buhlte ich um die Anerkennung einer ganzen Galaxis?
Vielleicht war es auch genau anders herum, und ich war tief in meinem Innersten zutiefst verstört, weil die Naguad, die Iovar und die Core-Zivilisation – ganz zu schweigen von den Anelph – mich so hoch hielten, und ich auf der Erde alle Titel und Ämter verloren hatte.
Vielleicht sehnte ich mich in jene Tage zurück, in der ich Blue Lightning gewesen war, auch als der Name noch eine Maske für mich bedeutet hatte. Aber wenigstens hatte es für etwas gestanden. Und nun, als Prinz der Arogad, einer Familie die ich nie wirklich kennen gelernt hatte und bei der ich auf ewig ein Gast sein würde? Nun, als Stellvertreter des Intendenten, als ausländischer Söldner mit ein paar Spritzern Blut der neuen Kaiserin in den Adern? Nun, als Ursupator der gesamten Zivilisation der Daima und Daina im Core, als ihr Bezwinger, ihr Aufzwinger, ja, als derjenige, der sie herumwirbelte wie es ihm beliebte und wie er es für richtig hielt...
Stopp. Diese Art Gedanken führten zu nichts. Es brachte mir nicht das Geringste ein, mich als einen Menschen zu beschreiben, der ich auch nicht war, und den ich übrigens auf Leben und Tod bekämpft hätte, um all die Unschuldigen aus seinen Klauen zu befreien. Denn ich wusste, wenn ich auch nichts anderes war, diese Kraft hatte ich und würde sie auch behalten. Und dank meiner Freunde, die hoffentlich immer zu mir stehen würden, würde ich dabei nicht alleine sein.
Vielleicht war das die Antwort auf all meine Fragen. Die Antwort auf meine Pein, meine Orientierungslosigkeit und auf meinen schwelenden Selbsthass. Die Antwort auf einfach alles. Solange meine Freunde an mich glaubten, solange es die Familie gab, konnte es nicht so schlimm um mich stehen. Dieser Gedanke hatte etwas sehr beruhigendes.

„Otomo, schläfst du?“
Ich fuhr aus meinen Gedanken auf. Neben mir stand einer meiner Klassenkameraden. Einer von denen, die ich noch nicht besonders gut kannte, denn durch meine Entführung war ich ein Schuljahr abgerutscht und wäre beinahe mit Akari und Michi in eine Klasse gekommen. Das frustrierte wirklich, aber unser Schulsystem war unerbittlich und nicht einmal für einen Mega-Helden wie Akira Otomo zu erweichen. In frühestens einer Woche begannen die Quartalstests, mit denen ich beweisen konnte, das ich in der Lage war, in meinen alten Jahrgang zurück zu kehren. Bis dahin saß ich hier fest. Und ich hatte das ungute Gefühl, das es Sakura so ganz Recht war und das sie mich liebend gerne im ersten Jahr behalten hätte, bedeutete es doch, mich noch drei weitere Jahre zu unterrichten. Doch ich hatte nicht vor, diese Tests zu versemmeln. Im Gegenteil, ich wollte im nächsten Quartal sogar ins dritte Jahr springen und endlich meinen Abschluss machen, um dieses leidige Thema los zu sein. „Ja, ich schlafe“, erwiderte ich mürrisch.
„Das sieht dir ähnlich. Gleich haben wir Unterricht bei Ino-sensei, und du pennst“, tadelte mich der junge Bursche. Wenn ich mich recht entsann, war er Libyer mit italienischen Wurzeln, ein patenter kleiner Kerl, der seine Karriere in der UEMF schon längst geplant hatte – allerdings in der Verwaltung, nicht in der Kampftruppe.
Was hätte ich auf diesen Vorwurf antworten sollen? Dass ich das Gottgleiche Wesen jeden Tag Zuhause sah? Das ich als kleiner Junge mit ihr gebadet hatte? Das ich tausende Möglichkeiten hätte sie so zu sehen wie die Götter sie erschaffen hatten, wenn ich mir nur ein klein wenig Mühe geben würde? Wahrscheinlich würde sogar eine entsprechende Bitte reichen. Diese Erkenntnis verursachte mir heftigen Kopfschmerz und ein sehr unangenehmes Jucken am Hals. Für diesen Gedanken würden meine männlichen Klassenkameraden mich wahrscheinlich aufhängen, wenn ich ihn aussprach. Zu Recht. Und wenn ich ehrlich war, ich würde ihnen dabei auch noch helfen. Also beließ ich es dabei abzuwinken. „Jeder soll seinen persönlichen Fetisch nach bestem Wissen und Gewissen pflegen“, antwortete ich.
„Das fasse ich nicht! Du bist doch ihr Liebling! Hast du sie schon mal richtig angesehen?“
Nun reagierte ich doch. Aber ich beschloss sanft zu sein. „Sie ist meine Cousine, okay? Außerdem hat sie einen Freund, der zufällig Kommandeur der AURORA ist. Außerdem bin ich höchstpersönlich verlobt. Reicht das?“
„Hm, stimmt ja. Ging durch die Medien. Irgend so eine Daness-Prinzessin für ein Bündnis mit deiner Naguad-Familie. Kannst du das nicht wieder lösen? Ich meine, politische Hochzeiten, in welchem Jahrtausend leben wir denn?“
Ich tätschelte dem Jungen die Schulter. „Andrea, danke das du dir Sorgen um mich machst, aber...“
„Akira, du hier und nicht irgendwo in den Weiten des Alls?“
Ich wandte mich der neuen Stimme zu. Natürlich, Megumi. „Wieso in den Weiten des Alls?“
Ihre Augen verengten sich ein wenig und feine Fältchen, kaum zu sehen, kräuselten sich als zwei feine Striche links und rechts von ihren Augen. Dazu warfen sich ihre Lippen leicht auf, und ich wappnete mich für einen typischen derben Soldatenscherz.
„Na, weil wir doch die Serie beachten müssen. Entführt, entführt, geflüchtet, entführt, entführt, geflüchtet. Du bist wieder dran damit in den Sternen unterzutauchen“, sagte sie todernst.
Für einen Moment dachte ich nach. Okay, meine Entführung durch die Kronosier und die Integration in den Biocomputer war ihr Argument Nummer eins. Dann hatte sie mich entführt. Quasi entführt und beinahe mit Gewalt gezwungen, in Blue Lightning zu klettern. Nach dem Krieg war ich verschwunden und als John Takei untergetaucht.
Die nächste Entführung hatte ich durch Torum Acati erlebt. Darauf war die Entführung meines KIs in Laysans Körper gefolgt, die mich bis hierher gebracht hatte. Richtig, wenn man daraus eine Serie machte, dann hätte ich längst schon wieder verschwunden sein müssen. Genauso verschwunden wie Kitsune-chan, die seit unserem letzten Scharmützel mit den Strafern der Götter nicht auffindbar war. Aber unsere beiden Dais von der Erde, Okame und Sphinx, machten sich darum nicht einen Hauch von Sorgen, also nahm ich zu Recht an, das sie sich auf einer Spezialmission für Dai-Kuzo-sama befand.
„Bist du denn schon alt genug, um solche Witze zu reißen, junge Dame?“, fragte ich ernst.
„Bist du nicht noch zu jung, um den weisen Mann vom Berg zu spielen?“, erwiderte sie. „Obwohl ich dir zugestehen muss, dass du seit der Verlobung an Seriosität gewonnen hast, A-ki-ra-sa-ma.“
Sie beugte sich zu mir herüber, und irritiert stellte ich fest, das der Ausschnitt ihres Shirts sehr tief war. „Du bist doch nicht hergekommen, um deinen armen Verlobten zu ärgern oder um ihn zu quälen, oder?“, tadelte ich.
„Nein, das bin ich nicht. Aber das war eben eine Frage, die ich mir schon sehr lange stelle. Da wollte ich sie einfach mal los werden. Ich war auf dem Weg zu Akane. Die Slayer, also jetzt die Offiziere des Otome-Bataillons, wollen was für Emi machen. Es dauert ja nicht mehr lange, und deshalb wollten wir uns für eine niedliche kleine Party absprechen. Nur wir Frauen.“
„Und dabei dachtest du, geh doch mal bei Akira vorbei und mach dich ein wenig über ihn lustig?“, fragte ich mit hoch gezogenen Augenbrauen.
„Das denkst du von mir? Akira.“ Entrüstet sah sie mich an. Sie lächelte und flüsterte mir leise zu: „Wenn du das wirklich denkst, dann muss ich mich ja bei dir entschuldigen. Außerdem kannst du, ah, eine Form der Kompensation von mir verlangen. Was, bleibt vollkommen dir überlassen, A-ki-ra-sa-ma.“
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Zum Glück hatte das Sonnenlicht der AURORA mich bereits gut gebräunt, sodass es nicht besonders auffiel. Leider schoss das Blut noch in andere Bereiche, und vornehmlich aus meinem Gehirn heraus. „Du bist ja doch hier, um mich zu quälen.“
„Ein klein wenig“, gab sie zu. Sanft berührten ihre Lippen meine Wange, und als das nicht den gewünschten Effekt brachte, küsste sie mich auf den Mund. Aus Rücksicht auf meine bereits eifersüchtig herüber schauenden Klassenkameraden verweigerte ich aber einen französischen Kuss.
„Wir sehen uns heute Abend Zuhause, Akira“, hauchte sie zum Abschied. Nach einem Winken in die Runde verließ sie die Klasse wieder.
Der junge Libyer sah mich fassungslos an. „D-deine Verlobte?“
Ich nickte.
„D-die Daness-Prinzessin?“
„Korrekt.“
„Aber das war Megumi Uno!“
„Die Frau, die ich heiraten werde“, bestätigte ich.
„Okay, unter diesen Umständen kann man es verstehen“, murmelte der junge Bursche. Mit tief in die Hosentaschen verfrachteten Händen schlenderte er auf seinen Platz zu und murmelte dabei Dinge wie „glücklicher Bastard“. Diese Worte ließen mich schmunzeln. Es schien als konnte ich darauf reduziert werden, einmal Megumis Ehemann zu sein. Und ehrlich gesagt war das nicht das schlechteste Schicksal, das ich mir vorstellen konnte...
Sekunden darauf entstand eine mächtige KI-Eruption, die ich spürte, als stünde ich daneben. Der Urheber diese Eruption war für mich so eindeutig als hätte ich zugesehen. „Doitsu!“
Hastig sprang ich auf, verließ die Klasse und lief beinahe Sakura um.
„Du bist zurück, bevor die Stunde Zuende ist, Akira!“, rief sie mir nach.
„Ich versuche es!“ Was für eine tolle, verständnisvolle Lehrerin sie doch war. Sie hatte sofort gemerkt, das ich meinem Kumpel Doitsu beistehen wollte. Immerhin war sein Zweitjob als Oyabun der Yakuza an Bord brandgefährlich, und wer wusste schon in welchem Mist er gerade drin steckte? Die Eruption wies zumindest darauf hin, das es ihm schon bis zum Kinn reichen musste.
***
Franlin Litov war vieles, sogar sehr vieles. Als Sproß einer Linie der Arogad-Familie, die vor allem erstklassige Mediziner, Verwalter und Ingenieure hervorgebracht hatte, war er immer in der Pflicht gewesen, einen intellektuell ansprechenden, aber irgendwie auch körperlichen Beruf zu wählen. Nicht, das es ihn zu den Geisteswissenschaften gezogen hätte, beileibe nicht. Aber je mehr er sich seinem Ziel näherte, eines Tages im obersten Stockwerk des Arogad-Turms zu sitzen und mit seiner Abteilung einen Teil der weitläufigen Arogad-Besitzungen oder gar der Hausflotte zu verwalten, desto öfter hatte er sich gefragt, ob es das wirklich gewesen war. Himmel, er war fünfundzwanzig Jahre alt, in Nag Prime-Jahren gemessen, was nicht ganz sechsundzwanzig Erdjahre machte. Er würde diesen Job die nächsten zwei, dreihundert Jahre ausführen, eventuell länger, je nachdem wie gut er war und wann ihm gestattet wurde, seine restliche Zeit nach dem Dienst an der Familie nach eigenen Vorstellungen zu verbringen. Als sich ihm dann die Chance geboten hatte, in die direkten Dienste eines Enkels von Eridia Arogad zu wechseln, hatte er diese Chance genutzt, trotz des Widerspruchs seines erfahrenen Vaters, der ihm voraus gesagt hatte, dass die wirkliche Arbeit, die Aris Arogad für die Familie leisten konnte frühestens in vierhundert Jahren beginnen würde.
Vater hatte sich geirrt. Sie alle hatten sich geirrt. Und Franlin war immer noch Verwaltungsfachkraft, allerdings auf einem Stuhl, der mehr und mehr die Eigenschaften eine Schleudersitz annahm, je länger er darauf saß. Nichts war aufregender als für Akira Otomo den Stabschef seiner zivilen Angelegenheiten zu geben! Nichts war abwechslungsreicher, spannender, brachte mehr Neues, mehr Herausforderungen als diese Aufgabe! Und wäre es nicht so ein verteufelter Stress gewesen, dann wäre es Franlins Lieblingsjob gewesen.
So aber bedeutete es, das Verbindungsglied für alles zu sein, was Akira Otomo im Universum angerichtet hatte. Oder anders formuliert, an ihm und seinem handverlesenen Stab aus den besten Mitarbeitern, die er mit Zähnen und Klauen hatte bekommen können, blieb all das hängen, was nicht direkt zu Akira gehen musste. Und für einen Mann, der ein Sonnensystem ganz und in einem anderen die beiden wichtigsten Planeten nach der Hauptwelt besaß - jemand hatte neulich ausgeführt, das die AURORA Akiras Privateigentum war, wenn man Naguad-Recht bemühte, und das dementsprechend alle für die Erde annektierten Welten ebenfalls sein Privatbesitz waren, was alle als sehr erschreckend und gefährlich logisch bezeichnet hatten – zudem politische Ämter in mehreren Sternreichen, fiel mehr als genügend Arbeit an.
Natürlich bestand sein Besitz an Mars und Erde sowie an Lorania und dem Kanto-System nur auf dem Papier. Letzteres ohnehin nur mit Einschränkungen, weil das Regionalflottenhauptquartier auf Lovtose ohnehin Staatseigentum war. Dennoch fiel Arbeit en Masse an. Abgesehen von einem Pressebüro verwaltete der Stab Akiras fiktive Besitztümer und betreute den Kontakt mit den verschiedenen Fraktionen, in denen er aktiv gewesen war. Dazu kamen ein paar reale Besitzungen, die wesentlich mehr Arbeit machten als gegenüber der Naguadschen Imperialverwaltung den Eindruck zu erwecken, Aris Arogad würde wirklich über drei Planeten gebieten. Allein Pressebüro und die Verwaltung der Kontakte bedurfte einer eigenen Abteilung. Dazu kam dann noch der Personenschutz. Seit Akira Otomo wieder auf der AURORA weilte, wurde seine persönliche Sicherheit nicht nur durch das UEMF-Militär gewährleistet, sondern auch von seinem persönlichen Stab, der eng mit den Sicherheitskräften zusammenarbeitete, gerade unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Bedrohung Akiras durch die KI-Schläfer. Und all das war ein Job rund um die Uhr. Dieser spezielle Sektor wurde von seiner Stellvertreterin direkt betreut. Nun, wer bot sich auch besser dafür an als ausgerechnet eine Fioran-Assasinin, die zudem als Akiras direkte Cousine auch noch ein persönliches Interesse an seinem Leben hatte?
Aber alles in allem war Franlin froh. Froh, diesen Job ergriffen zu haben als er ihm angeboten worden war. Froh, das er Akira so viel Arbeit und Ärger vom Hals halten konnte. Froh, das sein Meister die geleistete Arbeit bisher immer gelobt und nie getadelt hatte. Was durchaus möglich war, denn etwas was Franlin sich anmaßte selbst zu entscheiden war in Akiras Augen womöglich Chefsache. Aber bisher waren ihm keine gravierenden Fehler unterlaufen. Alles in allem war es der anstrengendste Traumjob, den er je ausgeführt hatte. Aber man konnte sich dran gewöhnen.
Außer... Außer, die Kommunikationseinrichtung auf seinem Schreibtisch ging los.
„Litov.“
„Fioran. Troublemaker hat die Schule verlassen. Ziel ist eine KI-Eruption im Boden der AURORA.“
„Ich aktiviere zwei zusätzliche Begleitkommandos“, sagte Franlin mit einem Seufzer. Akira konnte wirklich nicht einmal ein paar Tage auf der faulen Haut liegen. Andererseits, nach dem was mit Jora Kalis passiert war, sicherlich kein Wunder, das er so viel wie möglich selbst erledigen wollte. In diesem Fall mit den KI-Agenten direkt zu kämpfen. „Sora, kommst du klar?“
„Was denn, Franlin, traust du mir etwa zu, ich würde gegen ein halbes Kind verlieren? Akira wird nicht mal merken, das er beschützt wird.“
„Und das ist auch gut so.“ Denn wenn Akira bemerkte, das ihn Sicherheitsteams auf Schritt und Tritt begleiteten, das seine Sicherheit im Notfall mit vier permanent auf Bereitschaft stehenden Hawks gewährleistet werden konnte, verbot er diese Maßnahmen vielleicht. Und bescherte ihnen allen schlaflose Nächte. „Wissen wir Näheres über die Eruption?“
„Die Blue Lightning-Division.“
„Aha. Warne sie vor. Wenn Akira das raus kriegt, dann weiß ich nicht was passieren wird.“
„Verstanden. Ach und Franlin?“
„Ich höre, Sora.“
„Ich will nicht deinen Job haben.“
Franlin Litov lachte rau auf. „Ich deinen auch nicht. Allerdings ist es einfacher zu lernen einen fünfzigköpfigen, über neun Systeme verteilten Stab zu führen als nur mit der linken Hand fünfzig Methoden zum töten zu beherrschen.“
„Spötter“, erwiderte sie amüsiert.
„Beeil dich, Sora“, erwiderte Franlin und deaktivierte die Verbindung. Danach atmete er tief und lange aus. Akira Otomo zu dienen war wirklich ein Job, der einen Naguad ganz forderte. Und er erforderte Liebe. Tiefe, reine Liebe.

3.
Die Sphäre beschützte die Erde vor den Göttern, bis jener Tag eintrat, an dem sie sich den Strafern stellen konnten, oder der letzte Mensch an KI-Entzug gestorben war. Das wussten sie alle. Und sie wussten auch, dass es keine Alternative dazu gab. Um keinerlei KI für die Sphäre mehr zu erhalten musste nur etwas mehr als ein Jahr vergehen. Um sich den Göttern stellen zu können jedoch das eine oder andere Wunder.
Drei waren bereits geschehen, als insgesamt drei Daina-Völker den offenen Kontakt und ein Bündnis mit den Terranern gesucht und gefunden hatten. Ein viertes Volk hatte sehr vorsichtig angefragt, was die UEMF überhaupt vorhatte. Es schien wirklich, dass die Menschheit in letzter Zeit ziemlich populär geworden war.
Die Sphäre schützte die Erde vor Strafern, aber nicht vor Leuten, die ein Recht hatten, eingelassen zu werden. Obwohl dieser Schutz so weit hätte gehen müssen.
Als Eridia Arogads große Flotte eintraf, bestehend aus einem gemischten Verband der großen Häuser, der Anelph und der Raumflotte, gingen die meisten Schiffe über dem Mars sprichwörtlich vor Anker. Eines der Schiffe jedoch flog zur Erde weiter und dockte, nachdem es die Sphäre durchdrungen hatte, auf der OLYMP-Plattform an.

Als Helen Berger-Otomo durch die offene Schleuse trat, konnte Eikichi Otomo nicht mehr an sich halten. Er lief auf seine Frau zu. Die stieß einen Laut aus, der pure Freude bedeutete und stürzte in die Arme ihres Ehemannes, den sie so lange nicht gesehen hatte. Die beiden hielten einander und zitterten vor Erleichterung und Spannung. Aufmerksamere Beobachter konnten vielleicht recht schnell erkennen, dass es zwischen den beiden sofort wieder zu knistern begann.
Hinter ihrer Tochter trat Eridia Arogad ein. Sie grinste burschikos in die Runde. „Ich bin auch wieder da, falls das jemanden interessiert.“
Torum Acati, der für dieses Ereignis extra in den Erdorbit gekommen war, wollte ihr gerade antworten, als ein weißer Schemen an ihm vorbei huschte. Man konnte vieles glauben, wenn man im Leben nur lange genug gesehen hatte – und Torum hatte bereits eine kleine Ewigkeit hinter sich. Aber der weiße Schemen hinterließ auf seiner Netzhaut den Eindruck eines weißen Kaninchens, das mit mörderischer Miene und einem per KI aufgeladenen Kampfdolch auf Helen und Eikichi zusprang, und das konnte einfach nicht sein.
Dennoch griff er schnell und beherzt zu, packte das Tierchen am Nackenfell, wehrte den Dolch ab, den es verzweifelt nach ihm schlug und schüttelte das kleine, kaum zwei Hände große Tier derart durch, dass der viel zu große Dolch aus seinen Pfoten fiel. Danach hing es benommen in seinem Griff.
„Ein Kaninchen?“, fragte Acati entsetzt. „Ein Kaninchen als Attentäter?“
Vor den Augen der Anwesenden verwandelte sich das Kaninchen zuerst in einen grauen Wolf, dann in eine bewusstlose Frau, in dessen Haut im Nacken Acatis Finger gekrallt waren.
„Eine Dai“, erklang eine ernste und verärgerte Stimme hinter ihm. Dort stand Dai-Kuma, um die rechte Hand eine KI-Menge projiziert, die nur darauf gewartet zu haben schien, geworfen zu werden. Und das Ziel war sehr offensichtlich. Das ehemalige Kaninchen.
Dies war das Zeichen für den Auftritt von Dai-Kuzo. Es war ein Wunder, das sie sich gerade auf dem OLYMP aufhielt, denn eigentlich musste sie als Herrscherin des verschollenen und nun wieder aufgetauchten Kontinents Atalantis von Fernsehsendung zu Fernsehsendung, von Staatsempfang zu Staatsempfang hetzen, Botschafter bestätigen, eigene Botschafter ernennen und Dinge tun, die ein offizielles Staatsoberhaupt nun einmal tat. Auch wenn dieser Staat sich bis vor ein paar Wochen noch verborgen gehalten hatte.
Spötter hatten bereits die Frage gestellt, ob jetzt auch Mu und Avalon in dieser Sphäre auftauchen würden, aber das Gelächter war nur kurz gewesen.
„Dai-Okami ist eine Untergebene von Okame-sama, dem König der Wolfsdämo... Entschuldigt, Macht der Gewohnheit. Der Herr der Wolfs-Dai. Als sie Atalantis verließ, dachte ich mir schon, das sie etwas plant. Sie gehört einer konspirativen Gruppe von Dai an, die sich gegen die Aufhebung der Isolation gewendet haben und den Konflikt mit den Göttern unbedingt verhindern wollen. Ich...“ Die Dai hob eine Augenbraue und schenkte Helen und Eikichi einen interessierten Blick. „Ob sie überhaupt bemerkt haben, was gerade passiert ist?“
Dai-Kuma absorbierte sein eigenes KI wieder und trat neben seine Herrin. „Unwahrscheinlich. Sie waren schließlich auch sehr lange getrennt.“
„Wenn du nicht alles zweimal erklären willst, alte Freundin“, kommentierte Eri lächelnd beim Anblick des sich selig küssenden Pärchens, „dann würde ich zehn bis fünfzehn Minuten warten.“
„Zehn bis fünfzehn Minuten?“
„Wollen wir drauf wetten?“, erwiderte Eri grinsend.

Zehn bis fünfzehn Minuten später zahlte Dai-Kuzo ihre Wettschulden. Danach führte sie die Anwesenden in einen Konferenzsaal und ließ keinen Zweifel daran, dass die Angelegenheit ernst war. Tödlich ernst, und das nicht nur für die Erde.
Sie stellte sich hinter das Rednerpult und ließ ein Hologramm hinter sich erscheinen.
Als sie gerade zu sprechen beginnen wollte, traf ein Nachzügler ein. Jan Avergan Ryon murmelte eine Entschuldigung und suchte sich einen freien Platz. Der Anführer der Anelph war erst spät über den Ernst dieses Treffens informiert worden.
„Herrschaften“, begann Kuzo, „die Lage ist ernst. Aber sie ist nicht hoffnungslos. Im Gegenteil. Dennoch, unsere Situation hat sich mit der Ankunft von Helen verschärft. Dramatisch verschärft.
Verwirrt blinzelte die Deutsche. „Wieso? Was habe ich getan? Was habe ich tun können, achtzig Lichtjahre entfernt und in einen Computer integriert?“
„Es gibt Stimmen unter den Dai, die meinen, du hättest dort bleiben sollen“, sagte Kuzo düster.
„Und es gibt Stimmen wie meine, die sagen, dass sie endlich wieder leben soll, Seite an Seite mit ihrer Familie“, warf Eridia laut ein. „Sie hat schon genug mitgemacht!“
„Das streitet auch keiner ab“, erwiderte die Dai. „Im Gegenteil. Aber du weißt, alleine ihre Anwesenheit kann all unsere Pläne scheitern lassen.“
„Wollen wir drauf wetten? Ich glaube, ich habe gerade eine Strähne“, sagte Eridia und wedelte sich mit den frisch gewonnenen Geldscheinen Luft zu.
„Die Wette verliere ich nur zu gerne“, erwiderte die Dai. „Aber du weißt, dass es nicht so einfach ist.“
„Könnte vielleicht jemand das reden übernehmen, der klipp und klar sagt was Sache ist, und nicht in kryptischer Geheimsprache redet?“, brauste Eikichi auf.
„Du willst es einfach?“
Der Japaner nickte.
„Schnell und klar auf den Punkt?“
„Ja, verdammt.“
„Und da bist du dir sicher?“
Heftig nickte der Executive Commander der United Earth Mecha Force.
„Okay, dann kommen wir erstmal zu einem Punkt. Der Autounfall, den deine Frau erlitten hat, und dessen Folgen Michael und Eri dazu bewogen haben, sie in einem Biotank nach Nag Prime zu schicken, wurde von der gleichen Dai-Fraktion initiiert, die heute versucht hat, Helen umzubringen.“
„Das war wirklich knapp“, gestand Eikichi geschockt. „Aber ich vermisse den Sinn.“
„Nicht alles im Universum macht Sinn“, erwiderte Kuzo trocken. „Oder nur für einige wenige, aber nicht für den Rest des Universums.“
„DAS macht wiederum Sinn“, spöttelte Eridia Arogad.
„Um es kurz zu machen, hat sich niemand gewundert, das die Erde noch nie massiv angegriffen wurde, von den Göttern, meine ich?“
„Dafür gibt es vielleicht einen Grund“, sagte Torum Acati. „Mir gegenüber wurde eine geheime Flotte erwähnt, die irgendwo in der Nähe konserviert ist.“
„Tatsache ist, es gibt diese Flotte. Und sie könnte wenn schon nicht die Götter besiegen, dann doch wenigstens genug schwächen, um sie verwundbar zu machen. Das ist das schöne an Robotern. Sie handeln streng logisch, und die Verluste bei einem Zusammenprall zwischen Strafern und uns waren ihnen immer zu hoch. Also handelten wir einen Status Quo aus. Wir ließen die Flotte im Dorf, und sie ließen uns in Ruhe. Abgesehen von drei, vierhundert Übergriffen des Cores, aber das steht auf einem anderen Blatt.
Um aber zu garantieren, dass wir die Flotte nicht aktivierten, mussten wir uns überwachen lassen.“
In Eikichis Verstand machte es laut und vernehmlich Klick. Er sah seine Frau an, und ein zweites Mal leuchtete Begreifen in seinem Gesicht aus. „Lass mich raten, Dai-Kuzo. Ihr habt keinen externen Beobachter akzeptiert, also wurde einer von euch ausgewählt, der die Aktivierung der Flotte weiter meldet, ob er will oder nicht.“
„Das ist richtig, Eikichi.“
„Deshalb fand es diese ominöse Dai-Gruppe sehr schlau, meine Frau anzufahren und uns dazu zu bringen, sie nach Nag Prime zu bringen. Der Wächter ist weg, aber es kann kein neuer gewählt werden, solange sie im biologischen Sinne noch lebt.“
„Auch das ist richtig, Eikichi.“
Helen sah ihren Mann erschrocken an. „Ich bin... Der Wächter?“
„Ja, und du wirst die Erweckung der Kommandoschiffe an die Götter melden. Es gab schon immer diese Wächter auf der Erde, und jedesmal wenn der alte Wächter starb, ging dieses Amt auf einen neuen über. Das letzte Mal warst du an der Reihe, und das tut mir Leid“, sagte Kuzo beinahe tonlos. „Und es tut mir Leid, das wir dich nicht beschützen konnten. Danach blieb uns wirklich nichts anderes als dich fort zu schicken und zu hoffen, dass die KI-Kontamination irgendwann einmal abklingen würde, mit der dich diese Dai attackiert hatten.“
„Und jetzt bin ich wieder hier und übe die Wächterfunktion erneut aus?“
Kuzo nickte ernst.
„Die Sphäre kann das nicht verhindern?“
„Ich fürchte nein. Aber all das ist egal, und weit weniger dramatisch als du vielleicht denkst. Genauso wie die Götter ihre Überwachung verstärkt haben, als der vertraglich vereinbarte Wächter die Erde verlassen hat, haben sich die Dinge für uns verändert, und das zum Guten. Das Ende dieses uralten Konflikts ist nahe, strebt dem Höhepunkt entgegen. Und derjenige, der den Konflikt ein für allemal beenden wird, ist der Reyan Maxus, ein KI-Krieger, der KI-Rüstungen projizieren und Materie manipulieren kann.“
Helen Arogad hob eine Augenbraue. „Du sprichst von Akira, oder?“
„Ich hätte nie gedacht, das er die Talente entwickelt, um so weit zu kommen. Vom Oren zum Dai ist es nur ein kurzer Sprung, aber ein Maxus wird niemals ein Dai werden, weil...“ Sie lachte und schüttelte dabei den Kopf. „Das führt zu weit. Aber ja, dank Akira vereinigt sich mehr und mehr Macht in dieser Galaxis. Die Bedrohung durch die Götter vereint uns, und gemeinsam werden wir sie ein für allemal beenden.“
Das glauben Sie wirklich, Dai-Kuzo-sama?“, fragte Jan Ryon nach.
„Das glaube ich wirklich, Admiral“, sagte die Dai im Brustton der Überzeugung.
„Dann würde ich zwischen ihren Dai mal gründlich aufräumen, damit nicht noch weitere Attentate gegen Helen Arogad ausgeführt werden. Sie haben dann keinerlei Bedeutung mehr.“
„Das sehe ich genauso“, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln. Sie wandte sich Eikichi und Helen zu. „Das Universum wird die nächsten vierundzwanzig Stunden auf euch verzichten. Ich sorge dafür, das es nicht kollabiert, Kinder.“
„Und ich sorge dafür, dass die UEMF nicht kollabiert“, fügte Eridia hinzu.
„Ich sorge für die Flotte und den Rest“, sagte Torum Acati, wurde rot und räusperte sich vernehmlich. Denn beide waren aufgesprungen und eilten nun aus dem Konferenzsaal. Es bedurfte nicht besonders viel Phantasie um sich vorzustellen, welchen Ort sie nun aufsuchen und für eine lange Zeit nicht mehr verlassen würden.
***
Es war nicht sehr schwer, die Quelle der KI-Eruption zu finden. Ich musste nur in die Grey Zone wechseln, eine Passage tiefer in das blasige Gestein suchen, die von UEMF-Infanteristen bewacht wurde und hindurch stoßen. Die Männer und Frauen waren nicht wirklich Hindernisse. Im Gegenteil. Sie waren schon vorab von meiner Ankunft instruiert worden und ließen mich anstandslos ein.
Ich passierte auf meinem Weg Soldaten mit den verschiedensten Uniformen, Polizisten und Rettungskräfte. Letztere überzeugten mich davon, dass die Kampfhandlungen vorbei waren. Nichtkombattanten brachte man nicht auf ein Schlachtfeld.
Schließlich und endlich endete die Passage, nach einem Internierungsplatz für die Gefangenen und einem Verbandsplatz für die Verwundeten, in einer ehemals gut getarnten Kaverne, die nun aber gut sichtbar war und von weiteren Infanteristen flankiert wurde.
Als ich durch ihre Reihen trat, salutierten sie mit allen Anzeichen höchsten Respekts.
In der riesigen Gesteinsblase, die verwinkelt und labyrinthartig aufgebaut war, entdeckte ich schließlich die Ecke mit der größten Lärmentwicklung. Dort fand ich dann Doitsu Ataca, Mako-chan und einen Haufen gut ausgerüsteter Elite-Soldaten. Das war aber bei weitem nicht so beeindruckend wie das Equipment.
Ich pfiff anerkennend, als ich die lange Reihe an Biotanks erkannte. Zwanzig von ihnen standen hier, und fünf waren belegt. Vier von ihnen waren separiert und dienten augenscheinlich einem besonderen Zweck. Im Moment waren sie leer.
„Guter Fang. Ich nehme an, hier implantieren sie ihre Attentäter unschuldigen Menschen?“, fragte ich geradeheraus.
„Akira? Was machst...“, begann Mako, winkte aber ab. „Schon gut, dumme Frage. Du musst natürlich immer da sein, wo was los ist. Hast du nicht eigentlich eine Matheklausur zu schreiben?“
„Sakura hat mir frei gegeben“, erklärte ich hastig. „Also, wenn ich schon mal hier bin, was ist passiert?“
„Scheiße ist passiert“, brummte Doitsu. „Wir haben das Operationsgebiet eine Woche lang oberserviert. Als wir sicher waren, Sinn und Zweck der Anlage entdeckt und die Verteidigung erkannt zu haben, schlugen wir zu. Wir hatten keine große Probleme, bis wir auf KI-Meister trafen. Der Kampf wurde etwas heftig. Aber wir haben gewonnen.“
Makoto hielt lächelnd eine Schreibfolie hoch. „Und wir haben zumindest ein Verzeichnis jener Personen, die seit unserem Start von der Erde von einem KI-Agenten übernommen wurden. Immerhin etwas. Aber wir haben nicht damit gerechnet.“ Er deutete mit dem Daumen auf die besetzten Biotanks.
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du mit damit?“
„Sie sind mit dem Core vernetzt.“
Nicht gut, gar nicht gut, ging es mir durch den Kopf. Und damit hatte ich sehr wahrscheinlich Recht. „Sie machen Jagd auf Henry“, stellte ich tonlos fest.
„Das klingt plausibel. Sie sind fanatische Anhänger der Legaten, und sie haben ihn als Agenten der Erde identifiziert. Vor allem nachdem er an deiner Seite aufgetaucht ist, sollte er ziemlich weit oben auf ihrer Racheliste stehen“, brummte Doitsu.
Kurz ging ich die Optionen durch. Wie gefährlich konnten sie Henry William Taylor werden, solange er sich im Paradies der Daina und Daima aufhielt. Konnten sie ihn töten? Oder wenigstens verletzten? Nur mit falschen Daten füttern? Ihn behindern? Unwillkürlich strich ich mir über die linke Schläfe, wo noch immer eine Narbe prangte. Hier hatte der Anschluss gesessen, damals im Biotank, den die kronosischen Wissenschaftler überlastet hatten, um mein Gehirn zu rösten. Spötter meinten heute noch, sie hätten damit teilweise Erfolg gehabt, was nicht unbedingt meine Zustimmung fand, aber einiges erklärt hätte.
Aber es bewies auch, dass man nicht wirklich sicher war, nicht einmal in einer virtuellen Welt wie dem Paradies.
„Personenschutz für die Körper der Forschungsgruppe?“, fragte ich ernst.
„Bereits veranlasst. Außerdem verstärkter Schutz für den ganzen Core“, sagte Makoto
„Können wir die hier vom Paradies trennen?“
„Negativ. Es würde sie von ihren Körpern trennen und als reinen Geist durch das Paradies irren lassen. Wir hätten nichts gewonnen, uns lediglich gerächt.“ Doitsus Stimme klang mit einem Mal sehr müde.
Entschlossen trat ich auf die Röhren zu. Allein die Bewegung auf die mit bernsteinfarbener Flüssigkeit gefüllten Behälter ließ mir den kalten Schweiß ausbrechen. Ich hatte nicht sehr viele angenehme Erinnerungen an diese Dinger. Und ich war mir sicher, es würden nicht sehr viele angenehme hinzu kommen.
„Ich gehe selbst rein“, sagte ich ernst.
Doitsu und Makoto wechselten einen kurzen Blick.
„Würde es etwas nützen, wenn wir dich bedrohen, fesseln, wegsperren oder dich darüber informieren, dass eine entsprechende Warnung an Henry unterwegs ist?“, fragte Makoto emotionslos.
„Nein.“
„Das habe ich befürchtet.“ Makoto seufzte.
Wieder wechselten beide Männer einen Blick. „Wir begleiten dich“, stellte Doitsu fest.
Makoto berührte sein Kom-Gerät. „Drei Biotanks bereit machen. Wir folgen den Attentätern.“
Spontan meldeten sich über fünfzig UEMF-Infanteristen freiwillig, um sie auf dieser Mission zu begleiten, aber letztendlich wählte Makoto lediglich Chiba aus. Wer ein wenig Ahnung von KI hatte, der konnte wohl sagen, welche Macht sich damit auf engstem Raum zusammenballte.
Nach etwa zwanzig Minuten Vorbereitungszeit stiegen vier Männer – einer war selbstverständlich ich - in speziellen Overalls in die Tanks.
„Kann jemand Admiral Ino Bescheid sagen, dass ich es nicht mehr zurück schaffe?“, scherzte ich. Dann wurde er angeschlossen, und übergangslos befand er sich auf einem Trip in die Seele des Paradies der Daima und Daina.
***
Als die Welt wieder einen rationalen Sinn für mich ergab, fand ich mich an einem Ort wieder, der weit von dem Ort in der Kaverne entfernt war, an dem ich in den Tank gestiegen war.
Rings um mich rappelten sich meine drei Begleiter wieder auf.
Das, was uns umgab, war keine Höhle mit Steinwänden. Auch kein exotischer Strand, keine Bar, kein Club, nicht einmal eine simple Einkaufspassage. Es war ein Raum aus Stahl. Beinahe hätte ich an eine Falle gedacht, wenn er nicht mehrere Türen gehabt hätte. Form und Position der Türen ließen den Verdacht aufkommen, dass wir es mit einem Korridor zu tun hatten.
Just als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, fuhr eine der Türen auf. Ein eifrig diskutierender Mann trat mit seiner Gesprächspartnerin ein, grüßte beiläufig und ging ein paar Schritte, bevor er inne hielt und wieder zurück ging. „Akira? Was zum Teufel machst du hier?“, rief Henry William Taylor fassungslos. „Dies ist eine Konstruktrealität tief in der Vergangenheit der Erde!“ Er warf die Stirn in Falten. „Auch wenn wir gerade nicht auf der Erde sind, zugegeben.“
„Würde es dich sehr schockieren, wenn wir dir erzählen, dass wir über eine Anlage hierher gekommen sind, die erbaut wurde, um den Kronosiern zu ermöglichen, den Core zu infiltrieren?“, fragte ich mit Sarkasmus in der Stimme. „Du hast Attentäter am Hals, alter Freund.“
„Attentäter? Hier? Ich? Aber...“
Gönnerhaft klopfte ich ihm auf die Schulter. „Du hast ja jetzt mich und die anderen. Zusammen richten wir das schon.“
„Entschuldige bitte, wenn ich das Gegenteil glaube, Akira“, sagte er mit ernster Miene. „Du ziehst eher noch mehr an.“
Okay, ich konnte verstehen, warum er so etwas über mich sagte. Immerhin hatte ich ihn bereits einmal getötet. Aber ich konnte nicht verstehen, warum Doitsu, Makoto und Chiba dazu energisch nickten. „Leute...“, beschwerte ich mich, stieß aber auf taube Ohren. Mist.

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Anime Evolution präsentiert: Vertauschte Rollen
Wenn die Frauenrollen von Männern, und die Männerrollen von Frauen gespielt werden...


Es war ein sanfter Frühlingsmorgen, als ich aus dem Fond der Limousine stieg. Ich hatte Mutter tagelang bekniet, mir diese Peinlichkeit zu ersparen, wenigstens an der Oberstufe, die ich seit diesem April besuchte, aber sie hatte alle meine Einwände abgeschmettert mit dem Hinweis, das ich kein Junge war. Mein Gegenargument, dass ich seit der Kronosierinvasion als Kampfpilotin diente, als DIE Kampfpilotin, hatte sie nicht gelten lassen. Eiko Otomo hatte mir unverblümt gesagt: „Im Hawk trägst du ja auch einen Helm.“
Über derartige Augenwischerei empört ballte ich die Hände zu Fäusten und setzte eine grimmige Miene auf. Und es störte mich überhaupt nicht, dass Dutzende, ja hunderte Schüler der Fushida High diesen Gesichtsausdruck, diese Gestik mitbekamen. Denn immerhin war ich kein Modellmädchen, das sich mit der Schürze bewaffnet in die Schulküche stellte, um ihrem Schwarm Plätzchen zu backen. Überhaupt hatte ich es nicht mit kochen, und der Rest der Welt konnte mir gestohlen bleiben. Das Recht für diese arrogante Einstellung hatte ich mir in vier langen Jahren des Kampfes gegen die Kronosier erworben und dafür den militärischen Rang eines Colonels und den Ehrennamen Blue Lightning erhalten: Blauer Blitz. Ich trug ihn mit mehr Stolz als die Schuluniform, die ich gezwungen war zu tragen. Überhaupt gehörten Röcke nicht zu meinem Bekleidungsstil, wenngleich sogar ich zugeben musste, dass der schwarze Rock und der schwarze Blazer etwas militärisches hatten. Und er hatte den Vorteil, dass ich nach einigen wenigen Schritten mit der Masse der Mädchen verschmolzen war, dass ich Anonymität erreicht hatte. Solange ich an der Limousine stand war ich Akira Otomo, die Tochter von Eiko Otomo, der Direktorin der United Earth Mecha Force, aber drei Schritte weiter hatte ich meine Ruhe und meinen Frieden. Beides hatte ich mir mit dem Tod von dreihundert Gegnern erkauft und würde es mir nicht nehmen lassen. Und dabei fürchtete ich mich nicht wie meine überängstliche Mutter vor Entführern, Attentätern oder Männern mit dem merkwürdigen gedanklichen Fehler, ausgerechnet mich haben zu wollen, mich, das unattraktivste Mädchen unter dieser Sonne. Mein Crosstraining befähigte mich dazu, bis zu fünf Gegner zugleich zu stellen. Und ich redete hier von ausgebildeten Soldaten, nicht von kleinen Hinterhofschlägern, die sich für große Nummern auf dem Schulhof hielten.
Aber Mutter war nicht zu erweichen gewesen, und Vater konnte ich nicht manipulieren, solange er auf dem Mond war und die dortigen Entwicklungsfirmen anleitete, um neue Waffen gegen die Kronosier zu entwickeln. Helge Berger galt als Verwaltungsgenie und hervorragender Wissenschaftler, und ich konnte ihn jederzeit um den kleinen Finger wickeln. Falls er mal Zuhause war, hieß das, also fiel diese Option leider aus.

„Oneechan, darf ich aussteigen?“, hörte ich ein leises Flehen.
Sofort tadelte ich mich für meine Gedankenlosigkeit und trat hastig einen Schritt beiseite, um meinen kleinen Bruder Yuri aus dem Fond zu lassen. Wenn ich ihn schon zwang, dieses Schaulaufen mitzumachen, dann musste ich es ihm nicht noch schwerer machen als ohnehin schon. Immerhin hatte er auch extra für mich sein letztes Schuljahr übersprungen, um mit mir, Kei und Makoto in einer Schule zu bleiben. Das war wichtig für unsere vielfältigen Einsätze gegen die Kronosier.
Als der große, schlanke Junge vor mir stand, tat ich etwas, wofür ich mich jedes Mal hasste: Ich richtete seinen Kragen, strich ihm die Haare glatt und besah mir sein hübsches, makelloses Gesicht von allen Seiten. Nichts wäre mir schlimmer erschienen, als wenn mein kleiner Bruder mit einem Mitesser oder gar Pickel im Gesicht in die Schule gegangen wäre. Er nahm es nicht gerade sehr genau mit seiner Gesichtspflege, und ich als große Schwester hatte diese Verantwortung so einfach übernommen, dass ich mich fragen musste, ob in der knallharten Elite-Soldatin nicht doch eine Frau steckte. Irgendwo. Irgendwie. Wenn ich sie fand würde ich sie jedenfalls töten, das stand fest.
„Gut siehst du aus“, sagte ich in jenem gutturalen Ton, den Mako-chan zu gerne von sich gab, wenn sie damit fertig war, ihren großen Bruder Sakura herzurichten.
Wieder einmal fragte ich mich, wen Yuri bestochen oder getötet haben musste, um die Erlaubnis zu bekommen, sein Haar weißblond zu färben, aber es stand ihm ganz hervorragend, und nicht ohne Stolz fühlte ich, dass Dutzende Mädchenblicke auf ihm ruhten. Mein kleiner Bruder war mein ganzer Stolz, und das nicht nur, weil er mir schon in so manche Schlacht gefolgt war und zu den vier besten Piloten der Erde gehörte.
„Unterlass derartige Putzereien bitte bei mir“, sagte Kei, während er sich aus dem Wagen quälte. Der Gelenkigste war er nicht, aber definitiv ein schöner junger Mann, dessen Kühle so manches Mädchen verrückt machte. Aber diese Kühle war es auch, die den dunkelblonden Jungen so effektiv in seinem Hawk machte.
„Davon träumst du auch nur“, erwiderte ich spöttelnd.
Sein Kommentar war ein kurzes, bissiges Grinsen. Er reichte mir meine Schultasche. „Die brauchst du sicherlich noch.“
„Das ich das noch mal erleben würde, Captain, dass Sie mir die Tasche nachtragen“, säuselte ich.
Kei sah weg und murmelte: „Mache ich das nicht sowieso bei jedem Einsatz? Komm, Kleiner, die Schule ruft!“
„J-ja!“ Sofort war Yuri an der Seite des charismatischen Einserschülers und Kampfpiloten. Und ich war mir bewusst, dass meinen Freund aus Kindheitstagen nicht weniger bewundernde Blicke trafen als meinen kleinen Bruder. Manchmal fragte ich mich, warum Kei nicht auch so auf mich wirkte. Manchmal fragte ich mich das nicht.
Ein Klaps auf meinen Allerwertesten riss mich in die Realität zurück. „Yoshiko...“, tadelte ich meine beste Freundin, während ich mir das lädierte Körperteil rieb.
„Selbst Schuld, wenn du nicht auf deine Deckung achtest. Was musst du auch deinem Eisprinzen hinterher schmachten?“ Ihr Lächeln war wohl das Falscheste, das sie jemals aufgesetzt hatte, denn ich wusste ganz genau, dass meine allerbeste Freundin von meinem kleinen Bruder hin und weg war. Ich hatte keine Ahnung wann es passiert war, aber irgendwann, nach einem Einsatz, von dem Yoshiko natürlich nichts wusste, hatten sie sich in die Augen gesehen, und es war um sie geschehen gewesen. Seitdem betrachtete sie Yuri nicht länger als Sandkastenfreund, sondern... ganz anders. Ich war mir noch nicht ganz sicher, ob mich diese Entwicklung beruhigen sollte oder ob ich sie irritierend fand. Jedenfalls spürte ich einen leichten Anflug von Entsetzen, wenn ich mir vorstellte, ich würde die beiden eines Tages in Yuris Zimmer bei... Wer weiß was erwischen. Es ging eine gewisse Depression davon aus und war mit Sicherheit das Ende der Zeit, in der ich meinen kleinen Schatz bemuttern konnte. Ich hatte nie wirklich gelernt zu teilen. Im Austeilen hingegen war ich sehr gut. „Willst du ihn haben? Ich kann da was arrangieren. Jetzt wo er bei uns im Haus wohnt, komm uns doch einfach besuchen. Oder noch besser, zieh gleich mit ein. Ein Mädchen gegen zwei Jungen ist wirklich ungerecht.“
„Meinst du das ernst?“, fragte sie mit einem merkwürdigen Funkeln in den Augen.
Ich erstarrte. Die Richtung, in die dieser Scherz driftete, gefiel mir gar nicht.
„Eventuell“, raunte ich und versuchte mich aus der Affäre zu ziehen. „Komm, wir müssen los. Sonst schließen sie das Tor.“
„Aber, aber. Akio-sama wird doch kaum seiner heiß geliebten Akira das Tor vor der Nase zuschlagen, oder?“, erwiderte sie und hob Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum Sieges-V.
Dieser Gedanke ernüchterte mich. Akio Kurosawa war ein echtes Problem. Nicht unbedingt wegen seiner, nun, sagen wir Sympathie, die er für mich empfand und sehr offen zeigte. Ich war das Problem, denn eigentlich mochte ich den charismatischen Blondschopf. Ein wenig. Irgendwie. Aber es fiel mir schwer ihn anzusehen, wenn ich ihn traf. Und das war lächerlich. Immerhin hatte ich vor nichts Angst. Ich hatte schon Fregatten und Zerstörer von innen vernichtet und nebenbei Daishis im Dutzend vom Himmel geholt. Menschen wir ich hatten keine Angst, sie produzierten sie.
„Was du wieder redest“, murrte ich und ging neben Yoshiko über die Trennlinie. Beinahe hätte ich befürchtet, dass eines der extrem eifersüchtigen Mädchen der Schülervertretung das Tor vor mir zu schob, einfach um mir eines auszuwischen. Ich hätte es sicherlich so gemacht, wenn ich in Akio-senpai verliebt gewesen wäre. Und mir wären sicherlich noch ganz andere Dinge eingefallen, um eine Konkurrenz wie mich auszuschalten. Aber anscheinend hatten sie zu viel Angst vor mir. Immerhin ging ja das Gerücht um, ich wäre der Bansho der Schule, der oberste Bandenboss. Und obwohl das nur die halbe Wahrheit war, fand ich diesen Ruf ab und an sehr nützlich.

Ich sagte ja sicherlich schon, dass mich nichts mehr überraschen konnte. Und das stimmte auch. Yoshiko hingegen war von Rechts wegen erschüttert, als ein einhundertsechzig Pfund schwerer Drittklässler knapp vor unserer Nase vorbei flog, hart auf dem Beton auf kam und sich dann noch mehre Meter überschlug, bevor er endlich liegen blieb. Ich seufzte zum Steine erweichen, denn das konnte nur eines bedeuten: Aki Shirai! Der blasse Junge mit den braunen Haaren und der schmächtigen Statur hatte wieder einmal zugeschlagen. Eigentlich wirkte er, als würde für ihn jederzeit ein Ärzteteam mit Defibrilator bereit stehen, aber wenn man bedachte, dass er ein Karate-Schwarzgurt und in Judo den braunen Gürtel hatte, konnte einem Angst und Bange werden. Doch es war gerade diese Zerbrechlichkeit, die ihn auf Frauen wirken ließ. Eine Tatsache, der er sich übrigens nicht bewusst war.
Langsam setzte ich mich in Bewegung und zog die immer noch Schreckensstarre Yoshiko hinter mir her.
Wie ich erwartet hatte, hatten hinter der nächsten Ecke fünf Burschen Aki eingekreist und lauerten auf ihre Chance, ihn zu erledigen. Aber gegen einen Schwarzgurt hatten sie nicht wirklich eine Chance. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.
„Bist du schon wieder in Schwierigkeiten, Aki-kun?“, fragte ich mit einem weiteren tiefen Seufzer.
„Nicht ich, Klassensprecherin“, sagte er mit leiser, zerbrechlicher Stimme und deutete mit dem Daumen hinter sich. Dort hockte klein und blass Megumi Takahara am Boden gegen die Mauer gelehnt und sah angstvoll zu den Jungen hoch. Also entweder hatte sie die Jungs mit ihrem Fototick in den Wahnsinn getrieben, oder hier passierte etwas, was ich niemals tolerieren würde.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte ich, stellte meine Tasche ab und begann meine Arme zu strecken.
„Das ist Akira-sama!“, rief einer der Burschen. „Lasst uns hier verschwinden!“
„Was denn? Das ist doch nur ein Mädchen!“
„Selbst wenn sie nur ein Mädchen wäre, es ist egal! Akira-sama verärgert man nicht! Akira-sama besiegt man nicht!“, blaffte der erste den zweiten an, griff in seinen Kragen und zwang ihn, sich mit ihm zu verbeugen. „Ein Versehen, nur ein Versehen, Akira-sama. Wir gehen schon wieder.“
Kurz darauf zogen die fünf Kerle tatsächlich ab. Was, keine Prügelei? Ich hatte mich auf ein wenig Bewegung gefreut.
„Danke, Aki-kun“, sagte die weißhaarige Megumi und ließ sich von ihm aufhelfen. „Und alles das nur wegen differenzierenden Preisvorstellungen.“
Ich schlug mir eine Hand vor mein Gesicht. „Megumi! Du hast doch nicht etwa schon wieder...?“
„Schon wieder was?“, fragte die Computerverrückte und lächelte ihr unschuldigstes Lächeln.
Fordernd streckte ich ihr meine Hand hin. „Gib sie her.“
„Ich weiß nicht, was du meinst, A-ki-ra-sa-ma.“
„Die Gesäuseltour kannst du dir sparen“, tadelte ich. „Gib... sie... her!“
Murrend griff sie in die linke Tasche ihres Uniformrocks und zog ein gutes Dutzend Fotos hervor. Ich brauchte nicht erst drauf zu schauen, um zu wissen was sie zeigten. Mich, Yoshiko und ein paar andere Mädchen in wirklich, nun, nicht gerade künstlerisch wertvollen Situationen und Posen.
„Diese Serie ist neu. Es sieht wirklich so aus als würden Kei und ich uns küssen.“ Ich lächelte mit fast geschlossenen Augen. „Deine Computerarbeiten werden immer besser, mein Schatz.“
„Oh, danke. Ich habe auch lange daran gefeilt und... Warum hältst du die Hand auf?“
„Den Datenträger. Bitte.“
Murrend legte sie eine Flashcard in meine ausgestreckte Hand. Ich zerbrach den Träger immer noch lächelnd in der Rechten. „Du löschst die Masterdatei auf deinem Rechner. Ich werde das kontrollieren.“
„Manchmal machst du mir wirklich Angst, Akira“, sagte sie mit einem Schaudern in der Stimme.
„So? Sehr gut. Übrigens, es ist kein Wunder, dass die Jungs auf dich sauer waren. Erstens nimmst du mich als Modell und zweitens willst du auch noch zehntausend Yen pro Bild. Das ist vollkommen übertriebener Wucher.“ Immer noch lächelnd wandte ich mich Aki zu. „Aki-kun, darf ich dich bitten, Megumi in unsere Klasse zu begleiten? Falls die Typen wiederkommen.“
Ich ergriff meine Tasche, wandte mich um, winkte noch einmal und setzte mich wieder in Bewegung. Dabei begann ich genüsslich die Bilder in kleine Fetzen zu zerreißen.
„Ist das dein Ernst? Sie glaubt es wirklich nicht?“, hörte ich Aki-kun hinter mir rufen. Aber das interessierte mich schon nicht mehr.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du manchmal die Hand vor Augen nicht siehst?“, tadelte Yoshiko mich ernst.
„Was? Bist du vielleicht der Meinung, wir sollten selbst in dieses Geschäft einsteigen, anstatt es zu unterbinden?“ Ich blieb stehen und beugte mich zu meiner Freundin herüber. „Willst du vielleicht mit ein paar Aufnahmen von uns beiden starten?“
Yoshiko errötete. „Wer will dich schon küssen.“
„Sag ich doch.“ Bestätigt und zufrieden mit der Welt betrat ich die Schuhhalle.

„Wo bist du so lange gewesen?“ Keiko Hazegawas Blick hätte einen Baum umwerfen können. Die große Frau konnte einen Menschen, der den Umgang mit ihr nicht gewohnt war, durchaus ängstigen. Immerhin war sie größer als die meisten Jungen an der Schule und übertraf selbst die Mädchen aus dem letzten Jahr bei weitem. Dennoch war sie, Hm, wenn ich als Frau das sagen durfte, einfach schön. Vor allem war bei ihr nicht nur die Körpergröße gewaltig. Ab und an fragte ich mich, ob die BHs, die sie trug, extra für sie hergestellt werden mussten, mit der sie ihre jugendliche Fülle bändigte.
„Es gab ein wenig Ärger. Megumi hat wieder Fotos verkauft. Aber Aki-kun hatte ihr bereits aus der Patsche geholfen“, sagte ich mit einem zufriedenen Lächeln.
„Aki-kun? Der kleine, schwächliche Aki?“ Erstaunt musterte sie mich.
„Der Schwarzgurt Aki“, erinnerte ich.
„Zugegeben. Aber warum hat Megumi sie nicht selbst fertig gemacht? Sie hat es schon mal gegen zehn zugleich aufgenommen.“
„Vielleicht wollte sie sich ausnahmsweise einmal retten lassen“, erwiderte ich.
Yoshiko erwiderte mein Zwinkern in ihre Richtung mit einem breiten Lächeln.
Als ich am Platz meines Bruders vorbei kam, fuhr ich ihm kurz durch die Haare. Er war ja so niedlich. Aber vor allem war er ein tödlicher, präziser Kämpfer, und das machte ihn erst so anbetungswürdig.
„Lass ihn doch wenigstens einmal in Ruhe“, tadelte Kei. „Es fehlt noch, dass du ihn morgens anzuziehen versuchst.“
Der Junge saß auf dem Schreibpult direkt hinter meinem und sah ernst zu mir herüber.
Ich musterte meinen Stellvertreter und besten Piloten mit einem schiefen Blick. „Ist es dir vielleicht lieber, wenn ich mich in Eifersucht ergehe, weil mein kleiner Bruder ein Jahr übersprungen hat und nun in meiner Klasse ist, was mich wie eine Idiotin wirken lässt?“
Kei verzog nicht eine Sekunde die Miene, antwortete aber auch nicht darauf.
„Außerdem hätte er es sicherlich gesagt, wenn es ihm unangenehm gewesen wäre, von Oneechan angefasst zu werden.“
„Es ist nicht das anfassen“, murmelte Kei und vermied es, mich anzusehen.
„Was ist es dann?“
„Das wirst du schon selbst herausfinden müssen, Akira-chan.“
Ich hob die linke Augenbraue. „Was machst du eigentlich hier? Deine Klasse ist doch nebenan.“
„Ich besuche Freunde. Darf ich das nicht?“
Hinter Kei beugte sich Hiro Yamada hervor und winkte schüchtern. Das war typisch für den Blondschopf. Nie konnte er sich richtig durchsetzen, nicht einmal gegen Kei.
Aber als Dai-chan direkt hinter ihm aus dem Nichts auftauchte, erschrak Mr. Ice doch ein wenig. „Soll ich ihn erledigen, Boss?“, fragte Dai Ataka und schob ihre Brille die Nase hoch. Dabei entstand ein schimmernder Effekt, der über ihre Gläser perlte.
„Ich glaube, das erledigt Sakura schon für uns, wenn Kei lange genug wartet“, erwiderte ich mit einem dünnen Lächeln.
„Zugegeben“, erwiderte Dai-chan.
Keiko nahm schmunzelnd auf ihrem Sitz Platz und musterte die beiden. „Seht aber zu, dass ihr Hiro-chan nicht verletzt. Es gibt eine Menge Mädchen, die würden es euch übel nehmen, wenn er mit einem blauen Auge herumlaufen müsste.“
„Äh“, machte Hiro Yamada und errötete. Kräftig und dunkel.
„Habe schon verstanden“, brummte Kei belustigt. Er schob seine Hände tief in die Taschen seiner Hose, stieß sich ab und schlenderte auf den Gang hinaus.
„Stopp.“
„Was ist denn noch?“, fragte er ärgerlich.
Ich trat an ihn heran und hakte den Kragen neu ein. Anschließend fuhr ich ihm ein paar mal durchs Haar. „Dass du auch nie auf dein Äußeres achten kannst“, tadelte ich.
„Und das aus deinem Mund, Akira, das ist wohl das größere Paradoxon.“
Gegen meinen Willen musste ich lächeln. „In der Schule trage ich weder Helm noch Druckanzug.“
„Und das ist wirklich schade“, erwiderte Kei, zwinkerte mir zu und verließ die Klasse. Merkwürdig, für einen Moment, einen kleinen Moment war er mir wirklich unter die Haut gegangen.
Irgendwie wurde ich nicht schlau aus diesem Knaben.

Die Homeroom-Stunde begann mit unserem Klassenlehrer. Oh, ich wünschte wirklich, es wäre ein Heimspiel gewesen, ausgerechnet ihn als Klassenlehrer zu haben, immerhin war er mein Cousin. Aber leider nahm er mich – ausgerechnet mich – in seinen Unterrichtsfächern besonders hart ran. Er sagte immer, man müsse mein Talent stetig prüfen und feilen. Vielleicht was es dieses prüfen und feilen, das dafür sorgte, dass ich es im Landesvergleich regelmäßig in die Top Ten schaffte, ohne eines dieser makellosen Mega-Genies ohne Leben zu sein.
Als Sakura Ino eintrat, ging ein Raunen durch den Raum. Heute trug er seine goldblonde Haarflut einmal offen. Der große, athletische und leicht gebräunte Mann mit den tiefblauen Augen winkte mit einem fröhlichen Lächeln in die Runde und erntete dafür Seufzer der Begeisterung. Zu meiner Irritation nicht nur von den Mädchen. Selbst Yoshiko schaltete ihre Körperzeichen auf „strahlende Bewunderung für den Sensei“.
Für eine Sekunde dachte ich darüber nach, was wohl erschreckender für mich wäre: Yoshiko als Frau meines Bruders oder als Frau meines Cousins zu begrüßen. Ich fand beides gleich fürchterlich. Nicht wegen Yoshiko, sondern weil keiner der Kerle meine süße Freundin überhaupt verdient hatte. Akio-senpai vielleicht, er war ernst, zuverlässig, aufrichtig und ein klitzeklein wenig verschlossen, was ihn schon interessant machte. Manche sagten auch, er sehe wirklich gut aus. Ich maßte mir nicht an das zu beurteilen, aber ich fand schon, dass der Blondschopf nicht hässlich war.
Sam Anderson wäre vielleicht auch eine gute Wahl. Der charismatische Austauschschüler hatte richtiges weltmännisches Flair, und wäre ein guter Kandidat gewesen, wenn nicht zwei Dinge dagegen gesprochen hätten. Einerseits Diana Honda, seine Leibwächterin, die quasi nie von seiner Seite wich, angeblich nicht einmal im Bad – und ich meine Leibwächterin - sowie die Tatsache, dass er ein Escaped war. Er war einer jener Glücklichen, die einst von Kronosiern entführt und in einen Biocomputer integriert worden war und nach seiner Befreiung einen großen Teil seines Wissens behalten hatte. Das machte mir ein wenig Angst, wenngleich ich diejenige gewesen war, die ihn aus seinem Tank geholt hatte. Okay, ich und Diana, die neue, aufstrebende Hawk-Pilotin der UEMF. Wenn ich nicht aufpasste, würde sie mich eines Tages ersetzen. Darauf freute ich mich schon.
„Akira-chan?“, klang die freundliche Stimme Sakuras auf.
Ich schreckte hoch. „Sensei?“
„Ich habe nur gefragt, ob meine Anwesenheit dich so sehr irritiert, dass du mich ignorierst“, fragte er mit einem engelsgleichen Lächeln.
Innerlich erstarrte ich zu Eis. Oh Gott, ich hatte ihn verärgert! „M-meine Gedanken sind nur gerade etwas abgeschweift. Es gi-gibt da doch diesen aufdringlichen Idioten, der mir nach dem Unterricht immer auflauert und... Ach, ich komme mit solchen Trotteln einfach nicht klar.“
Das Lächeln meines Cousins wurde ein klein wenig weniger strahlend. Das bedeutete, sein Zorn war vorerst verraucht. „Oh. Mit Idiot meinst du sicherlich James Reilley, den neuen Superstar, oder? Fünf Alben in den Top Ten, dreiundzwanzig Lieder in den Top One Hundred, und bester Junggeselle in ganz Japan?“
Ich runzelte irritiert die Stirn. Okay, für den Rest von Japan mochte er eine große Nummer sein, für mich war er nur eine Nervensäge.
„Ich kann dich beruhigen. Er wird dir sicherlich nicht nach der Schule auflauern“, sagte Sakura mit Vorfreude in der Stimme.
Meine Stirnfalten vertieften sich und taten damit genau das, was meine Mutter mir ständig verbot, denn ein junges Mädchen hatte gefälligst eine tadellos glatte Stirn zu haben, und keinen Grand Canyon. „Heißt das, man hat ihn ausgewiesen? Wurde auch Zeit“, murmelte ich und erntete dafür protestierendes Gemurmel einiger meiner Klassenkameraden.
„Nein, tut mir Leid, er ist immer noch in Japan. Genauer gesagt, er ist hier.“
Entsetzt starrte ich meinen Cousin an. Das wurde doch nicht etwa die alte Transfer-Student-Nummer, der in die Klasse seiner Liebsten wechselte?
„Komm doch bitte rein, James-kun, und stell dich vor“, sagte Sakura, diesmal ohne eine Spur von Lächeln.
Die vordere Tür öffnete sich, und der schlanke, mittelgroße Rotschopf trat ein. Dabei strich er sich affektiert mit der Linken durch die Haare und löste damit bei einigen Mädchen einen kollektiven Seufzer aus. Nun, jedenfalls nicht bei mir.
„James-kun ist seit zwei Jahren beinahe permanent auf der Bühne und hat viel Schulzeit verpasst. Da er gerade zwischen zwei großen Projekten steckt, hat er sich dazu entschlossen, ein wenig die Schulbank zu drücken. Bitte, James-kun.“
Der Rotschopf lächelte charismatisch. „Danke, Sensei. Hallo, mein Name ist James Reilley. Der eine oder andere kennt mich vielleicht schon, aber für alle anderen möchte ich kurz etwas über mich erzählen. Ich bin Sänger und Schauspieler und habe gerade erst eine große Tour durch Japan beendet. In drei Monaten werde ich einen Spielfilm drehen, und bis dahin kann ich genügend Freizeit erübrigen, um wieder ein wenig zu lernen. Außerdem ermöglicht es mir, die hübschen japanischen Mädchen etwas näher kennen zu lernen.“
Bei diesen Worten zwinkerte er mir zu. Ich zuckte mit den Schultern. Ob es Voraussetzung dafür war blind zu sein, um Superstar zu werden? Jedenfalls, wenn dieser Trottel versuchen würde, meine Freundinnen zu belästigen, hätte ich eine erstklassige Gelegenheit, um ihm die Bedeutung des Wortes „Nein“ explizit nahe zu bringen. So gesehen versprach die Sache wieder spaßig zu werden.
„Willkommen, James-kun“, nahm nun Sakura wieder das Wort auf. „Ich freue mich über jeden Schüler, der eine schnelle Auffassungsgabe hat. Aber ich denke, selbst wenn man nicht darüber verfügt, sollte Lernwilligkeit vieles ersetzen.“ Sakura beugte sich zu James hinab und sah ihn bitterböse an. Der Showstar schrumpfte merklich zusammen. „Du bist doch sicherlich niemand, der sich während des Unterrichts ablenken lässt, oder?“
Abwehrend hob er beide Arme. „N-natürlich nicht, Sensei.“
Sakuras Miene wurde wieder freundlicher. „Neben Akio Shirai ist noch ein Platz. Bitte, er gehört dir.“
„Danke, Sensei.“ James kam den Gang hinab und hatte für alle, die er passierte ein freundliches Wort oder ein nicken. Widerstrebend musste ich zugeben, dass ihm die schwarze Schuluniform mit dem Stehkragen sehr gut stand. Wenngleich er etwas zu kurz geraten war, der Arme.
„Hallo, Akira-chan“, sagte er lächelnd, als er an mir vorbei ging.
„Geh sterben“, murmelte ich zurück. Wäre ich ein Mann gewesen und er die Frau, hätte ich so ein Wort sicher nicht mal in den Mund nehmen dürfen, ohne als brutaler Frauenhasser zu gelten. Aber Frauen verzeihte man so viel, auch ein wenig unflätiges Benehmen, sobald Emotionen im Spiel waren, es war geradezu befreiend. Manchmal.
„Oh. Du brichst mir das Herz“, flüsterte er zurück und zwinkerte mir zu.
„Fangen wir mit einem Arm an und arbeiten wir uns langsam vor.“ Ich verschränkte die Finger ineinander und drückte sie nach außen.
„KEIN GEREDE WÄHREND DER HOMEROOM!“, blaffte Sakura wütend.
Unwillkürlich duckten wir uns. „Ja, Sensei!“
***
In der großen Pause nahmen wir immer das Dach in Besitz. Wir, das waren Yoshiko, Megumi, Keiko und ich. Meistens gesellten sich auch noch Yuri und Kei dazu, manchmal fand sogar Hiro den Weg bis aufs Dach.
Normalerweise wagte es niemand, uneingeladen den Bansho, den Bandenchef der Fushida High – also mich, obwohl ich nicht sagen konnte, wie ich zu diesem Ruf gekommen war – hier oben zu belästigen, aber heute war es ärgerlicherweise anders. Natürlich war James ebenfalls auf das Dach gekommen. Und ich weiß nicht was es war, vielleicht der flehentliche Blick, vielleicht der erbärmliche Anblick eines Schokoriegels und eines kleinen Energy-Drinks, ich hatte mich seiner erbarmt und ließ ihn vom mehrstöckigen Bento mit essen, das ich eigentlich für Kei und meinen niedlichen kleinen Bruder gemacht hatte.
„Das ist wirklich lecker. Du wirst mal für jemanden eine wundervolle Braut werden, Akira-chan“, sagte er nach einer eingehenden Kostprobe quer durch das Angebot.
„Hast du bei diesem Jemand einen bestimmten Menschen im Auge?“, fragte ich.
„Nun, wenn du mich so direkt fragst, wie wäre es mit mir?“
Ich hatte schon eine harsche Erwiderung auf der Zunge, als Kei aufstand und sich vor ihm aufbaute. „Ich bezweifle doch ernsthaft, das jemand wie du die Kragenweite hat, um ausgerechnet zu Akira zu passen“, sagte er von oben herab. „Sie interessiert sich nicht für kleine Kinder, merk dir das.“
Zugegeben, ich wusste nicht ob ich irritiert, geschockt oder besser gleich beides sein sollte. Wie lange war es her, dass Kei mich verteidigt hatte? Seit dem Sandkasten jedenfalls nicht mehr. Umso gerührter war ich über seinen starken emotionalen Ausbruch. Stark emotional, wenn man sein normales Verhalten als Maßstab setzte.
„Und ich bezweifle, dass sie mit einem kleinen Streber besser bedient ist, egal wie toll seine ach so blauen Augen sind“, konterte James.
Dai Ataka schob langsam ihre Brille die Nase hoch und richtete sich in einer eleganten Bewegung auf. „Ein Wort von dir, Boss, und ich knöpfe mir beide vor.“
Für eine Sekunde wog ich die Chancen der schwarzhaarigen Schönheit gegen den Elite-Piloten Kei Uno ab und kam ernsthaft in Zweifel. Dai war gut, verdammt gut sogar, aber würde sie auch Kei schaffen? Dieser Mann war schon auf dem Mars gewesen, hatte über einhundert Kronosier abgeschossen und wurde als Death God noch immer von den New Yorkern wie ein Heiliger verehrt. Ich übrigens auch, beziehungsweise meine Geheimidentität als Blue Lightning, aber das nur am Rande. Beide konnte Dai auf keinen Fall schaffen, und mir stand nicht der Sinn danach, einem der beiden Verstand einzuprügeln. Oder beiden. Deshalb begnügte ich mich mit einem abwertenden Laut und wandte mich ab. Dai deutete die Geste korrekt, nickte und ließ sich wieder gegen den Maschendrahtzaun sinken. Merkwürdig, wenn ich sie so betrachtete, dann stellte ich sie mir im Kimono vor, ein Katana in der Hand, und mit aufwändig hochgeknotetem Haar, ein Samurai durch und durch.
„Da siehst du was du angerichtet hast. Deine Anwesenheit beleidigt Akira. Wenn ich du wäre, würde ich hier schnell verschwinden“, sagte Kei ruhig, aber mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
„Denkst du nicht, dass es eher so ist, dass sie von dir gelangweilt ist, Mister Ice?“
Die beiden Männer lächelten sich grimmig an. James kam auf die Beine, und bald hätte man kein Blatt Papier mehr zwischen sie schieben können. Die zwei wollten sich doch nicht etwa prügeln? Und dann auch noch um mich? Männer! Wenn es wenigstens um Yoshiko oder um Dai gegangen wäre, aber um mich?
Als James ein paar hastige, ungeschickte Schritte nach hinten ging, sah ich interessiert auf. Hinter ihm stand Makoto, eine Hand in seinen Gürtel vergraben, und zog ihn näher zu sich heran. Meine Cousine lächelte ein wirklich falsches Lächeln. „Okay, der Spaß ist vorbei. Alle Leute, die hier nichts zu suchen haben, sind in genau einer Minute verschwunden.“
„Kannst du nicht etwas zärtlicher zu mir sein?“, beschwerte sich James und wand sich aus ihrem Griff. „Und mit welchem Recht schickst du uns hier fort?“
Ihr Blick wurde böse, sie griff sich den Kragen und zog sein Gesicht auf ihre Augenhöhe. „Mit dem Recht des Stärkeren!“
„Ich würde auf sie hören. Makoto-chan ist Judomeisterin der Schule“, bemerkte Kei spöttisch.
Ich ignorierte die Szene, denn etwas an Makotos Worten hatte mich alarmiert. „Einsatz?“, fragte ich knapp.
„Der Heli ist unterwegs. Nur die Hekatoncheiren.“
Ich nickte ernst und sah in die Runde. Nacheinander nickten meine Freunde und erhoben sich. Yoshiko tätschelte meinen Kopf. „Komm gesund wieder, Schatz. Und wenn du etwas Zeit hast, passe doch auf Yuri und Kei auf, ja?“
„Wenn ich Zeit habe“, erwiderte ich lächelnd.
Yoshiko lächelte mir zu, griff in James´ Kragen und zog ihn hinter sich her. „Was jetzt kommt ist nichts für Kinderaugen. Komm mit, Superstar.“
Dai kam an seine andere Seite und zog ihn ebenfalls fort. Den Abschluss bildeten Megumi und Keiko, eine unüberwindbare Mauer. Leise protestierend ließ er sich mit ziehen. Warum meckerte er überhaupt, wenn sich vier der schönsten Mädchen der Schule um ihn kümmerten?
Kurz darauf lag das Knattern des Hubschraubers in der Luft. Er schien es eilig zu haben.
***
„Geht es wieder los, Akira-sama?“, wisperte eine fröhliche Stimme neben mir. Erschrocken fuhr ich zusammen, bis mir klar wurde, dass es Akiyama war, mein persönlicher Oni.
„Erschrecke mich nicht immer so!“, blaffte ich ihn an. Oh, ich hasste es, wenn er so plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Andererseits war er wirklich nützlich. Der ehemalige, zum Oni mutierte Geist eines Samurais war eine meiner stärksten Waffen, und in letzter Zeit eine Überraschung für die Kronosier, die zufälligerweise auch mit einer Kampfkraftsteigerung aufgewartet hatten. Mit ihm und den anderen Six Stars stand mir eine Kraftquelle zur Verfügung, die sogar einen Kreuzer vernichten konnte. Ich hatte es ausprobiert und war zufrieden gewesen.
„Ob es losgeht weiß ich nicht. Mako-chan sagt ja nichts“, fügte ich ärgerlich hinzu.
Makoto verzog die Miene zu einem spöttischen Lächeln. „Kampfeinsatz. Massiver Angriff auf den OLYMP. Der Gegner setzt eine neuartige Waffe ein, die bisher fünf reguläre Hawks zerstört hat, bevor es überhaupt zu Kampfhandlungen kommen konnte. Sie werden in einer Stunde im Orbit sein. Das bedeutet, die Hekatoncheiren werden eine geschlagene halbe Stunde kämpfen müssen, ohne dass wir vier dabei sind. Das wird verdammt hart.“
Ich nickte verstehend. „Akiyama, was machen die Six Stars?“
Der Samurai-Oni lächelte mich freundlich an. Das gefiel mir wesentlich besser als diese hässliche Oni-Maske, die er sonst zu tragen pflegte. Die war so unästhetisch. So aber war Aki-chan eigentlich ein schmucker Kerl. Wenn er nicht tot und ein Dämon gewesen wäre. Allerdings war er mein Dämon.
„Sie sind bereit. Blue Star hat mich informiert, dass der Kreis, der mich und damit dich, Akira-sama, mit Energie versorgen wird, in zehn Minuten stehen wird.“
Ich winkte ab. Die Six Stars waren eine Gruppe ominöser Männer, die in auffälligen Uniformen durch die Gegend hüpften und Menschen davor retteten, Youmas zu werden. Sie wurden von entartetem KI befallen, verwandelten sich in etwas schreckliches und wüteten, bis sie entweder getötet oder vom KI befreit wurden. Da kamen Blue Star und die Six Stars ins Spiel. Die aufregend uniformierten jungen Männer trennten das KI von den Opfern und vernichteten es.
Zur Zeit hatten sie noch eine zweite Aufgabe. Sie konnten einen der ihren, namentlich Akiyama – weiß der Henker, wie ausgerechnet ein Oni zu so einer Gruppe hatte stoßen können – mit ihrer Energie aufladen. Diese stand dann mir zu Verfügung. Und ich wusste, wie man sie benutzte.
„Sie brauchen nicht zusammen treten, bevor ich in meinem Hawk sitze“, wiegelte ich ab.
„Titanen-Station kommt in Sicht!“, klang die Stimme des Kommandanten auf. Junge, Junge, der Bursche musste ja wirklich aufs Gaspedal getreten haben, wenn wir schon so weit draußen über dem Pazifischen Ozean waren.
Langsam begannen mich diese neuen Waffensysteme zu interessieren, wenn selbst einem UEMF-Kampfpiloten der Arsch genügend auf Grundeis ging, um sich derart zu beeilen.

Der Einschleusevorgang, der kurze Kontakt mit Commander Sikorsky und Colonel Beauchamp und das hastige Umkleiden in unsere Druckanzüge flog an mir vorbei, wenngleich ich dankbar die letzten Informationen der beiden erfahrenen Frauen aufnahm wie ein trockener Schwamm Wasser. Ich tat es etwas ungläubig, denn wer hatte schon je von Torpedos aus Licht gehört, die ihren Zielen hinterher jagten. Andererseits war ich einiges gewöhnt, was die Kronosier anging. Das Meiste war negativ.

Auf dem OLYMP erwartete uns Charlotte, die Cheftechnikerin. Die grauhaarige Deutsche saß auf einem Elektrowagen und winkte uns, damit wir schnell aufsaßen. „Die Hekatoncheiren sind bereits draußen, ebenso beide Titanen-Bataillone. Sie halten sich gut, aber gegen einen solchen Ansturm und die neuen Waffen ziehen sie nach und nach den Kürzeren. Wir halten die Kreuzer auf Abstand, aber es ist abzusehen, wann wir keine Mechas mehr haben.“
„Verstehe. Also habt ihr uns gerufen, damit wir den Kronosiern mal wieder in den Arsch treten?“
„Das siehst du richtig, Mädchen“, rief Charlotte beinahe fröhlich. Wir fuhren in den Hangar ein und sprangen vom Wagen. An den Boarding Bays waren bereits unsere Mechas aufgefahren. Blue Lightning! Death God! Thunderstrike! Zeus!
„Akira! Yuri!“
Wir wandten uns der Stimme zu und sahen Mutter auf einem Balkon stehen. Wie immer trug sie ein strenges Geschäftskostüm, ihr Gesicht von Sorge gezeichnet, wie jedes mal wenn sie uns in den Einsatz schicken musste. „Kommt gesund zurück.“
Ich salutierte in ihre Richtung. „Befehl wird ausgeführt, Ma´am.“
Sie schmunzelte, bedachte mich aber mit einem Tadel. Ich quittierte mit einem Lächeln.
„Los geht’s, Leute!“, rief ich und stürmte auf meinen Mecha zu.
„Schön, dich wieder an Bord zu wissen, Mädchen. Was machen die Quartalstests?“
„Schön, wieder hier zu sein, Blue. Sie laufen ganz okay. Aber ich würde den Tag gerne mit ein paar Abschüssen krönen. Kriegen wir das hin?“
„An mir soll es nicht scheitern, Mädchen“, erwiderte Blue und lachte.
Der Hawk wurde auf das Startkatapult gestellt.
„Akira Otomo auf Blue Lightning, bereit zum Start!“
Sekunden darauf befand ich mich im Weltall, und stürzte mitten in ein Gefecht.
Es klingt wie eine Abfolge von Plattitüden, und das war es auch. Jedes Gefecht, egal ob im Weltall oder auf der Erde, war nichts weiter als eine stumpfsinnige Folge von Aktion und Reaktion... Wenn man mal vom kochenden Blut, dem pulsierenden Adrenalin und der Angst zu sterben absah.
„Blue Lightning, hier Blue Lightning! Bericht!“
„Gut, dass Sie kommen, Colonel! Wegen dieser verdammten Lichttorpedos sind schon drei von uns drauf gegangen! Nicht durch die Torpedos, aber weil die Dinger einen so in Beschlag nehmen, dass man manchmal die Übersicht verliert und...“
„Ruhig bleiben, Colt. Das haben neue Waffen so an sich. Räumt die Front, ich wiederhole, räumt die Front!“ Düster lächelnd besah ich mir das Szenario. „Ich kümmere mich um die Angelegenheit.“
„Ihr habt den Boss gehört! Platz! Platz!“
Mein Blick ging zu Akiyama. Der Geist eines toten Samurais wirkte erfreut auf den Kampf zu sein. Aber ich kannte ihn zu gut. Ich wusste, dass er nur für mich an dieser Schlacht teilnahm. Töten war ihm zuwider, seit damals sein Herr verraten worden war und er sich für ihn geopfert hatte... Nur um später zum Oni zu werden, weil er dann doch von seinen Feinden arglistig und gegen alle Ehre dreckig zu Tode gebracht worden war. Akiyama hatte seinen Anteil getötet, wie er manchmal zu sagen pflegte, aber er liebte mich zu sehr, um mich alleine gehen zu lassen. Platonisch, meine ich.
„Sind wir soweit?“
„Jederzeit, Akira-sama. Wir können die Torpedos auslöschen, wann immer du willst.“
Ich lächelte dünn, auf eine Weise, die sogar einem Mann ohne Körper wie Aki-chan einen Schauder über den Rücken jagte. „Im Gegenteil. Ich will sie zu mir locken.“
Akiyama setzte zu einem Protest an, aber da hatte ich die Schubpedale bereits durchgetreten. „Sobald die Torpedos auf mich fokussiert sind, greift an, Kei!“, befahl ich.
Schweigen antwortete mir. Dann antwortete eine reichlich raue Stimme: „Ich hoffe du weißt auch heute was du tust, Akira.“
Was erwartete er nur für eine Antwort auf so eine dumme Frage?

„Errichte ein KI-Feld. Groß, gesättigt, und unübersehbar“, wies ich den Oni an.
Er nickte blass, konzentrierte sich und wurde teilweise durchscheinend. Nun durchtobten ihn die Energien der anderen fünf Stars, seine eigene dazu, und obendrauf kam jene Kraft von mir, die all sein Tun in Form lenkte. Dadurch entstand eine Kugel aus reiner KI-Energie, die für die Torpedos wie ein Leuchtfeuer wirkte.
„Zehn“, zählte Blues K.I. herunter. „Zwanzig. Dreißig. Fünfunddreißig! Vierzig!“
Alle ließen von ihren Zielen ab, rasten auf mich zu. Ich lächelte nur. Als die ersten Torpedos mein KI-Feld erreichten, versank meine Welt im Licht...
Und übergangslos schälte sich ein Wald vor mir aus dem Licht. Ich kannte diesen Wald nur zu gut. Und ich kannte seinen störrischen, manipulativen Herrn und einige seiner Bewohner.
„Akira-chan“, hauchte eine Stimme direkt hinter mir. Ein warmer Atem, der angenehm nach frischer Minze duftete, strich mir über den Nacken. „Was machst du immer nur für Sachen mit mir, Akira-chan? Musst du dich immer so weit vorwagen, dass mich fast ein Herzinfarkt trifft?“
Langsam wandte ich mich um. Ich kannte den Gusto meines Gastgebers mittlerweile gut genug um zu wissen, dass ich nicht länger die enge Pilotenkombi trug. Stattdessen steckte ich sicherlich wieder in einem viel zu engen Trikot, das keines meiner vielen Speckpölsterchen verheimlichte. Manche Männer hatten wirklich verrückte Interessen.
„Ich wusste, du würdest eingreifen, Dai-Kuzo-sama.“
„Natürlich rette ich dich.“ Der große, athletische Mann mit der langen schwarzen Haarflut sah mich aufmunternd an. „Wenn du deinem weißen Ritter nicht mehr vertrauen kannst, wem dann?“
„Weißer Ritter!“, stieß ich amüsiert hervor. „Du hast hier keinen naiven kleinen Jungen vor dir, den du nach Herzenslust manipulieren kannst, indem du mal mit den Augen klimperst. Bursche, ich spiele in einer anderen Liga, und ich denke nicht im Traum daran, dir auch nur eine Sekunde mehr zu vertrauen als du dir verdient hast.“
Dai-Kuzo griff sich ans Herz und verzog sein Gesicht wie vor Schmerz verzerrt. „Ah, Akira-chan! Es tut weh, so etwas zu hören! Du brichst mir das Herz, zerbröselst es und dann trittst du noch mal auf die Reste! Wie kannst du nur eine Sekunde glauben, meine Taten wären etwas anderes als Selbstlosigkeit für meine Muse?“
„Spare dir die Sprüche“, erwiderte ich. „Vor allem, wenn du mich ins Dämonenland holst und schon wieder so einen Fummel tragen lässt. Man sagt ja, Alter macht lustig. Aber was du tust, ist selbst mit fünftausend Jahren nicht zu entschuldigen.“
Seufzend sah der Dämonenkönig zu Boden. „Ich gebe es auf. Okay, ich sehe, dass du nicht gerettet werden musstest, aber mit mir reden wolltest. Was kann ich für mein wunderschönes Mädchen tun?“
Wunderschönes Mädchen, wenn ich das schon hörte... „Nicht mehr als sonst auch. Du brauchst mich, das hast du mehr als einmal gezeigt. Und ich bin gerne bereit, dir zur Hand zu gehen, solange das meine Fähigkeiten verbessert und mich voran bringt. Ich verlange nicht mehr von dir als einen adäquaten Ausgleich für das, was ich dir gebe.“
„Ich wusste immer, dass du die Geschäftstüchtigkeit deiner Mutter geerbt hast, aber ich wusste nicht, dass du sie übertreffen könntest. Kannst du deinem kleinen Bruder überhaupt noch in die Augen sehen?“
„Kuzo!“, mahnte ich.
„Also gut, mein Schatz. Was kann Onkel Dai-Kuzo für sein Engelchen tun?“
„Die Torpedos...“
Dai-Kuzo winkte ab. „Ach, die. Du schaffst sie mit links.“
„Das ist es nicht. Sie werden von freiem, beseelten KI aufgeladen und gelenkt. Ich... Ich will nicht, dass dieses KI unnütz vergeht. Ich... Ich will es retten. Kennst du einen Trick dafür?“
Die Miene des Spinnendämons wechselte von finster auf tiefe Bewunderung. „Oh, ich hätte es wissen müssen. Für die einen bist du sicherlich die tödliche, effektive Killermaschine, aber für mich bist und wirst du immer das Mädchen mit dem Herzen aus Gold sein. Das KI retten, welches die bösen Kronosier in den Torpedos verbaut haben, auf so etwas naheliegendes und Riskantes kannst nur du kommen.“
Ich streckte eine Hand aus und hielt den Dämonenkönig auf Abstand, bevor er mich umarmen konnte. „Wie auch immer. Kannst du mir helfen?“
Deprimiert hielt er den Abstand ein, den ich erzwang. „Du schaffst das sicher nicht, auf diesem Stand der Übung. Aber... Hm, ja, das könnte gehen.“ Halb wandte sich der große Dämon um. „He, Kitsune, Okami, es gibt was zu tun!“
Die Büsche spalteten sich, als ein vorwitziger Fuchs direkt vor meine Füße sprang. Von dort ging es geradewegs in meine Arme. „Akira-chan ist da! Akira-chan ist da!“ Übereifrig leckte der Bursche mein Gesicht ab.
Ihm folgte eine große, breit gebaute Frau, die ein Profi-Promoter vom Fleck weg fürs Damencatchen engagiert hätte. Sie hatte... eine gewisse herbe Schönheit unter all den Muskeln. Und jeder der sie sah hätte niemals gedacht, dass Dai-Okami-sama die beste Heilerin der Dämonenwelt war, während der vorlaute Fuchs in meinen Armen, den nur ein brandroter Haarschopf von Yuri unterschied, wenn er sich in einen Menschen verwandelte, der beste und erfahrenste Krieger dieses Reichs war.
„Nimm die beiden mit dir. Sie werden dir helfen, das KI zu purifieren.“
„Ich danke dir, Kuzo.“
Der Dämonenkönig trat nahe an mich heran. „Dankst du mir gut genug für einen Kuss?“
Wütend schob ich die Augenbrauen auf meiner Stirn zusammen, und mit erhobenen Händen trat der Dämon einen Schritt nach hinten. „War den Versuch wert, oder?“
Oh, es war nicht so als würde ich ihn nicht mögen. Er versaute eben immer alles mit seiner überzogenen „wie schön du bist, Akira-chan“-Masche. Aber es reichte immer noch um ihn weiterhin zu mögen. Nur zeigte ich ihm das nicht.
„Dann können wir ja gehen“, sagte ich ernst, und befand mich übergangslos wieder in der Raumschlacht.

Die Torpedos flogen in das KI-Feld ein, angelockt wie die Motten vom Licht. Neben mir im Cockpit schwebten Okami und Kitsune, bereit für das, was nun kommen würde.
Ich griff nach den Torpedos, in meinen Gedanken, mit meinen mentalen Händen, und dann drückte ich zu! In endlos erscheinender Folge explodierten die mechanischen Torpedos. Doch das war nicht das Ende, denn nun wurde das KI, das in ihnen gesteckt hatte, befreit. Freies KI konnte eine schlimme Sache sein, und hatte schon so manchen Geisterjäger auf den Plan gerufen, aber wenn man es hütete und zusammentrieb, konnte es nützlich sein.
Es war Kitsunes Aufgabe, das KI zusammen zu treiben und auf engem Raum zu begrenzen. Danach war Okami an der Reihe. Mit sanfter, liebkosender Stimme sprach sie auf die KI-Fragmente ein. Schattenhafte Erinnerungen mochten erwachen, Erinnerungen, die ihnen aufgeprägt worden waren, als sie noch im Kreislauf eines Menschen existiert hatten. Vielleicht Erinnerungen der falschen aufgeprägten Intelligenz, die sie zu solch gefährlichen Waffen gemacht hatten. Gehorsam sammelten sie sich um Okami, und während sie das taten und ihr lauschten, verloren sie jede Farbe, jeden Glanz, bis sie waren wie frisches Glas, rein und klar. In diesem Zustand konnte Okami das KI in das allgegenwärtige Magnetfeld der Erde führen. Ich war zufrieden.
Dann ließ ich das Feld erlöschen.
Kitsune, mittlerweile ein Mensch, gab mir einen frechen Kuss auf die Wange, mitten durch meinen Schutzhelm hindurch. „Ruf uns einfach, wenn du wieder Hilfe brauchst, ja, Akira-chan?“
„Was, bleibt ihr nicht auf einen Kaffee?“, erwiderte ich. Kitsune hatte bei mir eine Menge Kredit. Jedenfalls mehr als Kuzo oder ein anderer Mann.
„Ein andernmal vielleicht“, tröstete Kitsune. Zusammen mit Okami verblasste er und war schließlich ganz fort.
Mit einem wilden Grinsen sah ich Akiyama an. „Wie sieht es aus, hast du noch Energie?“
„Natürlich, Akira-sama.“
„Sehr gut. Da sind immer noch diese Kreuzer, die diese Torpedos abgeschossen haben.“ Meine Augen wurden zu Schlitzen. „Zeit für eine kleine Revanche, Hekatoncheiren!“
Vielstimmiger grimmiger Jubel antwortete mir.
***
Wenn es vorbei war, wieder mal vorbei war, setzte bei mir schlagartig tiefe Ruhe ein. Dann wollte ich so schnell wie möglich zurück zur Erde, in meinem Zimmer irgendwelche bequemen Sachen anziehen und dann nur noch verschwinden, mich zurückziehen und darüber nachdenken, wieviele Lebewesen ich erneut getötet hatte. Zeit für mich, nannte ich das, und jedesmal entkam ich dafür meinen UEMF-Aufpassern. Die meinten es sicherlich gut, aber sie hatten von der Bedeutung der Worte „allein sein“ keine Ahnung.
Normalerweise suchte ich mir immer einen neuen Ort aus, um kronosischen Agenten keinen Angriffspunkt zu geben. Denn wenngleich nur eine Kronosierin wirklich wusste, wer hinter Blue Lightning steckte, so gab es doch genügend Legaten, um Akira Otomo, die Tochter der Direktorin der UEMF, zu gerne in die Hand bekommen hätten.
In letzter Zeit zog es mich immer wieder zum Tokyo Tower. Und ich schwor mir, dass dies das letzte mal sein würde, um keine Gewohnheit daraus zu machen. Gewohnheiten machten nur angreifbar. Dennoch hatte ich schnell einen Lieblingsplatz auf der oberen Plattform. Und genau an diesem Platz stand ich und starrte ins vom Nachtleben erfüllte Tokyo hinaus.
Als sich zwei warme, weiche Arme um mich schlangen und gegen etwas großes – genauer gesagt zwei große – drückten, hätte ich beinahe geflucht. Es war schon Gewohnheit geworden. Deshalb hatte sie mich auch gefunden. Sie, Henrietta Wilhelmine Schneider, meine liebste Legatin.
„Da hast du ja ganze Arbeit geleistet, Spatz“, säuselte sie mir ins Ohr und schmiegte sich an mich. „Legat Rockstone ist außer sich, denn diese Niederlage bedeutet vielleicht, dass die anderen Legaten ihn aus dem Haus abwählen. Das wäre das Ende der KI-Experimente.“
„Und?“, fragte ich die Legatin und tätschelte ihre Arme. „Das wäre doch für uns beide erfreulich.“
„Natürlich wäre es das.“ So wie wir da standen genoss ich ihre Wärme und Nähe, obwohl wir eigentlich Todfeindinnen sein müssten. Aber wir waren Freunde, wirklich gute Freunde. Vielleicht hatten wir die beste Freundschaft, die zwei Feinde wie wir überhaupt haben konnten. Sie war seit meinem Marsangriff irgendwie zur großen Schwester für mich geworden.
Damals, als ich zwanzig Hawks und acht Kampfschiffe auf den Roten Planeten zu unserem ersten Sieg geführt hatte, waren wir für eine halbe Stunde vom Kampf getrennt worden. Und wir hatten diese Zeit für ein vernünftiges Gespräch von Frau zu Frau genutzt. Männer hätten sich an unserer Stelle gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und wären sich auch noch toll dabei vorgekommen.
Ich drehte mich in ihrer Umarmung und umschlang sie meinerseits. Bei ihr konnte ich mich sacken lassen und ein wenig fallen. Und das tat mir gut.
„So schlimm?“, fragte sie besorgt und führte mich zu einer nahen Bank. „Vergiss nicht, alles was wir tun, tun wir nicht nur für die Erde, sondern auch für den Mars. Wenn wir beide nicht zwei Welten retten können, wenn nicht wir, wer dann?“
Ich lächelte bei ihren Worten, brachte aber selber keinen Ton hervor. Es tat weh zu wissen, wenn man etwas zerstörte, wenn man Leben auslöschte. Und ich war verteufelt gut darin. Das musste ein harmloses junges Mädchen ja irgendwann zerbrechen. Dass es noch nicht geschehen war, schrieb ich dem Glück zu.
„Henrietta-sama...“, sagte eine leise Stimme hinter uns. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Amida Yamagata war, der junge, schüchtern wirkende Japaner, der sich zu Henriettas rechter Hand hoch gearbeitet hatte. Der arme Junge. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was ich vermutete, dann schwelgte er die Hälfte seine Zeit mit ihr im siebten Himmel, und die andere Hälfte im verzwicktesten Komplott seines Lebens.
„Henrietta-sama. Agenten haben den Tower betreten. Wir müssen weg.“
Ihr Blick ging zu mir. Wurden wir von den falschen Leuten zusammen gesehen, gefährdete es nicht nur unseren Plan, sondern auch ihr Leben.
„Geh ruhig“, antwortete ich auf ihre unausgesprochene Frage. „Ich komme klar.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, sie umarmte mich kurz wie eine Ertrinkende mit all der Liebe, die sie für mich empfand, dann war ich wieder alleine.

Kurz inspizierte ich meine Ausrüstung. Gut, dieses eine Mal hatte ich mich für einen Rock entschieden, und das erhöhte meine Bewegungsfreiheit enorm. Ich hatte eine Heckler&Koch Halbautomatik dabei, das neueste Modell, sehr flach, sehr klein, sehr effektiv, dazu siebzehn Schuss. Ein Mädchen sollte nie ungeschützt das Haus verlassen. Und ich hatte die Stahlverstärkten Rahmen meiner Stiefel. Ein Tritt mit diesen Dingern konnte einen Mann zum beten bringen.
Meine Bluse war von außen gelb, aber von innen schwarz, deshalb wendete ich sie, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Dann suchte ich mir eine gute Position, um die Angreifer zu erwarten.
Lange Zeit geschah nichts. Dann endlich fuhr ein Fahrstuhl auf, und zwei maskierte Männer taumelten in den Raum. Drei Schritte weit schafften sie es, dann fielen sie zu Boden.
Hinter ihnen taumelte ein sichtlich erschöpfter James Reilley hintenan. „Hallo, Akira-chan“, murmelte er, bevor auch er zu Boden ging. Also, auf die Erklärung war ich gespannt.
***
„Also nochmal für die langsamen Jahrgänge unter uns“, murmelte ich, während ich die Polizei- und Geheimdienstaktion am Tokyo Tower beobachtete, während James mit seinem Kopf auf meinem Schoß ruhte. „Du bist ein Cyborg?“
„Ein Kampfcyborg, um genau zu sein. Gebaut von den Kronosiern, um ausgerechnet dich zu töten. Leider ging wohl beim programmieren etwas schief, und statt dich zu hassen, habe ich mich verliebt. So sehr verliebt, dass ich mich gegen meine Herren gewendet habe und sie vernichte wo ich sie antreffe... So wie heute.“ Abwehrend hob er einen Arm, aber heftiger Kopfschmerz quittierte die Geste für ihn. „Ich weiß, du hättest meine Hilfe nicht gebraucht, aber...“
„Nein, das ist es nicht. Mich wundert, dass du Cyborg nicht mehr als siebzig Kilo wiegst. Warst du ein Sparprojekt?“
James versuchte zu lachen und bezahlte es mit einem erneuten Kopfschmerzschub. „Nein, aber das Meiste, was sie in mir „verbaut“ haben, sind genmanipulierte Organe, die sie aus meiner Eigenmasse gezüchtet und mir dann eingesetzt haben. Hier und da sind ein paar Dinge, die mir lustige Zeiten beim Zoll verschaffen, aber generell mit ich nichtrostend.“
Ich schmunzelte über den Scherz. „Und du bist Rockstar geworden, damit du eine Erklärung für deine Reisen in die Welt hast?“
„Ich bin Rockstar geworden, weil es Menschen gibt, die mir zuhören. Der Rest ist das nützliche mit dem angenehmen zu verbinden.“ Er sah mich aus großen Augen an. „Kann ich dir nicht auch nützlich sein, Akira-chan?“
Ich strich ihm sanft über seine roten Haare. „Wir werden sehen, James. Wir werden sehen.“
„Damit gebe ich mich zufrieden“, murmelte er und schloss die Augen für einige Zeit.
***
Leise trat ich ins Haus ein. Es war bereits spät, und ich wollte niemanden mehr wecken. Ohnehin war wohl niemand mehr auf – dachte ich.
Bis Kei direkt vor mir aus dem Boden zu wachsen schien, meinen linken Arm mit der Kraft eines Schraubstocks umschloss und mich mit sich zog. „Deine Freundin ist heute eingezogen. Es war deine Idee, sagte sie“, murmelte er wie beiläufig, während er mich durch den Flur zerrte und deutete auf die Tür eines unbenutzten Zimmers, wo nun der Name Yoshiko prangte. Die Gute. Nahm mich immer beim Wort. Es war beruhigend, sie hier zu wissen, aber auch genauso irritierend. Wer weiß was sie mit Yuri anstellte? Und was wollte Kei mit mir anstellen? Wieso zerrte er mich ins Bad?
„Ausziehen“, befahl er, als wir mitten im gekachelten Raum standen.
„Ausziehen? Moment Mal, das geht mir etwas zu schnell. Ich bin noch nicht bereit für...“
„Für eine Untersuchung auf Verletzungen musst du immer bereit sein“, brummte er wütend und griff nach dem ständig ausgeschlachteten Erste Hilfe-Kasten. „Es reicht wenn du den Rock und die Bluse ausziehst, denke ich.“
„Du hast also von der Schießerei am Tokyo Tower gehört“, sagte ich und zog gehorsam die Bluse aus.
„Sagen wir ich habe gehört, dass ein junges Mädchen in Begleitung eine Rotschopfs kurz vor Eintreffen der Polizei vor einem Schießwütigen flüchteten und man annimmt, dass die beiden getroffen wurden.“ Seine Miene war streng auf mich gerichtet, während ich den Rock auszog. Er umrundete mich ein paarmal, und dann legte er seine Hand auf meine Taille. Ich japste vor Schmerz auf.
„Streifschuss, Taille. Akira, du verdammter Idiot! Trage wenigstens eine Weste! Was, wenn das Ding deinen hübschen Kopf getroffen hätte?“ Er strich Jod auf die Wunde und klebte sie ab. Langsam ging er hinter mir in die Hocke. „Noch ein Streifschuss am linken Wadenbein. Das ist mit Jod nicht mehr getan. Das sollten wir morgen nähen lassen“, murmelte er und begann die Wunde zu säubern. „Wir wollen ja nicht, dass...“
„Wenn du irgendetwas sagst wie: Damit auf deinem hübschen Körper keine Narbe bleibt, kratze ich dir die Augen aus. Ich bin nicht schön, und ich kann das nicht mehr hören!“
Langsam legte er einen Verband an und zog ihn fest. Danach inspizierte er mein Gesicht und meinen Haarschopf. „Mir ist egal ob du schön oder hässlich bist. Mir ist auch egal, was du selbst von dir denkst, Akira.“ Er bewegte mein Gesicht mit einem Griff um mein Kind wie den Steuerknüppel eines Hawks. „Ich liebe dich auch so.“
Ich erstarrte und sah Kei aus großen Augen an. Hatte er gerade... Hatte er wirklich?
„So, Inspektion beendet. Trink noch ne warme Milch und gehe danach schlafen. Morgen fahren wir dann zuerst zum Arzt.“
„Kei!“, rief ich ihm nach, als er das Bad verlassen wollte. „Hast du... Hast du gerade...“
Er sah über seine Schulter zurück und lächelte. „Wer weiß. Finde es doch heraus, wenn du willst. Gute Nacht, Akira.“
„Gute Nacht“, murmelte ich als Antwort und zog meine Sachen wieder an. Mist, in der Bluse war ein Loch. Ich bezweifelte ernsthaft, dass ich in dieser Nacht Schlaf finden würde. Interessierte ich mich ernsthaft für meinen Sandkastenfreund? Ich spürte, wie mein Herz heftiger pochte. Verdammter Mist, wenn ich die Frau in mir fand, würde ich sie erst foltern, und dann töten, und nur um auf Nummer sicher zu gehen mit meinem Hawk drüber weg laufen, bevor dieses Biest mich zur dauerlächelnden Anziehpuppe machte, die den Männern hinterher kicherte.
Aber irgendwie spürte ich, dass diese Akira Männer wir Kei und James eher enttäuscht hätte... Ein beruhigender und irritierender Gedanke zugleich. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, ich sah es im Spiegel, und für einen Moment dachte ich auch, ich könnte wirklich schön sein. Nun, vielleicht für einen Mann. Eventuell. Vielleicht. Wenn er so wie Kei war, eventuell. Oh, ich hasste die Frau in mir...

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Anime Evolution: Krieg

Episode drei: Schattentanz

1.
„Es tut mir Leid, okay?“ Entnervt fuhr sich die junge Frau durch ihre Haare. „Es tut mir Leid, Leid, Leid, Leid, Leid. Es tut mir Leid, dass die Simulation beendet wurde, es tut mir Leid, das wir hier im Nichts schweben, es tut mir Leid, das ich mich als Dai-Kuzo ausgegeben habe, es tut mir Leid, Leid, Leid, Leid!“
„Davon können wir uns jetzt auch nichts kaufen!“, blaffte Yoshi Futabe wütend. „Weil du Akira angegriffen hast, sitzen wir jetzt im Leerraum zwischen den Systeme fest! Du hast die Simulation beendet! Fest sitzen wir! Fest!“
„Nun, nun“, versuchte ich den aufgebrachten Freund zu besänftigen. Aber er hatte ja Recht. Ursprünglich waren Yoshi und ich im Geheimquartier des Legats in Biotanks gestiegen, um ihrer Infiltration des Paradieses der Daina und Daima nachzuspüren. Heraus gekommen waren wir mitten im Forschungsprojekt von Henry William Taylor, einer von wahrscheinlich fünfzigtausend Jahren alten Dai-Bewusstseinen konstruierten Simulation, die ihm Antworten auf das damalige Geschehen und die Götter geben sollte, welche in dieser Zeit erstmalig aufgetaucht waren.
Das war nicht nur für uns eine echte Überraschung gewesen, sondern auch für eine Agentin des Legats, welche mit ihren Kameraden das Paradies infiltriert hatte. Nur war sie ausgerechnet in dieser Simulation zusammen mit Henry hängen geblieben. Und als sie mich die Zentrale betreten gesehen hatte, da war ihr erster Gedanke gewesen, mich zu überwältigen.
Dabei war die Simulation eingefroren. Irgendwie. Auf jeden Fall schwebten wir hier mitten im Leerraum zwischen den Sonnen, und unser Schiff war weiter geflogen oder existierte gar nicht mehr. Grund dafür war ihr Hochgeschwindigkeitsangriff gewesen, mit dem sie mein Bewusstsein hatte attackieren wollen. Spötter mochten annehmen, dass das Paradies wirklich nicht mehr als eine Simulation war, die sich in unseren Köpfen abspielte, und in der wir nicht teil nahmen, sondern unsere Teilnahme simuliert vorgesetzt bekamen. Aber das Paradies war wirklich um ein winziges Jota von den Gehirnen, für die es erschaffen worden war, entfernt, was bedeutete, dass tatsächlich eine Versetzung des Bewusstseins nötig war, befand sich quasi in einem Mikro-Universum. Ansonsten hätte ich das Paradies der Daima und Daina niemals mit meiner KI-Rüstung regelrecht betreten können. Nun, es war nicht sehr schwer für mich gewesen, mich zu verteidigen und die Verbindung zu meinem Körper, der in einem Biotank ruhte, zu beschützen. Immerhin war dies nicht das erste Mal, das ich in einer solchen Situation steckte. Erst neulich waren mein Leib und mein Bewusstsein achtzig Lichtjahre voneinander entfernt gewesen, und ich hatte es überlebt. Die Kleinigkeit, innerhalb des Paradieses, speziell in diesem Szenario von ihm getrennt zu sein, war eigentlich nicht der Rede wert
Das Ergebnis war simpel und grausam. Wir hatten Henrys Mission vermasselt. Und Schuld daran war die Legats-Agentin, die von sich behauptete, auf direkte Anweisung von Juichiro Tora zu handeln. Aber der Magier Tora war bereits seit einiger Zeit der Verbündete meines Großvaters Michael. Es war sicherlich ein Bündnis auf Zeit, aber selbst dieser Mann würde alles tun, damit die Erde und dadurch auch das Dämonenreich nicht vernichtet wurden. Vor diese Argumente gestellt hatte die Agentin kapituliert und sich uns angeschlossen, bis sie neue Anweisungen bekam. Im Anschluss hatte Yoshi sie mit Vorwürfen bombardiert, von denen jeder einzelne nur zu genau stimmte.
„Ist doch wahr, Akira! Können wir nicht einmal alle ordentlich zusammen arbeiten? Das ist ja hier fast wie Planwirtschaft. Keiner weiß worum es geht, aber alle machen mit!“
„Sehr treffend formuliert“, murmelte ich.
„Irgendwie merkwürdig“, meldete sich Henry zu Wort. Der ehemalige Legat, ehemalige britische Agent und ehemalige Risikopilot rieb sich das breite Kinn. „Der Alte meinte, die Simulation würde enden, wenn ich es vermassele. Stattdessen befinden wir uns mitten im Nirgendwo zwischen den Sternen. Das entspricht nicht seinen Worten.“
„Es ist eine Falle“, erwiderte ich leichthin. „Der alte Dai hat sich denken können, dass dein Boss nach einiger Zeit kommt um nachzuschauen, was aus dir geworden ist. Bis dahin sollte dich das Szenario beschäftigen. Immerhin bin ich als Regent des Paradies für die meisten Bewohner ein wirklicher Quell der Qualen mit meinen vielen Reformen und Projekten.“
„Meinst du das wirklich?“, fragte er erschrocken.
„Nein, natürlich nicht. Obwohl man es denken könnte, wenn man bedenkt, dass wir hier isoliert sind, weitab jedes Sterns oder Planeten. Ich meine, ein besseres Gefängnis kann es doch nicht geben, solange wir darüber grübeln wie die Simulation wieder gestartet wird, anstatt uns in unsere Körper zurück zu ziehen. Wahrscheinlich würden sie in diesem Moment unsere Zeitwahrnehmung extrem reduzieren und nach einer Möglichkeit suchen, uns daran zu hindern, wirklich wieder in die Biotanks zurück zu kehren und... Ja?“
Die Agentin senkte die Hand, mit der sie mir gewunken hatte. „Ist es vielleicht ein schlechtes Zeichen wenn ich dir berichte, dass ich mich nicht länger ausloggen kann?“
„Nicht, dass das überraschend kommen würde“, brummte Yoshi barsch.
„Es ist wohl wirklich eine Falle“, stellte ich tonlos fest.

Wenn ich in der Zeit, in der ich auf dem rechten Auge nahezu blind gewesen war, eines gelernt hatte, dann war es zu sehen. Mein rechtes Auge, von dem ich lange angenommen hatte, ein Säureattentat hätte die Hornhaut getrübt und mir ein weißes, blindes Auge beschert, war von mir unbewusst mit einem KI-Panzer geschützt worden. Dieser Panzer hatte mich nicht nur vom normalen dreidimensionalen sehen abgeschnitten und mein Auge vor der Säure beschützt, er hatte mich immerhin noch in die Lage versetzt, hell und dunkel mit dem Auge zu unterscheiden. Darüber hinaus hatte mein rechtes Auge in Finsternis wesentlich mehr erkennen können als mein Linkes. Ein Widerspruch, der mir zu grübeln gegeben hatte. Allerdings war keiner der allmächtigen KI-Meister in meinem Umfeld, angefangen bei Arno Futabe, meinem ersten KI-Lehrer, über Kitsune und Dai-Kuzo bis hin zu hervorragenden und geheimnistuerischen Meistern wie meiner Cousine Sakura und ihrem kleinen Bruder Makoto, dazu bereit gewesen mich aufzuklären. Stattdessen hatten sie mich mit einem blinden Auge und einem riesigen Schuldkomplex herum laufen lassen. Letztendlich war das besser gewesen als einen Machtkomplex aufzubauen, aber sicherlich hätte es einen schnelleren, besseren und vor allem weniger schmerzhaften Weg geben können als durch mein persönliches Trauertal absoluter Verzweiflung. Langer Rede, kurzer Sinn, da ich tatsächlich im Paradies existierte – diesmal nicht mit Hilfe meine KI-Rüstung, sondern als Teil der Simulation – konnte ich tatsächlich einen Teil meiner KI-Rüstung aufbauen. Eigentlich bestand meine Rüstung aus einer simulierten Uniform des Naguad-Hauses der Arogad, ein Umstand, der mich immer wieder fragen ließ, ob mir meine Eltern in frühen Jahren eine solche Uniform gezeigt hatten oder das Bild irgendwie in meinen Genen gesteckt hatte – oder ich den gleichen Geschmack hatte wie die Gründer der Dynastie. Aber damit waren meine Fähigkeiten noch nicht erschöpft. Konkret bedeutete dies, dass ich mir eine Brille mit weißen Gläsern erschuf. Und diese Brille hatte die gleichen Fähigkeiten wie mein KI-geschütztes rechtes Auge. Nur um einiges stärker. Ich konnte damit in absoluter Finsternis sehen. Andererseits gab es im Leerraum zwischen den Planeten einfach nichts zu sehen.
„Da bist du!“, rief ich und deutete in die uns umgebende Finsternis.
Aus dem Nichts schälte sich die Gestalt, die ich mit Hilfe der Brille erkannt hatte.
„Ich werde verrückt! Der Alte!“, rief Henry erstaunt. „War er also immer an mir dran.“
„Wundert dich das etwa?“, meinte Yoshi vorwurfsvoll.
„Respekt, Reyan Maxus. Ich hätte nicht gedacht, dass du mich aufspüren würdest. Andererseits hast du eine Form von Belohnung verdient. Einen letzten Triumph sozusagen.“
Fragend hob ich die Augenbrauen, während die KI-Brille wieder verschwand. Der Dai hatte mich mit dem Titel Reyan Maxus angesprochen, und das alleine hatte schon eine tief greifende Aussage. „Also war es wirklich ein Hinterhalt“, sagte ich ernst.
„Oh nein, eigentlich sollte es nur eine Beschäftigungstherapie für den jungen Burschen und seine Begleiterin werden. Aber, wie sagt man so schön bei euch Terranern? Eine Gelegenheit sollte man am Schopf packen, wenn sie sich bietet.“
„Das ist durchaus korrekt interpretiert“, erwiderte ich. „Und, was passiert nun mit uns?“
„Nichts. Ihr könnt gehen.“ Die Miene des Alten wurde ernst, und schließlich beinahe mitfühlend, wenn ich richtig in seinem Gesicht lesen konnte. „Es tut mir Leid, aber es gab keine andere Möglichkeit.“
„Keine andere Möglichkeit?“, fragte ich argwöhnisch und lauschte zugleich tief in mich hinein. Was immer er vorgehabt hatte, er hatte es bereits getan. Und das beunruhigte mich sehr. Hing es vielleicht damit zusammen, dass die Agentin nicht in ihren Körper zurückkehren konnte?
„Du verstehst nicht, junger Arogad. Es darf keine Reyan Maxus geben. Alles was Sean O´Donnelly hier erlebt hat, ist und war korrekt und nicht manipuliert. Nicht die Götter haben die Zivilisationen der Daima und Daina ausgerottet, sondern sie waren es selbst. Sie haben sich in endlosen Bruderkriegen vernichtet. Die schlimmsten und gefährlichsten waren dabei die Reyan mit ihren Fähigkeiten, Basisschiffe allein mit der Kraft ihres Geistes zu steuern. Die Reyan Maxus waren es, die Dutzende, ja hunderte Welten zerbombt, die den Daima und Daina eine neue Steinzeit beschert hatten. Die Götter haben in all der Zerstörung nur ihre Chance ergriffen, wofür sie aber letztendlich mit ihrer Ausrottung bezahlen mussten. Dass ihre Kinder und ihre Robotzivilisation letztendlich Sieger blieb, konnte nur gelingen, weil die meisten Maxus tot waren und die wenigen Überlebenden in Daimon Zuflucht und Abgeschlossenheit suchten und fanden.“ Sein Blick wurde entschuldigend, um Mitgefühl heischend. „Du, junger Arogad, bist der erste Reyan, der den Status eines Maxus erreicht hat. Jemand, der sein KI nicht nur schmieden, projizieren und manifestieren kann, sondern der auch fremde Materie manipuliert. Du hast deinen Banges in Größe, Kampfkraft und Geschwindigkeit verdreifacht, und dieser erschreckende Effekt hielt bange zwölf Stunden an. Du bist von großer Macht, und dies bedeutet, dass du auch von großer Gefahr bist. Deine Existenz alleine ist diese Gefahr.“
„In dieser Zeit sind die Erben der Götter die Gefahr“, erwiderte ich ernst. „Und Stärke zu haben bedeutet noch nicht, sie auch falsch einzusetzen.“
„Weißt du denn, was richtig oder falsch ist, junger Arogad?“, erwiderte der Dai mit wehmütigem Spott in der Stimme. „Die Reyan Maxus damals hatten es geglaubt, hatten gekämpft, Rache und Gegenrache genommen, bis sich die ersten Dai in die Zuflucht ihrer Daimon zurückgezogen hatten... Und die Daima und Daina litten am meisten unter diesen Kämpfen. Mehr noch, sie selbst waren es, die den Maxus zuriefen, noch härter und noch gnadenloser zu kämpfen, um auch für sie Rache zu nehmen. Und die Maxus taten es.“
„Ich aber werde es nicht tun!“, erwiderte ich zu laut und zu gepresst. Angst schüttelte mich. Angst, ich könnte von der Macht in mir kompromittiert werden. Ein altes Sprichwort lautete: Ein Land sollte wahrhaftig nur von einem gutherzigen, weisen, aufrichtigen und ehrlichen König regiert werden.
Was wenn ich eines Tages glaubte, solch ein König zu sein? Was wenn ich dieses Wissen mit Gewalt durchsetzen wollte?
„Fassen wir es zusammen. Dass die Götter nicht ganz die große Nummer sind, für die ich sie gehalten habe, steht ja schon länger fest“, sagte Henry ernst. „Die Dai zogen sich aus den Kämpfen zurück, überließen das Feld den Reyan Oren und Maxus. Diese ließen sich nicht lange bitten und setzten ihren Vernichtungsfeldzug gegen sich selbst und alle anderen fort.“
„In der Zwischenzeit gab es Kräfte, die meinten, die Galaxis gehörte geläutert. Sie bauten die Götter auf, erhöhten ihre Waffenstärke, ihr Wissen und die Zahl ihrer Schiffswerften. Zu diesem Zeitpunkt gab es das organische Volk der Götter schon nicht mehr, weil es lange zuvor von einem Reyan Maxus ausgerottet worden war. Irgendwann waren die Götter dann mächtig genug, um mit dem, was von der Macht der Dai übrig geblieben war, in einem für sie sehr vorteilhaften Patt zu stehen. Die Kräfte, die die Götter aufgebaut hatten, waren Opfer dieses Patts. Und nach ihnen wurden wieder und wieder Daimon zerstört, potentielle Quellen für Reyan in der fernen Zukunft, und damit potentielle Gegner. Jede Daimon, die von den Göttern oder ihren Kindern aufgespürt wurde, konnte sich schon bald auf den Besuch von Strafern freuen. Einzig die Erde bildete eine Ausnahme. Der Kampf gegen die Dai dieser Welt barg die Gefahr für die Götter, selbst unterzugehen. Wenngleich sie wieder und wieder testeten, ob die Daimon und ihre Bewohner nicht auf eine offene oder versteckte Weise besiegt werden konnten. Denn die Macht dieser Dai birgt sich im Sol-System, nicht aber in den anderen Systemen, die einst von den Daima und Daina beherrscht worden waren. So lange diese Kraft nicht erweckt wird haben die Götter im übrigen Universum freie Hand. Bis zu jenem Tag, an dem sie sich stark genug glauben, den Konflikt mit der Erde zu überstehen. Oder wenn sie glauben, dass die Dai wieder Reyan Oren und Maxus produzieren und sie damit direkt bedrohen. Der Ärger und die Kämpfe der letzten Jahre sind ein Zeichen dafür, dass die Götter sich provoziert und bedroht sehen. Ein Kriegsausbruch steht unmittelbar bevor.“
„Und genau dafür werden meine Kräfte gebraucht, oder?“, fragte ich ernst.
„Du verstehst nicht. Du verstehst es einfach nicht! Du darfst gar nicht existieren! Selbst wenn du wirklich so edel bist, wie du uns als Befehlshaber unserer Flotten und Initiator des Exodus vorgeführt hast, junger Arogad, so bedeutet doch deine Existenz, dass auch andere Daima und Daina zu Reyan Maxus werden können! Und die Reyan Maxus waren bereits einmal beinahe Totengräber unserer Realität. Die Dai sind rar geworden. Es gibt niemanden mehr der sie zügeln könnte. Ungebändigt würden sie die Galaxis überschwemmen, und als Sklave ihrer Emotionen wieder alles vernichten, was die Daima und Daina nach der großen Vernichtung wieder aufgebaut haben.“ Er wirkte mit einem Mal entschlossen. „Deshalb musste ich dich töten. Denn selbst wenn die Erde fällt, wenn die Dai auf dem blauen Juwel sterben, so gibt es doch noch Daima und Daina, die weiter leben werden, solange sie nicht wissen, dass das Potential zu Reyan in ihnen steckt.“
„Moment Mal, Moment! Hast du gerade in Vergangenheitsform in Verbindung mit dem Verb töten gesprochen?“, fragte ich nervös. Ich sah zu Yoshi herüber.
„In der Tat. Du bist bereits so gut wie tot. Ich habe deine Verbindung zu deinem Körper gekappt. Dein KI wird bald erlöschen. Du wirst vergehen, und mit dir der Beweis, dass es die Reyan Maxus gibt. Dies wird den kommenden Konflikt abmildern und hoffentlich verhindern, dass andere Daima und Daina ebenfalls so töricht sind und Maxus´ produzieren.“
„Du hast was?“, rief ich erstaunt und erschrocken. Spontan wollte ich mich ausloggen, in meinen Leib zurückkehren, aber da war nur eine große, empfindliche Leere.
„Sobald du erloschen bist, junger Arogad, können sich deine Begleiter wieder in ihre Körper begeben. Sie sind keine Reyan Maxus. Ich brauche ihre Leben nicht zu nehmen. Stirb aufrichtig und wie der Held, den alle in dir sehen.“ Der Alte deutete eine Verbeugung an und verschwand im Nichts.

„Autsch“, murmelte Yoshi.
„Nix Autsch. Das hilft mir jetzt nicht“, sagte ich hastig. Ich überprüfte meinen Körper, so gut wie ich es vermochte, und fand nichts. Danach überprüfte ich meine Existenz im Paradies, und zu meinem Entsetzen begann das Gefühl für diesen Leib schwächer und schwächer zu werden. In einem schlechten Anime hätte genau jetzt die Szene begonnen, in der ich mich auflöste oder langsam verblasste. Es hätte zumindest eine schöne Theatralik gehabt.
„S-so war das nicht geplant“, kam es stockend von der Legats-Agentin.
„Du glaubst dem alten Sack doch wohl nicht?“, tadelte Henry. „Akira, lass dich nicht ins Bockshorn jagen! Der will doch nur, dass du an Angst stirbst und...“
Ich spürte wie ein weiterer, eisiger Schauder durch meine Existenz ging. Dann spürte ich, wie die Kontrolle über meinen Leib verschwand. Todesangst überkam mich, aber ich drängte sie zurück. „Leider ist es Realität. Mein Leib ist von mir abgeschnitten. Und ich spüre, wie ich langsam die Kontrolle verliere. Vorschläge?“
„Kannst du einen von uns übernehmen? Dann loggen wir aus und stellen die Verbindung zu deinem Körper wieder her“, schlug Yoshi vor.
„Ich glaube nicht, dass der Alte das zulässt. Sicher beobachtet er uns hier irgendwo“, wandte ich ein. „Er wird euch erst gehen lassen, wenn ich verschwunden bin. Weitere Ideen?“
„Wir erzwingen uns unseren Weg? Wir sind noch mit unseren Körpern verbunden. Deiner wird ja wohl in der Nähe sein. Wenn wir uns durchkämpfen, folgst du uns einfach und wir weisen dir so den Weg zu deinem Leib“, sagte Henry fest. „Ich meine, du folgst der da und Yoshi.“
„Danke für „der da“. Ich habe einen Namen!“, protestierte die Agentin.
„Den wir noch nicht gehört haben“, warf Yoshi ein. „Nein, es würde zu lange dauern, bis wir herausgefunden haben, wie wir uns den Rückweg erzwingen können.“ Yoshi wühlte sich mit beiden Händen durch die goldblonden Haare. „Eine Idee, ihr Götter, nur eine Idee, wie...“
Die Augen des Freundes leuchteten auf, und ich hatte unmerklich das Gefühl, noch tiefer im Ärger zu stecken. „Dein Blick gefällt mir nicht“, tadelte ich meinen besten Freund.
„Akira! Deine Projektion besteht doch aus KI, oder?“
„Ja, schon, ich habe sie mit meinem KI verstärkt. Mit beachtlich viel eigenem KI.“
„Und du bist von deinem Körper getrennt, oder? Dein KI ist quasi frei.“
„Irgendwie gefällt mir nicht, worauf du hinaus willst, Yoshi.“
„Ich meine, ich kann freies KI binden! Ich kann dir einen Container erschaffen, so wie für Spike!“
„Hey, Hey, keine Experimente! Das hat einmal geklappt! Du wirst doch nicht mein Leben riskieren wollen“, beschwerte ich mich.
„Du meinst mehr riskieren als es ohnehin gerade gefährdet ist?“ Spöttisch sah Yoshi mich an.
„Da hast du wohl Recht“, sagte ich widerwillig.
„Außerdem ist es nicht das erste Mal. Nach Spike habe ich noch ein paar andere Biester erschaffen. Einen Bären, einen Adler, einen...“
„Moment! Das erfahre ich erst jetzt? Du produzierst unnütze KI-Biester?“
„Ich musste ja wohl experimentieren, um Erfahrung zu sammeln, oder?“, erwiderte Yoshi bissig. „Außerdem sind sie nicht unnütz. Sie alle beschützen Laysan, und das recht gut, wie du am Beispiel von Joan und Jora Kalis gesehen hast.“
„Joan hat die Situation gelöst, oder?“
„Meinetwegen, aber meine Biester haben sie gewarnt. Komm schon, das ist vielleicht deine einzige Chance, und ich wollte eh noch einen Delfin erschaffen.“
„Keinen Delfin!“, rief ich nervös. „Der passt nun wirklich nicht zu mir!“
„Stimmst du also zu? Dann such dir mal ein anderes KI-Biest aus. Ein Hund, ein Wolf, ein Tiger, eine Eule, ein Falke, ein...“
„Adler! Wenn du mich schon in einen Tierkörper einsperrst, dann will ich ein Adler sein!“
„Weißkopfadler, Seeadler, Steinadler, Malayenad...“
„Überrasche mich einfach“, erwiderte ich, als das Taubheitsgefühl einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.
„Und du hältst das für eine gute Idee?“, hakte Henry nach.
„Wenn du in den nächsten zehn Sekunden keine bessere hast, lass mich machen“, brummte Yoshi.
Zögernd nickte Henry und entfernte sich etwas. Also hatte auch er keine gute Idee.
Yoshi verschränkte die Hände ineinander und drückte sie nach außen. Es knackte vernehmlich. „Also einmal Adler für Tisch eins. Kommt sofort.“
Als ich seine vor Erwartung geweiteten Augen sah, musste ich mich für eine Sekunde fragen, welche Alternative wirklich besser war. Sterben oder ein Adler werden.
Dann wischte ein ultraheller Blitz mein Bewusstsein aus.
***
Als ich langsam wieder erwachte, dröhnte mein Kopf, als würden sich eine Division Banges mit eine Division Hawks ein Schauschießen liefern. Ich fasste mir an die Stirn, und es tat gut, den Druck meiner Finger darauf zu spüren. Langsam öffnete ich die Augen.
„...hat geklappt“, klang Yoshis Stimme an mein Ohr. „Aber wie lange es Bestand haben wird weiß ich nicht. Noch ist der Körper geschwächt.“
„Ihr habt uns einen Riesenschreck eingejagt, als die Vitalwerte vom Division Commander plötzlich weg gesackt sind. Und dann kommt er als Vogel wieder! Ich meine, Hey, es ist Akira Otomo, und da gibt es keine Unmöglichkeiten. Aber ich habe nicht damit gerechnet, in meinem Alter noch mal überrascht zu werden“, antwortete eine Stimme, die ich einem meiner Bataillonskommandeure zuordnete. Ich stöhnte gequält, während sich der Blick meiner Augen langsam scharf stellte.
„Vorsichtig, Akira, bleibe fokussiert. Denn wenn du das nicht tust, dann...“
Yoshi hatte kaum ausgesprochen, da hatte ich auf einmal das Gefühl, in einer Achterbahn einen erheblichen Berg hinab zu fahren. Es wurde ein Sturz, der meinen Magen gekitzelt hätte, wenn ich einen gehabt hätte. Danach bot sich mir die Welt aus einer unerwarteten Perspektive. Ich hockte neben mir. „Ich“ war dabei ein dehnbarer Begriff. Denn langsam aber sicher ahnte ich, dass Yoshi nur halbe Arbeit geleistet hatte. Ich hatte von vorne herein geahnt, dass es ein Fehler gewesen war, nicht nach der Zeit nach der Manifestation als KI-Biest zu fragen.
„Genau das habe ich gemeint. Du hast deine Kontrolle über Akira verloren“, sagte Yoshi vorwurfsvoll. Sein Gesicht erschien riesengroß vor mir. Eine Hand drückte es beiseite, und mein Oberkörper richtete sich auf. Während ich daneben hockte, und das garantiert in der Form eines von Yoshi als Adler geformten KI-Biests.
Ich war also nicht nur wieder mal von meinem Körper getrennt worden, diesmal war er bis zu einem gewissen Grad handlungsfähig. Eine Hand senkte sich auf mich herab und streichelte mich vorsichtig am Kopf meines KI-Körpers, während mein Körper zaghaft lächelte.
„Es ist etwas kompliziert. Du, ich meine dein Körper, handelst autark. Die Trennung hat einen schweren Schaden bewirkt, den ich nicht beheben kann. Was wir wissen ist, dass du nicht vollkommen aus dem Körper verschwunden bist. Im Gegenteil. Wir haben einige Zeit darüber diskutiert und festgestellt, dass dein „ES“ noch immer in ihm ist. Also alle grundlegenden Fähigkeiten einer Intelligenz, nur eben auf Aktion und Instinkt reduziert. Im Falle deines Körpers kommt noch Erfahrung und Wissen dazu.“ Yoshi zuckte mit den Schultern. „Wir wissen noch nicht wie groß seine Intelligenz ist und ob er in der Lage ist mit anderen sprachlich zu kommunizieren. Aber auf jeden Fall mag er dich, das ist doch positiv.“
Bei diesen Worten sträubte sich mir das Gefieder. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Was kam als Nächstes? Wurde mein Körper mein Feind?“
„Das Über-Ich, also das philosophische Bewusstsein, steckt im KI-Biest. Einem Adler, genau wie bestellt. Das Ich, die Zwischenstufe, teilt ihr euch merkwürdigerweise. Wie gesagt, wir wissen noch nicht genau, was Akira-Körper alles kann und tun wird, aber wir wissen, dass du ihn einnehmen kannst. Er ist dann quasi von dir besessen, aber um dies eine längere Zeit zu tun wird wohl einiges an Übung notwendig sein. Ich habe die anderen KI-Meister bereits informiert und auch die Dai von der ADAMAS angefordert. Wir arbeiten an einer Lösung, aber bis die steht wirst du dich wohl mit der Situation abfinden müssen und quasi von dir selbst besessen sein.“ Yoshi runzelte die Stirn. „Das Beste ist wohl, wenn du dich selbst immer dann begleitest, wenn du nicht von dir besessen bist.“
„Yoshi. Das ist der schlimmste Moment meines Lebens“, murrte ich. Na, wenigstens meine Stimme war einigermaßen normal. Eine schrille, piepsige Vogelstimme hätte dem Fass den Boden ausgeschlagen.
„Wir arbeiten dran, wir arbeiten dran. Sei lieber froh, dass ich dich aus der Falle des Dai gerettet habe, ja?“, antwortete der Freund pikiert. „Immerhin lebst du noch.“
Mist, in dem Punkt hatte er Recht. Und irgendwie leben war immer noch besser als gar nicht mehr leben. Allerdings würde ich dem Dai seine ganze Reyan-Argumentation bei nächstbester Gelegenheit nachhaltig in den Rachen stopfen mit einem Hawk-Arm nachstopfen.
„Und was nun?“
Unschlüssig hob Yoshi die Hände.
Henry trat in Begleitung einer jungen Frau in mein Sichtfeld.
„Eigentlich ist er ganz hübsch so“, murmelte sie und strich sanft über mein Gefieder. Nicht dass ich meinen KI-Körper bereits gesehen hatte, aber ich ging von Federn an einem Adler aus.
Eine Hand meines Körpers ergriff ihre. Mahnend und verneinend sah mein Leib sie an. Aber bereits eine Sekunde darauf lächelte er sie an. Er hatte der Agentin eine Abfuhr darin erteilt, mich zu berühren, ihr aber auch signalisiert, nicht böse zu sein. Eine erschreckende Entwicklung. Andererseits war das wirklich besser als von meinem eigenen Körper gehasst zu werden.
„Ich bin dafür, wir gehen erstmal alle nach Hause. Bis auf dich, Agentin. Du wirst unseren Spezialisten erst mal Rede und Antwort stehen“, sagte Henry fest.
„Hey! Was ist aus „Wir sind jetzt Verbündete“ geworden?“
„Später“, erwiderte Henry und schob sie in Richtung eines Geheimdienstmanns der UEMF. Mamoru Hatake erwartete sie bereits. „Ich denke auf Handschellen können wir verzichten. Es wird nur eine formelle Befragung.“
Zögernd nickte die Agentin und folgte Mamoru. Halb wandte sich der Geheimdienstoffizier mir zu, wollte etwas sagen, verstummte, schüttelte den Kopf und öffnete erneut den Mund. „Junge, Junge. Akira, du bist wirklich ein Unglücksmagnet.“
Ich seufzte innerlich tief und schwer. Damit hatte er wirklich Recht.


2.
Es war schwierig. Um nicht zu sagen SEHR SCHWIERIG. Mein Körper agierte und reagierte auf einer unbewussten Ebene auf alle ihn dargebotenen Reize, und zwar in den Mustern, die er gewohnt war. Im Prinzip war ich ja auch nur schizophren geworden. Mein ES, also die einfachste Form des Selbstverstehens und ein Teil meines ICH steuerten nun meinen Körper, während mein restliches ICH und mein ÜBER-ICH, also der komplexe, spekulative Verstand in der KI-Rüstung eines Adlers steckten, die mir Yoshi als Ersatz-Korpus erschaffen hatte.
Oh, im Prinzip konnte ich mich auf mich selbst verlassen. Sprich, während ich aus Entkräftung meinen eigenen Körper nicht in Besitz nehmen musste und auf seiner rechten Schulter ritt und wir in Yoshis Begleitung – von einem halben Dutzend Leibwächter abgesehen – mit der Bahn fuhren, benahm sich ES-Akira anständig. Aber er reagierte eben auf die ganzen Reize, ebenso wie ich es getan hätte. Leider stoppte ich mich bei vielen Dingen selbst, weil sie mir zu unnötig oder zu peinlich erschienen. ES-Akira hatte damit keine Probleme und schenkte jedem ein Lächeln, der ihn anlächelte. Genauso reagierte er auf einen bösen Blick eines West End-Daimas mit einem Knurren und Zähnefletschen wie ein Alphamännchen im Wolfsrudel gegen einen dreisten jungen Rivalen. ES-Akira hatte sehr wohl verstanden, dass der Mann ihn hasste. Ich wäre drüber hinweg gegangen und hätte ihn mit meiner Missachtung viel stärker getroffen.
„Junge, Junge, was machst du auch für Sachen“, tadelte Yoshi und richtete den Kragen der Schuluniform meines Körpers. Danach strich er mir, also meiner KI-Rüstung als Adler, über den Kopf. „Vögel streichelt man nicht. Es bricht ihnen das Gefieder“, tadelte ich.
Aufgeregtes Raunen ging durch die Gruppe meiner mehr oder weniger heimlichen Beobachter. Hatten uns ohnehin schon viele Blicke getroffen, weil Akira Otomo wie ein gewöhnlicher Sterblicher Bahn fuhr – eigentlich machte ich das immer, aber für die meisten Menschen in der AURORA war es eben noch keine Routine – so hatte sich das Interesse vervielfacht, als der große, stolze Raubvogel auf seiner Schulter erkannt wurde. Ich musste zugeben, es schmeichelte mir schon, dass der Vogelkörper als schön anerkannt wurde. Ein Grund, Yoshi zu danken. Bevor ich ihn für seine KI-Biestmassenerschaffung tadelte.
„Er spricht“, flüsterte eine Mädchenstimme.
„Wie erwartet von Otomo-sama. Sein Vogel ist natürlich etwas ganz besonderes“, antwortete ein anderes Mädchen und zustimmendes Gemurmel erfüllte den Waggon.
„Stell dich nicht so an. Das ist doch nur eine KI-Rüstung“, murmelte Yoshi und tätschelte meinen Kopf. „In der du übrigens sogar vor direktem Beschuss durch einen Hawk sicher bist.“
„Angeber“, murmelte ich. Oh, ich traute ihm durchaus zu, dass sein neuestes KI-Biest, also ich, derart mächtig und gut geschützt war. Aber musste er damit angeben gehen?
Kurz überlegte ich, ob ich dem Freund einen kräftigen Hieb mit meinem Schnabel verpassen sollte, ließ es dann aber doch. Die Krallen waren dafür definitiv besser geeignet.
„Du bist nun mal meine beste Schöpfung“, erwiderte Yoshi lächelnd. „Und das auch noch unter Zeitdruck, weil dein KI sich zu verflüchtigen drohte. Mir scheint, unter Druck arbeite ich wirklich am besten.“
„Annehmbar, meinst du wohl.“ Ich unterdrückte den Drang, mein Gefieder zu putzen und meine Greiffüße abzupicken. Ebenso hatte ich noch nicht versucht zu fliegen. Ich befürchtete einen spektakulären Bauchklatscher. Vielmehr wartete ich auf den Moment, an dem ich wieder stark genug war, um meinen Körper in Besitz zu nehmen.

Ich wandte ES-Akira meinen Kopf zu. Die Perspektive war etwas ungewöhnlich, weil sie durch Vogelaugen erfolgte. ES-Akira war nicht ohne Verstand. Im Gegenteil, er offenbarte in schneller Folge Fähigkeiten, die ich besessen hatte. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er sprechen konnte, wenngleich eine angeregte philosophische Diskussion oder eine Unterhaltung über die Technologie der Mechas wohl nicht möglich sein würde. Sozialverhalten würde er eventuell diskutieren können, weil dies zu den grundlegendsten Fähigkeiten des Menschen gehörte, aber das auch nur in einem bestimmten Rahmen. Oh, ich glaubte nicht, dass ES-Akira dumm war. Nur einem Großteil seiner Fähigkeiten beraubt, sprich mich.
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich in meinen Leib zurückgekehrt war, damals im Kaiserreich. Laysan war mein Anker gewesen, ich hatte um ihn eine KI-Hülle erschaffen, die meinem alten Äußeren entsprach. Ich war vor meinen schlafenden Körper getreten und hatte in ihn wechseln wollen... Und ich schwöre, für eine Sekunde hatte ich geglaubt, er hätte mich böse, beinahe abweisend angesehen. Das war damals nur mein Körper gewesen. ES, ICH und ÜBER-ICH hatten sich komplett bei mir befunden. Nicht, dass ich als Vogel die Fähigkeit brauchte, wie ein Mensch zu schmecken und zu riechen, geschweige denn die Fertigkeit auf zwei Beinen zu laufen oder meine Hände zu benutzen. All dies wurde dann relevant, sobald ich wieder in meinem Körper steckte und mich mit ES-Akira verband. Ein Dauerzustand war das nicht, sicherlich. Und ich hätte es verstanden, wenn ES-Akira mich dafür in einem gewissen Maße verabscheute, auf einer instinktiven Ebene. Aber er hatte mir noch nicht einen bösen Blick geschenkt. Im Gegenteil. Er wusste wer ich war und beschützte mich. Er spürte, dass wir zwei Teile eines Ganzen waren und dass wir wieder zusammen finden mussten.
Langsam kam mir der Verdacht, dass mein Körper meine KI-Rüstung böse angesehen hatte, weil er hatte einmalig sein wollen. Nun, das entsprach meinem normalen Ego, das, wie Sakura mal spöttisch betont hatte, durchaus ein paar der Großhangars der AURORA füllen konnte. Es war jedenfalls eine angenehmere Lösung als die Erkenntnis, dass mein Körper mich töten wollte. Eine Art Semi-Selbstmord gewissermaßen.

Eine Hand senkte sich auf meinen Kopf und streichelte mir übers Gefieder. „Denk... nicht... zuviel“, tadelte mich meine eigene Stimme, die sich erheblich tiefer anhörte, sobald ich sie nicht mit meinen eigenen Ohren hörte.
Entsetzt sah ich zur Seite. ES-Akira hatte gesprochen. Und er hatte mich getadelt. Und er lächelte mich tröstend an. In den klaren grünen Augen stand keinerlei Falschheit, keine Hintergedanken. Nichts was in dieser Welt als negativ angesehen werden konnte. In diesem Moment wäre ich bereit gewesen, für diesen reinen, in sich ruhenden Menschen einen Tempel zu erbauen, um ihn dort zu verehren... Ihm fehlten ja auch alle wichtigen Details eines menschlichen Verstandes, die aus einer reinen Seele eine verdorbene machen konnte. Zum Beispiel wie bei mir die Tatsache für den direkten Tod von viertausend Menschen und Kronosier verantwortlich zu sein. Grob über den Daumen gepeilt. Beneidenswert. Wirklich beneidenswert.
„Akira-sama. Wir sind da“, meldete einer der Wächter. ES-Akira und Yoshi erhoben sich und gingen zwei der Leibwächter nach, während zwei weitere die Flanken und die anderen zwei den Rücken schützten. Ich musste kurz mit den Flügeln schlagen um mein Gleichgewicht zu halten und richtete mich danach wieder zur vollen Größe auf. Bewunderndes raunen und Kommentare über das schöne Tier erreichten meine Ohren. Verdammt, als Mann war ich für Komplimente empfänglich, selbst wenn ich ein dämlicher Adler war.
ES-Akira lächelte ins Rund und winkte. Erfreutes raunen antwortete ihm.
„Hier entlang, bitte“, sagte der vorderste Leibwächter und deutete eine lange Straße hinab, die auf einen Shinto-Tempel zu führte, der auf einem künstlichen Hügel saß. Hier lebte und arbeitete einer der größten KI-Experten der Menschheit, Arno Futabe, Großvater von Yoshi und mein geistiger Mentor. Er war es, der mir meine eigenen KI-Fähigkeiten verdeutlicht hatte. Er war es, der die Grundlagen dafür gelegt hatte, was ich heute erreicht hatte. Dummerweise war das alles nicht durchweg positiv. Und wahrscheinlich war das eine seiner wichtigsten Lektionen gewesen, ging es mir durch den Kopf. Wenn man jemandem die Grundlage für etwas wirklich Großes in die Hand gab, war es nicht so dass der Proband die Wahl hatte, ob es sich positiv oder negativ entwickeln würde. Es entwickelte sich immer in beide Richtungen, egal ob man es wollte oder sogar darauf hinarbeitete, oder nicht.
Selbst wenn man selbst nichts am negativen tat, ein anderer übernahm das mit Sicherheit. Die normale Regel auf der Welt war, dass man Dinge am besten selbst in Angriff nehmen sollte, wenn sie getan werden mussten. Je mehr Grundlage und Macht eine Sache oder ein Mensch aber aufbaute, desto wahrscheinlicher wurde es, dass sich andere quasi schon darum schlugen, um den negativen Aspekt auszufüllen. Das hätte zumindest erklärt, warum auf jeden Triumph mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks eine niederschmetternde Erfahrung kam. So wie diesmal. So wie immer. Was mich zu meiner Lieblingsfrage brachte: Warum eigentlich immer ich? Nur weil ich immer vorweg lief und die Spitze hielt? Was für eine unfaire Welt war das, die einen Egomanen wie mich nicht mal ein wenig komfortierte.

Ungefähr auf halber Höhe auf der Treppe sah ES-Akira mich auffordernd an. Ich verstand. Er hatte gespürt, dass ich wieder genügend Kraft aufgebaut hatte, um Besitz von ihm zu ergreifen und forderte mich nun quasi auf, es auch zu tun. Letztendlich waren wir eins, und er schien sich so unkomplett auch nicht sehr gut zu fühlen.
Die KI-Gestalt des Vogels verschwand, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen griff leichter Schwindel nach mir, und ich sah die Welt wieder mit meinen eigenen Augen. Eine merkwürdige Welle an Gefühlen schwappte über mich hinweg. Hunger, Durst, Müdigkeit, Euphorie und das Verlangen nach Komfortzeit mit meiner Freundin drohten mich hinweg zu fegen. Es brauchte ein paar Sekunden bis ich begriff, dass ich diese Emotionen nur derart stark empfand, weil ich sie als ÜBER-ICH nicht gehabt und nun zurückerhalten hatte. Nun ja, nicht ganz. Da war immer noch die durchtrennte Verbindung zwischen Körper und Geist, und ich ahnte, dass die Restaurierung dieser Verbindung keine leichte Sache werden würde.
Einer der Wächter wollte mich stützen, aber ich wehrte ab. Langsam nahm ich die erste Treppenstufe. Dann die nächste. Es war ein schönes Gefühl im eigenen Körper zu stecken.
„Also weiter“, murmelte Yoshi.
Oben auf dem Treppenabsatz empfing mich bereits eine Horde Leute. Genauer gesagt einige meiner Jungs. Unter ihnen waren auch Makoto und Doitsu. Gemein war ihnen allen eines: Sie sahen mich düster an.
„Ach, kommt schon! Das ist doch kein Beinbruch und kein Todesurteil! Ich werde schon einen Weg finden, wie ich das hier wieder flicke“, wandte ich ein.
„Das ist es nicht“, brummte Takashi und drückte mir ein Bündel Papier in die Hand.
Verblüfft starrte ich es an. AURORA-Mark. Und wie ich nach einer kurzen Zählung feststellte, etwas über sechshundert. „Habt ihr gesammelt? So schlecht geht es mir nun wirklich nicht.“
„Nicht gesammelt“, sagte Makoto. „Gewettet. Das ist der Pool.“
Ich wusste, die Antwort würde mir nicht gefallen. Dennoch stellte ich die Frage: „Um was habt ihr gewettet?“
„Nun, wir haben darauf gewettet, was als nächstes mit dir passiert“, erklärte Makoto ernst. „Ich zum Beispiel habe gewettet, dass dein Geist wieder mal entführt wird. Einhundert Mark habe ich eingesetzt.“
„Ich habe gewettet, dass du wieder mal für tot gehalten wirst“, gestand Takashi.
„Und ich habe gewettet, dass du komplett mit Körper entführt wirst“, sagte Daisuke.
„Alles in allem sind neunhundertzwanzig Mark zusammen gekommen. Eine stattliche Summe also. Und was machst du? Lässt dich in ein KI-Biest verbannen! Das ist nicht fair, Akira, einfach nicht fair!“ Makoto schenkte mir den beleidigsten Blick, zu dem er fähig war.
„Moment mal“, sagte ich ernst und schnappte nach dem Kragen meines Cousins. „Ihr habt darum gewettet, was mir als nächstes passiert? Ihr habt auf mein Unglück gewettet? Und womöglich auch noch drauf gewartet?“
Entschuldigendes Gemurmel erhob sich. „Dafür hast du ja jetzt auch den Pott gekommen. Damit sid wir quitt.“
„Entschuldige bitte, Mako-chan, dass ich gerade in den Tiefen meiner persönlichen Verzweiflung dem Tritt nachspüre, den ihr mir zusätzlich verpasst habt. Leute, wie konntet ihr so etwas tun?“
„Komm wieder runter, Alter“, erwiderte Kei. „Niemand hat darauf gewettet, dass dir wirklich was passiert. Immerhin bist du der Akiranator, das mächtigste Wesen in diesem Teil der Galaxis.“
„Bitte immer nur einen unqualifizierten Scherz pro Tag“, tadelte ich den alten Freund. „Akiranator... Was für ein übler Witz.“
Yoshi runzelte die Stirn. „Witz? Ich glaube nicht. Du gehst zur Schule, und ein Daishi fällt dir vor die Füße, in den du einsteigst und die Welt rettest. Du fliegst zum Mars und schmeißt Phobos auf das Legat. Du fliegst nochmal zum Mars und eroberst ihn. Du fliegst nach Kanto und startest eine Revolte, die den ganzen Planeten befreit. Du fliegst nach Nag Prime und kommst als Besitzer Kantos, des Daness-Turms, des Mars und des Mondes wieder. Du fliegst...“
„Schon gut, schon gut!“, fiel ich ihm ins Wort. „Ich habe verstanden. Was also seht ihr in mir? Einen unbesiegbaren Menschen? Einen Gott?“
„Das mit der Körpertrennung bekommt ihm nicht“, murmelte Kei. „Er kriegt Halluzinationen.“
„Hey“, tadelte ich.
„Bleib locker, Akira. Keiner denkt hier daran, dich auf ein so hohes Podest zu setzen. Wozu auch, dann käme ja keiner mehr zu dir rauf. Im Gegenteil, wir wollen dich bei uns behalten.“
Die anderen nickten geschlossen zu Keis Worten.
„Deshalb haben wir auch nicht auf deinen Tod gewettet. Erstens weil daran sowieso keiner glaubt“, führte Makoto fort, „und zweitens weil wir keine Menetekel beschwören wollen.“
„Mene-was?“
„Steht in der Bibel. Mene, Menetekel, Uphasin.“
„Bitte, was? Ich bin Atheist.“
„Schon gut“, erwiderte Makoto seufzend. „Jedenfalls war unsere Wette mehr eine Art Ritual. Wir haben versucht Dinge zu beschwören, die dir nicht schaden können, weil du sie schon so oft überlebt hast. Ich weiß, das ist Aberglaube. Aber wir alle haben keine Lust, dich erneut zu verlieren. So eine kleine Entführung bringt dich nicht um. Du kommst ja als Oberbefehlshaber der Entführer zurück. Wir haben es zumindest nicht schlecht gemeint.“
Zustimmendes Gemurmel der anderen erklang.
Ich war ergriffen. Langsam trat ich einen Schritt vor und klopfte den Jungs auf die Schultern. „Danke. Ich weiß das zu schätzen.“ Ich reichte Makoto das Geld zurück. „Die Wette ist nicht ungültig, weil ich selbst nicht gewettet habe. Aber ich steige mit ein.“
„So? Und auf was wettest du?“
„Das ich mindestens dreitausend Jahre alt werde, ohne entführt oder für tot gehalten zu werden.“
„Dreitausend Jahre? Eher tritt einer der anderen Fälle ein“, erwiderte Makoto entrüstet, nahm das Geld aber wieder an.
„Und ich werde mein bestes tun, um die Wette zu gewinnen.“
„Worin wir dich natürlich tatkräftig unterstützen werden“, versprach Daisuke.
„AKIRA!“
Ich schreckte auf und hätte dabei beinahe den Kontakt zu meinem Körper verloren. „Mein Meister ruft. Entschuldigt mich, aber vielleicht gewinnt jetzt doch noch einer. Nur für den Fall, dass Futabe-sensei nichts von mir übrig lässt.“ Hastig drängte ich mich durch die Reihen, winkte noch einmal zurück, sah Yoshi an meiner Seite – und erstarrte. Der alte Mann starrte mich böse an. Er wandte sich um und ging in Richtung Haupttempel. „Komm“, sagte er nur, und ich wusste, ich hatte nun ein echtes Problem am Hals.
***
„Ein seltener Gast“, empfing Juichiro Tora Michael Berger, als der amtierende Direktor des Legats sein Labor betrat.
„Eine seltene Gelegenheit“, erwiderte Berger, während er langsam in den aufgeräumten und hell erleuchteten Raum trat. „Wenn wir erst wieder Feinde sind, werde ich wohl nicht so viele Gelegenheiten, dir bei deiner Arbeit über die Schulter zu schauen.“
Der Dämon warf dem Fioran einen spöttischen Blick zu. „Es gibt eine gute Chance, dass wir nie wieder Feinde werden, weil wir eventuell nicht mehr lange zu leben haben.“
„In der Tat, diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen“, erwiderte Michael mit dem Anflug eines Schmunzelns. „Umso wichtiger ist es, die uns verbleibende Zeit zu nutzen.“
Aufmerksam sah er sich weiter in der großen Halle um, die im Wolkenkratzer des Legats drei aufeinander folgende Stockwerke einnahm. Sie befanden sich zirka zehn Etagen unter dem Parkdeck, tief in das Gestein, auf dem Manhattan stand, eingegraben. „Ich hätte mehr erwartet.“
„Mehr?“, fragte der Magier und zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht einen Käfig mit KI-Biestern? Eventuell eine Freilaufzone für Youmas? Oder ein paar Tische, auf denen Probanden angeschnallt sind?“
„Etwas in der Art, ja.“
„Es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, Michael. Aber im Zeitalter der Computertechnologie laufen die meisten Experimente als Simulation ab. Wir müssen die Ergebnisse nur ab und an durch reale Experimente belegen.“
„Hm. Als wir unseren Kampf begonnen haben, gab es noch keine Rechner“, wandte Michael ein.
„Die Menschen hatten keine Rechner. Uns aber stand die Technologie zur Verfügung. Mir als Verbündeten des Cores sogar die Biocomputertechnologie.“ Er deutete in die Tiefe des gewaltigen Raums. An der Wand war eine Gallerie aufgestellt, in der sich zwei Dutzend Biotanks befanden. Alle waren besetzt. „Die meisten Insassen leben bereits dreihundert und mehr Jahre in diesen Tanks. Sie existieren in ihrem eigenen Paradies und werden dort noch leben, wenn ein normaler Mensch seine Lebensspanne bereits beendet hat.“
„Dreihundert Jahre?“ Michael trat näher und musterte die nackten Menschen, Männer wie Frauen. „Es ist eine Grausamkeit, sie so lange von der Welt auszuschließen.“
„Oh, ich schließe sie nicht von der Welt aus. Sie tun es selbst. Ihr Dienst im Biocomputer ist vollkommen freiwillig. Sie können kommen und gehen, wann immer sie wollen. Außerdem informiere ich sie jeden Tag über das Geschehen auf der Welt, sofern sie das überhaupt möchten. Auf jeden Fall sage ich ihnen ständig, dass sie in einer Traumwelt leben. Sie wollen es so, Michael, und für viele wäre die Chance, in dieser Welt real zu leben eine Strafe. Zu unterschiedlich ist die Welt aus der sie kommen von jener in der wir beide leben.“
„Menschen können lernen. Menschen können sich anpassen“, beharrte der alte Berger.
„Hören Sie, Michael. Ich lasse mich schon mehr auf Sie ein als ich sollte. Strapazieren Sie meine Geduld nicht und stellen Sie meine Methoden nicht in Frage.“ Er begleitete seine Worte mit eienm bösen Blick.
„Ich stelle nicht in Frage. Ich vergleiche lediglich unsere unterschiedlichen Moralvorstellungen und versuche das in Einklang zu bringen mit dem was ich über die Jahrhunderte über Sie gelernt habe. Oder gelernt zu haben glaube, Juichiro.“
„Hm. Falls es Sie beruhigt, die meisten Menschen in diesen Tanks haben ein Handicap, das sogar ein KI-Meister nicht beheben kann.“ Er deutete auf einen Tank in der untersten Reihe. Dort schwebte eine uralte Frau träge in der Nährflüssigkeit. „Eine Schamanin von einem Stamm, der von weißen Robbenjägern ausradiert wurde. Sie war zu alt, und die Männer ließen sie leben. Nicht um ihr einen Gefallen zu tun, sondern um das Wissen zu genießen, dass die alte Frau auf sich gestellt erbärmlich sterben musste. Ich habe sie gefunden und gerettet. In der Welt im Biotank ist sie wieder zwanzig und lebt glücklich in der Gemeinschaft des Biocomputers. Ich hätte ihr auch eine Simulationswelt mit einer fiktiven Familie erschaffen können, aber das wäre Betrug gewesen. Ich lege Wert darauf, dass meine Probanden wissen was ich mit ihnen tue.“
„Wie beruhigend. Und wie sind Sie auf die Frau aufmerksam geworden? Wie sind die Robbenjäger auf den Stamm aufmerksam geworden?“
Tora neigte leicht den Kopf nach links. „Sie ist Schamanin. Sie ist mit dem großen Weltgeist verbunden. Ich kann nicht sagen wie die Robbenjäger den Stamm gefunden haben und warum sie ihn ausradieren mussten. Aber ich weiß ziemlich genau, dass sie anschließend an einer Bleivergiftung starben, während ich die Frau retten konnte. Als aktiver Teil des Weltgeists konnte ich sie in ihrer größten Not so deutlich sehen wie ein Leuchtfeuer in tiefschwarzer Nacht. Sie wissen, dass wir Dai mit der KI-Seele der Erde eng verbunden sind.“
„Bleivergiftung?“, argwöhnte Michael.
„Bleivergiftung. Man hat die ersten Konservendosen damals mit Blei verschlossen, weil es so leicht formbar war. Von Partikelwanderung hat man damals noch nichts gewusst. Geschweige denn von der Möglichkeit, sich an Metall zu vergiften. Sie haben sich im wahrsten Sinn des Wortes tot gefressen.“
Michael nickte verstehend und verschwieg das nicht ganz unwichtige Detail, dass er eine der ersten Firmen gegründet hatte, welche Dosen mit Pressrand hergestellt hatte, einer Methode ohne Blei, die schnell Marktbeherrschend geworden war.
„Jenen hier habe ich kurz vor der Jahrhundertwende in London getroffen. Er hat... Nun, einige Defizite, die ihn unregelmäßig zum getriebenen Mörder machten, der einen perfiden Spaß daran hatte, Frauen in finsteren Nächten auf offener Straße mit einem Messer zu töten. Ein Umstand, der ihn nach dem Rausch der Tat beinahe in den Wahnsinn trieb. Hier im Tank ist er endlich von seiner Biochemie getrennt. Seine Hormone verwirren nicht länger seine Gedanken. Hier in dieser Welt ist er ein reines Bewusstsein und mein bester Rechner.“
„Jahrhundertwende? Sie meinen die vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert?“ Michael runzelte die Stirn. „Das ist Jack the Ripper. Sie haben Jack the Ripper im Biocomputer?“
„Bitte keine Vorwürfe. Er lebt hier ein besseres Leben und leistet als Teil des Rechners sehr gute Arbeit. Er hat es erlebt, auch einmal in Frieden leben zu können.“
„Das bringt seine Opfer nicht zurück.“
„Das würde sein Tod auch nicht, Michael“, erwiderte Tora scharf.
Die beiden Männer sahen sich streng an, dann endlich lenkte Berger ein. „Ist ein Argument. Also hat jeder einzelne von diesen Menschen eine besondere Geschichte.“
„Das kann man sagen. Sehen Sie das zarte Geschöpf in der dritten Reihe ganz rechts? Ich traf sie knappe zwanzig Jahre später in Paris. Sie ist Holländerin und arbeitete in einem Nachtclub als Tänzerin. Sie fiel einer Intrige zum Opfer, das auf einen hohen Minister ausgerichtet war. An erschoss sie als feindliche Spionin, dabei war alles was sie sich zuschulden kommen lassen hatte, indischen Tempeltanz zu tanzen und sich mit einem Mann einzulassen, der Feinde im Übermaß hatte. Keinen Finger hat er für sie gerührt, der Bastard.“ Unwillkürlich ballte Tora die Hände zu Fäusten.
„Mata Hari. Interessante Menschen haben Sie hier in Ihrem Biocomputer.“
„Namen, Michael? Namen sind hier Schall und Rauch. Sie sind unwichtig, weil die Menschen hier nicht anhand ihrer Namen existieren, sondern nur durch ihre Persönlichkeit und Existenz. Ich gebe zu, ich habe die Menschen Zeit meines Lebens mit arroganten Augen gesehen. Aber die Arbeit mit dem Biocomputer hat vieles für mich geändert.“
„Was Sie nicht davon abgehalten hat, Youmas auf die Menschen los zu lassen.“
„Nein, das hat es wahrlich nicht. Aber würden Sie mir glauben, dass ich nicht an eine Waffe gedacht habe, als ich die ersten Youma erschuf, die Menschen übernehmen konnten? Natürlich war es später eine Waffe, eine gute sogar um Ablenkungen zu erzeugen und KI zu ernten. Die anderen Forschungsprojekte mit KI waren da schon wesentlich gefährlicher. Ich denke da nur an die beseelten Torpedos oder den Zulu-Kreuzer, dessen Hauptwaffe durch KI erheblich verstärkt worden war.“
„Den KI-Resonator nicht zu vergessen.“
„Oh, der ist nicht von mir“, erwiderte Tora lächelnd. „Die Ideengrundlage und die Konstruktionspläne hat man im Core gefunden, nachdem das Legat ihn entmachtet hatte. Spezialisten durchforsteten seine Speicher und fanden Regelmäßigkeiten in einer Sektion mit Datenmüll. Es stellte sich heraus, dass der Datenmüll zur Ursprungsprogrammierung gehört hatte, die schon auf Iovar vorgenommen worden war. Das Programm hatte sich mit der Zeit zersetzt, aber den Spezialisten gelang eine Rekonstruktion. Sie war lückenhaft, bildeten aber die Basis für erste Versuche. Am Schluss stand der Resonatortorpedo, von denen die AURORA acht Stück an Bord hat.“
„Es hat keinen wesentlichen Einfluss auf meine Meinung über Sie, Juichiro. Unser Kampf gegeneinander beruht auf anderen Dingen, nicht nur auf Ihrem Missbrauch des AO und die Auswüchse, die Sie erfunden haben.“
„Dabei ist es ein sehr interessantes Experiment gewesen. Würden Sie mir glauben wenn ich sage, dass ich ursprünglich gar nicht vorhatte, Youmas zu erschaffen? Es wurde ebenso zur Waffe missbraucht wie die Kernspaltung. Möglichkeiten wurden für die Youmas entdeckt, die ich nicht einmal ansatzweise im Sinn hatte. Ursprünglich wollte ich nur eines: Mein Interesse für die Menschen stillen, das von der kleinen Gemeinde, die ich um mich gesammelt hatte, geweckt worden war. Ich wollte wissen wie die Menschen ticken, wie sie funktionieren. Woran sie glauben und was sie tun. Also nutzte ich KI-Energie, um das in einem Menschen zum Vorschein zu bringen, was ihn am meisten bewegt. In den meisten Fällen war das Ergebnis sehr enttäuschend. Meine Probanden verwandelten sich meist in etwas großes, plumpes, gewalttätiges, das sich zudem einem bestimmten Thema gewidmet hatte. Die Kraft und die Fähigkeiten, die ein Youma ihnen verlieh, wenn er von ihnen Besitz ergriff, wurde fast immer auf eine plumpe und dumme Weise genutzt. Wohl vielleicht ein Grund, warum Kuzo die Slayer erschuf, um die Youmas zu bannen. Und um mir willfährige Werkzeuge zu nehmen, natürlich.“
„Interessant. Abgesehen von den Werkzeugen sagten Sie fast immer. Gab es denn auch Beispiele, die Sie zufrieden gestellt haben?“
Tora lächelte hintergründig. „Oh, es gibt heute noch Menschen in Tokyo und in anderen Großstädten der Erde, die noch immer von meinen Youmas besessen sind. Aber sie wurden nicht entdeckt, weil das was sie bewegt, das was sie antreibt nicht monströs ist. Weil sie die Kraft, die ihnen verliehen wurde, zu nutzen wissen. Sie tun dies für andere, nicht für sich selbst. Eigennutz ist meistens der erste Schritt zum großen klobigen Klempnermonster, das mit einer gigantischen Rohrzange um sich schlägt.“
„Die meisten Menschen denken zuerst an sich“, stellte Michael fest. „Ich bin da keine Ausnahme.“
„Sie lügen, alter Mann“, tadelte Juichiro. „Sie denken mindestens zuerst an Eridia, wenn nicht auch noch an Ihre Tochter und Ihre Enkel, bevor Sie überhaupt in Erwägung ziehen, an sich selbst zu denken. Wenn Sie sich selbst vorziehen, dann nur temporär, und dann auch nur, um einer Situation zu entkommen, die Ihr Leben beenden könnte. Damit Sie weiterleben können und weiter für andere da sind.“ Tora betrachtete Berger sinnend. „Sie sind KI-Meister, deshalb gibt es wohl keinen Youma, den ich erschaffen könnte, der Sie wirklich übernehmen könnte. Vielleicht wage ich mich mal an das Experiment. Und vielleicht werden wir keinerlei Veränderung an Ihnen sehen, Michael, bestenfalls, dass der Engel noch stärker, noch reiner und noch fürsorglicher geworden ist.“
Bei der Erwähnung seines alten Spitznamens raunte Michael Berger ärgerlich auf. „Nichts ist rein und nichts ist gut. Vor allem nicht in dieser Welt, vor allem nicht ich. Wie kann ein Mann das auch sein, wenn er seine eigene Tochter zum Schalter macht?“
„Wie erstaunlich, dass Sie diesen Aspekt erwähnen. Seine Tochter als Garant für den Vertrag zwischen Dais und Göttern zu machen erscheint auf den ersten Blick wie ein fürchterliches Verbrechen. Aber dann haben Sie sie zurück nach Nag Prime geschickt.“
„Und alle glauben lassen, sie wäre gestorben. Und das in einem Autounfall. Ich habe meinen Enkeln die Mutter fort genommen und meinem Schwiegersohn die Frau. Und ich habe meine Tochter belogen.“ Michael merkte, wie seine Hände zu zittern begannen. „Und dann ist all das auch noch umsonst, weil Eridia sie wieder mit zur Erde bringt. Ich...“ Er sah Tora an. Ein beinahe wahnsinniges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich bin fast schon daran interessiert zu sehen, welches Monster in mir lauert und zu solchen Taten fähig ist.“
„Wenn Sie mir dazu eine Bemerkung erlauben“, sagte Tora und sah den Naguad ernst an, „dann lassen Sie mich sagen, Michael, dass ich nicht daran glaube, dass ein Monster geboren werden würde. Wenn ich eines an Ihnen als meinen Gegner immer geschätzt habe, dann Ihre Aufrichtigkeit, ihre Integrität und den festen Willen, Gutes zu tun und Fehler wieder gut zu machen. Machen wir uns nichts vor, wir sind beide keine Engel und auch keine Monster. Wir haben unsere eigenen Methoden, unsere eigenen Wege und wir spüren die Last der Verantwortung, die unsere Wege uns aufbürden. Ich will die Dai wieder zu den Sternen führen, die verkrusteten Strukturen unserer Gesellschaft aufbrechen und sie dynamisieren. Ich hatte immer den Traum von einem demokratischen System, von einer neuen, schlechteren Ordnung, um deren Bestand wir jeden einzelnen Tag kämpfen müssen und die es deshalb auch wert ist zu existieren.
Sie wollten all die Zeit die Menschen schützen. Nicht einen, nicht zwei, sondern alle. Und obwohl Sie gesehen haben, dass Sie das nicht können, dass Sie die Menschen nicht einmal voreinander beschützen können, haben Sie nie aufgegeben. Sie haben Ihr Ziel nie aus den Augen verloren. Und als Ihre Tochter zum Ziel zu werden drohte, weil sie der Schlüssel ist, haben Sie ihren Tod vorgetäuscht und sie aus der Schusslinie geschafft. Auch wenn das für alle schwer war, für Sie selbst, für Ihre Frau, die Enkel, Ihren Schwiegersohn. Sie haben es getan, weil die Alternative gewesen wäre, gegen radikale Dämonen zu kämpfen, die in ihrer maßlosen Arroganz eine Naguad-Frau für eine leichte Gegnerin gehalten hätten. Die einen Krieg zwischen Verbündeten los gebrochen hätten, an dessen Ende der Core die Erde dominiert hätte, weil er nach nur einer geringen Schwächung von Kräften aus der Daimon und den Naguad stärkste Fraktion geworden wäre und nachhaltig zugeschlagen hätte.“ Tora seufzte schwer. „Ich hätte in dem Fall bereit gestanden, um die Erde an mich zu reißen. Ich HABE bereit gestanden. Aber anstatt den offenen Konflikt zu suchen haben Sie die Quelle entfernt.“
„Und nun ist sie wieder da, und alles Schönreden von Ihrer Seite nützt nichts. Helen wird erneut zur Zeilscheibe werden. Und ich weiß nicht, ob ich sie gut genug beschützen kann.“
Tora lächelte dünn. „Oh, Sie wären überrascht wenn Sie wüssten, wie stark die eigenen Kinder werden können, wenn man sie nur lässt. Mein Sohn jedenfalls hat sich unter der Obhut von Akira besser entwickelt als ich es je zu hoffen vermocht habe. Außerdem ist er ein ganz passabler KI-Meister geworden. Aber das er mir meine alte Flamme ausgespannt hat, das nehme ich ihm wirklich übel.“
„Ihre alte Flamme?“ Michael runzelte die Stirn. „Akari?“
„Sie ist zum Teil eine Dai und bereits sehr alt, das wissen Sie doch. Reimen Sie sich den Rest selbst zusammen, Michael. Ich bin es müde an diese Geschichte zu denken, nachdem sie für mich bereits dreihundert Jahre traurige Vergangenheit ist.“
Michael Berger sah den Magier konsterniert an. Es gab da ein paar Zusammenhänge, die er nun besser begriff. Zusammenhänge, die an ihre Plätze gelangten und nun endlich Sinn ergaben. Und die ihm bewusst machten, das selbst Männer wie Dai-Tora-sama ihren eigenen Schmerz in der Welt kannten.
„Wirklich“, meinte Michael ausweichend und ließ seinen Blick über die Rechnerblöcke schweifen, „ein schönes Labor haben Sie hier, Juichiro.“
„Das beste ist die Kaffeemaschine. Darf ich Sie zu einer oder zwei Tassen einladen, Oberster Legat?“, fragte Tora mit einem beinahe ehrlich gemeinten Lächeln.
„Oh, da sage ich nicht nein.“
Die beiden Männer gingen tiefer in den Raum, passierten Mitarbeiter und Arbeitsdrohnen des Core, grüßten hier und da auf dem Weg zur großzügig und opulent ausgestalteten Ruhezone. Und für einen kurzen Moment erschien beiden ihr langer Kampf so unsinnig und weit entfernt wie Iovar von der Erde. Zumindest für den Moment. Einen sehr, sehr kurzen Moment.

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3.
Die Erde befand sich in einer gigantischen Daimon. Das war alleine deshalb bemerkenswert, weil der Himmel zu bestimmten Tageszeiten einen ganz eigenen, fast goldenen Schimmer aufwies. Zwar bemühten sich die Betreiber, die geheimnisvollen Dai, Nacht und Tag so gut es ging zu simulieren, aber morgens und abends gelang es ihnen nur unzureichend, und die Menschen konnten jene Blase erkennen, die nun ihre Welt umgab und beschützte. Abends konnte man sogar Passage zwei sehen, jenen Transporttunnel, der zur Daimon des Mars führte. Angeblich in Nullzeit. Passage eins, die zum Mond, konnte man immer dann sehen, wenn der treue Trabant der Erde in einem entsprechenden Winkel stand, also knapp über dem Weltenrund. Es gab einen regen Verkehr zwischen den drei Daimons, und entsprechend der interglobalen Vernetzung der drei Welten nahm dieser mehr und mehr zu, wurde ausgeklügelter, günstiger und wurde so schließlich sogar für normale Menschen erschwinglich. Aber das waren Gedanken, die in die Irre führten und vom eigentlichen Thema ablenkten. Tatsache war, dass UEMF und Legat gemeinsam über die drei Welten herrschten, auch über den Mars, auf dem die Naguad ihr regionales Flottenkommando eingerichtet hatten, mit Torum Acati als Statthalter, während auf der Erde die Dai aus ihrem ewigen Versteck gekommen waren und den Anspruch auf die Welt erneuerten. Alleine die Existenz der gigantischen Daimon war Hinweis darauf. Man sollte meinen, der Mond sei noch frei, aber letztendlich war der Trabant Terras mittlerweile weniger erschlossen als der Mars. Von dort Hilfe zu erwarten wäre fahrlässig gewesen.

„Haru?“, klang eine nervöse Männerstimme auf.
Das junge Mädchen, welches gerade zum zweihundertsten Mal ihr Shinai im Karatake schwang, hielt mit der Präzision einer Maschine mitten im Schwung inne. Nichts deutete darauf hin, welchen enormen Kraftakt sie hinter sich gebracht hatte. Lediglich ein dünner Schweißfilm auf ihrer Stirn war Zeugnis dieses Teils ihres täglichen Trainings. Sie nahm die Maske an, den Men, und hielt sie in der Rechten. „Was gibt es, Philip?“
Der amerikanische Austauschstudent flüsterte unwillkürlich. „Sie sind jetzt da, Haru. Wir müssen los.“
Haru Mizuhara nickte verstehend. Sie setzte sich in Bewegung, und jeder einzelne Schritt hinterließ einen Fleck ihrer nackten Füße auf dem Boden. „Ich komme sofort.“
Philip King runzelte die Stirn. „Die Zeit zum umziehen und zum duschen werden sie dir schon zugestehen“, wandte er ein.
„So?“, fragte die junge Frau und löste ihr Kopftuch. Darunter kam eine braune Haarflut hervor, die ihr hübsches, weibliches Gesicht wundervoll einrahmte. „Das ist aber nett von ihnen.“ Men und Shinai landeten in den Armen des großen, schlanken schwarzen Amerikaners. Der junge Mann, die Launen der Kendo-Kapitänin bereits gewöhnt, nahm es als das was es war: Ein Vertrauensbeweis.
Einen Seufzer konnte er allerdings nicht unterdrücken. Neben der Umkleidekabine für die Frauen lehnte er sich gegen die Wand. „Es sind insgesamt einundvierzig. Vertreter von siebzehn Schulen, neun davon international. Viele haben Verwandte oder sogar Geschwister in der UEMF.“
„So? Das war zu erwarten gewesen.“ Deutlich war zu hören wie eine Dusche ihren Dienst aufnahm. „Ich habe auch ausdrücklich nach solchen Leuten verlangt. Solchen die kämpfen wollen.“
Philip runzelte die Stirn. „Ob sie kämpfen wollen kann ich nicht sagen. Aber sie werden dir zuhören, Haru. Immerhin bist du die Tigerin der Fushida Highschool und hältst den Namen und die Ehre Akira Otomos aufrecht.“
„Das hast du schön gesagt. Dafür kaufe ich dir nachher ein Eis“, spottete sie. „Nur weil ich den Kendo-Club leite bin ich noch nicht Akira-sempais Nachfolgerin. Ich denke, es gibt niemanden, der in diese großen Fußstapfen treten kann.“
„Und trotzdem versuchst du es“, hielt Philip ihr vor.
Darauf antwortete die Tigerin der Fushida nicht.
Das brausen des Wassers indes hielt an, und der junge Mann, der zwei ältere Brüder in der Air Force und der UEMF hatte, schüttelte energisch den Kopf, um sich die junge Frau nicht unter der Dusche vorzustellen. Haru war achtzehn Jahre alt und im zweiten Jahr der Oberstufe. Für das legendäre Kendo-Team der Fushida war sie ein Glücksgriff gewesen, und schnell hatte man sie mit Akira Otomo selbst verglichen, der in seiner Zeit als Kendoka vielleicht nicht der berühmteste oder erfolgreichste gewesen war, aber dennoch durch seine Sturheit und seine Zähigkeit immer wieder aufgefallen war. Eigenschaften, die er auch als Blue Lightning bewiesen hatte. Haru WAR erfolgreicher als Akira jemals gewesen war. Sie war Landesmeisterin in ihrer Altersklasse und hatte schon sehr erfolgreich auf internationalen Turnieren gekämpft. Selbst in der Männerwelt des Kendos kannte man ihren Namen, alleine schon weil man ihn in einem Atemzug mit Akira Otomo aussprach. All das machte sie zu einer jungen Frau mit Einfluss. Philip wollte nicht Macht sagen, obwohl es das wohl war. Und sie war ehrgeizig genug, diese Macht zu nutzen. Im Moment war sie stellvertretende Schulsprecherin, aber im dritten Jahr würde sie ihrem Bruder Takashi als Schulsprecher nachfolgen. Auch das UEMF-nahe Training wurde von ihr besucht. Nach der Historie, welche die Schule im zweiten Marsfeldzug aufzuweisen hatte, waren von dieser Schule immer wieder Freiwillige zur Erdverteidigung gegangen. Viele hatten es als Pflicht angesehen um das fortzusetzen, was ihre Vorgänger geleistet hatten, andere als Ehre. Der Anteil war mit acht Prozent an allen Schülern derart erschreckend hoch, dass die UEMF ihre engen Bande mit dieser Schule genutzt hatte, um den jungen Menschen wenigstens zu zeigen, was auf sie im UEMF-Dienst wartete. Häufig leiteten ehemalige Schüler diese Trainingseinrichtungen, die sowohl Unterrichtsstoff als auch Fitness-Leistungen beinhalteten. Man sagte, wer sich vom harschen Ton, vom rigiden Stil und von der Härte der Lehrer nicht beeindrucken ließ und im Dienst der UEMF wirklich seinen Lebenszweck sah, schon mit einem Bein in der Organisation war. Haru Mizuhara hingegen hatte nicht nur das erste Bein, sondern auch schon einen Arm und das zweite Bein eingesetzt. Dennoch war sie wie so viele andere von der Entwicklung überrascht worden. Erheblich überrascht.
Die Dusche stellte ihre Arbeit ein. Philip hörte es kaum, als sie mit nackten Füßen zurück in den Umkleideraum schritt.
„Es ist nicht so als würde ich versuchen wie Akira Otomo zu werden“, rechtfertigte sich die junge Frau. „Aber einer muss ja etwas tun. Findest du es nicht komisch, dass UEMF und Legat plötzlich als beste Freunde auftreten? Und woher sind die Dai gekommen? Warum haben wir zuvor nie etwas über sie gehört? Dann ist da noch der Fall mit diesen Mecha-Piloten, die nicht in der UEMF dienen und mit Sack und Pack der AURORA nachgeflogen sind. Glaubst du wirklich, die sind desertiert? Nein, jemand hat sie aus dem Weg geschafft, damit die Übernahme der Hauptstädte gelingt. Moskau wird immer noch von Legatstruppen kontrolliert, Delhi und Johannesburg ebenso. Da können sie sich auch nicht mit unsicherer Sicherheitslage und präventiver Präsenz raus reden.“
Ihre Hand legte sich auf Philips Schulter. „Meine Sachen, bitte.“
Wortlos legte er Shinai und Men in ihre auffordernd erhobenen Hände. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sich zu duschen und anzuziehen. Für eine Frau war das sicherlich Weltrekord.

Nachdem sie ihre Rüstung verstaut hatte, verließen die beiden den Dojo.
„Wie geht es bei dir voran?“, fragte sie ihren Klassenkameraden.
Philip lächelte dünn. „Ich denke, ich bin auf einem guten Weg. Ich kann bereits eine KI-Aura um eine Waffe manifestieren. Mehr wage ich noch nicht, um das Erlernte sicher zu beherrschen. Erst neulich kam wieder ein Bericht über einen KI-Unfall und eine Warnung im Fernsehen, mit diesen Kräften nicht zu spielen.“
„Hast du schon mal daran gedacht, dass die UEMF nicht nur aus Sicherheitsgründen davor warnt, sein KI nicht zu trainieren oder gar zu nutzen? Feindliche KI-Meister würden ihnen sicherlich den Tag versauen.“
„Ich denke schon, dass die Warnung gerechtfertigt ist. Yukiko wurde nach ihrem KI-Unfall aus der Klinik entlassen. Sie hätte beinahe ihr Herz angehalten, von den Verbrennungen auf ihrem Arm ganz zu schweigen. Es ist also was dran.“
„Sie hat eine enorme KI-Affinität. Aber sie ist zu schnell zu gierig geworden. Und wenn Kinder mit dem Feuer spielen, verbrennen sie sich nun mal. So ist das eben“, erwiderte Haru.
Sie wechselten in das Hauptgebäude. Schnell erreichten sie das Klassenzimmer, in dem normalerweise die Konferenzen der Schülervertretung abgehalten wurden. Draußen, durch die Fenster gerade noch in der Abendsonne zu erkennen, stapfte eine gewaltige Samurai-Rüstung durch die Straßen der Stadt.
„Das KI-Biest sammelt freies KI“, raunte sie Philip zu. Anschließend setzte sie sich auf ihren Platz, den der Vorsitzenden, denn in dieser Runde hatte sie das sagen, solange kein besserer gewählt worden war.
„Mein Name ist Haru Mizuhara. Ich habe die Einladungen ausgesprochen.“ Ihr Blick ging über die Anwesenden. „Es freut mich, dass ihr so prompt und zahlreich gekommen seid.“
Ihr Blick ging über verschiedene Gesichter, Jungen wie Mädchen aus vielen weit voneinander entfernten Ländern der Erde. „Und es ist gut so.“
„Die Andeutungen in der Einladung waren klar zu erkennen, Haru Mizuhara“, sagte ein junger Mann ohne Schuluniform. Da er jedoch eine Dienstuniform der Air Force trug, rechnete sie ihn einer Militärschule zu. „Dennoch möchte ich es gerne von dir hören: Warum sind wir hier?“
„Du bist Luc Valsonne, nicht wahr?“
Der andere nickte. Noch vor zwanzig Jahren hätte man dies mit dem Hinweis ergänzt, Quebecker oder zumindest Kanadier zu sein. Aber heutzutage setzte sich mehr und mehr die Bezeichnung Terraner durch. Sowohl im Wortschatz als auch in den Köpfern der Menschen.
„Dann bist du in den Tagen, die da kommen, ein wichtiger Mann“, schloss Haru.
„Ein wichtiger Mann? Wobei?“, hakte Valsonne nach.
„Ist es nicht offensichtlich? Im Kampf gegen die Dai.“ Haru lächelte unergründlich, während ein leises raunen durch den Raum ging.
***
„Ich werde sicherlich nicht gegen Akira kämpfen!“, rief ein entrüsteter Mitschüler der Fushida High, namentlich Sven Dorff, und ein überwiegend deutscher ferner Cousin von Yoshi Futabe.
„Natürlich geht es nicht darum gegen Akira zu kämpfen“, sagte Haru ernst. „Wie ich schon sagte, unser Kampf gilt den Dai. Und ob es einen Kampf in dem Sinne geben wird, wird sich zuerst heraus stellen müssen.“
Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit, bevor sie hinaus zum KI-Biest deutete. „Seht euch das Ding an. Seht hin! In allen großen Städten und in den meisten kleinen laufen diese Dinger herum. Ordentlich darauf getrimmt, alleine mit ihrem Auftreten eine gewisse Gefälligkeit zu erreichen. Aber was tun diese Dinger? Sie saugen KI auf. Und wie wir alle wissen ist KI erstens essentiell für unsere Körper und zweitens kann es sehr gefährlich werden. Alleine heute gab es in ganz Tokyo fünf Verletzte, die sich am eigenen KI verbrannt haben. Verbrannt! Und das ist keine Metapher!“
„Feuer ist auch gefährlich, und dennoch brauchen wir es zum Leben“, warf eine Schülerin aus einem anderen Stadtteil ein. Ihren Namen wusste Haru im Moment nicht.
„Richtig. Das wissen alle. Warum soll es beim KI anders sein? Nur wer hinfällt gewöhnt sich daran schneller wieder aufzustehen. Anstatt uns Lehrer zur Verfügung zu stellen die uns helfen unsere KI-Kontrolle zu entfalten und zu beherrschen zu erlernen ignorieren und unterdrücken sie das Wissen über das KI, und wenn es doch erwähnt wird, ist es negativ dargestellt. Bin ich die einzige in diesem Raum, die das stutzig macht?“
Wieder wurde geraunt, aber diesmal zustimmend.
„Ich sage nicht, dass uns ein ebensolcher Krieg bevor steht, wie ihn jene Schüler gehabt haben, die vor drei, vier, fünf Jahren an dieser Schule waren, die sich damals freiwillig für den Marsfeldzug gemeldet hatten. Aber es kann sein. Es kann durchaus sein. Wir kennen die Dai nicht. Wir kennen ihre Motive nicht. Wir kennen ihre Repräsentanten nicht. Im Gegenteil. Hätten sie ihre eigene Daimon nicht aufgeben müssen, würden sie sich mit ihrem Kontinent Lemur immer noch versteckt halten.“
Sie machte eine kurze Pause, in der sie jedem einzelnen in die Augen sah. „UEMF und Legat arbeiten zusammen. Seite an Seite. Sie haben einige der stärkeren Länder besetzt, die nicht mit der UEMF kooperieren. Darunter die einst so mächtige U.S.A., die kurz vor dem Abflug der AURORA heftig rebelliert hat – allerdings weil ihre Führer geglaubt haben, das Legat wäre mit ihnen verbündet. Und all das läuft in den Händen einer Macht zusammen, die im Hintergrund agiert und für uns unangreifbar ist.“
Wieder wurde geraunt. Zustimmend. Ernst. Leise bestätigende Kommentare erfüllten die Luft.
„Ich sage nicht, dass wir im Krieg sind. Aber ich sage, dass das Legat bis vor kurzem unser Feind war. Wenn das Geschichte ist, soll es so gut sein, denn sobald die Soldaten des Legats ihren Platz in dieser Welt finden, haben die Kämpfe mit ihnen ein Ende. Und wenn die Dai nach bestem Wissen und Gewissen in unserem Sinne handeln, soll es gut sein. Aber wenn dem nicht so ist, dann stehen wir vielleicht alle vor der bitteren Erkenntnis, dass die Menschen in dieser und den anderen drei Daimon binnen eines Dreivierteljahres, vielleicht früher, vielleicht später, für den Erhalt der Barrieren ausgesaugt werden. Das mag richtig sein, das mag der einzige gangbare Weg sein. Wir können die Hände falten und in den Schoß legen und unsere Leben und unsere Zukunft getrost anderen überlassen. Aber ich will es wissen! Ich will die Wahrheit wissen! Und wenn sie mir nicht gefällt, will ich etwas dagegen tun! Ich will nicht vor Akira Otomo stehen müssen und ihm sagen, dass wir die Erde, dass wir die Menschheit haben sterben lassen, weil keiner bereit war etwas zu tun, etwas in Erfahrung zu bringen, etwas zu riskieren!“
Wieder wurden bestätigende Stimmen laut.
Haru Mizuhara lächelte dünn. „Es gibt vier Gründe, warum wir alle hier versammelt sind. Warum wir uns hier und jetzt treffen. Warum wir aus aller Welt zusammen gekommen sind. Der erste Grund ist einfach. Jeder einzelne von uns hat einen Angehörigen in der UEMF. Mein Bruder Takashi dient als Kommandeur des Fifth Head-Bataillon im Gyes-Regiment der Hekatoncheiren und steht Akira Otomo zur Seite. Viele von uns haben Angehörige auf der AURORA. Und jeder einzelne muss sich vor dem Tag fürchten, diesem Angehörigen gegenüber zu stehen und ihm gestehen zu müssen, dass das was er erreicht hat, von anderen wieder verloren wurde.“
Betretene Blicke gingen zu Boden. Nur wenige sahen Haru an. Und in deren Blicken war Feuer.
„Der zweite Grund ist, dass wir alle Teil des Vorbereitungsprogramm der UEMF sind. Jeder von uns hat mindestens einmal an einem kompletten Kurs teil genommen, wenigstens einmal in einem Simulator oder gar einem echten Hawk gesessen. Und keiner hier im Raum hat es wirklich schlecht gemacht. Im Gegenteil, er steht auf der inoffiziellen Bewerberliste, und das auf den oberen Plätzen.“
Dorff sah sie mit einem interessierten Schmunzeln an. „Interessant. Und Grund drei?“
Haru hob die rechte Hand. Flammen schienen die Finger plötzlich zu umspielen, doch keiner der Anwesenden gab sich beeindruckt. „Grund drei ist, dass wir alle das KI beherrschen, bis zu einem Level, den auch jene vor uns erreicht haben, die auf dem Mars gegen das Legat gezogen sind, um mit Akira Otomo die Erde zu retten. Und der vierte und letzte Grund ist...“
Spannung erfüllte den Raum. Niemand wagte zu atmen. Die Anwesenden hingen dem jungen Mädchen an den Lippen.
„Der vierte Grund ist, dass wir alle mehr oder weniger einer Gruppe vorstehen. Einige Gruppen bestehen nur aus wenigen, aber hoch trainierten Leuten, andere sind beinahe schon Massenbewegungen aus motivierten, aber nur wenigen geübten Leuten. Dennoch bedeutet all dies gebündelt eine große Macht.“
Nun redeten die Anwesenden durcheinander. Eines gab das andere, eine wilde Diskussion entstand, die schließlich von Philip King mit einem lauten Ruf zur Ordnung beendete.
„Danke dir, Philip. Was ich hier und heute sagen will ist, dass ich eine Allianz vorschlage. Eine Gemeinschaft, die im Sinne Akira Otomos und im Sinne der Erde handelt. Die sie verteidigt und potentielle Bedrohungen untersucht, notfalls bekämpft oder gar vernichtet. Die nicht auf die beschwichtigenden Worte anderer hört, sondern selbst aktiv wird. Die nur ihrem eigenen Gewissen und Akira Otomo verantwortlich sind.“
„Das klingt... Interessant. Aber selbst wenn wir vielleicht tausend junge Leute auf unserer Seite haben, wenn wir alle ein wenig KI beherrschen, wenn wir Waffentraining haben, wird das, kann das reichen? Die Dai sind KI-Meister, das wissen alle. Und die Legatstruppen haben kein schlechteres Training genossen als die der UEMF.“
„Was das KI angeht, nun, wir haben alleine, jeder für sich, derart große Fortschritte gemacht. Nun aber, da wir uns kennen, können wir uns austauschen, gegenseitig überwachen und voran bringen. Wir schmeißen all unser Wissen in den Pool und erklimmen gemeinsam die nächste Stufe.“
„Klingt machbar. Aber unser militärisches Wissen dürfte so nicht leicht zu verstärken sein. Wir haben alle dieselben Kurse besucht, während wir unser KI auf differentem Wege erforscht haben“, warf eine junge Russin aus Wladiwostock ein.
„Das stimmt. Aber auch für dieses Problem gibt es eine Lösung“, erwiderte Haru. „Es ist mir etwas gelungen, was... Nun, atemberaubend ist. Kennt jemand den Namen John Takei?“
„John Takei, John Takei... Ein verdammtes Phantom“, sagte Dorff. „Taucht mal auf und verschwindet wieder. Hat angeblich am zweiten Marsangriff teil genommen, danach ein Großteil der neuen Technologien für die AURORA mit entwickelt.“
„Er ist der einzige Mecha-Pilot der UEMF, dem man jemals nachgesagt hat, besser zu sein als Akira Otomo“, fügte die Russin hinzu und errötete. „Wobei es keinen Beweis gibt, dass er wirklich besser als Akira ist.“
„Ein kapabler Mann. Es heißt, dass Akira Otomo nur deshalb so gut geworden ist, weil er John Takei übertreffen will.“
Haru Mizuharas Lächeln verschwand. „Dann wird es die Anwesenden sicher freuen wenn ich euch mitteilen kann, dass es mir über ein paar Beziehungen gelungen ist, genau diesen John Takei anzuwerben. Ich hatte einige wichtige Gespräche mit ihm, habe seine Stimmung sondiert, und weiß das er diese Welt ebenso wenig den Dai überlassen will wie wir. Und er will Akira Otomo auch nicht unter die Augen treten und den Verlust der Welt eingestehen müssen. Er wird uns ausbilden. Militärisch, taktisch, strategisch.“ Ihr Kopf ruckte zur Tür, die prompt in diesem Moment aufschoss. Ein großer, schlanker Mann mit schneeweißen Haaren trat ein. Sein rechtes Auge war unter einer Augenklappe verborgen, und der Pony hing ihm tief ins Gesicht. Er hatte den typischen, elastischen Gang eines Mecha-Piloten der UEMF, die eine Menge Training absolvieren mussten, damit ihnen in den langen Stunden im Cockpit ihrer Hawks weder Thrombose noch Muskelschwund drohte. Er hatte ein freundliches, hübsches Gesicht. Er lächelte in die Runde und grinste. „Entschuldigung, aber ist dies die Klasse für Nachwuchsverschwörungen? Ich bin dann nämlich der neue Homeroom-Lehrer.“
Ihm folgte keine Horde von Sicherheitskräften. Auch keine Geheimagenten. Alleine trat er ein. Neben der Tür lehnte er sich gegen die Wand. „Solltet ihr Fragen haben, wäre jetzt der beste Zeitpunkt, um damit heraus zu rücken“, sagte er und wurde übergangslos ernst. „Denn wer die Welt retten will, sollte weder Fragen noch Zweifel haben.“


4.
„Ich melde mich zum Rapport, Sir.“ Leekan Amada salutierte vor Neon Zut Achander.
Der erfahrene Anelph-Offizier zeigte eine seltene Gemütsregung, als er eine Augenbraue hoch zog. „Sie sind...“
„Ja, Sir. Ich bin die Verbindungsoffizierin zum Core, abgestellt von Akira Otomo persönlich.“
Mit einer Mischung aus morbidem Interesse und stark gezügeltem Abscheu sah Admiral Achander den Drohnenkörper an, der vor ihm stand. „Äh... Sie sind weiblich?“
„Bitte lassen Sie sich nicht vom Offizierskörper irritieren, Sir. Wir haben es nie für nötig gehalten, für Männer und Frauen verschiedene Körper zu erbauen. Denn letztendlich sind sie nur Behältnisse für unser AO. Zudem hatten wir nie erwartet, einmal in diplomatische Aufträge verwickelt zu sein, die uns nicht die Zeit lassen, in unsere Körper zurück zu kehren und die Biotanks des Paradies zu verlassen.“
„Eine Frage“, warf Rogan Arogad von der Seite ein. Seit sein schwer beschädigtes Schiff AROGAD in einer Werft der Axixo-Basis auf dem Lorania-Mond Yomma repariert wurde, gaben er und seine Offiziere und Mannschaften ihr Bestes, um im regionalen Flottenhauptquartier gute Arbeit zu leisten.
„Gerne doch, Admiral Arogad.“ Der Robotkörper hatte eine erbärmliche Mimik, denn wie Leekan Amada bereits erklärt hatte, waren sie nicht für diplomatische Missionen vorgesehen gewesen. Aber dennoch spielte ein mechanisches Lächeln um das Gesicht der Offizierin. Offiziersdrohnen waren eben in mehrerlei Hinsicht aufwändiger als normale Drohnen.
„Wie alt sind Sie?“
„Wie alt?“ In einer typisch weiblichen Geste wollte sie sich mit der Rechten durch ihr Haar fahren, unterließ es dann aber. Drohnen hatten keine Haare. „Wenn Sie nach dem reinen Alter gehen wollen, nun, dann bin ich etwas über dreitausend Jahre alt. Wenn Sie danach gehen wollen wie alt ich mich fühle, dann muss ich Ihnen sagen, dass ich mich etwas zu jung für die Verantwortung fühle, die der Fünfsternträger mir übertragen hat.“
Fünfsternträger, so wurde Aris Arogad nicht selten von Core-Offizieren genannt, wegen der fünf Sterne, die seinen Rang beschrieben und ihn zum unumstrittenen Befehlshaber des Cores machte. Dazu kam seit einigen Wochen auch noch das Amt als Regent des Cores, solange die Herrin in ihrem „Urlaub“ war, ihrem ganz eigenen Versuch, eine eigene Persönlichkeit zu erlangen. Ein komplexes Thema, welches selten mit Außenstehenden diskutiert wurde. Den hier im Raum Anwesenden fehlten sicherlich ein bis zweitausend Jahre Lebenserfahrung, um zu verstehen was im Herzen des Cores eigentlich vor ging. Wesentlich leichter zu verstehen war, dass Aris Arogad nun auch noch den Core eingesackt hatte, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
„Interessant“, murmelte der Haus-Admiral der Arogads und lächelte kaum merklich. „Interessant.“
„Kommen wir zum Thema zurück. Nennen Sie mir bitte Ihren Rang, Leekan Amada“, sagte Achander und richtete das Gespräch damit wieder auf militärische Belange aus.
„Ich bin Dreisternträger. Ich kommandiere ein Kontingent aus zweitausend Raider-Schiffen und fünf zentralen Steuereinheiten. Damit kommandiere ich etwas mehr als siebzig Offiziere und eine Feuerkraft, die in etwa vier Bakesch entspricht. Vollen Salven natürlich.“
Achander unterdrückte den dringenden Impuls, hart zu schlucken, denn das was Amada gerade „eine Feuerkraft, die in etwa vier Bakesch entspricht“ war eine reine Zahl. Wenn diese zweitausend Einheiten eloquent und intelligent geführt wurden, konnte die reine Feuerkraft mit einer gewieften Taktik ergänzt und die eigentliche Stärke verdoppelt werden.
„Die Sie mir hiermit unterstellen“, schloss Achander.
„Natürlich, Sir. Deshalb bin ich hier auf Laccus“, erwiderte sie ernst.
War das nur Achanders Eindruck, oder wirkte die Frau wirklich etwas pikiert, weil er indirekt ihre Loyalität in Frage gestellt hatte?
„Wo stehen Ihre Schiffe, Admiral?“, fragte Achander gerade heraus, um über diesen peinlichen Augenblick hinaus zu kommen.
„Sie befinden sich gut aufgeteilt um Liviors Monde. Ich denke, wenn die Logodoboro einen Überraschungsangriff auf uns durchführen wollen, dann werden sie die Schwerkraftsenke vom größten Planeten des Sonnensystems mit Kusshand annehmen, um den Anmarschweg zu verkürzen und den Überraschungseffekt zu erlangen.“ Die Frau im Androidenkörper wirkte ernst. „Selbst zweitausend Raider sind meines Erachtens nicht ausreichend, um die Schwerkraftsenke Laccus ordentlich zu überwachen.“
„Wir haben das bedacht“, meldete sich Rogan zu Wort. „Die Invasion der Logodoboro, die wir seit Monaten erwarten, kann auf drei Arten erfolgen. Zwei halten wir für wahrscheinlich. Entweder springen sie mit kleinen Schiffsgruppen rund um Livior ins System, um nicht aufzufallen und sich nach und nach zu sammeln, oder sie kommen mit ihrer ganzen Flotte in einem großen, gewaltigen Sprung. Das Ende ihres Wurmlochs auf unserer Seite dürfte selbst bei einem Massentransit zur schwer aufzuspüren sein. Die dritte Variante, ein regulärer Sprung ins System, ist nach meiner Meinung keine Option für sie. Logodoboro braucht einen kräftigen Vorteil, denn selbst ohne Ihre Raider, Amada, haben wir mittlerweile rund zweihundert kampfstarke Schiffe im System versammelt. Und wenn mein Bakesch erst mal wieder repariert ist, beißt sich selbst ein Strafer der Götter an uns die Zähne aus.“
Erschrocken sah die Offizierin ihn an, bevor sie eine rituell wirkende Geste ausführte. „Bei der Herrin des Paradies der Daina und Daima, Admiral, sagen Sie so etwas nicht. Es bringt Unglück, so zu reden.“
Rogan Arogad erstarrte. Dann entschuldigte er sich kleinlaut. Raumfahrer waren im Allgemeinen ein abergläubischer Haufen. Wenn man in einer Umgebung diente, die ein lebendes Wesen mit all seiner Feindlichkeit binnen weniger Sekunden töten konnte, durch ersticken, erfrieren oder Schock, begann man unmerklich, hier und da in kleinen Ritualen Zuflucht zu suchen, um sich wenigstens auf gefühlter Ebene mit dem feindlichen, kalten und luftleeren Weltall zu arrangieren.
Fenn Ikosu, vor Rogans Ankunft der ranghöchste Naguad im System, gesellte sich zu den Drei. „Wir haben das in Betracht gezogen. Ein Kordon von Überwachungssatteliten umzieht Livior. Außerdem haben wir Letus und Lamada ebenfalls in der Überwachung, obwohl wir sie nicht für mögliche Ziele der Logodoboro halten. Im Gegenteil. Letus ist eine Milliarde Kilometer von Livior entfernt, Lamada sogar das Vierfache. Jeder Gegner, der von dort zu uns will, hat einen weiten, beschwerlichen Weg vor sich, den wir zudem auch noch einsehen können. Zudem steht Lamada auf der anderen Seite von Kanto, was zumindest den Anflugweg nach Laccus zu lang macht. Mögich wäre mit dieser Variante ein Direktangriff auf Lorania in etwa einem Vierteljahr, wenn sich die Hauptwelt durch die natürliche Planetenbewegung auch auf der anderen Seite befindet.“
„Ich sehe, man neigt zur vorausschauenden Planung bei den Naguad. Das erklärt einiges“, erwiderte die Dreisternträgerin amüsiert.
„Das, und wir haben ein gutes Gedächtnis“, sagte Rogan Arogad mit plötzlich bedrohlich leiser Stimme.
„Rogan, es ist gut“, mahnte Ikosu.
Der Arogad erwiderte darauf nichts, sondern verschränkte die Arme vor der Brust.
„Entschuldigen Sie, Amada, aber es ist noch nicht sonderlich lange her, dass wir den Core bekämpft haben. Es ist noch nicht lange her, dass Core-Schiffe bewohnte Welten angegriffen haben.“
„Es ist auch nicht lange her, dass die Anelph einen Aufstand gegen das Imperium gewagt und gewonnen haben“, erwiderte die Core-Offizierin spitz.
„Nun ja“, murmelte Achander und lächelte für einen Augenblick.
„Dennoch brennt mir eine Frage auf der Seele“, mischte sich Rogan nun doch ein. „Waren Sie je an einem Angriff auf eine Welt des Imperiums beteiligt, Leekan Amada?“
„In dem Punkt muss ich Sie leider beunruhigen. Ich war noch nie im Naguad-Imperium und habe deshalb erschreckend wenig astrogale Erfahrung in diesem Raumgebiet. Ich habe Akira Otomo mehrfach darauf hingewiesen, aber er hat darauf bestanden mich zu schicken. Dafür hat er sogar den alten Kommandeur abgelöst. Tonhe Lragi war immerhin Viersternträger und kannte das gesamte Kanto-System von seinen Raids her auswendig.“
Die beiden Naguad und der Anelph sahen sich kurz an, und sahen ihre kollektive Vermutung bestätigt. Aris Arogad hatte selbst dieses Detail bedacht.
„Es heißt der Core sammelt seine Flotten zum eigenen Schutz. Warum sind Sie mit Ihrer Flotte noch hier, Amada?“, hakte Rogan Arogad nach.
„Ein Befehl des Regenten. Ob wir zweitausend Raider mehr oder weniger zusammen ziehen ist für den Core nicht entscheidend. Aber in der ungewissen Lage, in der sich das Kanto-System befindet, können zweitausend Raider der Schlüssen für Sieg oder Niederlage sein.“
„Verstehe. Wir...“ Weiter kam der Arogad nicht, denn in diesem Moment brach in der Zentrale des Flottenhauptquartiers der Alarm aus.
Achander aktivierte sein KommSet. „Bericht“, schnarrte er.
„Admiral, die Überwachungssatteliten rund um Livior haben einen Sprung aufgezeichnet. Wir konnten keinen Ausflugkanal eines Wurmlochs ausmachen, aber der Vektor zeigt eindeutig auf ein von den Logodoboro beherrschtes Nachbarsystem.“
„Damit haben wir gerechnet. Livior steht einfach ungünstig zur Zeit“, murmelte der alte Anelph mehr zu sich selbst. „Wissen wir, was angekommen ist?“
„Nein, Sir, aber es kann nicht groß gewesen sein. Ich habe mehrere in der Nähe kreuzende Fregatten damit beauftragt, die Region mit aller gebotener Vorsicht zu kontrollieren.“
„Gut. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie weitere Informationen haben.“ Der Admiral deaktivierte sein KommSet und sah die anderen drei ernst an. „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn einige Raider an der Suche teilnehmen könnten, Amada.“
„Natürlich, Sir. Ich werde mich mit Ihren Leuten koordinieren.“ Die Frau im Drohnenkörper nickte leicht, bevor sie sich ihrer neuen Aufgabe zuwandte.
„Ich bin gespannt was dabei herauskommt“, murmelte Rogan Arogad leise.
***
Das, was dabei herauskam, stand einen guten Tag später vor einem Tisch des Konferenzraums direkt neben der Zentrale. Neon Zut Achander selbst war anwesend, weitere hohe Offiziere flankierten ihn. Das, was dabei herauskam, hatte sich als zwei Personen entpuppt, die mit einer klapprigen alten Yacht ins System gesprungen und dabei havariert waren. Ihr Glück, dass Achander den Core angefordert hatte; es war ein Raider gewesen, der sie aufgespürt hatte, bevor der nun nutzlose Haufen Altmetall auf Livior abgestürzt war.
Sie, das waren ein Mann und eine Frau, die eindeutig Koromando-Gene in sich trugen.
Sie wirkten beide erschöpft und reichlich nervös, und ihre Blicke gingen immer wieder zu Leekan Amada, der Offizierin des Cores.
„Mein Name ist Ryudan Koromando. Dies ist meine Frau Layss. Wir sind in dieses System gekommen, weil wir uns Hilfe erhoffen. Wir... Es geht um unseren Sohn Laysan.“
„Moment, bitte. Ihr Sohn Laysan? Wie bitte glauben Sie, dass wir Ihnen dabei helfen können?“ Irritiert sah der Admiral die beiden an. Sie waren Nichtkombattanten, definitiv, aber sie waren nun auch in der Obhut der Flotte, zumindest solange wie ihre Rettung unter den Tisch gekehrt werden konnte und Haus Koromando nicht nach fragte.
„Wir...“, begann Ryudan und schluckte hart. „Wir...“
„Laysan“, sagte Amada unvermittelt. „Dies ist der Name der Hülle, die Akira Otomo gedient hat.“
Rogan Arogad sah erschrocken zu der Core-Offizierin herüber. „Könnten Sie das in normaler Sprache erklären?“
„Ich glaube, das kann ich am besten“, sagte der Koromando und leckte sich über die Lippen. „Ich... Wir... Wir gehören einer Spezialeinheit für Agententätigkeiten innerhalb des Hauses an. Unser Untername ist Cabrek.“
Achander schien mit dieser Uniform nicht viel anfangen zu können, aber Rogan Arogad und Fenn Ikosu sahen ernst auf. „Cabrek?“
„Ja, Sir. Wir sind Agenten der zweiten Stufe. Uns oblag es in unseren letzten Auftrag...“ Der Mann schluckte hart. „Uns oblag es, das AO von Meister Aris Arogad von Naguad Prime zu schmuggeln, nachdem Cabrek es aus seinem Leib extrahiert hatte.“
„Und Sie haben es getan, im Leib Ihres eigenen Kindes“, schloss Amada vorwurfsvoll.
Die beiden senkten ihre Blicke. Der Mann schluchzte, die Frau konnte nur stumm nicken.
Alarmiert sahen die beiden Naguad einander an. „Das erklärt einiges. Nun weiß ich auch wieder warum mir der Name Laysan so bekannt vor kam. Endlich wissen wir also, welches Haus in dieser Ungeheuerlichkeit verstrickt war“, schloss Rogan.
„Und das zumindest Haus Cabrek mit den Logodoboro im Bunde ist“, fügte Ikosu ernst hinzu. Und, verdammt, ja, das war eine ernste Nachricht.
„Was erwarten Sie also von uns, Ryudan, Layss?“, fragte Achander ernst.
„Wir... Es hieß, wir würden unseren Sohn bald nach der Übergabe zurück erhalten. Aber nun ist es schon fast ein Jahr. Er... Es war von Beginn an verrückt von uns, unser eigenes Fleisch und Blut in diese Sache hinein zu ziehen, aber wir haben gehorcht, weil wir Cabrek sind. Doch nun wollen wir nicht mehr gehorchen! Wir wollen unser Kind zurück! Und deshalb...“ Ryudan sah ernst auf. „Haus Koromando und Haus Logodoboro sind Verbündete. Es geht ihnen um die Macht, die von den Häusern Arogad und Daness ausgeübt wird. Sie wollen die führenden Häuser im Reich werden.“
„Das ist eine schwere Anklage“, erwiderte Ikosu.
„Die wir vor jedem Gericht wiederholen werden, aber bitte helfen Sie uns, unseren Sohn zurück zu holen!“, flehte Layss Koromando. Sie sah zu Amada herüber. „Bitte!“
„Also, ich bin nicht sonderlich erfahren, wenn es darum geht, was in euren Köpfen so vorgeht, Naguad“, sagte die Offizierin mit Ärger in der Stimme, „aber der Fall Laysan wurde nicht nur unter uns Offizieren ausgiebig diskutiert. Ich denke, es gibt kaum einen Daina oder Daima, der diese Tat gut heißen würde, egal unter welcher Prämisse oder unter welchem Befehl. Und die meisten sind der Überzeugung, dass es Laysan dort wo er sich jetzt befindet, besser geht als bei seinen leiblichen Eltern, die ihn verraten und verkauft haben.“
Diese offenen, brutalen Worte trafen die beiden Koromando schwer.
„Können Sie uns wenigstens sagen wo er sich befindet? Wie es ihm geht?“, fragte die Frau in flehendem Ton.
„Nun, nachdem Akira Otomo seinen Körper wieder erlangt hat, hat er das Gefäß – ich meine Laysan – verlassen. Danach hat er ihn in seinem Haushalt aufgenommen. Soweit ich von Markub Tarnel weiß, führt er ein ruhiges, geordnetes Leben und geht zur Schule. Ich würde keinerlei Veranlassung sehen, ihn aus dieser stabilen Familie zu reißen, nur um ihn solchen Eltern zu übergeben!“
„Ziehen Sie Ihre Zügel an, Amada. Niemandem ist mit Anklagen und dergleichen geholfen. Außerdem haben die beiden uns ein großartiges Angebot gemacht, das wir nutzen sollten“, schloss Achander. „Wenngleich ich Ihnen sagen kann, dass die AURORA nicht so bald wieder in Reichweite kommt, um Ihren Sohn zurück zu transferieren. Ich bin mir übrigens auch nicht sicher, ob wir das tun sollten. Amada hat vielleicht Recht. Wie dem auch sei, wahrscheinlich wird es Sache der Gerichte sein, darüber zu entscheiden. Bis dahin verspreche ich allerdings, Meister Arogad über Ihr Anliegen zu unterrichten. Eventuell erlaubt er auch, dass Sie Laysan private Botschaften schicken; unser neues Funksystem ist erstaunlich effektiv.“
Ryugan lächelte kalt. „Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, Sie zu überzeugen. Ich wusste, dass es ein Fehler war, Laysan auf diese Weise zu verlieren. Aber ich bin bereit, für diesen Fehler gerade zu stehen. Und ich bin bereit, dafür so weit zu gehen, wie es mir möglich ist. Ich hatte ein Speichermedium bei mir. Wissen Sie wo es sich befindet?“
„Wir untersuchen es gerade in einem Labor“, sagte Ikosu.
„Gut. Dann sollten Sie versuchen, ein bestimmtes Codewort einzugeben.“ Ryudan Koromando zog ein Stück Schreibfolie und einen Stift hervor. Er beschrieb das Stück ausführlich und überreichte es Admiral Achander. „Sollte das für Sie interessant sein, können wir vielleicht über die restlichen Informationen verhandeln, die sich auf dem Medium befinden.“
Achander nahm den Zettel entgegen, reichte ihn mit einem geflüsterten Befehl weiter und wartete.

Nach mehreren Minuten kam der Adjutant wieder und flüsterte aufgeregt mit seinem Admiral.
Achander atmete tief durch. „Herrschaften. Die Häuser Koromando und Logodoboro planen einen gemeinsamen Angriff auf das Kanto-System mit dem Ziel, Laccus anzugreifen und diese Flottenzentrale zu zerstören. Die beigelegten Beweise sind erdrückend authentisch.“ Er sah die Logodoboros ernst an. „Reden wir über den Rest der Daten.“
„Reden wir über die Rückführung unseres Sohns“, erwiderte Ryudan ernst.


Epilog:
„Atme.“
Gehorsam saugte ich die Luft in die Lungen und entließ sie wieder. Für zehn bis zwanzig Sekunden. „Sensei, ich...“
Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. Arno Futabe sah mir aus nächster Nähe direkt in die Augen. „Atme!“
Es gab einige Dinge zwischen Himmel und Erde, die man besser weder tun noch erfahren sollte. Ganz oben auf meiner persönlichen Liste fand sich der Eintrag: Futabe-sensei wütend machen.
Also fügte ich mich und begann erneut zu atmen. Tausende Fragen fielen mir dazu ein. Sensei hatte mich gelehrt, dass man Meditation nicht dadurch erreichen konnte, indem man seine Gedanken leerte, denn das war ein unnatürlicher Zustand, den man unmöglich erreichen konnte. Nichts denken zu wollen war so unsinnig wie Vakuum zu atmen. Und wer es dennoch schaffte hatte wohl auch zuvor nicht viele Gedanken im Kopf gehabt. Für mich also war es erwiesenermaßen unmöglich. Nein, darum konnte es Sensei nicht gehen. Was bezweckte er dann damit? Mir war klar, dass Futabe-sensei einen Grund hatte, warum er mich zum atmen her befohlen hatte. Und ich war mir beinahe sicher, dass ich die Aufgabe hatte, diesen Grund zu finden.
Was bewirkte das regelmäßige atmen? Das ständige denken ans atmen? Die Kontrolle über den Atem? Langsam, ich lief Gefahr, mit meinen Gedanken auf den falschen Weg abzudriften. Warum war ich hier? Ich hatte mich ins Paradies der Daina und Daima begeben, um einem Einsatzkommando von Legats-Agenten zu folgen, bevor sie dort Unheil anrichten konnten, oder um bereits begangenes Unheil wieder zu flicken.
Stattdessen war ich in einer Simulation gelandet, welche mir unbekannte Dai, die schon länger im Paradies lebten als das Naguad-Imperium bestand, für Henry Taylor errichtet hatten, um ihm bei seiner Suche nach der Heimat der Götter zu helfen. Das ganze hatte sich als Finte heraus gestellt. Oder mein Eintreffen hatte die Dai improvisieren lassen. Es war allgemein bekannt, dass ich nun als Reyan Maxus galt, ein Umstand, den ich selbst noch nicht besonders gut verdaut hatte. Es hatte in jedem Fall mit neuen Fähigkeiten zu tun, die, wenn ich dem Dai glauben konnte, der mich angegriffen hatte, dazu geführt hatten, dass das Großreich der Daima und Daina mit allen Nationen in einem gewaltigen Bürgerkrieg vernichtet worden war. Der Dai hatte die Reyan Maxus dabei besonders hervor gehoben. Die Götter, oder vielmehr die Robotzivilisation, die sie zurück gelassen hatten, nachdem sie ausgelöscht worden waren – von Daina oder Daima – hatte danach nur noch aufkehren müssen. Selbst heutzutage suchten die Strafer und Scouts der Götter die Daimon genannten Schutzeinrichtungen des alten Volks und vernichteten sie, bevor weitere Reyan Maxus entstehen konnten. Der Dai, und jene die seiner Meinung gewesen waren, hatten versucht, meine Existenz zu korrigieren, indem sie jenen kleinen symbolischen Faden durchtrennten, der mich mit meinem Körper verbunden hatte, selbst über sechzig und mehr Lichtjahre. Das hätte mein Tod sein müssen, aber ein KI-Biest, von Yoshi erschaffen, hatte meinem Ich, meinem KI als Behältnis gedient. Dennoch waren Körper und Geist getrennt worden. Ich musste also von meinem eigenen Leib Besitz ergreifen, wenn ich ihn steuern wollte. Einfachste Vorgänge, die eigentlich mein Unterbewusstsein übernommen hatte, steuerte ich nun wissentlich. Man konnte sagen, ich war zutiefst verunsichert und traute meinen eigenen Fähigkeiten nicht mehr. Und am meisten verunsicherte mich die Tatsache, dass ich sogar jetzt von meinem Geist und meinem Körper in getrennten Bahnen dachte. Dabei waren wir gerade eins. Wie lange konnte ich nicht sagen. Ob die Verbindung eines Tages wieder hergestellt werden konnte, war ebenso vage.
Nun, ich hatte nicht erwartet, dass eine so schwer wiegende Verletzung wie jene, die mir die Dai zugefügt hatten, einfach so mit einem Schnippen behoben werden konnte. Aber ich fürchtete mich. Ich fürchtete mich wirklich vor jenem Moment, an dem ich wieder die Kontrolle über meinen Leib verlor und erneut im KI-Adler manifestierte, den Yoshi für mich gemacht hatte.
Ich... Entsetzt hielt ich inne. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich beim nachdenken die Kontrolle über das bewusste atmen verloren hatte. Mein Körper atmete selbstständig, und wie ich feststellen musste, tat er das in zufriedenstellendem Maße. Für ein paar Augenblicke atmete ich wieder bewusst, aber eine kleine Ablenkung genügte, und ich atmete erneut unbewusst.
Ich runzelte die Stirn. Eigentlich hatte ich gedacht, dass der Verlust der Kontrolle des Atems einher gehen würde mit dem Verlust der Kontrolle über den Körper. Das ich erneut in dieses KI-Biest schlüpfen musste. Das er wieder am Ruder war, und...
Moment. Es gab kein er oder uns, es gab nur ein ich. Wenn wir aufgespalten wurden, dann existierten zwei Teile von mir, nicht zwei Varianten oder zwei Individuen. Zudem war ich erheblich gehandicapt. Als Adler fehlten mir viele Dinge, die für mich erst richtig wichtig geworden waren, als ich sie das erste Mal verloren hatte. Wichtige Emotionen, das Gefühl der Vollständigkeit. Als ich aus meinem Körper entführt worden war, hatte ich so etwas nicht empfunden. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals komplett entführt worden war. Diesmal aber behielt mein Leib einen Teil meines Ichs. Ich sah erschrocken auf. „Sensei, ich...“
„Das ist richtig, Akira. Du hast verstanden, was ich dir beibringen wollte.“
Ich schluckte hart. „Es braucht gar keine bewusste Kontrolle meinerseits. Ich muss lernen, meinem Körper bewusst zu vertrauen und ihn die einfachen Funktionen selbst ausführen zu lassen. Wenn ich versuche alles besonders gut oder richtig zu machen, reibe ich mich nur auf und verkürze die Zeit, die ich komplett bin.“
Futabe-sensei nickte zufrieden. „Du hast es tatsächlich verstanden. Akira, dein Körper hasst dich nicht. Man kann sich zwar selbst hassen, aber dafür bist du nicht destruktiv genug.“
Ich nickte verstehend. Langsam erhob ich mich. „Gut. Also lasse ich mir selbst die lange Leine.“
„Du hast es tatsächlich begriffen.“
„Gut. Und wann arbeiten wir daran, die Verbindung zu meinem Körper wieder herzustellen?“
Arno Futabe lächelte spöttisch. „Du hast die Verbindung wieder hergestellt, als du deinen Körper das erste Mal übernommen hast, Akira. Mehr brauchtest du nicht zu tun. Geh jetzt, und mache dir darüber keine Sorgen mehr.“

Ich verbeugte mich vor meinem Sensei und wandte mich ab. Nur einen Augenblick darauf fühlte ich mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Übergangslos befand ich mich wieder im KI-Biest. „Seeeeenseiiii...“
„Oh, vertrau mir, die Verbindung ist wieder da. Aber ich habe nicht behauptet, dass du nicht wieder aus deinem Körper hinaus geschleudert wirst. Das wird die nächsten Tage und Wochen ab und an passieren, also gewöhne dich besser dran. Irgendwann wird es weniger werden und schließlich ganz aufhören.“
„Wann ist wann, Sensei?“
Arno Futabe sah mich abschätzend an. „Hm. Vielleicht nächste Woche. Vielleicht nächstes Jahrtausend.“
„Senseiiiii...“ Manchmal kannte der alte Mann keine Gnade mit mir. Also würde ich noch oft der zweigespaltete Akira sein. Damit hatte die Liste meiner akuten Probleme einen weiteren Punkt erreicht und drohte nun bald die hundert zu sprengen. Mist.

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Anime Evolution: Krieg
Episode vier: Angst

1.
„Sensei! Das ist unfair!“ Anklagend deutete der Captain der 3F auf mich, genauer gesagt meinen Körper, während er gerade nach meinem Schlag nach dem Curve Ball aufs Home Base trat. „Es kann doch nicht sein, dass Akira-kun sich trennt, wann immer es ihm einen Vorteil verschafft!“
Wäre ich mit meinem Körper verbunden gewesen, hätte ich wahrscheinlich fies gegrinst. So aber landete ich nur auf seiner Schulter und sah Malik ibn-Nasser mit meinen starren Vogelaugen an. „Du klingst ja gerade so als hätte ich geschummelt“, beschwerte ich mich.
„Du hast dich nach dem Schlag von deinem Körper getrennt, weil du genau wusstest, dass dein Körper ohne deinen Verstand viel schneller laufen kann! Er denkt nicht so viel!“
„Langsam, langsam“, mahnte der Schiedsrichter. „Es gibt klare Regeln beim Wettkampf mit KI-Meistern. Bitte, Akira, versetze dich wieder in deinen Körper.“
Gehorsam ließ ich mich absorbieren. Als die Verbindung wieder da war, fragte ich mich für einen kurzen Moment, warum ich mich immer auf dieser Seite wiederfand, und was wohl im Gehirn meines Körpers vor sich ging, wenn ein Teil von mir fehlte. Eine Antwort darauf würde ich wohl nie erfahren.
„Akira, hast du deine KI-Fähigkeiten benutzt, während du gespielt hast?“
„Ich habe nicht mit Hilfe meines KI gespielt“, beschwerte ich mich.
„Aber du hast sie benutzt, um dein Ich aus dem Körper zu lösen und dir einen Vorteil zu verschaffen.“
„Hm“, murrte ich.
„Okay. Du bist raus. Der Lauf ist ungültig.“ Der Schiedsrichter deutete in Richtung des Bunkers meiner Mannschaft.
Verärgert trottete ich zur Bank zurück. Zumindest äußerlich.
„Du hättest nicht dein KI benutzen müssen! Warum hast du es überhaupt getan?“, rief Malik mir nach.
„Wenn du etwas neues erlernen würdest, wärst du nicht daran interessiert herauszufinden, was du alles anstellen kannst?“, erwiderte ich.
„Natürlich wäre ich das. Aber zum Glück haben wir Regeln, um KI-Meister auf ihre normalen menschlichen Fähigkeiten zu beschränken. Nicht, dass du ohne nicht auch schon verteufelt gut wärst.“
Ich nickte bei diesem Kompliment und tippte an dem Schirm meines Helms. Mein Gegner erwiderte den Gruß mit einem kurzen Griff an seine Baseballmütze.

Als ich in den Bunker zurück kehrte, warf ich den Helm in die nächste Ecke. „Tut mir Leid das ich es versaut habe.“
„Mach dir darum keine Sorgen, Akira. Wir führen ja. Und wir mussten eh wissen, wie weit wir gehen dürfen.“ Akane Hazegawa, unser Coach, grinste mich burschikos an.
Ich erwiderte das grinsen nicht. Stattdessen lächelte ich wehmütig. „Trotzdem. Wäre ein schönes Plus für meine Statistik gewesen.“
„Na, na!“ Ein kräftiger Arm legte sich um meine Schulter und zog mich auf die Bank. „Da will wohl einer MVP werden, was? Most Valuable Player Akira Otomo. Reichen dir deine anderen Titel nicht? Division Commander, Commander des Core, Regent von Mars und Mond, Eigentümer des Kanto-Systems, Berater der Kaiserin von Iovar... Habe ich etwas vergessen?“ Hilfesuchend sah sich Ryan Kensey im Kreis unserer Mannschaftskameraden um.
Henry Rousseau, der stämmige Zairer runzelte die Stirn. „Verlobter von Megumi Uno kommt noch hinzu.“
„Stimmt ja“, rief Ryan, setzte mir meine Baseballmütze auf und gab meinem Schirm einen Klaps, der sie über meine Augen rutschen ließ. „Der schönste deiner Titel. Verdammt, was bin ich neidisch auf dich.“
Leises Gelächter erfüllte den Bunker.
„Nur kein offener Neid. Aber falls ihr mich ablenken wolltet, das habt ihr geschafft“, verkündete ich und legte die Beine hoch. Okay, ich hatte zwei Läufe ruiniert, meinen und den von Andrea Cantonelli, aber das war es einfach wert gewesen. Wert zu zeigen, dass auch ein KI-Meister nicht alles durfte und konnte. Dass es Regeln gab. Das ich mich diesen Regeln unterwarf. Allerdings hätte ich nicht erzählen dürfen, das ich mich absichtlich von meinem Leib getrennt hatte – eine wohl gemeinte Strafe wäre mir gewiss gewesen. Und ich war doch gerade erst dabei, das Vertrauen meiner neuen Klasse zu gewinnen, in die ich versetzt worden war, weil ich zuerst nach Naguad Prime und danach zum Core entführt worden war. Das Leben war so ungerecht zu mir. Irgendwie schien es nicht zu wollen, dass ich meine Hochschulreife erlangte. Und damit war ich nicht gerade ein Vorbild für Millionen Schüler weltweit. Nicht, dass ich überhaupt ein Vorbild sein wollte, ich, der Dreitausendtöter. Aber ein schlechtes Beispiel abgeben lag mir auch nicht.
Und die Klassenintegrität lag mir am Herzen. Dies war mein letzter Versuch, auf normalem Wege meinen Abschluss zu machen. Gelang es mir wieder nicht, würde ich die Prüfung nach entsprechender Vorbereitung aus dem Stand ablegen. Etwas, was ich mir durchaus zutrauten, wenn ich vier Wochen oder mehr Zeit hatte, dafür zu trainieren.
„Defense!“, rief Akane und scheuchte die Spieler auf den Platz hinaus. Mir trat sie die wohlig hoch gelegten Beine weg. „Komm schon, du fauler Hund. Du bist immer noch der Ausputzer der Truppe. Ab aufs Third Base mit dir.“
Ich rückte meine Baseballkappe zurecht, lächelte sie an und tippte mir an den Schirm. „Dein Wunsch ist mir Befehl, Coach.“
„Oh, es WAR ein Befehl“, erwiderte sie schmunzelnd.
***
„Und? Genießt du dein Leben als Schüler?“, spöttelte Yoshi grinsend und setzte sich neben mich. Auf dem Dach der Schule ging ein lauer Wind, nach dem Regen der letzten Tage war die Luft von Feuchtigkeit gesättigt und warm und schwer. Die riesige Weite des ausgehöhlten Planetoiden machte es schwierig die Temperatur zu regulieren, deshalb hatte man sich von vorne herein für ein Grundklima entschieden das generell über zwanzig Grad lag. Selbst bei Lecks, Katastrophen oder dem Ausfall der Luftheizanlagen würde es nicht zu rapiden Abkühlungen kommen. Ein Prinzip, das mir sehr zupass kam. Ich hasste Kälte. Und ich liebte die achtundzwanzig Grad, die gerade in der Stadt herrschten, weil periodisch die Heißlüftung hochgefahren wurde. Wir hatten hier einen ewigen, nicht zu schwülen Sommer in der AURORA. Ein herrlicher Ort, wenn man nicht Ski fahren oder Eislaufen wollte.
„Hast du mir was mitgebracht?“, erwiderte ich und setzte mich auf.
Yoshi grinste noch immer als er sich neben mir nieder ließ. „Hier, ein Bento von Sakura mit Gruß und gutem Appetit.“ Er zog aus der Jacke seiner Uniformtasche einen kleinen Beutel. „Und das ist ein Extra.“
Misstrauisch hob ich den zugeschnürten Beutel an. „Was ist das?“
„Na was wohl? Vogelfutter!“
Während ich tat als würde ich ihn schlagen wollen, krümmte sich Yoshi vor lachen.
„Punkt für dich“, brummte ich ärgerlich. „Was mich zu anderen Problemen bringt. Wir verzeichnen eine zunehmende Rivalität zwischen unseren eigenen Leuten, Yoshi. Panzer gegen Hekatoncheiren, zum Beispiel, Infanterie gegen Otome-Bataillon, und in der Flotte wetteifern die Schiffe verschiedener Nationen miteinander. Wir müssen etwas tun.“
Yoshi räusperte sich vernehmlich. „Du hast Recht, das ist ein Problem. Ist mir auch schon aufgefallen. Was schlägst du vor?“
„Ich denke, wir alle könnten einen guten Kampf gebrauchen. Außerdem müssen wir das Potential der ADAMAS ausloten. Zusammen mit der AURORA sollte es unserer Flotte und dem Trägerschiff möglich sein, einen Strafer zu vernichten, ohne uns allzu sehr zu gefährden.“
„Wo ein Strafer ist, sind die anderen nicht weit. Und wenn wir uns zum Kampf gestellt haben, dauert es ewig, bis wir wieder auf Fluchtkurs sind“, murrte Yoshi. „Außerdem sind wir auf dem Weg zur Erde, schon vergessen? Wir müssen den Core retten. Vom Kaiserreich der Iovar und dem Imperium der Naguad ganz zu schweigen. Ach, und habe ich diese Radikalengruppe vergessen, die seit neuestem gegen KI-Meister agitiert und versucht die Leute aufzustacheln? Warum willst du bei all den Problemen freiwillig noch eines auf die Liste setzen?“
„Weil es Spaß machen könnte“, erwiderte ich lächelnd.
„Okay, das ist ein Argument.“

Ich konzentrierte mich wieder auf das Pad. „Die Infanterie und das Otome-Bataillon haben Probleme?“
„Sagen wir lieber, es ist ein Zickenkrieg. Einerseits sind die Otome dabei, unser Rückgrat zu werden, was KI-befähigte Soldaten betrifft. Viele weibliche Hekatoncheiren mit KI-Fähigkeiten und aus anderen Einheiten wurden heran gezogen, um das Bataillon zu bilden. Dadurch konnten viele gute Leute in Elite-Positionen nachrücken, ohne das wir personelle Verluste erlitten haben. Andererseits aber scheinen sie der Meinung zu sein, automatisch auf jede Frau Anrecht zu haben, die auch nur entfernt fähig ist, ihr KI zu schmieden. Sie streiten gerade lauthals mit der Infanterie um Joan Reilley. Seitdem sie als Slayer erwacht ist, sind sie der festen Meinung, sie gehöre dann ergo ins Otome-Team. Die Infanterie jedoch will nicht auf ihre Anführerin verzichten. Und Joan fragt schon mal keiner.“
„Eine vertrackte Situation. Wir werden ein Machtwort sprechen müssen.“
„Es wäre besser gewesen, sie wäre nicht als KI-Meisterin erwacht. Hätten wir Joras Entführung in die Implantation eines KI-Agenten früher erkannt, wäre all das nicht passiert.“
„Wir haben sie etwas vernachlässigt, oder?“, fragte ich reuevoll.
„Wie man es nimmt. Sie arbeitet in Megumis Stab in führender Position und wäre, wenn Joan sie nicht durch die Mangel gedreht hätte wahrscheinlich bald wieder tauglich für die Mechas geschrieben worden. Sie hat durchaus das, was man ein eigenes Leben neben der Familie nennt. Aber ich gebe zu, ständig als Megumi-Klon bezeichnet zu werden und eine Jüngere aus der gleichen Familie ständig über sich zu sehen, hat ihr sicherlich nicht geholfen. Aber darum geht es auch gar nicht. Es ist Joan, um die wir uns Sorgen machen müssen.“
„Willst du Mako sagen, er soll sie von ihrer Position abziehen und den Otome zuteilen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Willst du sie in der Infanterie lassen? Oder denkst du, sie sollte sich ganz auf die Musik konzentrieren? Es wäre ein wenig Verschwendung, findest du nicht. Sie ist der einzige voll funktionsfähige Cyborg, den die Kronosier jemals erschaffen haben, und sie hat sich geschworen, diese Fähigkeiten für das Gute einzusetzen.“
„Auch das nicht. Ich finde, man sollte Scarlet Slayer die Entscheidung selbst überlassen. Ich meine jetzt wo sie die Akte über ihre Vergangenheit hat und...“
„Moment Mal, was hast du gerade gesagt?“
„Der UEMF-Geheimdienst schläft nicht. Seit bekannt wurde, dass sie ein Versuchsobjekt der Kronosier war, das keine Erinnerungen an ihr früheres hat, haben unsere Feldagenten jede Spur abgegrast, die auch nur im entferntesten mit Joan Reilley zu tun haben könnte. Schließlich haben sie eine sehr deutliche Spur gefunden, auch wenn es lange gedauert hat. Seither besitzt Joan ihre eigene Akte, aber Makoto sagte, sie hätte noch nicht den Mut gefunden, rein zu schauen. Sie hat Angst davor was sie dort sehen wird. Sie hat sogar Angst davor, eine Familie zu haben. Eine Familie, die sie fünf Jahre nicht gesehen hat. Und sie hat Angst davor, eine Waise zu sein, und eben keine Familie zu haben.“
„Unsinn. Wir sind ihre Familie. Sie wird immer uns haben um sie aufzufangen. Und ihre Band steht ihr noch näher.“ Hilflos warf ich die Arme in die Luft. „Ist ja nicht so, als könnte ich das alles nicht nachvollziehen, nachdem Dai-Kuzo meinte, ich bräuchte eine Schocktherapie, um endlich mit meinem partiell gelöschten Gedächtnis klar zu kommen.“
„Nein, das siehst du falsch. Ich war der Meinung, du brauchst ne Schocktherapie. Aber mein Vorschlag, dich kopfüber in Eiswasser zu tauchen wurde leider abgelehnt.“
„Schon gut, Ralf“, erwiderte ich schmunzelnd. „Ich werde mit ihr reden, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte und das nicht in diesen Berichten steht?“
„Hast du schon mal den Begriff Blue Lightning Regiment gehört?“
„Nein. Was ist das?“
Yoshi schnaubte frustriert. „Das ist es ja gerade. Keine Ahnung, aber es ist ein Schlagwort, das man hier und da in der Poseidon-Flottenzentrale flüstert. Scheint eine große Sache zu sein, aber ich konnte keine Unterlagen dazu finden. Weder schriftliche noch digitale. Makoto scheint was darüber zu wissen. Dein Onkel Aris auch, aber die beiden halten dicht.“
„Interessant. Bleib dran. Ich werde selbst ein wenig bohren. Immerhin wird hier mein Callsing verwendet. Und wenn mir die Art der Verwendung nicht gefällt, dann wird aus Blue Lightning Blue Devil, das verspreche ich dir.“
„Keine Sorge, ich denke genauso. Ich werde mal Sora etwas ausquetschen, sobald ich sie sehe. Ich wette sie weiß mehr als sie zu sagen bereit ist.“
„Soll ich sie rufen? Ich habe sie seit heute morgen nicht mehr gesehen. Ergo wird sie sich irgendwo in meiner Nähe herumtreiben und mich beschützen.“ Ich grinste gemein. „Und weil es ihr Job ist, kann sie sich mir nicht entziehen.“
Yoshi begann ebenfalls zu grinsen. „Klingt gut.“
„Sora, ich weiß, dass... Moment, mein Kommunikator klingelt. Akira hier. Mako? Was? Wieso? Versuchst du mich abzulenken? Wie, warum ablenken? Das weißt du ganz genau. Oder bist du nicht gerade dabei Sora Fioran gegen einen anderen Bodyguard auszutauschen, damit ich ihr nicht auf den Zahn fühlen kann? Nein, das ist kein Unsinn. Übrigens brauchst du dem armen Mädchen gar nicht erst zu sagen das es untertauchen und mich eine Zeitlang nicht treffen soll. Du hast meinen Verdacht ja gerade wunderbarerweise bestätigt, also werde ich dich und Aris direkt befragen. Freu dich drauf.“ Ich legte auf. „Erwischt. Ich liebe die wenigen Gelegenheiten, in denen ich Makoto überlegen bin.“
„Kommt wirklich nicht sehr oft vor“, kommentierte Yoshi. „Aber vergiss nicht den Termin bei Opa, hörst du?“
„Werde ich schon nicht.“ Ich ergriff das Bento und öffnete es. „Willst du was mit essen?“
„Bei einem Bento von Sakura? Sage ich nicht nein zu.“
Und so kam es, dass ich die Pause um eine halbe Stunde überzog, und ausgerechnet von Sakura deshalb streng getadelt wurde...
***
Als Ai Yamagata auf ihren Teamleiter traf, sah sie ihn fragend an. „Wo bist du...?“
Henry William Taylor winkte ab. „Eine verrückte Geschichte, die damit endet, das Akira beinahe getötet worden wäre. Ich werde sie nachher im Detail erzählen.“
„Akira beinahe getötet?“ In aufkeimender Panik sah sie ihren Vorgesetzten und Geliebten an. „Du hast ihn doch beschützt?“
Der ehemalige Legat seufzte leise. „Manchmal bin ich mir nicht sicher, was du für Akira wirklich empfindest. Entweder hast du einen ausgesprochen großen Kleiner Bruder-Komplex, oder du liebst ihn mehr als mich.“
„Nicht ablenken“, murrte sie.
„Natürlich habe ich ihn beschützt. Zumindest habe ich es versucht. Yoshi hat ihn schließlich gerettet.“ Der ehemalige Legat machte eine alles umfassende Geste, das Paradies der Daina und Daima umfassend. „Jemand, der Akira mittlerweile sehr gut kennt, hat ihm hier aufgelauert und als die Zeit gekommen war die Verbindung zu seinem Körper gekappt. Dank einer Art KI-Rüstung, die Yoshi erschaffen hat, konnten wir verhindern das sein Bewusstsein erlischt. Dabei konnte ich nicht viel tun. Ich bin ja auch eher für andere Dinge zuständig als mit KI zu experimentieren.“
„Das klingt ja schrecklich. Wie geht es Akira jetzt? Und vor allem, was tun wir nun?“
„Akira geht es den Umständen entsprechend gut. Meister Futabe hat einen Weg gefunden, seine Verletzungen zu heilen. Jetzt bleibt uns nur noch, unseren Gegner aufzuspüren, zu stellen und ihm anschaulich zu zeigen was wir davon halten, dass er ausgerechnet Blue Lightning zu töten versuchte.“ Ein wölfisches Grinsen huschte über die Züge des MI6-Agenten. „Unser Gegner hat mir unwissentlich verraten, dass er genau über das Wissen verfügt, das wir gesucht haben. Und ich wette, wir brauchen keine verdammte Simulation der Welt vor fünfzigtausend Jahren, um an dieses Wissen zu kommen.“
„Und wie willst du den Gegner finden? Alleine die Tatsache, dass du in so einer Simulation gesteckt hat, zeigt doch wieder einmal wie groß diese virtuelle Welt ist.“
„Habe ich nicht gesagt, dass ich ihn aufspüren will? Und eine Treibjagd ist genau das richtige, um einen versteckten Gegner in unübersichtlichem Gelände zu finden.“ Er deutete nach hinten, und ein jung wirkender Mann mit vierzackigem Stern auf der Brust, der ihn als Offizier des Cores auswies, trat zu ihnen. „Maltran Choaster. Ich bin Stellvertreter von Aris Arogad, und ich bin mächtig sauer, das ausgerechnet in unserer Sphäre so etwas passieren konnte! Es ist unverzeihlich von einem Bewohner des Paradieses, gegen eine Entscheidung der Herrin vorzugehen und ihren Feldherrn und Statthalter töten zu wollen! Unverzeihlich!“ Maltran Choaster räusperte sich verlegen. „Ich bin in die Wirklichkeit gegangen und habe die Situation mit Chausiku durchgesprochen. Sie besteht ebenfalls darauf, das wir hart durchgreifen. Jeder Daina und jeder Daima im Paradies hat einen Teil von sich gegeben um sie zu erschaffen. Wer sich gegen ihre Entscheidungen wendet, wendet sich damit auch gegen sich selbst. Dies ist Wahnsinn, den wir nicht zulassen dürfen. Auch wenn unser Gegner, oder unsere Gegner Dai sind, die schon zehntausend Jahre und länger leben, lassen wir uns weder auf der Nase herum tanzen, noch unseren Oberbefehlshaber und in meinem Fall persönlichen Freund wegnehmen! Wir finden sie, und dann werden wir sehen, ob nicht wenigstens Einsicht im Verlauf der Jahrtausende gewachsen ist, wenn es schon nicht zur Weisheit gereicht hat.“
„Bis hierhin klingt es ganz gut, bis auf die Sache mit Akira“, erwiderte Ai. „Also starten wir mit den Suchteams eine Treibjagd?“
„Dein Team, mein Team“, zählte Henry auf, „und Maltrans Team.“
„Und wie groß ist Maltrans Team?“
„Acht Millionen. Ich habe alle Soldaten des Paradies in dieser Sekunde aktiviert. Jeder Daina oder Daima, der jemals als Soldat oder Offizier gedient hat, nimmt an dieser Jagd teil.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Und ich habe soeben fast einhundert Prozent positive Rückmeldungen erhalten.“
„Na dann mal auf zur Jagd“, murmelte Ai verbissen. Akira war ihr treuester und bester Freund, ein Mensch, dem sie ebenso sehr vertraute wie Henry, ihrem alten Einsatzleiter, vor dem sie sich regelmäßig bis auf die Seele hatte entblößen müssen, damit ihre Geheimdienstoperation hatte funktionieren können. Und er hatte sich vor ihr entblößt, alle Masken fallen gelassen und damit eine Intimität erschaffen, die sie nie wieder erreichen würde. Allein das sprach Bände, was sie für Akira zu riskieren und ertragen bereit war.


2.
Der gigantische Strafer hatte eine Entfernung von achthundert Lichtjahren zurück gelegt, und dies in einem Zeitraum, der ein Jahr bei weitem unterschritt. Vielleicht war dies nicht die schnellste Reisetechnologie in der Galaxis, aber sicherlich eine der beeindruckensten, denn die Masse eines Strafers wollte auch erst beschleunigt sein, bevor das Schiff von System zu System hüpfen konnte.
Die achthundert Lichtjahre bezogen sich auf die reine Flugentfernung des Strafers, die dieser seit seinem letzten Check zurück gelegt hatte. Normalerweise konnte das Robotschiff bis zu zweitausend Lichtjahre zurücklegen, bevor ein erneuter Checkup notwendig war, doch die letzte Begegnung mit der AURORA hatte Schäden am Schiff verursacht, die schließlich zu einer vorgezogenen Wartung geführt hatten. Zu viele der wertvollen Einheiten hatte die Flotte bei der Schlacht um die Daimon von Iotan verloren, weitere Verluste durch Leichtsinn zu riskieren war töricht. Oder um es mit den Worten der künstlichen Intelligenzen auszudrücken, welche die Strafer-Flotten verwalteten: Ein unkalkulierter Vorgang.
Das Riesenschiff erstrahlte im hellsten Weiß, das es in diesem Universum geben konnte. Es war so grell und strahlend, das es unmöglich schien, auf der Oberfläche Konturen zu erkennen. Selbst eine schlichte Größenbestimmung schien unmöglich, außer vielleicht der schlichten Feststellung „gigantisch“.
Der Strafer mit der Eigenbezeichnung A101 erreichte das Ziel seiner Reise nach einem vorsichtigen, leistungsreduzierten Wurmlochflug. Die Künstliche Intelligenz an Bord hatte sich dafür entschieden das Material zu schonen, um das Risiko der Vernichtung durch Materialermüdung zu entgehen. Das Ergebnis war ein Bummelflug gewesen, während dessen ein Großteil der kleineren Reparaturen bereits mit Bordmitteln hatte vorgenommen werden können. Dennoch, weitere, tiefgreifendere Reparaturen standen noch aus. Eine kurze Kommunikation mit der Stützpunkt-K.I. klärte die Ersatzteil- und Reparaturreihenfolge. Die Strafer, welche in der Schlacht um Iotan siegreich gewesen waren, hatten etliche Trümmer ihrer zerstörten Schwesterschiffe aus dem Orbit gefischt und auf die Stützpunktwelt verbracht. Es waren etliche gut erhaltene Schiffssektionen darunter, um die A101 wieder voll hoch zu rüsten.

Der Ort, den A101 anflog, lag innerhalb eines Sonnensystems. Doch das Doppelsternsystem nannte keine bewohnte Welten ihr eigen. Der eigenwillige Kurs, den beide Sterne umeinander flochten, hatte die Entstehung von Planeten, vom Gasriesen bis zur Eiswelt, unmöglich gemacht. Es existierte lediglich eine recht kleine und sehr weit außerhalb des Systems bestehende Oortsche Wolke, einem stellaren Trümmerring, der jedes Sonnensystem umgab.
Dementsprechend lag die Schwerkraftsenke des Doppelsterns sehr weit draußen, kein Gasriese und keine erdähnliche Welt verursachten gravitatorische Ausbeulungen in der Raumzeit, welche für verkürzte Sprünge hätten genutzt werden können. Was wiederum von Vorteil war, denn der Stützpunkt befand sich eben in jener Oortschen Wolke. Gut versteckt, als Dunkelwelt getarnt offenbarte sie sich als ein gut eintausend Kilometer durchmessender, nahezu runder Gesteinsbrocken, der so natürlich in dieses namenlose Sonnensystem passte wie ein zweiter Kopf zum Menschen.
A101 war unbeirrbar im Kurs, kannte diesen Weg, war ihn unendlich oft geflogen. Der Stützpunkt lag abgeschieden, weit entfernt und seine Existenz war geheim. Sicher gab es Gegner, welche die Existenz dieser und weiterer Welten vermuteten, aber beweisen oder sogar nachweisen konnten sie nichts. Das machte die Strafer so wehrhaft, so schlagkräftig und so flexibel.
In dem gigantischen Gesteinsbrocken öffneten sich gewaltige Tore in Form einer Iris-Blende. Eine Öffnung von einem Kilometer Durchmesser öffnete sich vor dem Strafer. Dieser deaktivierte seine Schutzeinrichtungen, die weiße Farbe schwand von der Schiffshülle und enthüllte ein verwinkeltes, zerklüftetes Etwas von annähender Walzenform, mit einer größten Länge von eins Koma drei Kilometern und einem Walzenradius von vierhundert Metern. Es passierte die Schleuse ohne Probleme und verharrte in der Mitte eines lichten Raums von drei Kilometer Länge. Hinter dem Schiff fuhr die Schleuse zu. Licht brandete auf, entriss die Walze der Dunkelheit. Aus gigantischen Düsen erklang das charakteristische Geräusch von Luft, die mit hohem Druck ins Vakuum gepresst wurde. Die ersten Wolken des Stickstoff-Sauerstoffgemischs endeten noch als feiner Kristallnebel, als das absolute, vorherrschende und bitterkalte Vakuum die Wärme der Luft in sich aufnahm, doch nach und nach heizte sich das Gemisch mit zunehmendem Druck auf.
Als der Druckausgleich hergestellt war, glitt eine zweite Iris-Blende auf und gab den Blick auf eine gigantische Kaverne frei. Das Schiff ruckte an und fuhr ein in die riesige, von Licht erfüllte Höhle.
Der Innendurchmesser der Kaverne betrug nahezu tausend Kilometer und war von Luft und Licht erfüllt. Hunderte kleine Aufbauten erfüllten den Innenraum, ohne wirklich irgendwo Halt zu finden. Lediglich die gut drei Kilometer starke, durchgehende Kruste besaß Masse und emissierte damit Gravitation. Ergo waren die Innenwände mit Schiffen übersäht, Strafern, Spähern und Vernichtern.
Es mochte schwindlig machen wenn man daran dachte, welch ein Aufwand betrieben worden sein musste, um einerseits diese Sphäre zu erschaffen, sie zu betreiben, die Werften und Reparatureinrichtungen, die Fabriken und Kasernen zu errichten, und andererseits alleine die Luft herbeizuschaffen, um dieses gigantische Gebilde zu füllen. Ganz abgesehen von den zwangsläufigen Verlusten, die bei den nicht gerade seltenen Schleusenvorgängen entstanden, wenn kostbare Atemluft ins Nichts diffundierte. All das wollte ersetzt werden. Und all das musste betrieben werden. Die Energie, die aufgewendet wurde, um die Station zu erhalten, die hunderten Kampfschiffe zu unterhalten, zu warten und teilweise zu bauen, war gigantisch und hatte irgendwie zu erfolgen. Da das Gebilde arbeitete, stand zweifelsfrei fest, dass die Energie irgendwo produziert wurde.
Die K.I. von A101 steuerte einen Andockplatz an der Innenseite der Hülle an. Werftplätze waren rar, das Material kostbar, und bei der unendlichen Anzahl an Kampfschiffen konnte nur exaktes Management und eiskalte Logik für ein Höchstmaß an einsatzbereiten Schiffen sorgen. Es war nicht gerade so als sei eine logische Künstliche Intelligenz bar jeder Emotionen dazu nicht in der Lage.
Die Stützpunktwelt funktionierte, auf der Basis eiskalter Logik und genauestem Management. Die K.I. tat ihr Bestes, um einerseits mit den Ressourcen auszukommen, neue Ressourcen zu beschaffen ohne die Aufmerksamkeit auf den abgeschiedenen Standort zu lenken und andererseits den Anforderungen des Rates gerecht zu werden. Letztendlich war sie ein Diener, diente sie ebenso wie der Rechnerverbund den Kindern der Götter. Allerdings im Rahmen einer eng begrenzten Programmierung, die keinerlei Varianten zuließ. Und der wichtigste Parameter war das Überleben der eigenen Kampfkraft, erst der zweitwichtigste befahl, die Ausrottung der Dai in diesem Universum voran zu treiben. Deshalb waren die meisten Schiffe, vor allem die gigantischen Vernichter, deren Betrieb Unsummen an Unterhaltungsmaterialien und Rechenzeit erforderte, eingemottet. Seit zehntausend Jahren hatte die Stützpunktwelt nicht mehr so viele Schiffe aktiv gehalten wie heute. Und dennoch wartete hier noch das Dreißigfache darauf, eingesetzt zu werden. Und dies war nur eine von mindestens drei weiteren Welten, mit denen sich die K.I. absprechen musste, wenn es um die Ernte von Ressourcen ging.
Alle Schiffe einzusetzen die hier warteten hätten sicherlich die Ressourcenpläne effektiv vernichtet und die Existenz eines gierigen, materialverschlingenden Molochs enthüllt und damit langfristig den Standort gefährdet. Dennoch deutete viel darauf hin, dass eine größere Reaktivierung kurz bevor stand. Die Aufzeichnungen von A101 waren alarmierend und wiesen auf die Existenz eines Reyan Maxus hin, der furchtbarsten Lebensform, welche die Dai jemals hervor gebracht hatten. Eine schreckliche Existenz, die zum Untergang für die Götter geworden war und beinahe diesen Teil der Galaxis von allem intelligenten Leben gereinigt hätte, einschließlich der Kinder der Götter.
A101 erhielt einen Werfttermin in der Zentrumswerft IV in siebenhundert Stunden zugewiesen. Und acht Minuten.

Die Ausmaße innerhalb des Stützpunkts waren gigantisch, die Dimensionen spektakulär groß. Alleine der Umstand, dass der Planetoid, wenn er nicht ohnehin erbaut war, ausgehöhlt worden war um seine Masse zu reduzieren, verhinderte das Kollabieren des Mikrosystems. Ein Mensch mochte von den Dimensionen eingeschüchtert sein, vielleicht sogar verschreckt. Die einsame Gestalt, welche sich mit schlafwandlerischer Sicherheit über A101 bewegte und dabei fröhlich Farbe verteilte, erschien jedenfalls nicht sehr beeindruckend. Ihr kam ein Umstand zugute, der ein großer Nachteil für die Robotzivilisation der Götter darstellte. Obwohl es die Götter nicht mehr gab, ausgerottet von den Daima und Daina während ihrer unheilvollen, unsinnigen Kriege, so galten an Bord der Robotschiffe noch immer Standards, welche organischen Soldaten das Leben ermöglichen sollten, also Licht, Wärme und Nahrungsmittelvorräte, wobei die fröhlich pinselnde Gestalt für letztere besonders dankbar gewesen war. Die Konzentrate und das aufbereitete Wasser waren nicht sehr schmackhaft gewesen, aber noch immer besser als nichts. So gesehen konnte man auch verstehen, warum die Stützpunktwelt mit Luft und Wärme erfüllt war, obwohl Sauerstoff auf Korrosion und damit eine sinkende Effizienz bedeutete. Die Künstlichen Intelligenzen konnten einfach nicht gegen ihre Programmierungen handeln.
Endlich war die einsame Gestalt fertig. Sie wischte sich ein wenig Schweiß von der Stirn und betrachtete ihr Werk zufrieden. Noch ein Vorteil der Robotzivilisation war ihre Ignoranz. Was nicht sein durfte konnte auch nicht sein, was nicht nötig war wurde gar nicht erst gemacht. Zwar erstrahlte der Innenraum in hellem Licht, zwar gab es in den wichtigsten Bereichen der Schiffe automatische Beleuchtung, aber die Drohnen, Roboter und Multifunktionsmaschinen griffen nicht auf optische Sensoren zurück. Sie sahen den einsamen Passagier nicht, weil es nicht nötig war. Er konnte nicht existieren, warum also Augen basteln und die Datenspeicher mit optischen Informationen belasten? Auch die fehlenden Nahrungsmengen fielen in dieses Ressort. Ein Konsument, der kein Gott war? Unmöglich. Also musste es natürlicher Schwund sein, den es auch in einem statischen System gab.
Und erst einmal die gigantische Graffiti auf der Außenhülle der A101. Da es keine Augen gab, die sie sehen konnten, existierte sie auch nicht.
Die Gestalt stieß sich ein wenig ab und begann für mehrere Sekunden in die Höhe zu schweben. Nach fünfzig Metern griff die Gravitation der Wand nach ihr und zog sie sanft wieder in die Tiefe. Die Zeit reichte um ihr Meisterwerk zu erkennen. Ein Schriftzug in Daina-Schriftart mit ihrem Dämonennamen sowie ein kleines, stilisiert von ihr selbst, wie sie einem imaginären Beobachter einen Kussmund zuwarf.
Als sie wieder die Hülle des Strafers unter ihren Füßen hatte, war sie zufrieden. Mit diesem eindeutigen Hinweis würden die anderen Agenten sie sehr schnell finden. Aber sie selbst würde nun bei über eintausend Schiffen nach einem ähnlichen Hinweis suchen müssen, weil sie viel zu aktiv war um sich auf ersteres zu verlassen.
Noch einmal passierte sie die Silbenschrift, die mittlerweile trocken war und sah auf den niedlichen Kussmund, der ihr besonders gut gelungen war. Für einen Moment fragte sie sich, ob sie noch Fuchsohren und einen buschigen Fuchsschwanz hätte anmalen sollen. Aber das hätte die Agenten der andere Daimon sicherlich nur verwirrt, oder so sehr interessiert, dass die Mission in den Hintergrund gerückt wäre.
Dai-Kitsune-sama streckte sich genüsslich und seufzte dabei vor Zufriedenheit. „Infiltration der gegnerischen Einrichtung erfolgreich beendet.“
Sie seufzte erneut, setzte sich mit dem Rücken gegen eine Aufbaute und schnaubte unzufrieden. Wie es wohl Akira und den anderen gerade ging? Bestimmt steckte er gerade in schlimmsten Schwierigkeiten, und sie war nicht in der Nähe, um ihm zu helfen.
Andererseits war diese Mission mindestens genauso wichtig. Immerhin ging es darum, der Bedrohung aller Dai und damit der Daina und Daima endlich ein Ende zu bereiten.
Ein dritter Seufzer entrang sich ihrer schlanken Gestalt, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den anderen Schiffen zu, die rund um sie verankert waren. Vielleicht fand sie die Lebenszeichen der Agenten anderer Daimon schneller als sie erwartete.
***
Er kam trotz der offensichtlichen Arroganz der Maschinen und der Stützpunkt-K.I. nach allen Regeln der Vorsicht, und dennoch mit einer Geschwindigkeit, die vielleicht nur Dai als einzige organische Wesen erreichen konnten. Immerhin wurden Entfernungen hier in Dutzenden von Kilometern gemessen, nicht in Schritten.
Als er A101 erreichte, ließ er einen Moment angespannter Sinne vergehen, um die Atmosphäre aufzunehmen. Sie gingen davon aus, dass die K.I. die Agenten der verschiedenen Daimons ignorieren würde, aber niemand konnte ausschließen, dass auch diese Künstlichen Intelligenzen letztendlich lernfähig waren.
„Na endlich“, empfing ihn eine gelangweilte Stimme. „Du bist der letzte von denen, die bereits auf dem Weg waren.“
Erschrocken fuhr der Dai herum und ging automatisch in Abwehrstellung. Woher war die Stimme gekommen? Er sah sich suchend um und... Entdeckte ein kleines Tier? „Ein Wolbaru?“
„Ein Fuchs!“, hielt das kleine, rotbraune Wesen dagegen und zeigte alle Anzeichen des Ärgers. „Ein Tier, das auf der Erde als listig und hoch intelligent gilt. Zudem unübertroffen schön!“
Der Fuchs verwandelte sich und wurde zu einem schlanken, humanoiden Mädchen mit den gleichen rotbraunen Haaren. „Mein Name ist Dai-Kitsune-sama. Ich bin hier im Auftrag von Kuzo.“
Der andere nickte und öffnete das Visier seiner Einheitsmontur, anstatt die KI-Rüstung gleich verschwinden zu lassen. „Mein Name ist Lertaka der Wind. Ich bin hier im Auftrag von Kanoa.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen, Windgott. Folge mir, die anderen warten schon.“
„Ich bin kein Windgott. Im Gegensatz zu anderen Dai haben wir auf meiner Heimatwelt nicht das Bedürfnis, den degenerierten Daima Götter vorzugaukeln“, murrte Lertaka.
„Wie auch immer.“ Kitsune betrat durch ein Schott den Strafer und führte den Dai durch das verwinkelte Gangsystem, das früher vielleicht einmal auf mobile Intelligenzen eingestellt gewesen, aber von Reparatur zu Reparatur, von Update zu Update immer verwinkelter geworden war. Ein kleiner, gut erleuchteter Besprechungsraum war ihr Ziel. Dort erwarteten sie bereits vier weitere Wesen, die Lertaka sofort als Dai identifizierte. Drei hatten sich weibliche Merkmale wie Kitsune gegeben, einer war wie er ein Mann. Zumindest für den Moment.
„Dies ist Lertaka der Wind“, sagte Kitsune an Stelle einer Begrüßung. „Er untersteht Kanoa. Damit sind wir sechs.“
„Livess vom Sternenfeuer“, stellte sich die erste Weibliche vor, eine Humanoide mit langem goldblonden Haar und tief gebräunter Haut. „Manam entsandte mich. Mir scheint, damit sind für den Moment vollständig.“
„Alle die auf Kitsunes Malerei reagiert haben, sind nun versammelt“, bestätigte der Mann. „Aber wir können nicht ausschließen, dass auf der anderen Seite der Kernwerften weitere Dai auf ein Signal warten oder dass bereits Dai unterwegs sind, die wir nicht entdecken konnten. Verzeihung Rickar der Taucher. Imoar entsandte mich.“
Die zweite Frau, eine kleine, dickliche Person mit Doppelkinn und tiefschwarzen Stoppelharen ergriff das Wort. „Celeen Atuar, im Dienste von Kempual. Wir erwarten maximal elf Agenten. Also haben wir hier und jetzt bereits einen großen Schritt voran getan. Es ist durchaus möglich, dass die anderen noch unterwegs sind oder keine Chance hatten, an Bord eines Strafers zu entern, um hierher zu kommen. Es kann auch sein, dass sie in anderen Sphären sitzen. Meine erste Analyse der internen Datenspeicher des Nachschubwelt hat ergeben, dass es mindestens zwei weitere solcher Systeme in direkter kosmischer Nachbarschaft geben muss, sprich in einem Umkreis von fünfzig Lichtjahren.“
„Wir sind handlungsfähig“, beharrte die dritte Frau, die man bis auf die blonden Haare für einen Klon von Kitsune halten konnte. „Sechs reichen mehr als aus, um die Mission von Dai-Kuzo-sama durchzuführen. Wir sind die fähigsten Dai, die unsere Anführer entsenden konnten.“ Sie strich sich nachdenklich über ihren Nacken. „Zumindest in meinem Fall kann ich das bestätigen.“
Spöttisches Geraune antwortete der Frau.
„Keine Sorge, wir alle wissen was wir können. Und wir werden reichen, wenn es sein muss“, sagte Kitsune fest. „Erfüllen wir unseren Auftrag. Zerstören wir dieses Depot.“
Die anderen Dai nickten entschlossen.


3.
Als die ENTERPRISE den Hudson hinauffuhr, erlebte sie ein Phänomen, das sicherlich viele erhofft, aber sicher nicht erwartet hatten. Zehntausende, vielleicht hunderttausende Amerikaner hatten sich beiderseits des Ufers versammelt, um den Trägerverband rund um den modernen Mecha-Träger sehen zu können. Wahrscheinlich jubelten sie auch, aber die Matrosen und Offiziere, die an Deck schwadronierten, waren zu weit entfernt, um mehr zu erkennen als das ferne Winken der Menschen, geschweige denn zu hören.
Dutzende Schiffe und Boote begleiteten den Zug, ließen ihre Hörner ertönen, während eine Staffel Stars&Stripes, die vielfach geschmähten Verräter-Kampfroboter, welche die Übernahme der USA erst so vereinfacht hatten, über der Stadt eine weite Schleife zogen und Feuerwerk verbreiteten.
Der eine oder andere nervöse Finger legte sich immer wieder zögerlich über den Knopf zur Aktivierung der Mecha-Abwehr an Bord der Flotte, aber letztendlich war es Feuerwerk. Wenn sie stärkere Kaliber auffuhren, würden die sechsundzwanzig Hawks, Sparrows und Eagles, die über der ENTERPRISE Geleitschutz flogen, schon ordentlich aufräumen.
Zwischen der Insel Manhattan und dem Liberty Island, auf der die Freiheitsstatue stand und mit ihrer Gigantfackel den ankommenden Schiffen Nachts den Weg wies, ging die Flotte vor Anker. Die Kreuzer, Zerstörer und Fregatten legten sich dabei um die ENTERPRISE wie Infanteristen um ihren Kommandeur in einer Igelstellung.
Ein Hubschrauber, eskortiert von acht Hawks, brach bald darauf nach Manhattan auf. An Bord: Admiral Dean Richards, ein vehementer Verteidiger Akira Otomos. Sein Ziel: Die New York City Hall in Lower Manhattan, jenem Ort, an dem mehr als einmal Geschichte geschrieben worden war.
Unbehelligt von Streitkräften des Legats oder den konvertierten Stars&Stripes landete der Hubschrauber im City Hall Park. Sicherheitsleute und Navy Seals verließen den Helikopter zuerst und sicherten die nähere Umgebung.
Dann erst verließ Admiral Richards mit seinem Stab die relative Sicherheit des Gefährts.

Auf halbem Wege kamen ihm und seinem Stab eine Gruppe Menschen entgegen. Angeführt wurde sie von Stacy Ross, einer energischen, halb vietnamesischen, halb deutschen Politikerin, die in den letzten Jahren New Yorks sprichwörtliche Liberalität bewahrt hatte und bereits in der zweiten Periode Bürgermeisterin des „Big Apple“ war.
Überschwänglich schüttelte sie Richards die Hand. „Sir, es tut gut, es tut außerordentlich gut, Sie hier zu sehen! Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten für uns alle mit!“
Richards erwiderte den Händedruck der nur unwesentlich jüngeren Frau. „Wie man es nimmt, Stacy. Was halten Sie von einer kleinen Revolution?“
Die Bürgermeisterin von New York schob die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte entstand auf ihrer Stirn. „Ich habe mich schon gefragt, wieso die Stars&Stripes Sie unbehelligt durchgelassen haben, ja sogar einen Trägerverband an der Südspitze von Manhattan ankern lassen. An wen haben Sie Ihre Seele verkauft, und wofür?“
Richards bot der Bürgermeisterin seinen Arm, umgeben von ihren Begleitern gingen sie zur City Hall zurück. „Meine Seele verkauft? Das habe ich in der Tat. Und wofür? Für die Freiheit meines Volkes. An wen ich sie verkauft habe?“ Ein dünnes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wenn Sie es genau wissen wollen, Stacy... Meine Seele gehört jetzt dem schlimmsten Dämonen, der jemals existiert hat. Ein Monster all dessen was der menschliche Verstand zu verstehen bereit ist.“
„Oh“, machte Ross und nickte gewichtig. „Sie kennen meine Schwiegermutter?“
Für einen Moment sah Richards sie überrascht an, doch dann brach er in erleichtertes Gelächter aus. „Kommen Sie, Stacy, lassen Sie uns wieder holen was uns gehört.“
Admiral Nichols, der Kommandeur der Trägergruppe ENTERPRISE, der direkt neben dem Vice-Admiral ging, murmelte nervös: „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das gut gehen wird.“
„Willkommen im Club!“, erwiderte Richards trocken.
***
Eine Stunde später erschien Admiral Dean Richards auf allen Fernsehbildschirmen der Stadt. Alle Sender strahlten zugleich die Live-Aufnahmen aus, welche just in diesem Moment in der NY City Hall gemacht wurden. General Gary Bowman, der als Oberkommandierender der hier herrschenden Legatstruppen eine traurige Berühmtheit erlangt hatte, war neben ihm zu sehen. Ebenso eine Reihe ranghoher Legats-Offiziere, aber auch Commander Jessica Ehrenfeldt, die wagemutige Hawk-Pilotin, die sich und ihre Leute zu lokalen Berühmtheiten gemacht hatte, weil sie wieder und wieder die voll robotisch gesteuerten Stars& Stripes vom Himmel über New York geschossen hatte.
Nur den wenigsten Zuschauern dämmerte was nun hier passieren würde. Viele interessierte es vielleicht nicht einmal.

Bowman salutierte vor Richards und wandte sich dann den Kameras zu. „Hiermit übergebe ich das Oberkommando über alle Truppen im Staate New York an Admiral Richards und die U.S. Navy, mit allen Rechten und Pflichten.“
Richards salutierte vor dem Mann. „Hiermit übernehme ich das Oberkommando von Ihnen General Bowman. Von diesem Moment an hören alle Legatstruppen in den Grenzen des Staates New York auf meinen Befehl.“ Richards wandte sich wieder den Kameras zu. „New York ist nur der Anfang. Wir stehen am Beginn eines Weges, der uns unser geliebtes Amerika wieder bringen wird, der uns allen eine Heimat geben wird. Aber der uns auch fest einbindet in die Verteidigung der Erde und ihrer Verbündeten. In diesem Moment gründe ich die Erste Provisorische Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Unser erstes und wichtigstes Bestreben ist es, die polizeiliche, militärische und Verwaltungstechnische Gewalt in allen fünfzig Bundesländern vom Legat zurück zu erhalten. Unser zweitwichtigstes Bestreben jedoch ist es, die UEMF unter Executive Commander Eikichi Otomo nach bestem Wissen und Können zu unterstützen. Denn wenn wir dies nicht tun, stehen wir vor der absoluten Vernichtung der Erde. Keiner kann dies besser beurteilen als ich, nachdem ich mit der AURORA da draußen war, nachdem ich Stellvertreter von Admiral Acati in der Regionaladmiralität auf dem Mars war.
Ich bitte sie alle da draußen, vertrauen sie mir. Unterstützen sie mich. Seien sie versichert, ich bin, bleibe und werde immer sein, ein glühender Verehrer von Blue Lightning und seinen Kameraden, die einst diese wundervolle Stadt gerettet haben, das kann und werde ich nie leugnen.
Ich werde der UEMF immer einen sehr hohen Stellenwert einräumen, denn ohne sie sind wir verloren. Ich werde tun was ich kann, um unserem Heimatland freie Wahlen zu bescheren, die Wahrheit zu bringen und unser Verhältnis zu unseren Verbündeten auf einen hervorragenden Stand zu bringen. Wenn sie alle mir dies zutrauen, dann gewähren sie mir ihre Unterstützung. Dann gewähren sie Blue Lightning ihre Unterstützung.“
Und dies war der Auftakt einer gewaltlosen, epochalen Veränderung in den Staaten, die so noch nie da gewesen war.

__________________
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4.
Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sich das kleine Haus im Tokyoter Vorort wieder mit ein wenig Leben füllte. Seit die AURORA notgedrungen Wartungsarbeiten im Erdorbit hatte über sich ergehen lassen, waren nur Techniker und speziell geschultes UEMF-Personal über diese Schwelle getreten. Ansonsten hatte das Bauwerk still gestanden. Nun gab es wieder etwas Leben, und dennoch erschien Eikichi das alles groß, mächtig, leer.
Er küsste die nackte Schulter seiner Frau, die selig in seinen Armen schlummerte. Sie erwachte von der Berührung nicht, aber ihr warmer, weicher Leib drückte sich noch ein wenig enger unter der Decke an ihn. Wie lange hatte er dieses Gefühl vermisst? Ewiglich. Wie lange würde er es genießen können? Vielleicht war dies die einzige und letzte Gelegenheit, um dies zu tun. Deshalb hatte er sich geschworen, er würde jeden Augenblick genießen und sich nicht stören lassen. Niemals stören lassen, von niemandem! Selbst wenn die Welt beschloss, ohne seine Erlaubnis unterzugehen, selbst wenn Terroristen das ganze Viertel in Brand steckten, er würde seine Frau in Armen halten, den lange vermissten Duft ihrer Haare, ihrer Haut genießen. Er würde die Wärme und die Weichheit ihres Körpers in sein Bewusstsein brennen, damit er es nie wieder vergaß. Er würde... Langsam und matt strich seine Hand über ihre glatte, makellose Haut, berührte ihre Brust, ihren Bauch. Beinahe entrang sich seiner Kehle ein verzweifeltes Seufzen, wenn er daran dachte, all dies wieder verlieren zu können, ja, zu müssen. Und dies vielleicht noch in dieser Nacht. Der Gedanke war dazu angetan, ihn verrückt werden zu lassen. Er wollte nicht wieder gehen lassen, was er gerade erst wieder bekommen hatte. Er wollte nicht zulassen, dass irgendjemand Helen wieder aus seinen Armen riss, zu lange und zu hart hatte er dafür gekämpft. Er wollte sie nie wieder gehen lassen. Nicht dieses Jahr, nicht nächstes Jahr, nicht in diesem Jahrzehnt oder gar Jahrhundert. Und auch nicht mehr in tausend Jahren. Aber leider, das wusste er nur zu genau, ging das Spiel nicht so. Er hatte kaum Einfluss darauf, was mit ihr passieren würde. Und das trieb ihn erst Recht in den Wahnsinn.
"Es ist jetzt siebenundzwanzig Jahre her, auf den Tag genau", hauchte Helen plötzlich, kurz nachdem die Digitaluhr des Radioweckers die erste Minute nach Mitternacht angezeigt hatte. "Siebenundzwanzig Jahre, in denen wir auf ihn verzichten mussten."
Eikichi drückte seine Frau unwillkürlich fester an sich, und bereitwillig schmiegte sie sich ein wenig mehr an seinen Leib.
Der Executive Commander der UEMF rang nach Worten. Was hätte er ihr auch schon groß sagen können, was sie nicht schon wusste? Wie hätte er ihr Trost spenden können, wenn er selbst ihn kaum gekannt hatte? Ihn, den vorletzten Key und Helens Cousin Atrim.
Atrim war der ältere Sohn von Aris Taral und Vortein Arogad, hier auf der Erde geboren, und fester Bestandteil der naguadschen Bemühungen, die Erde neutral zu halten in einem kalten Krieg, der alles hinweg fegen konnte, was sich Menschheit und Zivilisation nannte.
Die fremden Systeme, welche die AURORA erkundet hatte, sprachen Bände darüber, wie die Schiffe der Götter mit Dingen, Dai und Orten verfuhren, an denen sie sich überlegen glaubten und zuschlugen. Nur zu deutlich standen Eikichi die Erzählungen von Michael, seinem Schwiegervater vor Augen, in denen der die Jahre schilderte, in denen ausgerechnet ein Vasalle der Götter, nämlich der Core, alle Abmachungen die Erde betreffend beinahe zunichte gemacht hätte, beinahe die Welt zerstört hätte. Die Core-Zivilisation hatte nichts von der Sonderstellung der Erde gewusst, niemals von den Göttern etwas darüber erfahren, und war auf dieser Welt wie auf vielen anderen Daina- und Daima-Welten lediglich auf die Jagd nach einer Daimon gegangen. Dabei hatte es bereits eine Abmachung gegeben, und ohne es zu wollen, war Atrim Opfer dieser Abmachung geworden.
Wenn Eikichi an Atrims jüngere Schwester Karen dachte, dann konnte er ahnen, beinahe sehen, wie erleichtert Karen gewesen war, dass weder Sakura noch Makoto nach dem Tod ihres Bruders der neue Key geworden waren. Aber er erinnerte sich auch an den Schmerz auf ihren Zügen, als sie ausgerechnet ihr liebstes Mädchen, den Menschen den sie mehr schätzte als jeden anderen, mit dieser Rolle betraut sah... Oder besser verflucht. Niemand hatte erwartet, niemand hatte gewusst oder auch nur gewollt, dass ausgerechnet Helen Arogad die Last zufiel, der neue Key zu werden, der Schlüssen zwischen der Vernichtung der Erde und der Reaktivierung der Macht der Dai.
Eikichi wusste nicht, wie Atrim dies all die Jahre ausgehalten hatte, wusste nicht wie er seine unfreiwillige Aufgabe gesehen hatte, aber er erinnerte sich an einen großen, ruhigen Mann mit kurzen blonden Haaren und einer unerklärlichen Scheu vor Bindungen, bis man ihm erzählt hatte, welche Aufgabe dem Taral zugefallen war: Die Welt vor der Zerstörung zu bewahren.
Dann war er gestorben, im Kampf gegen Torah und seine Verbündeten, gefallen wie ein Held, und im Moment der Wahrheit war es Helen gewesen, die als einzige in der Lage gewesen war, den Fluch aufzunehmen, der sein kinderloses Leben bestimmt hatte.
Aber für Helen war es nicht einfach nur ein Fluch gewesen. Für sie war es gleichbedeutend mit dem Verlust ihres geliebten Cousins, und dies war etwas, was sie Torah wohl nie verzeihen würde. Nicht einmal ihr Vater Michael würde sich zwischen sie und ihre Rache stellen können, sollte sie jemals erfahren, wo sie Juichiro Torah finden konnte.
Eikichi hatte ihn kaum gekannt, war mehr mit Karen und ihren Kindern zusammen gewesen, hatte geholfen, Sakura groß zu ziehen, und... Und für ihn bedeutete der Gedanke an Atrims Tod nicht den gleichen Schmerz wie für Helen. Es war ein anderer Schmerz, denn sein Tod hatte Helen etwas so furchtbares angetan. Sie zum Key gemacht.

"Du bist so ruhig", hauchte ihre Stimme.
"Ich weiß nicht was ich sagen soll", gestand Eikichi. "Wäre er noch am Leben, wärst du nicht..."
"Ich weiß", hauchte sie, ergriff Eikichis Hände und drückte sie eng an ihren Körper. "Aber es ändert nichts. Einer muss der Verräter sein, damit die Erde überleben kann, und ich bin derzeit der einzige, der es tun kann."
Eikichi schnaubte empört. Nicht über ihre Worte, sondern wegen dem tieferen Sinn, der dahinter lag. Verräter war ein sehr treffender Begriff, denn wenn der Key jemals aktiviert wurde, würde dies die Vernichtung der Menschheit einleiten.
In Helens Geist, tief verwurzelt und unverrückbar, wohnte eine Entität. Eine geheimnisvolle Geistesmacht, vielleicht aus KI, vielleicht aus reinen Daten. Diese Entität hatte nur einen Sinn im Leben: Die Zerstörung der Erde einzuleiten, sobald der Vertrag gebrochen wurde.
Leider wurde nur die Vernichtung der Welt ausgelöst, nichts gewährte dem Key die Gnade zuvor zu sterben. Er musste ebenso lange leben wie alle anderen, und war hilflos dazu verdammt, der Vernichtung zu zu schauen.
In den letzten Tagen und Wochen hatte sich Eikichi schon oft gefragt, ob die Errichtung der Daimons um Erde, Mars und Mond bereits ausgereicht hätten, den Vertrag für gebrochen zu erklären, wenn der Key auf der Erde gewesen wäre. Und er wusste, nun mit Helens Rückkehr würde er eine Antwort erhalten.

"Ich glaube, es erwacht", sagte die Naguad mit Furcht in der Stimme. Die Entität konnte nicht sterben. Sie war ewig, wenngleich sehr simpel. Alles was sie brauchte war ein lebendiger Wirt, jemand der sie beherbergte. Jemand der ihr einen Leib bot. Starb der Leib, verschwand sie in den nächsten Körper. Beim letzten Mal hatte Helen die Entität gezwungen, sie auszuwählen, nachdem Atrims Herz aufgehört hatte zu schlagen. Von ihr würde die Entität auf den nächsten Wirt übergehen und ewig sein, vorausgesetzt die Welt endete nicht im Atombrand. Dann war der Unfall gekommen, und Michael hatte die Chance ergriffen um seine Tochter zu retten, sowie zeitgleich die Entität und damit den Key von der Erde zu schaffen. Eikichi wusste bis heute nicht, ob Michael das vielleicht geplant hatte, provoziert hatte. Seine Tochter zum Opferlamm gemacht hatte, um der Erde trügerische Sicherheit zu schenken, in der der Key sie nicht allesamt verraten konnte. Möglich war es. Aber warum war Helen dann zurück gebracht worden? Aus dem Tank erweckt worden? Man hätte die Entität sicherlich noch ein paar Jahre im Arogad-Turm gefangen halten können, bevor...
"Du zitterst, Eikichi", stellte Helen fest.
Er versuchte sich zu beruhigen. Es brachte überhaupt nichts, seinem Schwiegervater solche Dinge zu unterstellen, solche Gedanken und Methoden. Michael Berger war einer der aufrichtigsten und ehrlichsten Menschen, die er je kennen gelernt hatte. Auch wenn er gerade in diesem Moment das Legat übernommen hatte, Eikichi war nicht bereit seine Meinung über den Fioran zu ändern.
"Ich zittere, weil ich Angst um dich habe. Was, wenn sich der Key aktiviert? Was wird dann aus dir?"
Langsam wandte sie sich in seiner Umarmung zu ihm um. "Mir wird nichts passieren", hauchte sie. Doch in ihren Augen stand Angst, blanke Angst. Sie hatte Atrim sterben sehen, und sie hatte den Key in sich aufgenommen, war selbst der Key geworden. Nur ein KI-Meister war in der Lage, die Entität zu beherbergen. Ein normaler Mensch wäre von ihr schnell ausgezehrt worden. KI-Meister aber hatten Kontrolle über ihre Lebensspanne... Zumindest die besten von ihnen. Und sie war ein exzellenter KI-Meister. Sie war die ideale Wirtin der Entität gewesen. Vielleicht war es wirklich keine schlechte Idee gewesen, sie von Terra nach Nag Prime zu schaffen, falls solch ein Plan je existiert hatte. Doch selbst wenn dem nicht so war, warum hatte Eridia, seine Schwiegermutter, Helen dann wieder zurück nach Terra gebracht?
"Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert", versprach Eikichi mit fester Stimme und küsste die schöne Frau sanft auf die Lippen. Es war eine Lüge, eine eiskalt ausgesprochene Lüge, in der jedoch all die Liebe mitschwang, die er für sie empfand.
"Und ich werde nicht zulassen, dass meine Kinder schon wieder auf ihre Mutter verzichten müssen. Diesmal nicht." Ihre Stimme klang fest und stolz, und neue Zuversicht erfüllte Eikichi.
"Nein, natürlich nicht. Und da ist immer noch Akari, die du kennen lernen musst. Ich weiß, sie hat Angst vor dir, aber sie freut sich auch sehr auf dich."
"Akari? Der ehemalige Oni?" Helen lachte leise, und es war ein schönes Geräusch. "Akira hat sie angeschleppt, richtig? Er war noch nie besonders gut darin, andere einfach in ihr Unglück laufen zu lassen. Da kommt er ganz nach dem Vater", flüsterte sie und biss Eikichi verspielt in die Unterlippe.
"Dafür kommt Yohko ganz nach dir. Andere herum kommandieren und manipulieren ohne das sie es merken, und sie es auch noch gerne tun zu lassen, ja, das klingt vollkommen nach Helen Arogad."
"Hör auf, Eikichi Otomo! Ich bin ja wohl eine vollkommen defensive Persönlichkeit!", fauchte sie gespielt.
"Defensiv? Wenn du damit eine graue Eminenz meinst, die aus dem Hintergrund alles und jeden steuert, dann hast du zweifellos Recht", erwiderte er und kassierte dafür einen schmerzhaften Knuff auf seine Bauchmuskeln.
"Und so einen habe ich geheiratet", murrte sie, schmiegte sich aber wieder enger an ihn. Nachdenklich glitt ihre Linke über seine grauen Koteletten. "Wann hörst du endlich auf, die Dinger zu färben?"
"Niemals, Schatz. Ich werde nicht älter, und genau das nimmt unseren Kindern eine Konstante, einen Halt. Also trimme ich mich wenigstens ein wenig auf grauhaarig. Bisher sind sie beide drauf reingefallen."
"Du meinst sie waren zu taktvoll um dir aufs Gesicht zu zu sagen, was sie von deiner Scharade halten", murmelte sie skeptisch.
"Das glaube ich nicht. Ich lebe die meiste Zeit auf dem OLYMP, deshalb fällt es mir leicht, solche Feinheiten zu verbergen."
"Hm. Ja, Akira und Yohko haben mir erzählt, wie du den armen Jungen behandelt hast. Einsam, ganz allein in dem großen Haus, während sich Papa mehr um die UEMF als um sein eigen Fleisch und Blut kümmert. Schäme dich, Eikichi."
"Sakura war hier, die ganze Zeit. Sie ist zwar ausgezogen, bevor wir Dai-Kuzos Plan begonnen haben, um Akira aus seinem Elend zu reißen, aber sie war hier. Sie war für ihn da."
"Ich habe doch einen Scherz gemacht. Du musst dich nicht gleich rechtfertigen, Schatz", tadelte sie. "Ich weiß es besser als jeder andere Mensch auf dieser Welt, was für ein liebevoller Vater du bist und wie sehr du dich um deine Kinder sorgst. Deshalb hast du in dein großes Herz ja auch die Söhne und Töchter aller anderen Menschen aufgenommen, und selbst das reicht dir noch nicht. Ich..." Sie biss die Zähne zusammen. "Ich glaube, jetzt beginnt es wirklich."
Ihre großen blauen Augen sahen Eikichi flehentlich an. "Kann ich jetzt aufhören? Haben wir genügend gemeinsame Erinnerungen aufgebaut? Es... Es tut weh."
Entsetzt sah Eikichi sie an. "Wie lange kämpfst du schon gegen den Key an?"
"Seit ich auf der Erde bin. Also fast eine ganze Woche", gestand sie und lächelte verzerrt.
"Ich... Ich hätte das nie von dir verlangt."
"Ich weiß. Aber ich habe es von mir verlangt. Ich wünschte mir nur, ich hätte die Kinder vorher gesehen. Aber du musstest sie ja alle ins kalte Weltall hinaus jagen." Sie biss sich auf die Unterlippe, als eine heftige Schmerzwelle durch ihren Leib fegte.
"Akira war mal wieder vermisst. Niemand hätte sie aufhalten können, um ihn zu suchen." Eikichi lächelte gezwungen. "Niemand konnte sie aufhalten, und das war auch gut so. Er hat viel zu viel geleistet, um ihn einfach der Ferne zu übergeben."
"Taktisch nicht besonders klug. Irgendwann hätten sie ihn schon freiwillig zur Erde zurück gebracht, weil er zu viel Unruhe gemacht hätte", scherzte Helen.
"Etwas ähnliches hat Sakura gesagt. Sie wollte nach den Explosionen Ausschau halten, die er zwangsläufig verursachen würde, und..." Er zog seine Frau enger an sich. "Verlass mich nicht, Helen."
"Wir wissen nicht was passiert, wenn sich der Key aktiviert. Vielleicht verlässt er mich einfach nur, und alles ist gut. Was danach geschieht, davor sollten wir Angst haben. Ich wünschte, die Kinder wären jetzt hier, um uns zu helfen, und..." Entsetzt riss sie die Augen auf. "E-es tut nicht weh, aber... Es ist als würde etwas an meinen Beinen ziehen.
Eikichi, Dai-Kuzo wird ihren Teil tun. Der alte Pakt sagt, dass wir die Flotte der Dai nicht aktivieren, und dafür wird die Erde nicht zerstört. Wenn wir etwas tun, das dieses Gleichgewicht stört, aktiviert sich der Key, und wir werden geprüft. Es ist eine ernste Angelegenheit, aber noch lange nicht das Ende. Ich... Ich liebe dich, Eikichi. Grüß die Kinder von mir, wenn du sie nachher anrufst." Ihre Lippen suchten die seinen für einen letzten, trostvollen Kuss, und Eikichi Otomo wusste plötzlich, dass die Entität seine Frau nicht einfach verlassen würde. Stattdessen wirkte sie für einen Moment, als hätte sie jemand mit Quecksilber überschüttet. Ihr Gesicht schien von einer silbrigen Substanz überlaufen zu werden, und Eikichi hatte keine Zweifel, dass dies auch gerade unter seinen Händen geschah, die merkwürdig zu prickeln begonnen hatten. Die Entität zwang Helen dazu, eine KI-Rüstung anzulegen. Und wer wusste schon, wozu seine Frau noch gezwungen wurde.
Es war kein langsames Lösen, kein Versprechen auf Hoffnung. Von einem Moment zum anderen verschwand Helen Otomo aus Eikichis Armen, nur um direkt neben dem Bett aufzutauchen. Sie stand aufrecht da, schien zu lauschen. Dann ging ihr Blick wie beiläufig zum liegenden Otomo, der gebannt auf ihre nächste Reaktion wartete. Doch in den mit der KI-Rüstung überzogenen Augen zu lesen war ihm unmöglich.
"Prüfung beendet", schnarrte eine Stimme, die er nur schwerlich als die von Helen wiedererkannte. "Beginne Erweckung." Mit diesen Worten verschwand der Key, in eine Zukunft, die nicht nur für Helen unsicher war, sondern ab jetzt für alle Menschen in den Daimon der Erde, des Mars und des Mondes.

Eikichi starrte auf die Stelle im Bett, an der sie gelegen hatte, sah auf den Flecken Boden, auf dem sie gestanden hatte. Und er fühlte eine wahnsinnige Wut in sich aufsteigen! KI schmiedete sich in seinem Bauch wie von selbst, ein unheilvolles Glimmen überzog seinen Körper, seine Emotionen verstärkten die destruktive Aura, die ihn wie von Sinnen machte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine spöttische Frauenstimme meinte: "Also, ich erkläre Akira nicht, warum sein Vater das Familienhaus pulverisiert hat." Karen Taral trat ein, zog die Decke fort, bevor sie unter der Aura Eikichis noch Feuer fing, und warf dem Executive Commander seine Sachen zu. "Zieh dich an, Kleiner. Ich bringe dich mit einem Step zum OLYMP hoch. Die Welt ist noch nicht untergegangen, und der Trend hält hoffentlich an."
Langsam erlosch das Glühen, und Eikichi legte seine Kleidung an. Nicht ohne sich bewusst zu sein, dass der spöttische Blick von Sakuras und Makotos Mutter dabei auf ihm ruhte. "Du hast nicht nachgelassen", stellte sie unumwunden fest.
Eikichi schloss den letzten Knopf und reichte ihr die Hand. "Danke. Du bist ja Expertin, was die Einsatzbereitschaft eines Otomos angeht."
"Nicht frech werden, junger Mann. Konzentrieren wir uns erst mal auf die Rettung deiner Traumfrau. Zoten reißen können wir hinterher immer noch", spöttelte sie, ergriff die Hand und löste sich auf. Mit ihr verschwand Eikichi Otomo, ohne eine Spur zu hinterlassen.
***
"Was genau hast du eigentlich vor?", klang die mahnende Stimme von Megumi hinter mir auf, während ich mein Gesicht mit schwarzbrauner Tarnfarbe beschmierte. Es war eine spezielle Mischung, die nicht nur meine helle Haut verbarg, die unter Umständen auf Kilometer hinaus gesehen werden konnte - wer einmal in einem Feldmanöver teilgenommen hatte, wusste was ich meinte, und ich hatte an vielen Manövern teilgenommen - sondern auch die Wärmeausstrahlung dämmte. Auf Infrarotortern würde mein Gesicht nicht zu sehen sein. Die Stirn blieb dafür in Gegenzug frei und wurde von einer dicken Frotteemütze bedeckt, damit ich schwitzen konnte, mich aber über diesen Körperteil nicht doch noch verriet. Vervollständigt wurde meine Ausrüstung durch einen braunschwarzen Kampfanzug und mein allgegenwärtiges Katana. Sprich den Griff, denn die Klinge hatte ich unbedacht zerstört. Dass ich den Knauf dennoch mitnahm hatte eher symbolischen Charakter. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass ich eine Waffe brauchte. Und wenn doch, nun, ich war selbst eine Waffe.
"Kannst du mal aufhören mich zu ignorieren und mir sagen was du vorhast?"
"Ich ignoriere dich nicht. Ich will dir nur keine Chance geben, mich abzulenken", erwiderte ich, ohne sie wirklich anzusehen.
Sie stieß sich vom Türrahmen ab und trat in mein Zimmer. Auch wenn sie viele Nächte hier verbracht hatte - so wie ich in ihrem Zimmer, so war sie hier irgendwie noch immer Gast. So wie ich in ihrem Zimmer. Es war eine Regelung, die wir beide so wollten. Wir kamen nur zusammen wenn wir beide ja sagten. In letzter Zeit war das eigentlich jeden Abend. Manchmal auch Nachmittags oder morgens, und vielleicht klappte die Regelung deshalb so gut. Eventuell.
Sie stellte sich hinter mich und nahm mir die Tarnfarbe aus der Hand. Sie verrieb die Paste in der Linken, nahm sie mit den Fingerspitzen der Rechten auf und färbte mir Nacken und Ohren ein. "Wenn man ein Wellenmuster zieht, dann wirkt es auf die Ferne wie Fell. Hat mir mein alter Ausbilder von den Marines gesteckt. Das war während deiner Auszeit, als man Lady Death als Ausbilderin und alleinige Retterin der Welt um eben diese geschickt hat. Ein freundlicher alter Mann von vierzig Jahren, der einen Menschen auf siebzehn Arten töten konnte, allerdings pro Finger. Er hatte sieben Kinder aus vier Ehen, dreizehn Enkel und fünf Hunde. Das war der letzte Stand vor sechs Jahren. Er hat mir wirklich viel beigebracht und wollte mich sogar mit seinem ältesten Enkel verkuppeln. Ich nehme ihm das nicht übel, denn er konnte ja nicht wissen, das ich damals schon den Besten hatte."
"Sei nicht unfair", tadelte ich sie. Mir ging ein Stich durchs Herz, als sie das sagte, denn das war genau die Zeit in der ich vergessen hatte, das meine Liebe bei ihr auf Erwiderung stieß. Oder um es präziser auszudrücken, in der ich vergessen hatte, das ich sie liebte. Eine konfuse, harte Zeit für sie, und ein Tanz auf den rohen Eiern der Gefühle für mich. In Gedanken strich ich die Eier und ersetzte sie durch Antipersonenminen.
"Unfair?" Sie küsste mich trotz der Paste auf die rechte Wange. "Habe ich nicht den Besten? Aris Arogad, Erbe der Arogad, Regent des Core, Herrscher über Lorania, Mars und Mond, Eigentümer des Daness-Turms, Vertrauter der iovarischen Kaiserin und ihr direkter Nachkomme. Alleine deine Titel sind schon beeindruckend."
"Aber es sind nur Titel. Namen, mehr nicht. Die meisten davon sind nicht einmal mit Leben erfüllt oder waren es nur kurze Zeit. Natürlich war ich stellvertretender Prätendent im Unabhängigkeitskrieg gegen den Kaiser der Iovar. Und natürlich war ich so lange Orens Erbe, bis Eri mich aus dem Mist erlöst hatte. Lorania, Mars, Mond und der Daness-Turm gehören mir nur auf dem Papier. Nie käme mir in den Sinn, sie einzufordern. Um Himmels Willen."
"Habe ich vergessen zu erwähnen, dass es deine herrlich hilflose Seite ist, die mich verrückt nach dir macht? Ich glaube, ich habe einfach einen Samariter-Komplex entwickelt, und du bist mein Ziel."
"Damit könnte ich leben", brummte ich amüsiert. "Die Augenbrauen bitte noch."
"Was hast du eigentlich vor, Prätendent?", murmelte sie, während die Paste nun meine Augenbrauen färbte. "Und wage es nicht, mich ein drittes Mal fragen zu lassen."
Misstrauisch beäugte ich sie. "Du steckst da wirklich nicht drin?"
"Kannst du bitte etwas präziser werden, Akira?", fragte sie stirnrunzelnd. "Nur ein kleines bisschen, damit die Sache für mich Sinn ergibt."
"Hm. Lass uns ein Spiel spielen. Wir nennen jetzt zugleich einen Namen von einem Mitglied unserer Wohngemeinschaft, und zwar den ersten Namen, der uns einfällt, wenn man mich sieht, wie ich mich für eine Dschungelmission schminke. Okay?"
Sie nickte. "Akari", sagte sie sofort. "Makoto", erwiderte ich.
Darauf folgte einige Zeit Schweigen. "Warum Akari?" "Warum Makoto?"
"Du zuerst." Megumi runzelte die Stirn. "Du versuchst nicht gerade in diesem Moment als großer Bruder durch Fushida City zu taumeln, um sie und Micchan zu überwachen, damit sie... Nichts erwachseneres tun als sie eigentlich sollten?"
"Um Himmels Willen, nein! Wirke ich so? Oh Gott, ich sollte wohl dankbar dafür sein, dass ich Yohko nicht in einen Goldenen Käfig gesperrt hatte. Was vielleicht lange Zeit daran lag, dass ich sie für die Kronosierin Lilian hielt und glaubte nicht das Recht dazu zu haben."
"Das Recht hättest du auch nicht gehabt, wenn du dir bewusst gewesen wärst, dass du es mit deiner Schwester zu tun hast", erwiderte Megumi lächelnd. "Warum Makoto?"
Nun war es an mir zu lächeln. "Hast du schon mal was vom Blue Lightning Regiment gehört?"
"Nein. Was soll das sein? Kriegst du jetzt eine eigene Leibgarde?"
"Ich dachte immer, das Otome-Bataillon wäre meine Leibgarde. Oder die internationale Einheit, die Oberst Kuratov an Bord gebracht hat."
"Wir setzen Kuratovs Leute je nach Bedarf ein. Eine ungebundene, extrem flexible Einheit hat ungeahnte Vorteile", erwiderte sie. "Ich habe sie unter meinem persönlichen Kommando, aber ich könnte mir vorstellen, sie dir zu überstellen, jetzt wo du kein eigenes Kommando hast - außer natürlich den Core-Raidern, den Haustruppen der Naguad, die jederzeit auf dich hören und allen verbündeten Verbänden des Kaiserreichs, die dich immer noch als einen ihrer stellvertretenden Anführer ansehen", sagte sie mit Sarkasmus in der Stimme. "Einmal ganz davon abgesehen, dass ich dir seit Jahren in den Ohren liege, dass du zumindest eine Kommandokompanie zu deinem persönlichen Schutz aufbauen solltest. Wir wissen alle, dass die das führen von hinten oder aus der Flottenzentrale heraus nicht liegt. Du bist ein Feldkommandeur. Zugleich aber bist du zu kampfstark, als das wir auf dich an der Front verzichten könnten. Gerade jetzt wo du dich als Reyan Maxus erwiesen hast, was immer das auch zu bedeuten hat. So gesehen ist das Otome-Bataillon vielleicht die einzige Einheit, die mit dir mithalten kann. Als Ganzes, meine ich. Sie sind noch nicht ganz auf Sollstärke, aber sechsundzwanzig Frauen zu KI-Meistern weiterzubilden und in die Slayer zu integrieren ist eine Leistung, die ich Yohko und den anderen so nicht zugetraut habe. Es gab wirklich nur wenige KI-Unfälle, die meisten waren glimpflich."
"KI-Unfälle?", argwöhnte ich.
"War mir klar, dass dir so etwas nichts sagt. Schon mal was von einer KI-Verbrennung gehört?"
"Ich nutze KI immer um mich zu heilen, eher selten um mich zu verstümmeln", erwiderte ich säuerlich.
"Was meinst du passiert mit einem Menschen der entdeckt, dass er sein KI manipulieren kann? Der dann die Kontrolle über zuviel geschmiedetes KI verliert? Dessen KI durch und auf dem Körper wütet?"
"Er verbrennt sich?"
"Zehn Punkte für Kandidat Otomo. Falls du die Nachrichten von der Erde nicht verfolgst, was ich beinahe glaube, dann lass dir gesagt sein, dass mit dem Auftreten der KI-Biester eine Menge Menschen versucht haben, auf eigene Faust mit ihrem KI umzugehen. Es konnten noch keine Todesfälle durch KI-Missbrauch nachgewiesen werden, aber es gibt mittlerweile eigene Spezialkliniken, die nur auf solche Unfälle spezialisiert sind. Dann gibt es da noch die Idioten, die KI als Waffe benutzen... Nicht über die Aura, aber über die elektromagnetische Trägerenergie. Sie verschießen Blitze."
"Aha."
"Und so entstehen KI-Unfälle. Also, es gab herzlich wenige bei den Otome. Arno Futabe hat die Ausbilder nachdrücklich gelobt. Hat er dir das nicht erzählt?"
"Verzeihung, aber meine letzten Begegnungen mit ihm drehten sich mehr darum, meine Seele und meinen Körper wieder zu einer Einheit zu machen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich wieder ganz ich bin. In diesen Adlerkörper zu schlüpfen fällt mir definitiv zu leicht, viel zu leicht."
"Ach ja, dieses KI-Biest, mit dem Yoshi dich gerettet hat. Warum ist er eigentlich nicht darauf gekommen, ein KI-Biest in der Form eines Menschen zu erschaffen?"
"Äh..." Irritiert sah ich sie an. "Daran hat keiner gedacht. Und Yoshi war damals gerade so auf Tiere als KI-Biester fixiert... Du kennst seine geheime Menagerie?"
"Wenn er mit einem Buckelwal ankommt, kann er eine Dienstwohnung in Poseidon beziehen." Sie lächelte. "Reicht das als Antwort?"
"Du kennst sie", murmelte ich. "Hinterher ist man immer schlauer, glaube ich. Und das ist auch der Grund, warum ich mir dieses Blue Lightning-Regiment mal näher anschauen will. Ich will es nicht hinterher wissen, ich will es jetzt wissen. Es ist eine Frage der Ehre, weil sie meinen Kampfnamen benutzen. Und es ist persönlich, weil meine Leibwächterin, mein Sekretär, mein Onkel, Mako-chan, Sakura und ein halbes Dutzend weiterer Leute darin verwickelt ist und sich nun nach besten Kräften bemüht, mich vom Regiment abzulenken. Und das nehme ich ihnen übel."
"Ach so. Deshalb hast du vorhin Makotos Namen genannt. Er steckt mit drin."
"Er hat es wahrscheinlich angeleiert. Und da ich gerade nichts besseres zu tun habe, gehe ich mir ein paar Antworten suchen, wenn sie sie schon nicht freiwillig raus rücken."
Megumi hob beide Augenbrauen. Das sah niedlich aus, wenn man bedachte, das auf ihren Lippen ein braungrüner Film meiner Tarnfarbe lag. "Du könntest sie zwingen. Du bist letztendlich ihr Kommandeur. Ich meine, ich leite das Regiment, Kei die Flotte, Sakura hat das Oberkommando, aber du bist letztendlich der große Zampano."
"Der große Zampano? Lohnt es sich, darüber im Internet zu recherchieren?"
"Jetzt lenkst du ab", tadelte Megumi. "Die Recherche lohnt wohl eher nicht."
"Aber er klingt nach einem Clown. Einem erfolgreichen, aber einem Clown. Bin ich ein Clown?"
"Wenn du mit Clown jemanden meinst, der alleine ein Regiment Banges demütigt, der im Alleingang ganze Welten erobert, der Revolutionen vom Zaun bricht und der Reyan Maxus wird, was keiner kennt, aber unglaublich wichtig und gefährlich zu sein scheint, dann hast du wohl Recht."
"Hasst du mich eigentlich, wenn du mich mit solchen Superlativen belegen musst, um mich zu beschreiben?", murrte ich.
"Sei nicht albern. Ich bin der einzige Mensch, der halbwegs mit dir mithalten kann. Ich habe zwar Mühe hinterher zu kommen, aber ich gebe nicht auf. Wer weiß, vielleicht übernehme ich ja die nächsten beiden Sternenreiche, mit denen wir Kontakt kriegen, bevor du es kannst."
"Soll ich dir den Vortritt lassen", fragte ich lächelnd.
"Okay, vielleicht hasse ich dich ein klitzekleines Bisschen, Akira." Sie richtete sich auf und besah ihre Arbeit. Mit einem Stück Papier säuberte sie ihre Lippen. "Und, Blue Lightning, was genau hast du mit deinem Dschungelkämpferoutfit ausgerechnet auf der AURORA vor? Hat jemand extra für dich einen Urwald gepflanzt, und ich habe es nicht mitgekriegt? Und was hat das dann mit diesem Regiment zu tun?"
"Oh, ich schüttele nur alle Bäume, die ich sehe. Dabei schaue ich zu, was herunter fällt. Wenn ich nur energisch genug auftrete, dann wird sich das Regiment mir stellen, dessen bin ich mir sicher."
Ich lächelte mit dünnen Lippen mein Spiegelbild an. "Weißt du, dieser Name, Blue Lightning, er steht für über dreitausend Menschen, die ich getötet habe. Vielleicht zweitausend, vielleicht viertausend, ich weiß es nicht genau. Er steht für die Vernichtung meiner Seele, für eine Schuld, die so leicht ist, das ich mich dafür schäme. Er steht dafür, dass ich jederzeit wieder ganze SChiffe voller Menschen, Naguad, Kronosier ode Iovar angreifen und versenken werde, sollte dies nötig sein. Und damit würde ich die Zahl der von meinen Händen Getöteten erneut hochtreiben. Dieser Name steht für Verantwortung, denn ich glaube fest daran, dass ich mit jedem Soldaten, den ich getötet habe, einhundert Kameraden und Zivilisten das Leben gerettet habe. Ich will sichergehen, dass sich das Blue Lightning-Regiment dieser Verantwortung bewusst ist. Ich will wissen, ob sie genug Schneid, Ehre und Anstand haben, um ihrem Namen gerecht zu werden. Und ich will wissen, was sie sind."
"Und außerdem langweilst du dich zu Tode, seit der Core evakuiert ist und keine Schlachten mehr schlägt, und du notgedrungen aus der Kommandostruktur des Kaiserreichs heraus gefallen bist. Die Schule alleine kann dich ja gar nicht ausfüllen", scherzte Megumi.
"Nein, nein, das ist es nicht. Die Schule und ich, das sind andere Bedingungen, das sind andere Motive. Und ich langweile mich auch nicht. Nicht sehr, jedenfalls. Ich... Ich weiß halt nur, das ich ein ehemaliger Einserschüler bin, und nun nicht mal einen Hochschulabschluss habe. Megumi, ich will mehr in den Händen halten als einen militärischen Rang. Ich will mehr sein als der Mann, der zwei Kriege geführt hat. Jeder Soldat der UEMF, der ein Offizierspatent erhalten hat, kann ein Studium oder einen Meistertitel vorweisen. Oder im Fall der Schüler der Fushida-Oberstufe haben sie zumindest ein Studium begonnen. Ich aber, was habe ich? Immer wenn ich in irgend ein neues Abenteuer stürze, verliere ich den Kontakt zur Schule. Verliere ich den Kontakt zur Kontinuität. Auch das ist Blue Lightning, und das ist vielleicht auch ein Grund, warum ich diese Leute suche. Ich will wohl abschätzen, ob sie mein jetziges Leben durcheinanderwirbeln oder nicht. Wenn ja, hätte ich allerdings gerne Schonzeit, bis ich zumindest meinen Abschluss gemacht habe."
Ich sah meine Verlobte traurig an. "Ich bin nicht dumm, aber ich kann mir einfach nicht das erarbeiten, was ich eigentlich mit Leichtigkeit schaffen sollte."
"Und das ist nichts, wofür du wirklich etwas kannst, Akira. Ich glaube, das ist vielleicht ein schlechter Zeitpunkt, um mit dir über mein nächstes BWL-Semester zu diskutieren, oder?"
Mürrisch grummelnd wandte ich mich von ihr ab.
"Nun nimm es dir nicht so sehr zu Herzen. Du bist Blue Lightning, und du hast im Alleingang die Welt gerettet! Du wirst niemals als der Mann in den Geschichtsbüchern stehen, der ein Jura- oder Baustudium absolviert hat, aber als der Mann, der mit dreizehn Jahren zur Hoffnung der Menschheit avancierte und die erste Welle der Kronosier zurückschlug. Du hast uns zu den Sternen geführt, und du bringst uns auch wieder zurück. Genug Pathos, um dich zu beschwichtigen?"
Ich wandte mich wieder ihr zu und sagte: "Genug Pathos, um mich zu beschwichtigen."
Sie beugte sich vor, küsste mich auf die Stirn und setzte meine Mütze richtig auf. "Dann geh schön spielen und hole dir deine Antworten. Und komm nicht zu spät zum essen. Laysan hilft heute in der Küche beim Teig kneten, und er wird furchtbar traurig, wenn du sein Essen nicht probierst. Außerdem kommt Tante Cynthia heute vorbei, und du weißt was sie macht wenn du nicht da bist."
"Mich suchen", erwiderte ich mürrisch. Cynthia Andrews war der Deckname von Dai-Sphinx-sama, die nach eigener Aussage meine Urgroßmutter war. Eine extrem mächtige, aber auch extrem anlehnungsbedürftige Dai, die ich eigentlich schon von der ersten Sekunde an ins Herz geschlossen hatte. "In Ordnung, ich bin in spätestens sechs Stunden wieder da. Ich habe ja Hilfe."
"Hilfe?" Argwöhnisch hob sie diemal nur eine Augenbraue. "Wer ist denn verrückt genug, um..."
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach sie.
"Es ist offen", sagte ich laut.
Die Tür wurde geöffnet, und Megumi unterdrückte ein Auflachen. Eigentlich sah man nicht viel - nur eine Reihe düsterer Gestalten, die aussahen, als hätte man sie durch ein Moor gezogen.
Megumi kniff die Augen zusammen. "Ban Shee Ryon. Yoshi Futabe. Doitsu Ataka. Kenji Hazegawa. Joan Reilley. Akari Otomo. Michi Torah. Kei Takahara. Eine illustre Runde hast du da um dich geschart, Akira."
Ich erhob mich. "Natürlich. Wenn bei uns nichts beim schütteln von den Bäumen fällt, bei wem dann?"
"Na dann viel Spaß beim gärtnern", murmelte sie halb amüsiert und halb entsetzt.
Leises Gelächter antwortete ihr, dann verließen wir gemeinsam das Haus. Zwei Dinge waren anders an diesem Tag. Das erste war: Ich befand mich auf einer Jagd. Wenngleich nur auf Fakten. Das zweite war: Ich jagte nicht alleine, sondern mit einem Rudel, wie es nicht mehr viel gefährlicher sein konnte.



5.
Drei Kilometer waren, gemessen an der Unendlichkeit des Pazifiks, nicht sehr viel. Selbst wenn zu diesem Wert ein multiplizierender Effekt hinzukam, der aus dem Längenmaß ein Flächenmaß machte, indem er zwei guteKilometer Breite hinzufügte. Selbst der dritte Faktor der durchschnittlichen Höhe von einem weiteren Kilometer bedeutete hier unten in der Tiefsee gar nichts. Zwar war dieses Objekt größer als jedes bekannte Tier, in der absoluten, über elf Kilometer tiefen Unendlichkeit des Marianegrabens jedoch verlor es sich. Und dennoch reichte dieses Objekt vollkommen aus, um einen so kleinen, von Wasser umspülten Dreckball wie die Erde, dreimal aus dem Universum zu blasen.
Denn dieses Objekt war die RASZHANZ, der einzige überlebende Kriegskreuzer der Götter, ein Objekt, das es als einziges mit den mächtigen Basisschiffen der Dai hatte aufnehmen können. Die RASHANZ hatte auch oft gegen Reyan gekämpft, und bis zum heutigen Tag überlebt, entweder durch Sieg oder Flucht.
Dann war dieses Schiff Teil des Pakts geworden. Die Dai hatten sich verpflichtet, ihre mächtigen Flotten versiegelt zu lassen. Im Gegenzug war der RASZHANZ gestattet worden zu landen, die Erde verletzlich zu machen. Den Göttern hatte damals nichts daran gelegen, die Erde wirklich zu zerstören, um damit die eigene Vernichtung zu riskieren - sowie die ihrer Schützlinge. Aber es war ein gutes Druckmittel gewesen, um die allmächtige Flotte der Dai auszuschalten, die seither in ihren Depots verrottete. Hoffentlich verrottete.
Als die RASZHANZ durch den Key aus dem Jahrzehntausende währenden Dämmerschlaf gerissen wurde war es noch früh, fünfhundert Jahre zu früh, bevor jener Zeitpunkt erreicht war, den die Taktiker der Götter errechnet hatten, an dem die Zerstörung der Erde riskiert werden konnte, weil die eigenen Flotten endlich stark genug waren, um nach einem allumfassenden Kampf jeden einzelnen Gegner zerstört zu haben und anschließend das bekannte Weltall zu beherrschen.
Fünfhundert Jahre zu früh, das ließ nur einen Schluss zu: Nicht die Götter hatten den Pakt gebrochen, sondern die Dai. Nun, das alleine war noch kein großes Problem. ein solcher Krieg war schon lange eingeplant gewesen, und um ihn gewinnen zu können oder wenigstens ein Patt für einen weiteren unsicheren Frieden zu erzeugen, hatten die Streitkräfte der Götter in den letzten Jahrtausenden penibel nach Daimon und dort versteckten Schiffen gesucht, um sie zu vernichten. Vor allem die Dai selbst waren getötet worden, wo immer man sie hatte antreffen können, denn solange sie existierten, war die Vorherrschaft der Götter auf ewig gefährdet.

Als der Key in absoluter Schwärze rematerialisierte, geschah dies tatsächlich in knapp elf Kilometern Tiefe inmitten des gigantischen Kampfschiffs. Das Eintreffen löste ein primitives System aus, welches mit einer ersten Luftumwälzung begann. Die Luft, abgestanden, staubig und verbraucht, wurde langsam gegen atembare Atmosphäre mit leicht salziger Note ausgetauscht. Dazu flammte ein erstes blaues Licht auf, welches verhinderte, dass der Key geblendet wurde. Nach und nach erhellten mehr Lichter den Raum, und entrissen einen riesigen Dom der Finsternis. Im Rund maß das Gebilde einhundertsiebzehn Meter und elf Zentimeter, was exakt einem Ran entsprach, der Standardmaßeinheit der Götter. Dies war ein heiliger Wert, der direkt an der jährlichen Ausdehnung des Universums angelegt war, und hatte beinahe schon mystische Kraft, wenn er korrekt verwendet wurde. Die RASZHANZ hatte das Glück gehabt, dass ihre Zentrale nach dem Bau von jeder Position aus einen exakten Durchmesser von einem Ran gehabt zu haben, es gab keine Unstimmigkeiten, keine Toleranzen, weshalb man das Schiff vom Universum als begünstigt angesehen hatte. Es war ein Flaggschiff geworden, bevor es sich überhaupt irgendeinem Kampf gestellt hatte.
Aber diese Zentrale war leer. Eine endlose, glatte Fläche mit blinden Wänden erstreckte sich vor dem Key, und nichts deutete darauf hin, dass dies das Herz eines Kampfschiffs war, das nun, nachdem es erweckt worden war, sich aufmachen würde um die Erde zu vernichten.
Die Einrichtung, die technischen Details, all das war den Jahrzehntausenden zum Opfer gefallen und war anschließend nach und nach entsorgt worden. Aber bereits mit dem ersten Pulsschlag des Keys begann die Dekonservierung robotischer Einheiten, die wiederum die Konservierung der automatischen Fabrikationsanlagen an Bord auflösen würden. Diese würden in enorm kurzer Zeit aus dem Dom wieder eine funktionsfähige Zentrale machen.

An einem anderen Ort im Schiff, einem Punkt, an dem absolute Konversierung herrschte, begann ein ähnliches Projekt abzulaufen. Am kernwärtigsten und sichersten Punkt des Schiffs wurden die Stasiskammern ihrer Ewigkeit trotzenden Konservierung beraubt, und der Wiedereweckungsmodus der Besatzung begann. Vierhundertsiebzehn funktionierende Stasiseinheiten warteten darauf, ihren kostbaren Inhalt von heute auf jetzt in das Leben zurück zu entlassen. Vierhundertsiebzehn Götter würden einen Sprung von fünfzigtausend Jahren tun, und sich dessen nur bewusst sein, weil dies der letzte Gedanke vor ihrer Stasis war. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg, und die ersten reaktivierten Roboter begannen mit dem Abbau jener neunundachtzig Stasis-Einheiten, die versagt hatten, deren Nutzer einen qualvollen Tod als langsam dahin vegetierende Gefangene der Ewigkeit gefunden hatten. Nichts würde auf diesen Verlust hindeuten, lediglich die Erinnerungen der Besatzungen. Und jene wussten, welches Risiko sie mit der Konservierung auf sich genommen hatten. Während die automatischen Fabriken Mehrzweckkombinationen herstellten, Ausrüstungsgegenstände produzierten und automatische Steueranlagen proteinreiche Nahrung für die Erstversorgung der Besatzung produzierten, fuhren die ersten Kammern, die von der Konservierung befreit worden waren, ihre Funktionen herunter. Sie schwenkten aus der Senkrechten in die Waagerechte und öffneten sich. Dies waren im ersten Schwung siebzehn Kammern, und in ihnen befanden sich die wichtigsten Offiziere der RASZHANZ. Auch ihr Kapitän war unter ihnen.
Mittlerweile hatte der Key seine Position gewechselt, war in die Stasishalle gekommen, und koordinierte mit seiner geringen Befehlsgewalt die Erstversorgung der Erwachenden.
Als eine humanoide Hand aus der Konservierungsflüssigkeit hervor schoss und am offenen Rand einen ersten zögerlichen Halt suchte, trat der Key hinzu und ergriff die Hand. Mit einer geringen Kraftanstrengung half er dem Insassen dabei, sich aufzurichten. Der Humanoide blinzelte nervös, blinzelte noch einmal und sah dann den Key an.
Gleichwohl hatte er fünfzigtausend Jahre in einem einzigen Wimpernschlag überwunden, aber die Konservierung und die Dekonservierung waren beides Verfahren, die mit großer Anstrengung und einer erheblichen Menge Stress einher gegangen waren. All dies schlug nun auf die Offiziere nieder. Das war erwartet worden. Sie brauchten Zeit, einfach nur Zeit. Einige mehr, dieser hier weniger.
"Wer bist du?", fragte der Kapitän der RASZHANZ im Irkom-Verkehrsdialekt der Götter.
Der Key straffte seine Muskeln an und zog den Kapitän an den Schultern aus dem Tank. Für die zierliche Frauengestalt war das eine beachtliche Leistung von Kraft und Geschick.
"Ich bin der Key. Wie es der Pakt verlangt habe ich diese Daina übernommen und die Erweckung eingeleitet. Der Pakt wurde von den Dai gebrochen."
Ungläubig sah der Kapitän die Frau an. "Nein, so dumm können sie nicht gewesen sein. Sie..."
"Es wurde ein Reyan Maxus erzeugt. Lemur, Tyrion und Aris wurden in Daimon gehüllt, um sie gegen die Straferflotten zu schützen."
Langsam, und mit wackligen Knien versuchte der Kapitän selbst zu stehen. Dankbar nahm er eine Folie entgegen, welche die Konservierungsflüssigkeit absorbierte, und legte nach der Reinigungsprozedur seine neue Kleidung an. "Wie viele Jahre sind vergangen?"
Der Key legte den Kopf schräg. "Lemur hat seine Sonne neunundvierzigtausendachthundertundelf Mal umrundet, seit ich in Betrieb genommen wurde."
"Dann haben sie sich verdammt viel Zeit gelassen, um Ärger zu suchen. Gib mir einen weiteren Überblick. Wie schlimm steht es um uns?"
Der Key musterte den Kapitän ernst. "Meine letzten Informationen besagen, dass es die Götter nicht mehr gibt. Wenn sie noch existieren, dann tun sie dies im Verborgenen. Ein Konsortium aus Kindern der Götter arbeitet nun mit dem Netzwerk unserer Kriegsmaschinerie zusammen um den letzten Willen der Götter durchzusetzen. Hier in diesem Saal sind vielleicht die letzten Götter versammelt, die es in diesem Universum gibt."
"Das ist unmöglich", erwiderte der Gott ernst, und keinesfalls beeindruckt. Langsam und bedächtig zog er seine Uniformjacke über, die bereits mit seinem Namensschild und seinem Rangabzeichen versehen war. Man hätte ihn ohne weiteres für einen Nachkömmling Terras halten können, wenn man ihn in der eng geschneiderten Uniform sah. Nicht viel unterschied ihn von Daina oder Daima. Einen wichtigen Unterschied gab es jedoch. Seine Rasse war wesentlich älter als die Dai.
Er betrachtete die vom Key besessene Daina und lächelte matt. "Du willst wissen, warum es unmöglich ist?"
Der Key schüttelte den Kopf. "Nein. Mir wurde gesagt, die Götter seien Insektenabkömmlinge. Ich bin überrascht."
"Insektenabkömmlinge?" Indigniert zog der Gott seine Augenbrauen hoch und wusste für einen Moment nicht, ob er lachen oder weinen sollte. "Eine Fehlinformation. Wir haben es immer als Vorteil gesehen, den Dai möglichst viele und widersprüchliche Informationen über uns zukommen zu lassen. Teilweise haben wir ihnen sogar weis gemacht wir wären versklavte Daima im Dienste der Götter."
"Was höre ich hier über versklavte Daima, Rooter Kevoran?", erklang eine kräftige, aber eindeutig weibliche Stimme.
Der Kapitän wandte sich um und nickte anerkennend. "Du hast es überlebt, Vritrives Acouterasal."
"Natürlich habe ich es überlebt. Warum wurden wir geweckt? Ist diese Daina der Key?"
"Gedulde dich ein wenig. Lass uns warten bis alle Offiziere, die noch leben, erweckt wurden. Ich möchte ungern alles doppelt und dreifach erzählen. Wir werden uns bald ein Bild der aktuellen Situation machen müssen und anschließend entscheiden müssen, was wir tun wollen."
"Entscheiden was wir tun wollen? Unsere Erweckung durch den Key zieht automatisch die Vernichtung der Erde nach sich", erwiderte sie schroff.
"Willst du dabei sterben, Vritrives?", blaffte der Kapitän der RASHANZ.
"N-nein, natürlich nicht."
"Dann werden wir Informationen sammeln und danach unsere Entscheidung treffen. Übrigens gibt es unsere Rasse nach Aussage des Keys nicht mehr."
Die Offizierin würdigte die versklavte Daina nicht einmal eines Blickes, als sie erwiderte: "Unmöglich, Kapitän."
Rooter Kevoran schmunzelte leicht, während sich nach und nach weitere Götter aus ihren Tank erhoben, um ihren Dienst wieder aufzunehmen. "Diese Antwort habe ich erwartet."
Sein Schmunzeln wurde ernster. "Sie haben wieder einen Reyan Maxus hervor gebracht, sagt der Key."
"Was?" Vritrives wirbelte nun doch zu der Frau herum. "Wie ist dein Name, Key?"
"Helen Arogad."
"Woher nimmst du die Gewissheit, dass ihr tatsächlich einen Reyan Maxus erschaffen habt? Wir dachten, euch sogar die Fähigkeit genommen zu haben, selbst einen Reyan Oren zu erzeugen!"
"Der Reyan Maxus ist mein Sohn. Und er wurde nicht erschaffen, er entwickelte sich selbstständig zu einem. Er ist ein Mischling aus dem Blut von Dai, Daima und Daina. Wir vermuten, das es vielleicht die Genetik ist, vielleicht aber auch der Einfluss seiner Lehrmeister aus allen drei Volksgruppen, die ihn trainiert und gelehrt haben."
"Wo ist dieser Reyan Maxus? Ist er hier auf Lemur?"
"Terra", korrigierte Helen.
"Hier auf Terra? In diesem System?"
"Nein. Aber er ist auf dem Weg hierher."
"Hält ihn niemand auf? Was ist mit den Kindern der Götter? Was ist mit der robotischen Überwachung? Was ist mit..."
"Und genau das meinte ich als ich sagte, ich wollte warten bis alle erwacht sind und den Bericht hören können", mahnte der Kapitän. "Und auch das meinte ich als ich sagte, wir würden eine Entscheidung treffen, nachdem wir uns der Gesamtsituation bewusst wären. Wir müssen Prioritäten setzen. Und vor allem müssen wir die RASZHANZ gefechtsklar bekommen."
"Ja, du hast wohl Recht."
Dem Key entrang sich ein unmerklicher Seufzer. Ob dies nun daran lag, dass die Erde nicht sofort vernichtet werden würde, sobald das Schiff kampfbereit war, oder an einer ersten unterschwelligen Rivalität mit Vritrive Acouterasal, war für einen Außenstehenden nicht sofort ersichtlich.

Epilog:
"ZU LAHM!" Eine gigantische Hand wischte den Stars&Stripes vom Himmel. Die mächtige Maschine krachte mit dem Rücken zuerst auf den felsigen Boden der Wüstenlandschaft unter ihnen.
"Verdammt!", klang eine wütende Männerstimme auf. "Niemand hat gesagt, dass du auch KI-Meister bist, John!"
Takei lachte laut. "KI-Meister? Ich? Alles was ich bin und kann, hat rein gar nichts mit KI zu tun, nur mit meinem Können. Ich habe dich geschlagen weil ich besser bin als du, Luc Valsenne."
Der mächtige Phoenix landete direkt neben dem zerschmetterten Stars&Stripes und streckte eine voll modellierte Hand nach ihm aus. Mit einem lauten Knirschen brach die Panzerung, und der Pilot saß unvermittelt im Freien. Nun, das hätte er zumindest, wenn dies keine Simulation gewesen wäre.
Übergangslos fand sich der Francokanadier in der Trainingshalle wieder, die sie zum üben verwendeten - und dem Spott seiner Kameraden. Nachdem er sich so sicher gewesen war, John Takei schlagen zu können, war seine Niederlage umso bitterer.
Ein anderer Simulator öffnete sich und entließ den wohl geheimnisvollsten Mann des Planeten. "ich hätte dich schlagen können", rief der kanadische Militärkadett wütend. "Wenn dieser primitive Simulator in der Lage gewesen wäre auf mein KI zu reagieren, dann hätte ich dich schlagen können!"
"Das mag sein", erwiderte Takei und sah seinen Gegner mit wohlmeinendem Spott an. "Aber hätte dich das glücklicher gemacht? Arbeite lieber daran, deine Fähigkeiten zu verbessern, bevor du dich auf Tricks verlässt. Akira Otomo hat sich nie auf sein verdammtes KI verlassen, bevor ihm keine andere Wahl blieb, und er ist selbst ohne seine KI-Fähigkeit ein weit besserer Pilot und Krieger als die meisten Piloten mit ihrem KI. Nimm ihn dir zum Vorbild. Er ist sicherlich nicht das Schlechteste, wenn man nach den Sternen greifen will."
Takei warf einen Blick in die Runde, auf mehr als zwei Dutzend junger Menschen mit KI-Begabung, die er hier trainierte. "Grundlagen, Herrschaften. Grundlagen sind das A und O, denn auf ihnen baut sich alles auf. Auch ein KI-Meister ist eine leichte Beute wenn er sich auf sein KI verlässt und kein eigenes Können hat, geschweige denn Erfahrung und Training. Für alle die ein erreichbares Ziel haben wollen und nichts von Träumen halten, nehmt euch Daisuke Honda zum Vorbild, Kenji Hazegawa oder Oliver Laroche. Das sind Namen von Leuten, die es selbst ohne ihr KI in die Weltspitze geschafft haben. Ein Platz, von dem aus sie Akira Otomo zumindest sehen konnten."
Erschrockenes raunen antwortete ihm, und mit einem fiesen grinsen wandte sich der Risiko-Pilot ab. "Ach, und Luc, in dieser Gruppe bist du mit Abstand der Beste. Mach weiter so, und du wirst mich eines Tages schlagen können."
"J-jawohl, Sir", erwiderte der Kadett, von dem Lob vollkommen aus dem Konzept gebracht.

Im Besprechungsraum der Anlage ließ sich Takei durchgeschwitzt und müde in einen Sessel fallen. Ein Handtuch landete in seinem Gesicht. "Danke dir, Philip", brummte er müde und wischte sich die tropfnassen Haare und die schweißbedeckte Stirn ab.
Mitfühlend reichte der Stellvertreter Hazegawas dem Krieger einen isotonischen Drink.
"Wie machen sie sich?", fragte Haru Hazegawa ernst. Sie hatte selbst stundenlang trainiert und hätte längst am Ende ihrer Kräfte sein müssen. Dennoch hatte sie die Zeit genutzt und intensiv an ihrer KI-Aura gefeilt. Nun war sie selbst schweißgebadet, überspannt und müde. Aber eine der ersten Lektionen, die man als Anführer lernen musste war, dass man eventuell weniger Schlaf als die anderen bekam. Vor allem wenn die Truppe überleben sollte.
"Recht gut. Einige von ihnen wie der Kanadier sind hervorragend. Leute, die ich sofort für die Titanen empfehlen würde. Wenn er noch ein wenig mehr Zeit kriegt, könnte er auch durchaus ein Hekatoncheire werden. Ähnlich wie du, Haru-chan."
"Na, danke für die Blumen", brummte sie erschöpft. Nein, sie hatte nicht vor, zu den Hekatoncheiren zu gehen, ihrem großen Bruder nachzueifern. Sie war ehrgeizig, wollte ihre eigene Truppe haben, ihre eigenen Ziele verwirklichen und mit ihrer eigenen Kraft die Erde beschützen. "Reicht es schon?"
"Zu was? Die Dai auf Atalantia anzugreifen? Sicherlich nicht. Zu einer ersten Erkundungsmission mit einer handverlesenen Truppe? Schon eher."
"Was verstehst du unter handverlesen?"
"Vier Leute maximal. Annäherung mit einem Unterseeboot, Infiltration ihrer Städte. Vorsichtiges einsickern. Bedächtige, unauffällige Informationssuche."
"So viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen jetzt wissen, ob die Dai eine Bedrohung für uns sind."
"Hm", machte John ernst. "Möglichkeit zwei, wir fliegen rüber und fragen Dai-Kuzo persönlich über ihre Pläne aus."
"Auch das ist eine Variante, die vielleicht nett klingt, aber unmöglich umzusetzen."
"Okay." John faltete die Hände vor dem Gesicht und sah sinnierend an die Decke. "Okay. Dann haben wir da noch Möglichkeit Nummer drei. In zehn Stunden bricht ein Verband chinesischer Kampfschiffe zur Nordküste Atalantias auf. Er nimmt dort Sicherungsposition ein und baut einen Mecha-Riegel über der Küste auf. Mit der Entfernung der ursprünglichen Daimon haben die Dai sich verwundbar gemacht, und die UEMF tut nun ihr Bestes, um sie anderweitig zu schützen. Die Chinesen beteiligen sich mit ihrer ersten Seegebundenen Trägerflotte. Aber die UEMF stellt einige ihrer ausgebildeten Piloten zur Verfügung, die sie aus der ganzen Welt zusammenrafft. Da die meisten erfahrenen Piloten entweder auf der AURORA dienen, oder auf einem der Geschwader, welche den stellaren Nahbereich sichern, sind sie dabei nicht sehr wählerisch. Ich könnte uns auf den Träger bringen. Mit maximal acht Mechas, als anerkannte Nachwuchsoffiziere unter meiner persönlichen Führung. Das bringt uns zumindest schon mal in Reichweite."
"Acht nur?", argwöhnte Haru.
"Acht maximal. Vielleicht gelingt es mir nur mit fünfen, sechs oder nur mit zwei. Ich weiß es nicht. Ich werde meine Kontakte spielen lassen müssen. Ich werde in ein paar Systeme einbrechen. Erst danach kann ich sehen, ob die Operation überhaupt möglich ist. Das ist weit mehr als wir für eine erste Aufklärungsmission brauchen, oder? Es ist doch noch eine Aufklärungsmission, und keine Kampfmission mehr, oder?"
Haru Hazegawa gab sich einen sichtbaren Ruck. "Es ist eine Aufklärungsmission. Also gut. Bring uns auf den Träger, Takei-sensei. Ich werde derweil eine Gruppe zusammenstellen. Eine gute Mischung aus unseren besten Teamspielern. Nur für den Fall, dass das Äußerste eintritt."
"Plane für nicht mehr als acht", mahnte John. Er stand auf und warf Philip das Handtuch wieder zu. "Ich mache mich sofort an die Arbeit. Zum Glück kenne ich einige Offiziere auf dem Träger. Es ist die Xiang, ihr neuestes Modell." Er sah die beiden jungen Leute noch einmal spöttisch an. "Das bedeutet zugleich, dass die Chinesen besonders gut auf den Pott acht geben. Also seht zu, dass ihr nicht nur die besten Soldaten für diese Mission auswählt, sondern auch die Verschwiegensten. Nichts ist schlimmer als mit nur acht Mann gegen dreitausend aufgebrachte Matrosen stehen zu müssen, weil sich ein kleiner Junge verplappert hat und uns in Teufels Küche bringt."
"Wir werden das berücksichtigen."
Die beiden nickten einander zu, dann machte sich John auf den Weg zur Dusche des Stützpunkts. Er hatte absolut keine Ahnung, wie dieses kleine hübsche Mädchen Zugriff auf eine ehemalige Kronosier-Trainingsbasis mitten im Herzen Japans hatte erhalten können, ohne damit automatisch ein Dutzend Kompanien Ermittler und Soldaten der UEMF herbei zu locken, gar nicht zu reden von den Selbstverteidigungsstreitkräften der Japaner, und das war nur das kleinste der Rätsel, die sich ihm offenbart hatten, seit er sich der Bewegung angeschlossen hatte.
Mit einem müden Seufzer sah er in einen halb blinden Spiegel im Umkleideraum, lüftete die Augenklappe und starrte die trübe Iris seines rechten Auges an. "Und alles nur für Akira Otomo", murmelte er in einem Anflug von Amusement, deckte das Auge wieder ab und genoß eine heiße Dusche mit einem anständigen Wasserdruck. Wenigstens darauf hatten sich die Kronosier stets verstanden. Gute Infrastrukturen.

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Anime Evolution: Krieg
Episode fünf: Gefährliche Liebe

Prolog:
Als der Hawk auf dem mächtigen Mecha-Träger XIANG landete, folgten ihm drei weitere Maschinen: Ein zweiter Hawk, ein Sparrow und ein Eagle. John Takei unterdrückte ein Schmunzeln, als er an die drei Piloten dachte, für die er zuerst auf dem Träger und danach auf Atalantis das Kindermädchen spielen musste. Immerhin hatte er sie auf vier runter gehandelt und nur die besten der Kids mitgenommen, derer er sich angenommen hatte. Sie waren definitiv die Besten aus der Horde, die heimlich ihr KI und den Mecha-Kampf trainierte, um ihren Teil zum Schutz der Erde beizutragen, auch wenn ihre eigentliche Motivation hinterfragt werden sollte.
Jedenfalls hatte er das Beste aus dem gemacht, was sich ihm geboten hatte. Und das Beste war enorm, wenn man die Jugend und die relativ kurze Zeit bedachte, die Haru Mizuhara damit verbracht hatte, diese spezielle Truppe zusammen zu führen. Ein wenig fühlte sich John an die Zeiten erinnert, als solche Ausnahmepiloten wie Akira Otomo und Megumi Uno den Himmel beherrscht hatten. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln, denn es gab Akira, es gab Megumi, und dann gab es lange Zeit nichts, bevor es mit Yohko Otomo und Makoto Ino weiter ging. Danach kam eine neue Pause, und hier reihten sich dann die anderen Piloten zur Elite auf. Leute wie Yoshi Futabe, Hina Yamada, Doitsu Ataka, Torum Acati...
Diese jungen Leute hatten sicherlich das Potential, eines Tages auf dem Level der Titanen oder gar der Hekatoncheiren zu sein. Aber Ausnahmetalente wie Akira und Megumi waren sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Der Gedanke beruhigte ihn ungemein. Er hätte nicht gewusst, wie er einen zweiten Akira zu bändigen gehabt hätte.

Als John sich abschnallte, glitt das Cockpit automatisch auf. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen, und dankbar ließ er sich von den Chinesen und Koreanern aus dem Sitz helfen. Sie waren über vier Stunden geflogen, um den Anschein erwecken zu können, von Hawaii gekommen zu sein, und steife Knochen in den ersten Minuten waren stets der Preis für eine sitzende Tätigkeit.
Der Eagle hatte nun ebenfalls Parkposition erreicht und öffnete das Cockpit. Ob Takashi auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, wie produktiv seine kleine Schwester mittlerweile war? Es war offensichtlich, dass ihr Bruder nicht sehr viel Zeit und Gelegenheit hatte, einen bequemen Vorsprung vorzulegen. Sie würde ihn einholen. Irgendwann sicher. Und sie sah zudem auch noch besser aus. Sehr viel besser, wenn er sich den großen, breitschultrigen Mann mit dem stets mürrischen Gesicht in Erinnerung rief. Auch ihr reckten sich die helfenden Hände der Techniker der Xiang entgegen, aber sie wehrte höflich und bestimmt ab. Mit einem Satz war sie auf dem Boden und stand dort so selbstverständlich mit beiden Beinen fest auf dem Flugdeck, als hätte sie hier das Kommando inne. Ihr folgte Philip King, ihr amerikanischer Berater und Stellvertreter. Er nahm es etwas steifer und ließ sich helfen, als er sich vom Bordschützensitz abschnallte.
Der Sparrow, als Vorletzter gelandet, öffnete nun ebenfalls das Cockpit, um Sven Dorff an die frische Luft zu lassen. Die Dorffs gehörten zu einem der japanisch-deutschen Mischclans, die im zwanzigsten Jahrhundert entstanden waren und mittlerweile eine starke dynastische Macht in der Wirtschaft darstellten. Einer Entwicklung, die auf Michael Berger zurück zu führen war, den Fioran, der im Kronosierkrieg einen Großteil der Kriegsindustrie der verbündeten Nationen koordiniert hatte. Heutzutage war sein Aufenthaltsort geheim, es war nicht mal sicher, ob Berger auf der Erde war. Aber wo immer er war, der Ärger konnte nicht weit sein. Bei ihm gab es weniger Explosionen als bei einem Akira Otomo, aber dennoch war seine Anwesenheit stets mit unglaublichen Umwälzungen verbunden. Wie auch die Dorff-Familie bewies, aus der letztendlich auch die Futabes hervor gegangen waren. Das machte Sven zu einem sehr weitläufigen Cousin von Yoshi Futabe, und wie es aussah auch zu einem passablen KI-Anwender. John wollte ihn nicht KI-Meister nennen, noch nicht, aber dieser Titel schien ihm nicht mehr fern zu sein.
Der zweite Hawk war mittlerweile ebenfalls geöffnet. Der kanadische Kadett Luc Valsonne war ihm entstiegen. Der junge Offiziersanwärter schwatzte bereits aufgeregt mit den Technikern und gab ihnen kleine Anweisungen für die Wartung und Pflege seiner Maschine. John wusste nicht, wo der Kanadier Mandarin gelernt hatte, aber er sprach es, und das beinahe akzentfrei. Das verwunderte ihn doch ein wenig, war er eigentlich davon ausgegangen, dass die Amerikaner von der ganzen Welt erwarteten, dass sie ihre Sprache sprachen, und sie damit selbst keine neuen Sprachen lernen mussten. Valsonne hätte ein kometenhafter Aufstieg zugestanden, zumindest in der UEMF, die sich noch immer mit jedem Tag ein wenig vergrößerte. In den kanadischen Streitkräften hingegen wäre er trotz seiner Fähigkeiten nur sehr mühsam voran gekommen, so ganz ohne Krieg und gefallene Vorgesetzte. Wenn das alles hier vorbei war, dann würden diese vier hier ganz oben auf der Liste derjenigen stehen, die von der UEMF angeworben werden würden.

"Spezialist Takei?", klang eine angenehme Baritonstimme neben ihm auf.
John wandte sich um und unterdrückte den Drang zu salutieren. Takei war Testpilot, einer der Besten zwar, aber seit dem zweiten Marsfeldzug kein Militär mehr. "Richtig." Er musterte die Tressen des Offiziers vor sich. "Und Sie sind, Commander?"
"Steven Wang, Erstes Bataillon der Gelben Tiger."
Die Gelben Tiger, oder auch 8. Mecha-Kampfgeschwader, war die Bordeinheit der XIANG. Sie bestand aus drei voll bestückten Bataillonen und umfasste somit einhundert Mechas der vier Grundgattungen. Jedes Bataillon und die Regimentsführungskompanie verfügten je über einen Phoenix, um die Koordination der unterstellten Einheiten zu optimieren. China hatte speziell für dieses Geschwader auch zwei LRAO für die Luft- und Raumaufklärung erworben. Denn auch wenn die XIANG sich nicht in den Weltraum erheben konnte - die Gelben Drachen konnten es! Und China war mehr als gewillt seinen Teil an der Verteidigung der Welt zu tragen. Und auf einem Planeten, der zu achtzig Prozent mit Wasser bedeckt war, bedeutete ein Mecha-Träger erhöhte Flexibilität.
"Hong Kong-Chinese?", folgerte John.
Der chinesische Offizier lachte auf eine sehr sympathische Weise. "Taiwanese. Korea und wir haben mit der Volksbefreiungsarmee seit dem ersten Marsangriff einen Kooperationsvertrag, der uns verpflichtet, im Ausland operierende Verbände gemeinsam aufzustellen. Es klappt ganz gut."
"Freut mich zu hören." John reichte dem Taiwanesen die Hand und drückte kräftig zu.
Wang nickte in Richtung der vier Juniorpiloten. "Das sind Ihre Kids?"
John Takei nickte ernst. "Ja, das sind sie. Und sie haben ein Talent, das ich in manchen Militärschulen nicht gesehen habe, seit Blue Lightning den Himmel dieser Welt beherrschte."
Skeptisch sah der Taiwanese ihn an. "Wollen Sie das wirklich durchziehen? Ich meine, Atalantis..."
"Sprechen Sie nicht darüber. Alle vier trainieren ihr KI und könnten uns hören. Und ja, wir ziehen es durch. Ich darf annehmen, dass Ihre Leute instruiert sind?"
"Keine Sorge. Was uns angeht, sind Sie Ausbilder an der Alberta Mecha Academy und machen mit vier Ihrer Schüler eine Weltumrundung." Eine gewisse Unsicherheit huschte durch den Blick des Asiaten. "Sind Sie sicher, dass Sie keine Rückendeckung wollen? Ich könnte einen LRAO rauf schicken, für den Fall der Fälle, und eine Kompanie in Bereitschaft halten."
John schnaubte amüsiert. "Danke, dass Sie sich um uns sorgen, Commander. Aber wenn es geht lassen Sie uns diese Mission so authentisch wie möglich machen. Dies hier ist nicht nur eine Beschäftigungstherapie, sondern auch eine Art Test. Wenn möglich wollen wir ein Kuratov-Syndrom in jeglicher Hinsicht vermeiden."
"Kuratov-Syndrom", erwiderte der Taiwanese grinsend. "Die einzigen die sich nicht darüber beschweren konnten waren die UEMF-Mechastreitkräfte, als sie plötzlich und aus heiterem Himmel ein ganzes Bataillon mit einigen der besten Piloten der Erde erhalten haben. Viele Staaten sehen das heute noch als Desertion an."
"Und etwas ähnliches möchten wir hier verhindern", schloss Takei. "Ich nehme an, Sie haben Räume für uns vorbereitet?"
"Natürlich. Sammeln wir Ihre Schutzbefohlenen ein, dann zeige ich Ihnen alles. Es ist etwas eng, aber sehr gemütlich, Spezialist Takei. Wir... Oh, Ärger." Wangs Kopf fuhr zum Turmaufbau herum, der wie in alten Zeiten die Brücke des Trägers beherbergte. Eine Sekunde später begann die Alarmsirene zu heulen. Der Rhythmus ließ keine Zweifel daran zu, worum es ging: Großalarm.
John warf sich auf dem Absatz herum und eilte zu seinem Hawk. Wang trennte sich von ihm, sprach hastig in einen Kommunikator, den er aus seiner Jacke gezückt hatte, und die Mitglieder der Alarmrotte stürmten aus dem Untergrund des Trägers an die Oberfläche, um ihre vorbereiteten Mechas zu bemannen. Auch seine vier Schützlinge liefen zu ihren Mechas zurück.

Die gleichen chinesischen Techniker, die ihm heraus geholfen hatten, vervollständigten diesmal die Anschnallprozeduren. John nahm einen kurzen Check vor und rief dann die anderen Mechas seiner Gruppe.
"Ich nehme nicht an, das hier ist ein chinesischer Trick, um an unsere Mechas zu kommen?", klang die leicht erschrockene Stimme von Haru Mizuhara auf.
"Mitnichten, sonst wären wir nie bis zu unseren Maschinen gekommen", erwiderte Takei. "Wir starten nach der Freigabe durch das Bodenpersonal und sammeln uns einen Kilometer hinter dem Träger. Dort stören wir weder die Start-, noch die Landeoperationen."
"Was ist wenn die Chinesen unsere Hilfe brauchen?", klang die Stimme von Dorff auf. John schaltete die Hilfsmonitore dazu und hatte nun von allen vier seiner Schäfchen ein Bild. "Das ist durchaus möglich, aber wir sollten den Chinesen die Gelegenheit geben, unsere Unterstützung zu suchen. Seid ihr startbereit?"
Alle drei Mechas bestätigten. "Okay, wie besprochen erst einmal sammeln." Er wechselte die Frequenz. "Verbindung zur Brücke der XIANG. Hier Spezialist Takei. Was ist passiert, XIANG?"
"Takei, hier spricht Admiral Lu. Starten Sie sofort und begeben Sie sich auf eine Reserveposition. Weitere UEMF-Einheiten sind angefordert und werden Sie integrieren. Wenn es schlimm kommt werde ich Sie und Ihre Kinder eventuell anfordern müssen."
Takei erschrak. Wenn der alte und stolze Offizier schon jetzt davon sprach, ihre Hilfe zu beanspruchen, musste es übel sein, richtig übel.
"Wir haben eine gewaltige Wassersäule in achtundvierzig Kilometern Entfernung die sich aus einem Tiefseegraben nach oben arbeitet. Eine Tsunami-Warnung an alle nächstgelegenen Küsten ist bereits raus."
"Lassen Sie mich raten, die Bewegung ist nicht natürlichen Ursprungs?", folgerte John ernst.
"Das steht zu befürchten. Ein Seebeben oder einen Vulkanausbruch gibt es nicht. Die UEMF befürchtet, es könnte sich um einen Strafer der Götter handeln, der wer weiß wie lange da unten gelegen hat und jetzt aufsteigt, um uns Ärger zu machen." Die Stimme des Admirals, zuvor rau im Angesicht des puren Grauen dieser Information, wurde hart und volltönend. "Machen Sie sich keine Sorgen, Takei. Wir kennen unsere Pflicht unserem Vaterland und der Welt gegenüber. Die XIANG und ihr Begleitverband werden kämpfen."
"Wir sind zur Unterstützung bereit", murmelte John, mehr automatisch, weniger aus Überzeugung. Ein Strafer auf der Erde? Was für ein wahnsinniges Szenario. Was für eine Gefahr. Eikichi Otomo würde alles schicken was fliegen konnte.
"Dafür danke ich Ihnen. XIANG Ende."
Die Startfreigabe kam, und die vier Mechas erhoben sich in den Himmel. Wie abgesprochen sammelten sie sich einen Kilometer hinter dem Träger. Ein Verband Hawks zog an ihnen vorbei und bewies damit, das sie der Gefahr nähergerückt waren. Der Anführer flog einen Phoenix und kontaktierte John. Es war Wang. "Haben Sie einen Rat für mich, John? Ich war nicht auf dem Mars."
"Ja, den habe ich. Blockieren Sie den Weg des Strafers in die Stratosphäre, so gut Sie können. Er wird seine Hauptwaffe nicht einsetzen, solange er sich selbst mitsamt der Erde vernichtet."
"Ich werde daran denken. Wünschen Sie uns Glück."
"Alles Glück, das den Fliegern der Erde zur Verfügung steht, Steven."
Der andere Pilot bedankte sich, indem er seinen Phoenix kurz mit dem rechten Arm winken ließ, dann verschwand die Einheit Richtung Südwesten.
John schaltete sich wieder auf den Staffelfunk seiner kleinen Truppe. "Sie befürchten, das ein Strafer gerade vom Meeresboden aufsteigt. Die Kacke dampft, Leute."
Haru lachte auf. "Also, entweder sind wir hier in was großes hinein geraten, das für uns zu groß ist und uns zerstören wird", sagte sie, "oder wir sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort."
"Ein wenig von beidem, schätze ich", meinte Dorff.
Valsonne lachte rau auf. "Und ich dachte, so etwas passiert nur Akira Otomo."
"Akira ist nicht auf der Erde. Also erbt der nächstbeste Pilot sein Glück", murmelte John ernst.
"Werden wir eingreifen?", hakte Mizuhara nach. "Ich meine, werden wir gegen den Strafer kämpfen?"
"Es geht um die Rettung der Erde. Wenn uns die Chinesen brauchen, wenn die UEMF uns braucht, werden wir auch kämpfen", erwiderte John ernst.
"Gut. Ich dachte schon, Sie wollten uns schonen, während da draußen unsere Piloten um die Rettung der Erde kämpfen, John."
"Manche Dinge gehen einfach vor", erwiderte er zynisch. Akira hatte das nie verstanden. Allerdings war er es, der nie geschont wurde.

1.
Normalerweise galt Dai-Okame-sama, der große König der Wolfs-Dämonen, als äußerst mundfaul. Darüber hinaus war er auch noch manipulativ, berechnend und übertrieben stolz, wenn es um die Interessen der Dämonen ging. Umso mehr musste es jeden eingeweihten Beobachter verwundern der ihn in dieser Szene sah: friedlich in einem Straßencafé sitzend und mit einem anderen Dai, Tyges von der ADAMAS, plaudernd.
Dabei wirkte der große, grauhaarige Mann äußerst gelassen, geradezu heiter und entspannt. Und das, obwohl neben Tyges noch ein dritter Dai am Tisch saß, der noch größere Macht hatte als der alte, erfahrene Dämonenkönig: Dai-Sphinx-sama.
Die als Major Cynthia Andrews bekannte Frau war nach eigener Aussage über fünftausend Jahre alt, und galt als unbändig, unberechenbar und als Genuss-Dai. Im Moment aber war sie wie eine normale junge Frau im normalen Gespräch mit zwei Männern in einem beliebigen Straßencafé an einer belebten Straße von Fushida City. Von ihrer Sprunghaftigkeit und ihrem überzogenen Bedürfnis nach Nähe war im Moment nicht viel zu bemerken. Im Gegenteil, sie wirkte ein wenig abwesend.
Tyges wedelte mit seiner Rechten von Cynthias Augen. "Sphinx?"
Erschrocken sah sie auf. "Was? Oh, entschuldigt, ich war in Gedanken. Es ist so viel passiert in letzter Zeit, ich fürchte ich komme nicht ganz hinterher." Sie lachte leise. "Kitsune hat mich gewarnt, dass das Leben in Akiras Nähe im Zeitraffer abläuft, aber sie hat mir leider verschwiegen, dass er kosmische Ereignisse anzieht wie ein Magnet Eisenspäne." Sie schüttelte ungläubig den Kopf. "Jetzt ist er also ein Reyan Maxus. Schade, ich habe geglaubt, dass er ein guter Kandidat für den Aufstieg zum Dai ist."
"Wir haben alle unsere Erwartungen in Akira", sagte Okame ruhig und nahm einen Schluck Kaffee. Dabei legte er eine Affektiertheit an den Tag, die vermuten ließ, er würde mit der britischen Königin im Buckingham Palace dinieren, und nicht irgendwo in den Straßen der AURORA. Es fehlte eigentlich nur noch der abgespreizte kleine Finger. "Und unsere Erwartungen wurden enttäuscht, erfüllt oder übertroffen. Der Junge hat sich mit einem Dai angelegt ohne es zu wissen, damals auf dem Mars. Und mit Torum Acati hatte er einen Halb-Dai zum Gegner, den er beinahe bezwingen konnte. Im direkten Duell. Himmel, er ist nur ein Mensch!"
Tyges runzelte die Stirn und nippte an seinem Milchshake. Seit er und seine Leute von West Ends Hangar für die ADAMAS auf die AURORA gewechselt waren, hatte er für viele terranische Speisen Vorlieben entwickelt. Außerdem einige Allergien, die eigentlich einen Dai nicht beeinträchtigen sollten. Auf jeden Fall war das Nahrungsangebot vielfältiger und geschmacklich erfüllender als in der kleinen Enklave, die sein Volk und das ehemalige Kommandoschiff geschützt hatte. "Aris Arogad ist ein sehr mächtiger Mensch. Ich habe die Transformation von Prime gesehen. Selbst unter den Dai meines Volkes kenne ich vielleicht drei, die zu solch einer Tat fähig wären. Und er hat sie unbewusst ausgeführt. Beinahe muss man froh sein, dass er sich als Dai disqualifiziert hat. Stellt ihn euch mit der Macht Kitsunes vor. Welche Macht im Universum würde sich gegen ihn stellen können?"
"Keine. Er würde sie einfach alle mit reißen", spöttelte Sphinx.
"Das befürchte ich auch", brummte Okame und orderte eine neue Tasse. Er schnaubte amüsiert. "Was mich zu einem ganz anderen Problem bringt. Tag und Nacht."
"Oh ja, ein sehr interessantes Thema." Cynthia nickte gewichtig zu den ernsten Worten den großen, breitschultrigen Wolfsdämonen. "Dafür, dass Michi so schwer verletzt wurde, als der KI-Attentäter ihn anstatt Akira getroffen hat, ist er ziemlich schnell wieder auf die Beine gekommen. Ich bin immer noch sehr verwundert über die KI-Rüstung, die er angelegt hat. Er hat sich noch nie in einen Tiger verwandelt, oder? Und ein unerfahrender Daina wie er, selbst wenn er ein halber Dai ist, kann und darf nicht die Fähigkeit zu dieser Transformation haben. Ich habe es geprüft. Es war keine KI-Rüstung, es war eine komplette Verwandlung. Du hast es sicher auch gemerkt, Okame."
Dai-Okame ließ ein kurzes Lächeln sehen. Eine Geste mit Seltenheitswert bei dem alten Dämonenkönig. "Natürlich habe ich es gemerkt. Ich bin der beste Heiler der Erde. Und ich frage mich immer noch, wie Toras Sohn so etwas schaffen konnte. Die einfachste Erklärung wäre, dass Tora ihn von klein auf trainiert hat. Aber dagegen spricht, dass er seinen Feinschliff als KI-Meister ausgerechnet von Akira bekommen hat."
"Für das Rätsel gibt es eine einfache Lösung, aber sie behagt mir nicht. In keinster Weise. Sie ist unangenehm, unbequem, und wird mehr als einem Dämonen nicht passen. Oder um es mal konkret zu sagen: Es wäre einen Aufstand wert."
Tyges und Okame sahen interessiert herüber.
Die junge Frau mit den strohblonden Haaren winkte ab. "Fragt nicht. Fragt einfach nicht. Ich sage nur soviel: Mir ist da einiges klar geworden. Außerdem ist das ja noch nicht alles, oder? Nach dem Tag kommt auch noch die Nacht. Ihr erinnert euch an den KI-Sturm, den Akari entfesselt hat, nachdem Michi tödlich getroffen zu Boden ging?"
"Sie hat sicherlich gemerkt, das er gestorben war, bewusst oder unbewusst", kommentierte Tyges. "Nur seine Dai-Seite konnte auf diese Weise nicht sterben. Nicht so schnell, meine ich. Sie hat es gesehen."
"Das alleine wäre schon erstaunlich genug. Aber die Verwüstungen, die sie angerichtet hat, waren noch viel erstaunlicher", murmelte Okame. Er deutete auf eine Ausfallstraße. "Ihr wart nicht dabei, aber in diese Richtung liegt das Loch, das Akira zusammen mit Torum Acati gebohrt hat, als die beiden einen verbissenen Zweikampf ausgefochten haben. Ihre Auren lösten die molekularen Bindungen der Materie in ihrer Umgebung auf. Es war ein sehr erschreckender Anblick, und hätte Akira nicht nachgegeben, dann hätten sich die beiden einmal bis durch den Bodensockel unseres Giganten gearbeitet. Mit allen damit verbundenen Konsequenzen."
"Interessant. Ich glaube, ich habe mal ein Video dazu gesehen. Habt ihr das Loch wieder zugeschüttet?", fragte Tyges interessiert.
"Wir haben einen Fahrstuhl eingebaut. Das Loch reicht bis in die Grey Zone hinab, die mittlerweile industriell genutzt wird. Es war eine gute Gelegenheit und besser als das Loch einfach wieder zu zu schütten. Wie hat Sakura es gleich genannt: Gelegenheiten sind dazu da, um genutzt zu werden."
"Ich nehme an, du willst damit sagen, dass Akari ebenfalls die Materie in ihrer Umgebung aufgelöst hätte, wenn sie nicht gestoppt worden wäre."
"Bingo, Sphinx."
"Na Klasse. Eine durchgetickte Viertel-Dai auf Vernichtungstrip hätte dem Schiff gerade noch gefehlt."
Tyges hob fragend eine Augenbraue. "Wie redest du denn über deine eigene Enkelin, Cynthia?"
Die blonde Frau schnaubte amüsiert. "Sie ist meine Enkelin, und ich kann über sie reden wie ich will. Euch hingegen würde ich windelweich schlagen, wenn ihr so etwas über meinen kleinen schwarzhaarigen Engel sagen würdet."
"Schon verstanden", erwiderte Tyges und hob abwehrend die Arme.
"Apropos verstanden. Wie hat sich dein Volk eingewöhnt? Hat es sich denn eingewöhnt?"
"Meine Daina? Tyges machte eine sehr nachdenkliche Geste. "Dafür, das wir unseren alten Lebensraum aufgeben mussten, dass wir uns in eine bereits bestehende Einheit integrieren mussten, dass wir aufgeteilt wurden, geradezu zershreddert, hier auf Fushida City, die Appartements in den Wänden und die kleinen Ortschaften zwischen den Feldern, haben wir es eigentlich ziemlich gut verdaut. Das, und den Kulturschock. Ursprünglich, im Hangar der ADAMAS, waren wir eine kleine Agrar-Gesellschaft, die ohne Technologie auskam und auf dem regelmäßigen Kontakt untereinander beruhte. Heute aber hören die Leute Joan Reilley auf tragbaren Playern, fahren mit dem Schnellzug in die Wand zur Arbeit und chatten den ganzen Tag über das interne Kommunikationsnetzwerk der AURORA. Ich hoffe doch sehr, das die Verbundenheit, dass die Gemeinschaft, die wir damals hatten, hier nicht ersetzt wird. Integration ist schön und gut, aber meine Leute haben eine eigene Identität, die sie nicht vergessen dürfen. Das unterscheidet sie nicht vom Core oder von den Anelph." Er lächelte aufrichtig. "Davon abgesehen bin ich natürlich sehr froh, dass Sakura-chan uns erlaubt hat, mitzufliegen. Einmal ganz davon abgesehen, das uns die totale Auslöschung durch einen Strafer gedroht hätte, bin ich sehr dankbar, dass ich die Verantwortung für mein Volk nun nicht mehr vollends alleine tragen muss, dass es eine Zukunft hat."
Cynthia nickte verstehend. "Hast du schon weitere Pläne? Hat dein Volk bereits beschlossen, wohin es gehen will, wenn diese Reise zu Ende ist?"
"Wir hoffen darauf, auf dem Mars siedeln zu können, so wie die Anelph und die Kronosier. Der grüne Gürtel ist mittlerweile groß genug, um uns allen dort Platz zu bieten. Aber ich kann schon jetzt sagen, dass es mir schwer fallen wird, die Kultur meiner Art zu bewahren. Einige werden genau wie bei den Anelph auf die Erde gehen wollen weil sie sich auf dem Mars isoliert fühlen. Die Jungen wissen mit Dingen wie Integrität und Identität wenig anzufangen. Ich fürchte, sie werden zu viel ihrer Loyalität der UEMF schenken. Vielleicht wird es uns als Volk auslöschen. Andererseits, wenn wir verschmelzen, haben meine Leute mehr Zukunft als jetzt, wo sie nur ein versprengtes Häuflein einer ehemals großen Nation sind. Ich bin nicht sicher wohin die Zeit die Meinen führen wird. Ich bin nicht sicher, was auf uns zukommen wird. Aber ich bin sehr sicher, dass die UEMF von sehr guten Leuten angeführt wird, denen wir vertrauen können. Und langweilig wird es auch nicht."
Cynthia lachte. "Den letzten Punkt kann ich nur bestätigen. Langweilig auf keinen Fall. Nicht solange Akira an Bord ist."
Die drei Dai tauschten wissende Blicke aus.
"Apropos Michi. Seit wann ist er aus dem Krankenhaus entlassen worden?", fragte Tyges wie beiläufig.
Sphinx legte nachdenklich eine Hand an ihr Kinn. "Seit drei Tagen. Er ist noch auf Schongang gestellt. Ich hoffe Akari respektiert das und versucht nicht in einem Anflug von Panik, nun, ihrer Dai-Natur nachzugeben. Wieso fragst du?"
"Das da ist doch Michi, oder?" Tyges deutete auf einen mittelgroßen jungen Mann in Tarnkleidung, das Gesicht in Tarnfarben angemalt, zusammen mit zwei ähnlich maskierten Gestalten schwatzend über die Straße gehend.
Ungläubig betrachtete Sphinx die Szene. "Also, auf die Erklärung bin ich wirklich gespannt."
***
Wenn man erst einmal anfängt Phrasen zu benutzen, wird man sie schwer wieder los. Meine bevorzugte Phrase war: Seit ich so alt geworden bin. Das mag nach Ironie klingen, war aber immer mein voller Ernst. Seit einiger Zeit war ich nach geltender terranischer Zeitrechnung einundzwanzig, und damit hatte ich in jedem existierenden politischen System der Erde Volljährigkeit erlangt. Letztendlich. Ich, der legendäre Blue Lightning, der Mann, der zweimal auf dem Mars gekämpft hatte, der Beschützer ungezählter Städte, und, und, und, was es halt an Superlativen noch mehr gab.
Seit ich also so alt geworden war, um selbstständig zu sein - ich meine selbstständiger - sah ich viele Dinge etwas anders. Die wichtigste Lektion in meinem Leben war wohl, dass ich überall Freunde gewinnen konnte, wie ich an meiner entfernten Cousine Yuna Omaret Lencis und an meinen Core-Untergebenen Maltran Choaster gesehen hatte. Das war eine sehr erfreuliche Tatsache, wenn man bedachte, dass ich neue Feinde noch viel einfacher gewinnen konnte.
Alles in allem hielt ich das für eine sehr positive Entwicklung bei einem jungen Mann, der mit dreizehn in einen Krieg gestürzt worden war, dem man einen Großteil seines Gedächtnisses geraubt hatte, und der in sein neues Leben mit einer Handvoll guter Freunde gestartet war. Wenn ich an meine alte Truppe dachte, mein Schlägerhaufen Akiras Zorn, hatte ich irgendwie einen Anflug an Nostalgie. Es lag beinahe vier Jahre in der Vergangenheit, in einer Vergangenheit die mich geformt hatte. Dennoch eine unglaublich lange Zeit, die in mir die Frage weckte, wie die Dais ihre langen Leben überhaupt aushielten. Wenn sie in einem ähnlichen Tempo wie das meine stattfanden, mussten sie ja alleine am nervlichen Verschleiß schon nach wenigen Jahren sterben.

Was war aus uns geworden? Ich hatte meinen Job als Anführer der Hekatoncheiren ein für allemal an Megumi verloren und war im Gegenzug Vize-Prätendent der Iovar geworden, oberster militärischer Anführer des Cores und Eigentümer des Daness-Turms, von Mond und Mars einmal ganz zu schweigen. Was für ein interessanter Tausch, aber eigentlich hätte ich doch lieber wieder die Hekatoncheiren zurück. Nicht diese aufgeblähte Version unserer heutigen Tage, sondern die kleine feine Truppe, die nur aus mir, Yohko, Mako-chan und Megumi bestanden hatte. Meinetwegen auch die kleine Truppe in Bataillonsgröße vor dem zweiten Marsfeldzug. Ich vermisste Thomas irgendwie, Colt, Preach und all die anderen. Einige waren gefallen, andere versetzt worden. Von dieser Einheit waren letztendlich nur sehr wenige übrig, wie Olivier Laroche und Ryu Kazama. Makoto war feigerweise in den Stab desertiert und diente dort als General. Ich wusste nicht was ihm dieser Rang bedeutete, aber der Sold war schon was feines.
Yoshi führte ein Regiment der Hekatoncheiren an und war zum festen Freund meiner Schwester geworden. Hoffentlich ließen mir die beiden noch ein, zwei Jahre Zeit zur Gewöhnung, bevor sie mit solchen unglaublichen Sachen zu mir kamen die Verlobung, Heirat und Kinder beinhalteten. Himmel, sie war immer noch meine kleine Schwester, und Yoshi mein bester Freund.
Kenji hatte sein Leben mittlerweile auch sehr gut im Griff. Aus seiner Rolle als Stichwortgeber und Statist befreit, führte er heute eines der besten Bataillone der Hekatoncheiren, und führte mit Emi Sakuraba eine glückliche Beziehung. Bei den beiden würde es bald Nachwuchs geben. Ein Umstand, der mir Schweißperlen auf die Stirn trieb und die Frage in meinem Kopf pochen ließ: Was, zum Henker, hast du die letzten Jahre nicht mitgekriegt?
Das erste Kind, das in meinem Freundeskreis geboren werden würde... Ich war gespannt, aufgeregt, und noch weit entschlossener als je zuvor, diesen Konflikt zu beenden und diesem Kind ein friedvolles Leben zu ermöglichen. Ihm, den zukünftigen Kindern meiner Freunde, meinen eigenen, falls Megumi und ich jemals so weit kommen konnten und durften, sowie für jeden einzelnen jungen Menschen, der auf der Erde geboren war, seit ich mich zu ihrem Beschützer aufgeschwungen hatte. War es vermessen von mir, die halbe Galaxis beschützen zu wollen? War es vermessen, dass man mir zutraute, die halbe Galaxis schützen zu können? Warum ließ ich es nicht etwas netter und ein paar Stufen ruhiger angehen, so wie Doitsu?
Der Erbe eines Yakuza-Clans war nicht nur Regimentschef bei den Hekatoncheiren, er war auch der Oyabun der AURORA geworden. In jeder menschlichen Gesellschaft gab es Subkulturen jeglicher Form, wie ich schon damals festgestellt hatte, als ich in der Gray Zone die Beauftragten der Legaten bekämpft hatte. Seine Aufgabe war schwierig. Er musste die Waage halten zwischen Legalität und den Bedürfnissen, welche die Menschen an eben diese Schattenkultur richteten.
Der letzte ehemalige Schläger - Schläger, ha - war Kei, der kleine, zerbrechlich wirkende Kei, der heutzutage als kometenhaft aufgestiegener UEMF-Admiral in Poseidon residierte und die Begleitflotte kommandierte. Ein weiter Weg vom auf dem Schulhof gefakte Kussbilder von mir und Yoshi verkaufenden Computergenius zum zweitwichtigsten Offizier der AURORA-Hierarchie. Seine Beziehung zu Ami war auf jeden Fall etwas, was ich nicht erwartet hatte. Ehrlich gesagt hatte ich lange Zeit an einen Scherz geglaubt, gerade weil die beiden ein so perfektes Paar waren. Es passte alleine schon von der Größe. Kei war ein recht kleiner Mann, und Ami entsprach in ihrer Körpergröße dem japanischen Durchschnitt. Beide waren schlau, gewitzt und erfindungsreich.
Die Zeiten, in denen Ami Shirai durch ihren blassen Teint und ihre zärtelnde Erscheinung so wirkte, als würde ein Notarztteam mit Defibrilator jederzeit hinter der nächsten Ecke auf ihren Zusammenbruch lauern, waren natürlich lange vorbei. Wie ich heute wusste, war sie einfach immer übermüdet gewesen, durch jene Zeit, in der sie als Slayer die Stadt patrouilliert hatte, um die Menschen vor den Youmas zu schützen, welche Tora wieder und wieder auf sie los gelassen hatte.
Ich fragte mich wie Kei mit einem Mädchen klar kam, das Kampfsport unterrichtete, und ich fragte mich wie Ami mit einem Jungen klar kam, der so unendlich harmlos wirkte, aber die Kampfkraft der ADAMAS unter seiner direkten Kontrolle hatte.
Alles in allem konnte und wollte ich nur hoffen, das ihre Zukunft eine Fortsetzung der Gegenwart sein würde. Aber bitte ohne Krieg und dergleichen. Außerdem hoffte ich wirklich, dass nach den Göttern nicht noch weitere Gegner wie dahin gezaubert auftauchen würden, und wir uns danach den reichlich vorhandenen inneren Sorgen und Problemen zuwenden konnten, wie den Logodoboro und ihre Sezession aus dem Naguad-Imperium.
Oh, es gab viel und reichlich zu tun für uns. Beinahe musste man sich fragen, wie wir genügend Zeit zum schlafen und für die eine oder andere Party hatten, wenn sich die Probleme derart häuften.
Andererseits gab es genügend Probleme, denen ich mich mit Vorliebe widmete, und im Moment war es das Problem mit dem Geisterregiment Blue Lightning, das niemand kannte, nie aufgestellt worden war und dem niemand angehörte.
Ein Regiment mit meinem alten Callsign, das nie gegründet worden war, was für eine interessante Entwicklung.

Ich gebe zu, die anderen und ich waren kein alltägliches Bild, als wir uns in Tarnkleidung und mit bemalten Gesichtern an den Außentischen von Gina Casolis Restaurant nieder ließen. Wir, das waren Yoshi, Joan, Ban Shee, Doitsu, Kei und natürlich ich. Aber zumindest lösten wir keine Panik aus, nur einen Pulk sehr interessierter Leute, die uns teilweise durch die halbe Stadt gefolgt waren.
Ich bezweifelte, das ich erkannt worden war. Andererseits war ich für meinen mitunter skurrilen Humor und meine Fähigkeit bekannt, stets im Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu stecken. Allerdings hielt ich es schon seit einiger Zeit für vermessen, mich selbst zum Mittelpunkt des Universums zu erklären. Demnach folgten sie den merkwürdigen, bekloppten Typen in Tarnfarben und bemalten Gesichtern, die durch die Innenstadt schlenderten, aussahen als würden sie in den Krieg ziehen und sich benahmen als wollten sie shoppen.
"Also wirklich!", klang die vertraute und helle Stimme von Gina Casoli auf. Die junge Frau sah mich ernst an, während ihre kleinen Hände fest in die Hüften gestemmt waren. "Akira Otomo! Wenn du meinen Laden populär machen wolltest, hast du es geschafft. Aber ich befürchte, er ist nun auch berüchtigt."
Ich lachte. "Beides ist gut fürs Geschäft, oder?"
"Zugegeben", murmelte sie. "Karte?"
Ich nickte. Warum nicht? Wir waren nicht die Treiber, wir waren die Baumschüttler. Der Rest würde nicht dadurch entschieden wie schnell meine gemischte Truppe war, sondern wie viel Lärm wir verursachten.
Gina teilte die Karten aus, und nicht nur bei einem meiner Begleiter blinzelte sie erschrocken. "Du auch? Und du? Dich hätte ich bei so einer Verrücktheit nicht erwartet. Dich schon."
Ich grinste schief, und einige meiner Begleiter reagierten ganz nach ihrem Temperament.
Eifrig notierten Gina und eine ihrer Kellnerinnen die Bestellungen meiner Gruppe, während sich die Zahl der Zaungäste weiterhin erhöhte. Flugs waren alle Außen- und Innentische belegt, und das zur eher schwachen Nachmittagszeit.
"Und was darf ich dir bringen, Blue Lightning?", fragte Gina mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme. "Einen Tee, einen übermächtigen Feind, einen Mecha?"
"Ich nehme den Tee, danke. Und dazu hätte ich gerne noch einmal das Blue Lightning Regiment."
Gina stockte. "Das was?"
"Du weißt schon. Ein geheimnisvolles, nicht existierendes Regiment, das meinen alten Kampfnamen trägt und wer weiß was tut. Es scheint eine recht hochkarätige Truppe zu sein, wenn sogar meine liebliche Cousine Sora als Fioran-Assasinin Mitglied ist."
"Wow. Muss ja ein harter Haufen sein", murmelte sie.
"Und genau das versuche ich heraus zu finden." Nachdenklich betrachtete ich die junge Argentinierin. "Sag mal, mein Engel, kann es sein, dass du da auch Mitglied bist? Ich meine, du hast das Wissen und die Erfahrungen von Ai Yamagata und Corinne Vaslot in dir vereinigt, zwei der besten Geheimdienstagenten der Welt. Zudem weiß ich, dass du deinen Morgen mit einem Trainingsprogramm beginnst, bei dem sogar die Hekatoncheiren neidisch werden würden." Ich langte nach ihrem Oberarm. "Ein sehr erfolgreiches Training, wie mir scheint. Dein Bizeps ist ganz schön hart."
"Ach, das. Stimmt, ich habe ihre Erinnerungen. Und deshalb habe ich auch den Drang, mich fit zu halten. Als mich Corinne noch als KI-Agentin übernommen hatte, da hat sie alles getan, um mich fit zu machen und meine Kampfkraft zu vergrößern. Ich habe mich eben dran gewöhnt, Akira. Für dein Blue Lightning Regiment reicht das aber noch nicht."
Ich runzelte die Stirn. Aha. "Du hast allerdings an Operationen teil genommen, oder? Zum Beispiel um Corinnes Körper zu retten. Leider ist das schief gegangen."
Ein leises Klirren neben mir verursachte zwei Dinge: einen peinlichen Augenblick für die Kellnerin und den Heldentod für ein Eisparfait auf den Steingutfliesen. Unter vielerlei Entschuldigungen begann sie die Scherben einzusammeln.
"Du hast die Agentin eingestellt, die mich in der Konstruktwelt des Core töten wollte?", fragte ich gerade heraus.
"Nun", meinte Gina verlegen. "Ich brauchte halt noch wen. Und du hast gesagt, wir sind nun alle Verbündete und so."
"Hm." Ich beugte mich im Sitz etwas vor. "Wenn ich sie mir ein wenig genauer anschaue, dann kommt mir irgendwas an ihren Augen bekannt vor."
Erschrocken erhob sich die junge Frau, die bisher aufgesammelten Splitter in Händen. "Entschuldigt mich, ich hole ein Kehrblech."
"Und wenn ich so drüber nachdenke, dann kommt mir diese Attacke im Paradies irgendwie merkwürdig vor. Dieser Angriff schien es irgendwie zum Ziel gehabt zu haben, beide Arme um mich zu schlingen. Es war weniger ein Angriff als eine Umarmung, wenn ich es recht bedenke. Was meinst du dazu, Corinne?"
Zu Tode erschrocken ließ sie die Scherben wieder fallen. Mit allen Anzeichen offenen Entsetzens wandte sie sich mir zu. "Du hast es gewusst?"
"Nein. Du hast es mir gerade verraten", erwiderte ich ernst.
"Du... Du... Du..." Gefangen zwischen Erleichterung, Abscheu und einem Gefühl, das ich nicht definieren konnte, wandte sie sich schließlich doch ab. "Ich hole was zum aufkehren."
"Es ist schön, dass ich nun endlich zur Persönlichkeit ein Gesicht kenne", rief ich ihr nach.
"Junge, Junge, Akira. Ich dachte wir hätten mal drüber geredet, wie gefährlich du für manche Mädchen bist", brummte Kei verstimmt.
"Hä? Aber ich dachte, er hat Megumi-neechan. Hat er es denn da noch nötig zu flirten?", warf Michi erstaunt ein.
Yoshi legte dem Jüngeren einen Arm vertraulich um die Schulter. "Das Problem hierbei ist, dass Akira das nicht absichtlich macht. Er ist einfach so. Sieh ihn ein wenig wie den Rattenfänger von Hameln. Die possierlichen Tierchen kommen einfach."
"Was für ein überaus schmeichelhafter Vergleich", murmelte Ban Shee Ryon. "Die Geschichte ist mir leider bekannt. Aber die Assoziation zwischen dem Nager und einer Frau an sich ist mir nicht willkommen."
"Können wir bitte zum Thema zurück kommen? Wir konzentrieren uns besser auf den wahren Feind", mahnte ich.
"Die Judäische Volksfront!", rief Yoshi enthusiastisch. Er erntete irritierte Blicke. Mit einem peinlich berührten Lächeln winkte ab. "Schon gut. Nur ein Zitat aus einem meiner europäischen Lieblingsfilme. Ich ziehe den Rattenfängervergleich zurück und ersetze ihn durch einen Magnetvergleich. Besser, Ban Shee?"
"Die Vergleiche sind mir persönlich egal", meldete sich Joan Reilley zu Wort. "Mich interessieren hier nur zwei Dinge. Erstens, wie tief steckt mein Schatz Mako-chan in dieser Regimentsgeschichte drin. Und zweitens, wer zahlt die Rechnung unseres kleinen Vespers?"
"Akira", sagte Kenji Hazegawa wie aus der Pistole geschossen. "Natürlich Akira. Er hat uns schließlich alle mitgeschleift, oder?", fügte Doitsu hinzu.
"Oh, sehr gut. Dann nehme ich nämlich den Jumbo-Becher", erklärte Joan zufrieden.

Ich seufzte tief und lang. Nicht nur das wir in unserer Tarnbemalung einen sehr merkwürdigen Anblick boten, unsere Texte hatten auch noch etwas Comedy-haftes. Es fehlten nur noch fliegende Torten. Das Leben konnte manchmal so unwirklich sein. Soweit so gut, aber ich hatte noch immer nichts konkretes über dieses Regiment erfahren, das meinen alten Kampfnamen trug. Ich konnte nur für sie hoffen, dass sie mir Ehre machten. Wenn nicht, würde ich unerbittlich sein.
Nachdenklich rieb ich meine Stirn. Wenn Makoto darin verwickelt war, dann garantiert auch Opa Aris. Und wenn er mit drin war, dann wusste Sakura garantiert was Sache war. Hm, vielleicht setzte ich hier falsch an; andererseits machte die Suche auf diese Weise mehr Spaß. Auch wenn es für mich teuer werden würde, wie ich erkannte, als Joan auch Ban Shee zum Jumbo-Parfait überredete.
Nachdenklich betrachtete ich meine Hände und ließ für einen Augenblick mein KI aufleuchten. So viel war geschehen, so viel hatte ich bereits erlebt, und so viel würde mir noch bevor stehen. War es das alles wert? Natürlich war es das.
Ich löschte das KI wieder und ergriff die Karte. Ich gebe zu, ich war mäßig irritiert als die Plastikmappe zwischen meinen Fingern zu Staub zerbröselte. Es weckte unliebsame Erinnerungen an meine erste Begegnung mit Torum Acati. "Äh, Leute, fällt euch eigentlich etwas ungewöhnliches auf?", murmelte ich.
"Dein Tischende vaporisiert gerade. Ansonsten ist alles normal", murmelte Yoshi mit einem Blick über seinen Kartenrand.
Die blanke Ironie der Situation brach sich in mir Bahn, ich begann zu lachen. Danach hatte ich mein KI wieder vollständig im Griff. Mist, verdammter, diese destruktive Kraft hatte ich eigentlich nie wieder wecken wollen. Und nun war sie aus dem Nichts, ohne meinen Wunsch entstanden. Aber ich hatte sie im Griff, konnte sie wieder abschalten. Wahrscheinlich lag es am Stress. Und ich konnte wohl froh sein, dass ich mir nicht den Stuhl unter dem Hintern wegpulverisiert hatte.
"Ich nehme eine neue Karte", murmelte ich ein wenig kleinlaut, denn der Tisch und die alte Karte würden garantiert auf meiner Rechnung auftauchen. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich in Ginas Lokal dem Geheimnis des Blue Lightning Regiments ein Stück näher gekommen war.


2.
"Bericht!", schnarrte Rooter Kevoran, Kapitän der RASZHANZ, dem wahrscheinlich letzten Kriegskreuzer der Götter, während das Schiff an die Oberfläche von Lemur strebte.
Vritrives Acouterasal, die Erste Offizierin, neigte zum Zeichen der Ehrerbietung das Haupt. "Wir haben eine Tiefe von dreiundzwanzig Ran erreicht. Das entspricht im System der Daina dieser Welt zweitausendfünfhundert Meter. Wenn wir weiter bei dieser Geschwindigkeit aufsteigen, dann erreichen wir in fünfzehn Minuten die Oberfläche."
"Tarco Parhel, hast du das gehört?"
Der Waffenoffizier der RASZHANZ sah auf. "Mein Kapitän?"
"Ich erwarte Widerstand von den Daina. Der Key hat uns darüber informiert, welche Streitkräfte uns erwarten. Ja, ich erwarte schon jetzt den ersten Kampf, lange bevor wir überhaupt die Oberfläche erreicht haben. Richte dich darauf ein, deine Drohnen zum Kampf zu schicken."
"Sie werden es nicht wagen, einen Kriegskreuzer zu attackieren!", erwiderte der Waffenoffizier fest.
"Das ist deine Vermutung, und auf Vermutungen gebe ich nicht einen Deut!", erwiderte Rooter Kevoran. Er winkte den Key zu sich heran. "Haben die Lemurer eine nennenswerte Marine? Über Wasser, unter Wasser?"
"Die meisten Kämpfe fanden im Luftraum oder im Weltraum statt. Es bestand keine Notwendigkeit, neben diesen Streitkräften auch die Marine der neuen Zeit entsprechend anzupassen, zumal moderne Mechas auch unter Wasser weit bessere Ergebnisse liefern als wir erwartet haben. Allerdings ist es mittlerweile durchaus üblich, entweder Mechas an Bord von Schiffen zu stationieren oder mit ihnen ganze Träger zu bemannen."
"Wie viele dieser Träger gibt es auf der Erde?"
"Die meisten tragen Atmosphäregebundene Flugzeuge und Senkrechtstarter. Es gibt nur eine Handvoll, die bereits für die Aufnahme, Wartung und Versorgung von Mechas umgestellt sind. Dies sind die amerikanischen Träger ENTERPRISE, WASHINGTON und WASP mit einer Kapazität von drei Bataillonen, der chinesische Träger XIANG mit ebenfalls drei Bataillonen Mecha-Kapazität, sowie den europäischen Trägern CHARLES DE GAULLE, HOOD und KIEW mit je zwei Bataillonen Kapazität. In dieser Region ist im Moment nur die XIANG unterwegs. Wobei das, wenn ich es anmerken darf, aber relativ egal ist und nur für langwierige Kämpfe entscheidend sein wird, denn mit dem Fahrstuhl-System Titanen-Station und OLYMP haben wir nur wenige hundert Kilometer vor Japans Küste die volle Kapazität von drei Mecha-Regimentern, die in wenigen Stunden jeden Punkt des Pazifiks erreichen können, von den dort stationierten Schiffen und ihren eigenen Mechas einmal ganz abgesehen."
"Du malst die Zukunft nicht gerade in den schönsten Farben, Key."
"Ich bin nicht dazu erschaffen worden, etwas zu beschönigen, Kapitän", erwiderte Helen Otomo dreist. "Und meine menschliche Komponente wünscht dir nicht gerade Glück, Kapitän."
"Ein merkwürdige Key bist du", murmelte Rooter. "Also, mit wie viel Widerstand rechnest du insgesamt?"
"Hier und jetzt? Mit keinem gravierenden. An der Oberfläche in fünfzehn Minuten? Mit allem was fliegen kann. Es gibt ein Sprichwort auf der Erde: Viele Hunde sind des Bären Tod. Hunde sind kleine, schnelle, im Rudel jagende Säugetiere. Bären sind einzelgängerische, große und kraftvolle Räuber."
"Schon gut, ich verstehe deine Implikation. Dann will ich dir mal etwas über die Taktik des Bären verraten. Zuerst töten wir den Anführer, und dann bedienen wir in der Reihenfolge der Aufträge."
Helen lachte leise. "Was ist, Key?"
"Deine Worte, Kapitän. Sie klingen so wie mein Sohn oder mein Mann sie aussprechen würden. Schade, dass ihr einander nie kennen lernen werdet. Ihr hättet wahrhaftig Freude aneinander."
"Oh, sei versichert, dass ich deinen Sohn und deinen Mann treffen werde. Und wir werden Freude aneinander haben. Tarco Parhel, hast du deine Waffen bereit?"
"Nur einen Teil, Kapitän. Die lange Zeit war nicht gut zu ihnen. Ich habe dreißig Prozent feuerklar. Die Reparaturprozesse sind aber im Gang. Im Moment gibt es allerdings auch keine Gefahren. Lediglich in achtundsechzig Ran Entfernung steht ein Schiffsverband, der Unterseeboote in unsere Richtung geschickt hat. Eine erste Analyse ergab, dass sich ihr Flaggschiff XIANG nennt."
"Was für Unterwasserschiffe?"
"Atomgetriebene und solche mit Batteriebetrieb. Sehr primitiv."
"Wir gehen dennoch kein Risiko ein. Wir vernichten sie, bevor wir uns der XIANG zuwenden. Denn die hat, wie wir wissen, die Kapazität für drei Bataillone Mechas."
Rooter wandte sich wieder Helen zu. "Key, was ist ein Bataillon? Was ist ein Mecha?"
"Ein Bataillon besteht aus dreimal zehn Mechas. Ein Mecha ist eine Art Exoskelett, in dem ein Pilot und eine künstliche Intelligenz stecken. Es gibt verschiedene Mechas, sie sind zudem unterschiedlich bewaffnet. Einige ihrer Piloten können KI-Meister sein." Als sie den verständnislosen Blick des Gottes sah, fügte sie erklärend hinzu: "AO-Meister, Kapitän."
"Dann ist die Plage nicht nur auf diesen verdammten Reyan Maxus beschränkt", knurrte Rooter Kevoran. "Hast du Daten über die Kampfkraft dieser Mechas, Key?"
"Ich bin Diplomat, kein Militär. Ich kann nur sagen, dass die Kampfkraft unserer Mechas für unsere Gegner immer gereicht hat, Kapitän."
"Und damit implizierst du, dass es auch für uns reichen wird, nicht?" Der Kapitän lachte laut auf. "Nun, wir werden sehen. Legehatis Atrino!"
"Kapitän?", rief eine junge Frau erstaunt.
"Wir sind in einer Daimon eingeschlossen. Ich will, dass du den Weg hinaus findest. Und ich will, dass du uns ein Versteck für die Zeit nach der ersten Schlacht suchst, wo wir uns in Ruhe reparieren können."
"Wir zerstören Lemur nicht sofort?", fragte sie zweifelnd.
"Nein, wir zerstören Lemur nicht sofort. Hätte ich das gewollt, hätte ich unseren Tod in Kauf genommen und die ganze Welt aufgebrochen wie das Ei eines Komul", erwiderte der Kapitän scharf. "Du bist unsere Taktikerin, also tue deine Pflicht. Wir werden Lemur vernichten, sobald uns der Durchgang durch die Daimon gelungen ist."
"Ich höre und gehorche, Kapitän", erwiderte sie und widmete sich dem Datenfluss an ihrem Arbeitsplatz.
"Probleme, die Crew im Griff zu halten?", erkundigte sich Helen spöttisch.
"Hm. Sie ist jung. Sie ist fanatisch. Sie hat noch nicht begriffen was der Tod wirklich ist und was er ihr antun wird. Sie denkt immer noch es wäre ehrenvoll, das eigene Leben fort zu werfen. Und das bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit."
Beschämt über die Worte ihres Kapitäns senkte Atrino den Kopf.
"Und du? Was tust du mit deinem Leben?"
Rooter lächelte dünn. "Ich habe es immer als meine Pflicht angesehen, nicht für mein Volk zu sterben, sondern für mein Volk zu töten. Lebend nütze ich den meinen am meisten. Nur wenn ich lebe, bin ich eine Gefahr für meine Feinde."
"Es scheint, nicht jeder teilt deine Meinung, Kapitän", erwiderte Helen.
Kevoran runzelte die Stirn. "Wie du siehst lebe ich noch immer. Das bedeutet, bis heute habe ich meine Meinung durch setzen können."
"Ein sehr gutes Argument, Kapitän. Ihr drei hättet wahrlich Freude aneinander gehabt", murmelte Helen mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. "Oder einander verdient gehabt."

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***
Haru Mizuhara registrierte mit Entsetzen, dass ihre Hände, die sie fest um die Steuersticks geschlossen hatte, zitterten wie Espenlaub. Sie wusste nicht was Espenlaub war, aber sie war sich sicher, dass diese Metapher auf den Zustand ihrer Hände mehr als zutraf. Sie widerstand dem Verlangen, mit der Linken die Rechte zu umschließen und das Zittern damit zu beenden. Sie war noch lange nicht gut genug, um einen Mecha einarmig zu steuern. Ohnehin sollte es nur ein Dutzend Piloten geben, die dieses Kunststück im Gefecht notgedrungen angewendet und es überlebt hatten. Natürlich gehörte Akira Otomo dazu, ihr großes Vorbild. Der Mann, der bereits als Kind für die Erde gekämpft hatte. Der Mann, der alles riskiert, alles verloren und alles gewonnen hatte. Der Mann, von dem selbst ihr Bruder Takashi immer nur mit tiefem Respekt gesprochen hatte, selbst als noch nicht bekannt gewesen war, dass er eigentlich der geheimnisvolle Blue Lightning war. Haru hatte diesen tiefen Respekt damals für sehr erstaunlich gehalten und sich schon damals sehr darüber geärgert, dass sie niemals zusammen mit Akira Otomo auf eine Schule gehen konnte, weil sie ihm vier Jahre hinterher hinkte. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Universität hatten sie die letzten Jahre immer zu Höchstleistungen beflügelt, doch sie war grausam enttäuscht worden, nachdem Blue Lightning mit der AURORA zwischen den Sternen verschwunden war. Ihre Versuche, als Familienmitglied ihrem Bruder auf das Gigantschiff zu folgen, hatten nicht gefruchtet. Und um allein auf den fliegenden Koloss zu wechseln hatte sie weder das Alter noch die richtigen Fähigkeiten. Sie war schlicht und einfach zu jung und unerfahren gewesen, all die Jahre. Und seitdem hatte sie hart daran gearbeitet, ihre Qualifikation deutlich zu verbessern und sich als Pilot im Training bei der UEMF zu bewerben. Mit durchaus spektakulärem Erfolg. Sie war sich sicher gewesen, nach dem Abschluss der Oberstufe eine erfolgreiche Bewerbung auf der Fushida-Universität an Bord der AURORA abgeben zu können, ihrem Idol endlich einmal nahe zu kommen, nachdem ihr Bruder sich jahrelang geweigert hatte, seine eigene kleine Schwester Blue Lightning direkt vorzustellen. Sein Ausspruch, sie müsse es aus eigener Kraft schaffen, war sicherlich ungerecht, aber irgendwie auch verdient gewesen. Also hatte sie es aus eigener Kraft versucht, hatte Akira Otomo nachgeeifert, war ihm in so vielen Dingen wie zum Beispiel dem Kendo-Club oder als Schul-Idol nachgefolgt und saß nun tatsächlich in einem Eagle, um die Menschheit zu verteidigen. Allerdings nicht gegen die Daimon, die sie als überaus verdächtig empfunden hatte, sondern ausgerechnet gegen ihren Hauptfeind, die Götter.
Wie lange hatte das Schiff wohl auf dem Meeresgrund geruht, bevor es aktiviert worden war? Bevor Atlantis hinter einer Daimon verschwunden war? Also vor ein paar zehntausend Jahren? Ein ehrfurchtseinflößender Gedanke, wenn man bedachte, dass eine Gigantstadt wie Tokyo ohne ständige bauliche Maßnahmen nach weniger als eintausend Jahren von der Natur vom Erdboden getilgt sein würde... Nach zwanzigtausend Jahren hätte es kaum noch Ruinen gegeben. Die Technik der Götter musste erstaunlich hoch entwickelt sein, höher als jene der Naguad, höher als jene der Iovar. Es war zwar einerseits spätestens seit dem Schuss eines Strafers auf die amerikanische Ostküste allgemein bekannt, aber da gab es immer noch einen Unterschied zwischen hören und selbst erleben. So wie sie es jetzt tat.
Ihre Hände krampften, das Zittern ließ merklich nach. Sie würde sich diesen Göttern stellen. Sie würde ihre Pflicht gegenüber der Erde und den Menschen erfüllen, die sie an Akiras Stelle beschützte. Sie würde ihr Leben wagen, und wenn es sein musste sterben. Natürlich war sie nicht so gut wie Blue Lightning, das war ihr klar. Kaum jemand reichte an seine gottgleichen Fähigkeiten heran, eine wilde Mischung aus enormem Talent, erstklassigen Lehrern und extrem hoher Lernfähigkeit. Aber sie war für einen Zivilisten hervorragend, im Vergleich mit einem durchschnittlichen UEMF-Mechapiloten weit besser. Und sie lernte verdammt gut, wenn sie etwas praktisch anging. So wie hier und heute. Sie würde Akira Otomo nicht enttäuschen.

Im Moment hielt sich der kleine Vierer-Pulk, bestehend aus zwei Hawks, einem Sparrow und ihrem Eagle sich noch am Rand des Operationsgebiets auf. Die Streitmacht der XIANG war dem Gebiet, in dem das Schiff der Götter die Oberfläche erreichen würde, weit näher, hatte sich aber auch schon wieder etwas zurückgezogen. Ehrlich gesagt verstand sie das ebenso wenig wie Admiral Lus Anweisung an die Unterseeboote des Begleitverbandes, die zuerst zum Angriff geprescht waren und nun ebenfalls einen Sicherheitsabstand einhielten. Warum das zögern? Sie waren doch die ersten Einheiten im Zielgebiet, oder?
"Haru-chan, John ruft uns."
Für einen winzigen Sekundenbruchteil erschrak die schlanke Schülerin der Fushida. Ihr Stellvertreter Philip hatte sich die letzten zehn Minuten auf dem Bordschützenplatz so ruhig verhalten, dass sie ihn beinahe vergessen hätte. "Stell durch."
Einer ihrer Hilfsmonitore erhellte sich und zeigte das bekannt herbe Gesicht mit der markanten Augenklappe über dem rechten Auge. "Hergehört, Kids. Wir bleiben vorerst auf unseren Positionen. Auch die Chinesen rücken vorerst nicht weiter vor. Die UEMF greift bereits in den Kampf ein, und wir haben ebenso wie die Chinesen Anweisung, uns unter zu ordnen. Keine Bange, unsere Zeiten für Heldentaten werden noch kommen. Bis dahin üben wir uns in der zweitwichtigsten soldatischen Tugend: Geduld. Fragen?"
"Dorff hier. John, wie genau will die UEMF eingreifen? Ich sehe hier keinen einzigen zusätzlichen Mecha anfliegen. Und das verdammte Schiff der Götter ist bald an der Wasseroberfläche. Noch können wir es bombardieren wie wir wollen, aber sobald es erst einmal über Wasser ist, ballert es doch zurück."
"Verständlicher Einwand. In diesem Moment kommt die HINDENBURG die Stratosphäre hinab geklettert, um uns zu unterstützen. Ihr gebührt die Ehre des Erstschlags."
"Verstehe", meldete sich Valsonne zu Wort, "deshalb halten wir Abstand, um nicht in den Wirkungskreis des Angriffs zu geraten."
"Das ist korrekt. Eure Künstlichen Intelligenzen bekommen im Moment eine Überrangberechtigung von mir, die beim Angriff der HINDENBURG zu eigenmächtigen Aktionen führen kann. Fürchtet euch nicht, aber eine K.I. kann bei einem Atomschlag in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen, die ihr nicht könnt."
Haru schluckte heftig, hinter ihr keuchte Philip erschrocken auf. "John, hast du gerade Atomschlag gesagt? Die HINDENBURG schießt Atomwaffen ab, hier auf der Erde?"
"Hier über dem Ozean. Das ist schon ein kleiner Unterschied", erwiderte der Hawk-Pilot mit einem wilden Grinsen. "Aber das erkläre ich später. Wichtig für uns ist einerseits nicht in die Randgebiete der Explosion zu geraten und andererseits nicht die Tuchfühlung zum Feind zu verlieren. Davon wird alles abhängen. Unser Schicksal ebenso wie das der ganzen Menschheit. Weitere Fragen?"
"Eine noch", meldete sich Haru zu Wort. "Wenn Geduld die zweitwichtigste Fähigkeit eines Soldaten ist, welches ist die wichtigste?"
Takei kniff die Augenbrauen zusammen. "Zu überleben, um später weiter kämpfen zu können natürlich."
Die Künstliche Intelligenz ihres Eagles gab eine Warnmeldung heraus. Haru blickte auf den taktischen Bildschirm und erkannte ein neues markiertes Objekt, das mit hoher Geschwindigkeit aus den höheren Atmosphäreschichten zu Boden, genauer gesagt, dem Wasser des Pazifiks entgegen raste. Die optische Erfassung lieferte das Bild einer fernen, lodernden Fackel. Die K.I. fügte einige technische Daten ein und identifizierte die Rakete als Torchwood VII, dem gängigen Torpedomodell für den Raumkampf, die in der Lage war, eine Megatonne Sprengkraft ins Ziel zu tragen.
"Da kommt die Bombe", flüsterte Philip ergriffen. "Es sieht aus als wäre Ikarus erneut der Sonne zu nahe gekommen und würde nun wieder zur Erde stürzen."
"Hm. Ich wette, dieser Ikarus wird mit einem größeren Wumms aufkommen als der aus der griechischen Sage", murmelte Haru als Antwort. "Mit dem Ding wird normalerweise versucht, den Energieschirm eines Kreuzers zu knacken. Das Meer hat keinen schützenden Energieschirm."
"Ich hoffe wir sind weit genug entfernt, wenn das Ding da hoch geht", sagte Philip mit einem Schaudern in der Stimme.
Unwillkürlich nickte Haru. Das hatte sie nicht geplant, nachdem sie aus den viel versprechensten Nachwuchspiloten der Welt ihre eigene kleine Einheit geformt hatte. Aber die Realität war eben nicht gnädig mit irgendwelchen Plänen.

3.
Das Paradies konnte ein angenehmer Ort sein, wenn man es zu manipulieren wusste. Maltran Choaster wusste es - und er war mit seinem Wissen nicht geizig gewesen. So war aus dem Nichts ein hell erleuchteter Kommandostand entstanden, in denen er zusammen mit Henry William Taylor und Ai Yamagata die Hetzjagd auf jene uralten Dai leitete, die beinahe Akira Otomo getötet hatten. Ein Umstand, den der Offizier des Cores mehr als nur persönlich nahm. Akira war mehr als sein Vorgesetzter. Er war sein Freund.
"Ich denke, wir haben sie eingekreist", stellte Ai Yamagata mit einem Blick auf die Taktikanzeige zufrieden fest. "Sie können uns nicht mehr entkommen."
"Das ist Unsinn." Henry Taylor runzelte die Stirn. "Wir können hier niemanden einkreisen. Dies ist ein virtueller Raum, der nicht existent ist. Alles was wir sehen, hören und fühlen ist uns lediglich realitätsnahe aufindoktriniert. Wir sind alle nur unsere Kernkörper, die Dateninfusionen vom Paradies, und im Fall der Dai, die wir hetzen, Partitionen auf einer gigantischen Festplatte."
"Da muss ich nun widerum dich korrigieren, Henry", sagte Maltran sachlich. "Sicher, das Paradies ist letztendlich nichts weiter als eine große Illusion. Aber Materie ist allgemein Illusion. So viel unwirklicher ist der Zustand im Paradies nun auch nicht."
"Ein etwas an den Haaren herbei gezogener Vergleich, oder?", erwiderte Henry amüsiert.
"Durchaus nicht. Was ich sagen will ist, dass es hier nicht nur nackte Daten gibt, die erst in deinem Gehirn zu diesem Bild zusammen gesetzt werden. Es gibt tatsächlich ein Paradies. Nenne es eine Seitentasche der Realität, angefüllt mit Fiktivem. Aber auf eine andere Art könnten AO und vergeistigte Dai hier überhaupt nicht existieren. Vergiss nicht, viele Bewohner des Cores haben sich schon vor langer Zeit ihrer Körper entledigt, um die Ressourcen des Systems zu schonen. Und viele Uralt-Daina und Daima sind überhaupt gar nicht erst mit Körper ins Paradies eingegangen."
"Du willst also sagen, das Paradies ist real?" Henry zwinkerte entgeistert.
"Sagen wir es ist so real wie wir wollen, dass es real ist. Immateriell, halbmateriell, materiell, das ist eine reine Glaubensfrage, die zu Realität wird. Alleine unsere Anwesenheit, also vielmehr meine Anwesenheit im Paradies erfordert bereits eine Teilmaterialisation. Ich existiere nicht in einem Tank und absorbiere reine Daten. Ich interagiere mit dem Paradies."
"Aha. Das ist interessant. Und wann hattest du vor, mich mit diesem Wissen zu erschlagen, Maltran?", sagte Henry lakonisch.
"Du hast nicht gefragt."
"Das ist aber mindestens zwanzig Aurora-Mark für die Phrasenkasse wert", brummte der ehemalige Legat. "Also, wie gehen wir vor? Was tun wir, wenn es hier tatsächlich Raumzeit gibt? Können wir unsere Ziele überhaupt in die Ecke treiben? Gibt es hier Ecken oder paradieren wir an den realen Ecken einfach vorbei?"
"Sicherlich nicht. Da jeder Bewohner des Paradies vollen Einfluss auf seine Umgebung hat, ist das Paradies urdemokratisch. Es kann nur so sein wie die Mehrheit es haben will. Und in kleinen Nischen treffen sich kleine Interessentengruppen. Das bedeutet, die Dai können sich nicht verbergen, wenn die Suchenden es nicht wollen."
"Gibt es da nicht noch ein paar Abstufungen wie stärkerer Wille oder größere Erfahrung oder beides?", merkte Ai an.
Spöttisch sah Maltran zu der Japanerin herüber. "SOLL es denn diese Abstufungen geben, Yamagata?"
"Ich verstehe. Wie gehen wir von hier an vor?"
"Wir machen weiter wie bisher. Wir kreisen sie ein, nehmen sie gefangen, und dann quetschen wir aus ihnen das Wissen raus, das ihr beide mit eurer Expedition erlangen wolltet. Nachdem sie für den Angriff auf Akira gebüßt haben." Maltran bemerkte die leicht erstaunten Blicke der beiden Menschen. "Ach kommt schon. Wir sind doch alle Gefolgsmänner Akiras aus Überzeugung."
"Gefolgsfrau", beschwerte sich die Japanerin.
"Meinetwegen Gefolgsfrau. Und das macht die Sache auf unserer Seite so einfach." Er grinste breit. "Also, schnappen wir uns die Beute."
Die beiden bestätigten mit einem Nicken. Die Jagd war in ihrer Schlussphase. Niemand entkam allen Soldaten des Cores gleichzeitig. Niemand. Auch kein uralter Dai.
***
"Sie kommen, Herr!", rief Tomar aufgeregt.
Latiss beobachtete verwundert, das der Jüngere nicht nur schwitzte, sondern auch schwer atmete, so als wäre er in der Realität mit einem handelsüblichen biologischen Körper eine weite Strecke gelaufen. Er lächelte dünn und lehnte sich in seiner Liege zurück. "Beruhige dich, Junge. Ob sie kommen oder nicht macht keinen Unterschied mehr. Sie werden bald genügend andere Sorgen haben, und hier im Paradies kann uns eh nichts passieren."
"Aber was ist wenn sie uns verbannen? Was ist wenn sie uns nach draußen schicken?", hauchte der Dai mit Entsetzen in der Stimme.
"MICH verbannen. Du hast nichts getan. Und wenn doch, dann nur auf meine Anweisung."
"Ich kann dich doch nicht allein lassen, Herr!", rief Tomar entrüstet. "Ich kann doch nicht..."
"Du kannst nicht was? Reichen schon zehntausend kurzweilige Jahre, dass du dich schon so sehr an mich gewöhnt hast?", fragte Latiss mit spöttischer Stimme. "Was mich angeht, so habe ich keine Angst vor der Verbannung. Das schlimmste was sie mir antun können ist mich auf einen der Planeten zu schicken, die wir passieren. Oder in Fushida City auf der AURORA zu belassen. Ansonsten kann mir nichts passieren." Der alte Dai lächelte unergründlich. "Sie haben keine Gesetze gegen AO-Verbrechen, weißt du?"
"Vielleicht haben die Terraner keine Gesetze gegen AO-Verbrechen. Aber der Core hat sie schon!", erklang eine feste, befehlsgewohnte Stimme hinter Latiss auf.
Der alte Mann wandte sich halb im Liegestuhl um und griff nach einem Glas mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. "Was willst du hier, Maltran Choaster? Wenn du mir die Sonne nehmen willst, stehst du falsch."
Irritiert ging Choasters Blick über die Szenerie, über den Sonnenschirm, den Meeresstrand und und die Liege, die von dem älteren Mann besetzt war. "Was, bitte, ist das hier?"
"Eine Szenerie aus der Realität. Kommt sie dir nicht bekannt vor? So sieht eine Partie des Serenity-Meeres in der AURORA aus. Ich fand die Ecke sehr gemütlich, schon seit ich die Daten zur AURORA das erste Mal gesichtet habe. Ich denke, ich werde der Realität beizeiten einen Besuch abstatten und schauen, ob ein AO-Körper unter dieser Kunstsonne braun werden kann." Der Alte streckte sich, während Tomar eine Verbeugung andeutete. "Vierstern Choaster, ich grüße dich."
"Dich habe ich hier nicht erwartet, Tomar", tadelte Maltran Choaster ernst. "Warum hilfst du ihm?"
"Warum bist du in der Armee? Warum hast du dich Aris Arogad unterstellt?", giftete der andere. "Manche Aufgaben wählt man aus. Manche Aufgaben wählen einen aus. Der Dienst für Meister Latiss ist meine Aufgabe."
"Interessant, das du Aufgaben erwähnst. Meine ist es nämlich den Dai zu finden und zu bestrafen, der Akira Otomo beinahe umgebracht hat. Und es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, das auch zu tun."
"Du wirst nicht...", begann Tomar und stellte sich zwischen Choaster und den Liegestuhl.
"Ich und fünf Millionen Freunde", erwiderte der Offizier streng. Übergangslos füllte sich die Szenerie mit aktiven Soldaten des Cores. Ein unüberschaubares Heer, das sich vom virtuellen Horizont bis zu ihnen zu erstrecken schien.
Latiss hob eine Hand. Er deutete auf einen Mann in der vordersten Reihe. "Du bist der, den ich in die Pararealität geschickt habe. Sean O´Donnely. Hast du erfahren, was du erfahren solltest?"
Henry schürzte verächtlich die Lippen, als er an die Liege trat. "Es war zumindest keine vollkommene Zeitverschwendung. Denn wenn die Pararealität auch nicht sehr exakt war, so habe ich mich zumindest gut in ihr amüsiert."
"Oh. Du hast bemerkt, dass ich bei der Konstruktion etwas... Großzügig war? Bedanke dich bei deinen Feinden und ihrer Agentin, die mich vor euch besucht und darum gebeten hat. Sie wollte, dass es lange dauert und dass es interessant bleibt. Also habe ich Tatsachen, verklärte Erinnerungen und meine gewaltige Phantasie angestrengt um dich ein wenig bei Laune zu halten. Wenn du dich amüsiert hast, haben wir beide unsere Zeit nicht verschwendet."
"Kerl, ich werde dich...", begann Henry wütend und griff nach dem Kragen des Liegenden.
"Du wirst mich was? Gibt es da nicht noch ein paar Fragen, die es zu beantworten gilt, bevor du mich schlägst, tötest oder verstümmelst? Du solltest nett zu mir sein, solange du etwas von mir willst."
"Ich brauche nicht nett sein!", zischte Henry. "Ich kann dir auch alles raus prügeln, was ich wissen will! Maltran, wir können diesen Bereich doch so real machen, dass dieser Bastard hier Schmerzen verspürt, oder?" Tomar legte eine Hand auf Henrys Unterarm. Seine Augen glommen von konzentriertem KI auf. "Das ist keine gute Idee, Legat."
Ai Yamagata stand übergangslos neben Tomar und hielt ihm eine Hand an die Kehle. Bemerkenswert daran war, dass ihre Handkante von ihrem KI grellweiß leuchtete. Ein Streich damit würde Tomar definitiv weh tun. "Und ich finde, es ist keine gute Idee, dass du meinen Freund bedrohst, Idiot."
Tomar sah sie spöttisch an. "Ich bedrohe ihn nicht. Ich rette ihn. Und damit das klappen soll, müsste er Meister Latiss die nächsten fünf bis acht Sekunden los lassen."
"Tue was er sagt, Henry", mahnte Maltran.
Taylor wechselte einen missmutigen Blick mit Maltran, dann öffnete er die Rechte und ließ den Hemdkragen wieder los. "Aus Respekt vor dir, Maltran. Nur aus Respekt zu dir."
Bedächtig strich der alte Dai den Hemdkragen glatt und griff wieder nach seinem Getränk. "Nun gut, kommen wir zum Thema des Tages zurück. Ihr habt mich. Und ihr seid böse, weil ich Aris Arogad zu töten versucht habe. Und?"
"Was, und? Kerl, ich werde dich...!", brauste Henry erneut auf.
"Er dürfte mittlerweile ein Reyan Maxus sein, oder? Ist er bereits eine Bedrohung für das Schiff?" Die Worte von Latiss schnitten wie eisiger Arktiswind in die Bewusstseine der Anwesenden.
"Er ist ein Reyan Maxus, so hat Sphinx ihn genannt", sagte Ai ernst, während sie sich selbst zwang, ihre glühende Hand von Tomars Kehle zu nehmen. "Aber er ist keine Gefahr für die AURORA."
"Noch nicht", orakelte der Alte mit düsterem Blick. "Aber ihr werdet es merken, wenn es soweit ist. Er wäre besser ein Reyan Oren geblieben oder zum Dai aufgestiegen. Das wäre für uns alle besser gewesen. Viel besser."
"Was redest du da, Alter? Bist du schon so alt, dass du nur noch Unsinn brabbelst? Defragmentierst du? Ist das die Demenz bei euch Körperlosen?", höhnte Henry. "Wir reden hier von Akira Otomo! DEM Akira Otomo!"
"Und er ist ein Reyan Maxus geworden. Das in einer Zeit, in der ihn niemand mehr bändigen kann." Nachdenklich starrte Latiss in sein leeres Glas, bevor er sich dazu entschied, es wieder abzustellen. "Wisst ihr, ich habe im Krieg mit den Göttern an der Seite eines Reyan Maxus gekämpft. Es ist eine erschreckende Erfahrung. Vor allem wenn sie die Kontrolle über sich verlieren, was sehr oft vor kommt. Sie..." Fahrig fuhr er mit den Händen durch die Luft, suchte nach Worten. "Sie sind so gewaltig, und dazu auch so kurzlebig. Sie... Wie soll ich beschreiben was ich selbst nicht verstehe?"
"Alter", sagte Henry mit zitternder Stimme, "was willst du uns hier für einen Mist verkaufen? Akira ist vielleicht jetzt ein Maxus, aber er würde nie wissentlich etwas tun, was uns schaden könnte."
"Das hätten die Reyan Maxus in meiner Zeit auch nie getan. Aber sie konnten nicht anders. Sie konnten nie anders. Zuerst haben sie die Götter ausgelöscht, und danach einander... Dann kamen die Götter wieder, und es gab keinen Reyan Maxus mehr, und niemand der bereit oder in der Lage gewesen wäre, einer zu werden. Das war unser Ende. Und für uns Wenigen, die aus der Blüte des Dai-Reichs stammen war es der Anfang der Hölle. Bis wir Zuflucht hier im Paradies der Daina und Daima gefunden haben. Wir... Es hat wirklich noch nicht begonnen?"
"Wovon redest du immer? Ich habe dir schon mal gesagt, Akira würde uns nie wissentlich schaden!", blaffte Henry.
"Es ist nicht so als würde er eine Wahl haben", erwiderte Latiss. "Er wäre besser ein Dai geworden. Wäre er hier im Paradies gestorben, wäre er aufgestiegen. Aber nein, ihr musstet ihn ja retten."
"Er wäre ohne seinen Körper zum Dai geworden?", fragte Ai Yamagata überrascht.
"Ihr Daina wisst nicht sehr viel über eure eigene Vergangenheit, oder? Wie ich sehe, waren die Dai gut darin, ihre Geheimnisse zu behüten. Geheimnisse, die früher einmal Allgemeinwissen waren. Aber es war ja zu eurer eigenen Sicherheit." Der alte Mann seufzte. "Dann will ich dir mal eine wichtige Lektion über Dai geben, junge Dame. Ein Dai ist ein Mensch."
"So weit sind wir auch schon", erwiderte Henry harsch, um seine Überraschung zu verbergen.
"Ein Mensch mit einer sehr hohen AO-Affinität, die ihn befähigt, zeitweise ohne seinen Körper zu existieren."
Maltran räusperte sich. "Akira wurde einst als pures AO zu uns gebracht", merkte er an.
Latiss nickte. "Und wenn diese Affinität mit seinem körperlichen Tod zusammenfällt hat er die Chance sich selbst komplett aus AO neu zu generieren. Das ist eigentlich alles was einen Dai ausmacht. Oder einen Daimon, wie ihr sie manchmal nennt. Ein Mann wie Aris Arogad wäre mit Leichtigkeit ein Dai geworden."
"Was er sicher nicht gewollt hätte", warf Ai ärgerlich ein.
"Seine Entwicklung zum Reyan Maxus war bereits zu weit. Ich habe ihn schon gespürt als er das erste Mal ins Paradies gekommen war. Ich wusste, dass ihm bis zu seiner Entscheidung nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Zu groß ist seine Macht bereits. Sein Tod wäre die einzige Chance gewesen, ihn zu retten." Latiss sah die Menschen ernst an. "Euch, uns alle zu retten."
"Du sprichst in Rätseln. Warum wird der Reyan Maxus dann von den Dai so verklärt? Die müssten doch eine Scheiß Angst vor ihm haben, wenn er wirklich so furchtbar sein würde, oder?"
"Nun, Sean, da hast du wohl Recht. Einige Reyan Maxus waren schwach genug, sodass sie von Pressoren im Zaum gehalten werden konnten. Sind Pressoren an Bord?" Als er die unwissenden Mienen sah, lächelte Latiss. "Besonders mächtige Dämonenkönige? Und ich meine richtig mächtig?"
"Sphinx und Okame", sagte Ai tonlos.
"Zusammen mit dem Kapitän der ADAMAS sollen sie sicher die Pressoren bilden. Aber sie werden es nicht schaffen. Sein Potential ist bereits zu groß. Er wird uns alle umbringen."
"Was genau macht einen Maxus denn so gefährlich, dass sogar du dich einpisst, Alter?", brummte Henry ärgerlich.
Der Alte lächelte dünn, überlegen und gehässig. "Oh, er frisst, Sean. Er frisst so viel er kann. Ob er will oder nicht. Er kann nicht anders. Das ist seine Natur. Darüber hat er keine Kontrolle. Und je mächtiger er wird, desto größer ist sein Appetit. Er hat schon gefressen bevor er ein Maxus oder gar ein Oren wurde, und nun wird sein Appetit ungeahnte Höhen erreichen. Verabschiedet euch schon mal von dem Ort, an dem er sich gerade aufhält." Ein Datenfenster entstand aus dem Nichts vor dem alten Dai. "Ah, Fushida City. Schade, das wir ihn nicht beobachten können, weil eure dummen Gesetze eine lückenlose Überwachung der Stadt verbieten. Ich bin sicher, er ist schon längst dabei, dem Titel eines Maxus Ehre zu machen, indem er alles in Schutt und Asche legt." Latiss ließ das Hologamm erlöschen und sah Henry wütend an. "Das war eine Warnung, du Idiot! Rettet was zu retten ist!"
Henry zuckte zusammen. Dann nickte er. "Schaden kann es nicht. Maltran, ich verlasse mich auf dich, dass du diesen alten Sack und seinen Diener gut verwahrst."
"Versprochen, Henry. Hoffentlich hat Latiss unrecht."
"Das hoffen wir alle", erwiderte Henry wütend und griff nach Ais Hand. Gemeinsam verschwanden sie.
"Und so beginnt es", murmelte Latiss zufrieden. "Vielleicht schaffen sie es sogar."
***
Rooter Kevoran zuckte zusammen, als die Hülle der RASZHANZ zu schwingen begann. Vibrationen rannten durch das Schiff, und eine besonders heftige Schwankung holte Vritrives Acouterasal, seine Erste Offizierin, von den Beinen. "Bericht!", ächzte er.
Helen Otomo trat an ein Pult heran und manipulierte die Ansicht. "Ein Atomschlag. Eine Nuklearrakete wurde aus dem Weltraum abgefeuert und direkt über dem Wasser gezündet. Die Energie entspricht fünfundachtzigtausendsechshundert Kerk. In terranischen Verhältnissen ungefähr einer Megatonne Vergleichs-TNT."
"Berichte über Schäden?"
Vritrives wuchtete sich wieder auf ihre Station. "Keine Schäden. Noch nicht. Aber wir haben Fahrt verloren, und die Wassersäule unter dem Schiff droht uns wieder hinab zu saugen."
"Nicht schlecht, Terraner. Nur einfach noch zu früh, um uns gefährlich zu werden. Achtet auf weitere Raketen und vernichtet sie, sobald sie bekämpft werden können." Er sah den Key mit gerunzelter Stirn an. "Deine Leute haben Ideen. Das muss man ihnen lassen. Und anscheinend wissen sie, dass wir noch nicht sterben wollen."
"Der Gruß ist bestimmt von meinem Mann. Er ist bekannt dafür, etwas rücksichtslos zu sein. Er hat unseren Sohn im Kindesalter in den Krieg geschickt, danach unsere Tochter und weitere Minderjährige. Für ihn ist der atomare Beschuss eines Meeres im Gegensatz zu den Risiken, die er seiner Familie bereitet hat, nur ein Appetithappen."
"Ich sehe das nicht als Risiko. Wasser neigt nicht dazu, Radioaktivität aufzunehmen. Außerdem hat er die Oberflächenschiffe, die Mechas und die Unterseeboote außer Reichweite gehalten, um sie nicht zu gefährden. Taktisch klug, vorsichtig, mit maximaler Effizienz. Allerdings hat er dich gefährdet. Das ist doch etwas ungewöhnlich."
"Oh, er rechnet sicher damit, dass weder die RASZHANZ so schnell vernichtet wird, noch das ich ewig der Key bleibe. Im Gegenteil. Jetzt wo meine Aufgabe erfüllt ist, zehrt sich das Potential des Keys auf. Irgendwann werde ich von ihm frei sein und das Schiff verlassen."
"Unsinn. Der Key zehrt sich nicht auf. Dazu müsstest du sterben, und es dürfte kein Wirt zugegen sein", wiegelte Kevoran ab.
"Habe ich nicht erwähnt, das ich einmal beinahe gestorben bin? Der Key wurde in dieser Zeit entscheidend geschwächt."
Der Kapitän der der RASZHANZ schloss die Rechte um die Kehle der Naguad. "Wenn das so ist, sollte ich dich gleich töten, oder?"
"Wozu mich töten, solange ich noch deine allwissende Datenbank sein kann? Jede Sekunde, die ich bei dir verbringe, ist für dich unendlich wertvoll. Also lass bitte diesen Quatsch." Mit einer nebensächlichen Bewegung strich sie die Hand von ihrem Hals. "Außerdem war es das noch nicht. Eikichi macht selten nur halbe Sachen. Wir sollten auf einen zweiten Angriff achten. Vielleicht auch atomar."
"Ein zweiter Angriff?"
"Der erste war nur eine Ablenkung. Ich kenne meinen Mann lang genug um das zu wissen. Er pflegte immer zu mir zu sagen: Wenn alle auf den großen Bumms achten, was meinst du, kannst du hinter ihrem Rücken machen?"
Kevoran nickte schwer. "Vritrides! Achte auf Feindschiffe in Feuerreichweite! Achte auf Fremdkörper im Wasser!"
"Unbekannter Kontakt, dreiundsiebzig Ran entfernt! Nähert sich schnell aus Süden! Kontakt feuert acht Torpedos! Torpedos nähern sich schnell!" Die Erste Offizierin sah von ihrem Arbeitspult auf. "Sie werden uns in einer Tiefe von siebzehn Ran unterqueren, Kapitän."
Kevoran erbleichte. "Dieser Eikichi... Es wäre vielleicht wirklich interessant, ihn einmal kennen zu lernen! Auf Einschlag vorbereiten! Die unteren Decks räumen und versiegeln! Auftrieb erhöhen! Volle Last auf die Antigrav-Einrichtungen! Auch die Strahltriebwerke zuschalten! Wir müssen Höhe gewinnen!"
Die Zentrale brach in Hektik aus, um die Anweisungen des Kapitäns zu erfüllen.
"Ein kluger Bursche, dein Mann. Diese Torpedos sind auch nuklear, oder? Er zündet sie unter meinem Schiff, es verliert den Auftrieb und zerbricht. Auf jeden Fall wird es schwer beschädigt. Tarco Parhel, fange diese Torpedos ab, wenn dir dein Leben lieb ist!"
"Ja, Kapitän!"
***
An der Oberfläche zogen die chinesischen Einheiten wieder näher an den Auftauchpunkt heran, während die HINDENBURG ihren Abstieg in respektvoller Distanz beendete. Der Kreuzer drehte den Schiffsrumpf so, dass die Torpedowerfer und die Hauptbewaffnung auf jenen Punkt zeigten, an dem das Götterschiff auftauchen würde.
Alle hofften sie, dass dieses Gigantschiff eben nicht mehr auftauchte, nachdem es von oben atomar bombardiert und von unten torpediert wurde, aber man konnte Hoffnung niemals zu Tatsachen erklären. Deshalb machten sich nun auch die XIANG und ihre Raketenbegleitkreuzer bereit, um das Feuer auf den Feind eröffnen zu können. Notfalls würde die HINDENBURG weitere Torchwood einsetzen, das war allen Beteiligten klar. Ziel der Mission war endgültig und einmalig, entweder das Schlachtschiff zu vernichten oder zumindest daran zu hindern die Daimon zu verlassen. Die Götter oder vielmehr ihre robotischen Surrogate hätten die Vernichtung der Erde längst betreiben können. Sie hatten es nicht getan, und deshalb standen die Chancen wirklich nicht schlecht, dass sie das Überleben dieses Schiffs weiterhin über die Vernichtung der Erde priorisierten. Der Trick bei der Geschichte war sie glauben zu machen, sie hätten eine Wahl und ein Druckmittel.

"Was geschieht jetzt, John?", klang Luc Valsonnes nervöse Stimme auf. Der kanadische Kadett hielt sich gut, fand Takei. Für sein erstes reales Gefecht war er gefasst, aufmerksam und sachlich. Er fiel weder in das Extrem der übergroßen Ängstlichkeit, noch in das andere Extrem übergroßer Kampfbereitschaft. Beides konnte zum schnellen Tod eines Piloten führen. In einer anderen Zeit wie dem Zweiten Marsfeldzug hätte Valsonne gutes Material für die Hekatoncheiren abgegeben. Der Veteran des Marsfeldzugs lächelte dünn. Man würde sehen, wie er sich hier schlagen würde.
"Zwei Atomunterseeboote der Chinesen haben acht Torpedos abgeschossen. Sie werden unter den Kreuzer gelenkt und dort zur Detonation gebracht."
"Unter dem Kreuzer? Wäre es nicht besser, ihn direkt zu torpedieren?", zweifelte Philip King.
"Das hat was mit Wasser zu tun. Mit Wasserdruck, Wassersäule und dergleichen. Wisst ihr, warum eine Seemine ein Schiff vernichten kann?"
"Weil sie das Schiff schwer beschädigt?", riet Haru Mizuhara.
"Nicht ganz richtig und nicht ganz falsch. Schiffe haben eine bestimmte Form, die es ihnen erlaubt, vom Auftrieb des Wassers zu profitieren. Diese Form ist für das Medium H2O hervorragend konzipiert. Fällt dieses Medium aber weg, bricht die Wassersäule fest, auf der es ruht, kann es versenkt werden. Unabhängig von den Schäden durch die Explosion der Mine."
"Was John meint ist, dass dieses Ding auf seiner eigenen Wassersäule in die Höhe geritten kommt. Mit der Atombombe haben wir die Säule gestaucht. Wenn jetzt inmitten dieser Säule acht Torpedos explodieren, wird der Auftrieb unterbrochen. Unter dem Schiff tut sich ein Loch im Wasser auf. Ein klassisches Kriegsschiff würde in diese Situation schlicht und einfach zerbrechen. Unser Kumpel hingegen macht die Bekanntschaft mit der Kraft und der Wucht von ein paar Millionen Tonnen Wasser. Wenn es hier auftaucht, falls es überhaupt auftaucht, dann wird es schwer beschädigt sein. Und dann liegt es an uns", sagte Sven Dorff mit entschlossener Stimme.
John runzelte die Stirn. Kluge und entschlossene Worte ausgerechnet von dem jungen deutschen Piloten. Der Futabe-Clan musste irgendwie ein Mecha-Gen in seinem Erbgut haben, denn Dorff hatte ein geradezu beängstigend gutes Verständnis für seinen Mecha, das mit jedem Tag besser wurde. "Genauso ist es. Wasser ist ein sehr unfreundliches Medium mit großer Masse. Gerade wenn wir in den Größenordnungen des Pazifiks rechnen, oder auch nur in der Wassersäule, die das Schiff der Götter produziert."
"Gut erkannt. Hoffen wir also das Beste - nämlich schwere Schäden am Feindschiff." Für einen Moment erlaubte sich John ein dünnes Grinsen. Welchen Göttern musste er eigentlich für die Arroganz, oder besser Ignoranz dieses Kapitäns danken? Mit voller Wucht nach oben war eine Taktik, die Gegner doch anlocken musste wie eine helle Straßenlaterne die nachtaktiven Insekten. Schlimmer hätte er es nur machen können, wenn über dem Meer eine Funkboje geschwommen hätte, die permanent den Auftauchpunkt des Götterschiffs bekannt gegeben hätte.
Andererseits bestand immer noch die Möglichkeit, dass dieses Schiff etwas konnte, was sie bei den Strafern und Scouts der Götter noch nicht kennen gelernt hatten. Überraschungen waren der Feind jeglicher Planung, waren der Feind eines leichten Sieges. Und John war nicht bereit auf den Sieg über gerade diesen Gegner zu verzichten. Zuviel hing davon ab. Viel zuviel.
Die Ortungsdaten der Torpedos vereinigten sich zu einem einzigen großen Punkt, dann verschwanden sie unter dem Ortungsrelief des gegnerischen Kreuzers. John wagte es nicht, ihn als Strafer zu bezeichnen. Noch nicht. Er roch einfach nicht nach einem Strafer.
Dann wurde die Detonation angezeigt, und der pazifische Ozean verwandelte sich in ein brodelndes und schäumendes Ungetüm.

"Banditen in der Luft!", blaffte Sven und riss seinen Sparrow zur Seite und dichter übers Wasser.
John reagierte instinktiv, und auch der zweite Hawk und der Eagle spritzten von ihren alten Positionen fort. Eine gute Entscheidung, denn Energiebahnen standen nun dort, wo sie vor Sekundenbruchteilen noch gewesen waren.
"Was zur Hölle sind das für Dinger?", rief Dorff aufgebracht, riss die Artemis-Lanze seines Sparrows hoch und feuerte seinerseits eine Aufladung auf den fernen Gegner.
John warf einen flüchtigen Blick auf die ersten Ortungsbilder und Kamera-Aufnahmen des Gegners. Die Maschinen waren aus dem Wasser hervor gebrochen, kaum das die Torpedos unter dem Götterschiff detoniert waren. Sie ähnelten den klassischen Banges, waren grob humanoid, aber um einiges bulliger. Und wenn die Messdaten stimmten, auch um einiges größer. Die Dinger maßen im Schnitt fünfunddreißig Meter allein in der Höhe, was diese Dinger mehr zu Kanonenbooten denn Mechas machte. Zu verdammt gut ausgerüsteten Kanonenbooten, wie John erkannte, als nach dem ersten Feuerschlag dieser Maschinen dreiundzwanzig Signale für chinesische Hawks erloschen. Das war das Ergebnis von acht dieser Teufelsmaschinen, und niemand garantierte, dass nicht noch mehr kamen.
"Rückzug!", blaffte John, warf seinen Hawk aber zugleich nach vorne, näher an den Feind heran. Er ergriff beide Hercules-Schwerter und stürzte näher an den Feind heran. Er wurde nicht beschossen. Warum nicht? Gingen sie davon aus, der erste Feuerschlag hätte ihn und seine Gruppe vernichtet? Wie arrogant. Wie typisch für die Götter. Als ihn dann doch ein Streifschuss am rechten Bein traf, war er beinahe erleichtert. Zumindest bis zu dem Moment, an dem Mizuharas Eagle eine volle Salve aus Laserbeschuss und Glattrohrkanone an ihm vorbei auf den Gegner feuerte. John checkte sein Radarbild und biss sich auf die Unterlippe. "Ich habe Rückzug gesagt", knurrte er, und wusste doch, dass er die jungen Leute nicht würde davon abbringen können, ihn in diese Schlacht zu begleiten. Also feuerte er seinerseits auf die gegnerischen Mechas, sowohl mit eine Salve Raketen als auch mit einer Schwertaufladung. "Aber wenn ihr schon mal hier seid..."
Drei weitere chinesische Signale erloschen. Das war zumindest zu den ersten dreiundzwanzig Verlusten eine echte Verbesserung, aber immer noch unannehmbar, denn von acht Gegnern existierten noch immer acht Gegner.
"Haru, such dir eine nette Ecke für Fernbeschuss. Sven, flieg einen Bogen, um zu den Chinesen zu kommen. Aus ihrem Deckschatten hast du die beste Chance für einen überraschenden Vorstoß. Luc, bleibe an meiner Flanke kleben. Wir tun das wofür die Hawks seit Akira Otomos Zeiten konzipiert wurden - wir erledigen diese Biester im Nahkampf!"
Die Bestätigungen seiner Piloten waren sachlich, ruhig, gefasst. Beinahe erlaubte er sich die Illusion, dass er die Kids tatsächlich so gut er vermocht hatte, auf diesen Moment vorbereitet zu haben. Aber zwei Dinge drängten sich in seinen Verstand: Würde er diesen Tag überleben? Würden seine Kids den Tag überleben?
"Achtet auch auf das Feindschiff. Sobald es der Oberfläche nahe genug ist, wird es mit Flakfeuer unterstützen", mahnte er seine Kids. Das war genau drei Sekunden bevor der Kreuzer tatsächlich zu feuern begann, obwohl sich noch dreihundert Meter Wasser zwischen ihm und der Oberfläche befanden. Die Meterdicken Partikelstrahlen wüteten furchtbar unter den dicht gestaffelten chinesischen Pulks, und die Signale von zwei Bataillonsführern erloschen. Im Gegenzug war noch nicht ein einziger Feind gefallen.

Als John den ersten Gegner erreichte, wandte sich der Gigant äußerst wendig und elegant zu ihm um. Er hob eine Waffe, die ihn wie ein großes finsteres Nichts anstarrte. John begriff, dass dieses Ding dazu benutzt wurde, gegnerische Schiffe abzuschießen, und ihn schauderte für einen Moment. Für genau den Moment, den er brauchte, um nach unten abzutauchen und dem mächtigen Waffenstrahl auszuweichen. Hinter ihm entstand eine riesige Furche im Wasser, und in weiter Ferne entlud sich die Waffenenergie des Schusses in einer lichterfüllten Detonation. Dann war John heran, zog das linke Hercules-Schwert über den Torso des Giganten, fühlte, wie die Vibrationsklinge tief in dessen Eingeweide schnitt. Die andere Waffe führte er über die Hauptwaffe seines Gegners. Er schlitzte sie einmal längs auf, traf den Energiekern und brachte es somit zur Detonation. Der Druck warf ihn aus der Bahn, zur Seite und glücklicherweise fort von einer Zwanzigersalve Raketen, die ihn sonst teilweise getroffen hätte.
Nun war Valsonne heran. Er raste mit seinem Hawk wie ein American Football-Spieler zum Tackle heran, rammte den Gegner mit dem Schulterschild und schob ihn mehrere Dutzend Meter vor sich her. Dann setzte er seine eigene schwere Partikelkanone direkt auf dem Torso jener bereits von John beschädigten Stelle auf und zog den Abzug durch. Die Waffe stanzte ein halbmetergroßes Loch in den Rumpf. Der Waffenstrahl schmolz sich zuerst durch die Panzerung, dann durch die Eingeweide der Riesenmaschine. Schließlich verging die restliche Energie in seinen Eingeweiden. Dorff riss seinen Mecha fort, nach unten, entging so dem Feind, der nach ihm schlug wie nach einer lästigen Fliege. Aber diese lästige Fliege hatte ihm sehr, sehr weh getan. Ein Gedanke, der John mit Zuversicht erfüllte.
Dann fuhren zwei Laserstrahlen in die Wunde, die von den beiden Hawks gerissen worden waren. Die Lanzen aus Licht spießten den Gegner auf, wirbelten ihn herum wie eine Gliederpuppe. Darauf erfolgte die Detonation. Die Druckwelle wirbelte John und Luc in ihren Mechas herum, trieb sie auf die Wasserschicht nieder, die in diesem Moment so hart und kompakt wie kalter Stahl war, und nur mit Mühe konnten beide Piloten ihre Mechas weit genug stabilisieren, um nicht mit der unnachgiebigen Härte Bekanntschaft zu machen.
"Einer weniger", keuchte Valsonne atemlos.
"Zwei weniger. Auch die Chinesen waren eifrig", meldete Dorff. "Diese Dinger sind übrigens bemannt. Eine Cockpitkapsel wurde abgesprengt, als die Chinesen ihren Behemoth vernichtet hatten."
"Bemannt?" John warf seine Maschine zur Seite, um dem Beschuss eines weiteren Gegners zu entgehen. Sicher, er und seine Leute waren nun Ziele, denn sie hatten zu dritt geschafft, wofür die Chinesen ein Regiment benötigt hatten.
"Bemannt. Ich habe die Kapsel aufgelesen."
"Sven, bringe sie sofort zur HINDENBURG hoch! Sie ist das nächststehende Schiff!"
"Verstanden!" Dorff riss seine Maschine in eine enge Kehre und startete durch. Begleitet vom Beschuss der anderen Behemoths stieg er in den Himmel, der HINDENBURG entgegen, die ihm Feuerschutz gab.

Unter ihnen brach das Gigantschiff aus dem Wasser hervor. Tausende Kubikmeter Meerwasser wurden dabei aufgetürmt und wurden fortgedrückt. Nach der Welle durch die atomare Explosion würde dies die zweite große Existenzprobe für die näheren Inseln sein.
Deutlich konnte John erkennen, dass der Riesenpott beschädigt war. Auf seiner Unterseite klafften mehrere Risse. Hektoliterweise floss das eingedrungene Wasser daraus hervor, während sich der Gigant gemächlich auf eine Seite wälzte. Ohne einen erkennbaren Übergang hüllte sich das Schiff in einen weißen Tarnschild, der die Dimensionen dessen, was John kannte, zu sprengen drohte. Nach den neuen Daten durchmaß dieser Schild von Bug zu Heck stolze vier Komma zwei Kilometer. Der Kern war zwar erheblich kleiner. Dennoch war dies nach der AURORA das größte von Intelligenzen erschaffene Schiff, das er je gesehen hatte.
Ein Treffer, der ihm fast den linken Arm abriss, erinnerte ihn wieder daran, dass sie hier noch lange nicht fertig waren. Also riss er seine Mühle wieder herum und stürzte sich auf den nächsten Behemoth, einem Gegner in seiner Gewichtsklasse, während das riesige Schiff der Bismarck-Klasse, die HINDENBURG, mit allen Geschützen feuerte. Die sechzig an Bord stationierten Mechas, Standard für diese Schiffsklasse, hatten ihre Katapultstarts gerade beendet und begannen mit ihrem eigenen Angriff. Die Transponder identifizierten sie als Teil der Titanen, mit dem Besten, was die Erde aufzubieten hatte.
Das riesige Kampfschiff der Götter ließ sich weder davon noch von den Schäden beeindrucken. Gemächlich richtete es den Bug aus und beschleunigte langsam.
John extrapolierte den Kurs und schluckte hart. Der Kurs würde den Giganten zwangsläufig nach Atlantis bringen. Es schien ganz so als planten ihre Gegner länger zu bleiben. Im Moment war das sogar eine gute Nachricht.


4.
Also, Spaß gemacht hatte mir die Aktion von vorne herein. Aber nun wurde sie richtig witzig. Ich war eigentlich nicht der Mensch der dazu neigte andere zu quälen. Aber das gerötete und erschrockene Gesicht von Corinne zu sehen bereitete mir Vergnügen. Einerseits weil ich es endlich sehen konnte, andererseits war es meine kleine Rache für ihren diversen Überfälle auf mich als wir noch Feinde gewesen waren. Vornehmlich auf der Herrentoilette im denkbar schlechtesten Augenblick. Außerdem brachte mich das Geschehen dem Blue Lightning-Regiment näher. Ein Talent wie die junge Algerierin würde sich ein hochkarätiges Team wie dieses sicherlich nicht entgehen lassen. Außerdem konnte mir Gina erzählen was sie wollte - sie steckte garantiert bis über beide Ohren mit drin. Sie hatte schon immer eine leicht konspirative Ader besessen, die süße kleine Italienerin aus Buenos Aires. Das hatte man ja zuletzt gesehen, als sie für meine Megumi ein Autor trifft Fans-Treffen organisiert hatte. Sora und Mako-chan waren ebenfalls involviert, das war so sicher wie der Ärger den ich dafür bekommen würde, dass ich das Familienschwert abgebrochen hatte. Hm, war ich anfangs nur ärgerlich darüber gewesen, dass jemand einfach meinen alten Pilotennamen benutzt hatte - nun war ich schlicht und einfach nur noch neugierig. Ich wollte mehr über dieses Team wissen. Seine Aufgaben. Seine Missionen. Seine Mitglieder.
Der arme Teufel, der von einem KI-Agenten übernommen worden war, auf mich geschossen und stattdessen Micchan getroffen hatte, war sicherlich auch Mitglied des Blue Lightning-Regiments.
Oh ja, der Verein wurde immer interessanter für mich. Ich fragte mich mittlerweile jedoch, warum Mako-chan mir die Existenz einer solchen Einheit vorenthalten wollte. Sollte stattdessen nicht jeder Soldat mehr als geehrt sein, wenn andere Soldaten unter seinem Namen in den Kampf zogen?
Von der Struktur her, zumindest durch die Mitglieder die mir bekannt waren, sah alles nach einem Spezialteam aus, wie es SAS, SEALS KSK bildeten. Trainiert für Einsätze hinter den Linien, Sabotage, Liquidation, und noch einige weitere Schweinereien, die unheimlich effektiv werden konnten. Befürchtete Makoto etwa, ich wäre nicht damit einverstanden, das einfache Infanterie meinen Kampfnamen trug? Befürchtete er, ich könnte mich mit Sabotage nicht anfreunden? Himmel, ich hatte drei Jahre in einem Krieg gesteckt, wo ich manches Mal darüber froh gewesen wäre, wenn jemand auf dem Mars eifrig Sabotage an kronosischen Kriegsgerät betrieben hätte.
Heftig atmete ich aus. Ich fühlte mich unterschätzt, maßlos unterschätzt. Oder zumindest falsch eingeschätzt.

"Akira", sagte Ban Shee ernst.
Ich sah zur Kapitänin der SUNDER herüber. "Ja?"
"Deine Tarnfarbe löst sich auf."
"Wie jetzt?" Ich griff mir ins Gesicht, wischte über meine Wangen und betrachtete meine Finger. Doch anstatt farbige grünbraune Schlieren vorzufinden war sogar die Tarnfarbe auf meinen Fingerspitzen verschwunden. Verwundert sah ich umher und bemerkte einen feinen, gleißenden Staub, der mich umgab. KI? Ich brachte mein KI unter Kontrolle. Mist. Das bedeutete wohl mindestens noch zwanzig Minuten auf Ginas Herrentoilette nachschminken. Was hatte mich so verdammt aufgewühlt, dass ich mein KI heute einfach nicht unter Kontrolle bekam?
"Akira?", merkte Michi an. "Du löst den Tisch auf."
Irritiert sah ich meinen Schüler an. Dann sah ich auf den Tisch, der tatsächlich in feinem Glitter nach und nach verschwand. Ein lustiger Kommentar lag mir auf der Zunge, aber leider wurde ich hier unterbrochen. Teilweise durch mein beginnendes Entsetzen, teilweise durch die Tatsache, dass mein Stuhl nicht mehr vorhanden war. Übergangslosfand ich mich zwischen vier einsam in die Höhe ragenden Plastikbeinen wieder.
"Alles in Ordnung, Akira?", fragte Kei besorgt und reichte mir eine Hand zum aufstehen.
"Geht schon. Danke." Ich griff zu - und ließ ebenso schnell wieder los.
Kei betrachtete verwundert seine rechte Hand. Dann begann er entsetzt zu brüllen, als er merkte, dass ihm Fleisch auf den Fingerkuppen fehlte. Überall dort wo ich ihn berührt hatte, fehlte Haut und teilweise Fleisch.
"Akira, was tust du?", rief Yoshi entsetzt. Er sprang hinzu, sah mich an, sah meine Hände an. "Nein, das tust nicht du! Alle gehen sofort von Akira zurück! Weit, weit zurück! Doitsu?"
Der große Yakuza nickte. Er zerrte die Leute von mir fort, bis ich in einem leeren Raum von vielleicht drei Metern Durchmesser saß. Merkwürdig, wurde ich kleiner? Nein, ich löste den Boden unter mir auf und versank allmählich. Verdammt, das erinnerte mich doch sehr an dem Kampf mit Torum Acati. Was war mit mir los? Warum passierte mir das ausgerechnet jetzt? Ein KI-Angriff? Die Naguad kannten einige Medikamente, um KI zu manipulieren. Und Feinde hatte ich wahrlich genug.
Gina kam herbei, besah sich das Malheur und wollte auf mich zutreten. "Komm nicht näher!", rief ich. "Irgend etwas stimmt nicht mit mir!"
"Ich habe keine Schmerzen, aber merkwürdig ist das schon", murmelte Kei und betrachtete seine halb zerfleischte Hand, während Yoshi versuchte ihn zu heilen.
Ihr Blick ging von den beiden wieder zu mir und dann zu den Tischen, die in meiner Nähe standen und allmählich Auflösungserscheinungen zeigten. "Was...?", begann sie entsetzt. "Ich rufe Futabe-sensei!"
"Verdammt!", hörte ich eine Stimme, die mir nur zu bekannt war. Okame landete direkt vor mir, presste die Recht auf meine Brust. Ich wollte ihn warnen, ihn abwehren, aber da schwappte bereits eine KI-Welle durch meinen Körper, die mir enormen körperlichen Schmerz bereitete. Aha, so musste es sich also anfühlen, wenn einem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wurde.
Links von mir landete Sphinx, recht Tyges. Auch sie pressten ihre Hände gegen mich, genauer gesagt gegen meine Schultern, und weitere Schmerzwellen liefen durch meinen Körper. Agonie erfasste mich, schien mich von meinem Körper trennen zu wollen. Nicht auf diese Art, in der ich mein Über-ich in diesen goldenen Vogel versetzte. Auf eine andere, transzendente Art. Auf eine faszinierende und gefährliche Art. Mir war, als würde ich über der Szene schweben.
Die drei Dai umgaben mich wie die Spitzen eines gleichseitigen Dreiecks. Ich sah ihre Hände vor KI aufleuchten, bemerkte Schweiß auf der Stirn von Sphinx und Okame, während die Miene von Tyges diese Phase schon hinter sich gelassen zu haben schien. Mit Entsetzen und all seiner Macht versuchte er seine Hand davor zu bewahren, ebenfalls aufgelöst zu werden.
"Du musst ruhiger werden! Projiziere dein AO auf die gesamte Handfläche! Dann hat Akiras AO keine Angriffsfläche!", mahnte Sphinx ernst. Sie warf einen Blick in die Runde. "Mehr Platz! Wir brauchen viel mehr Platz!"
"Nicht der Platz ist das Problem. Die Menschen sind es. Als Reyan Maxus partizipiert er von ihrem KI. Wir müssen ihn hier wegbringen, irgendwohin wo keine Menschen sind", hauchte Okame konzentriert.
"Er saugt uns aus?", klang eine erschrockene Stimme irgendwo aus der Menge auf.
"Das ist nicht das Problem. Er bräuchte Jahre, um einen Menschen auf diese Weise zu töten", erwiderte Okame. "Viel schlimmer ist, dass er das AO wieder unkontrolliert an seine Umgebung abgibt. Ich habe es mir schlimm vorgestellt, aber bei weitem nicht so schlimm."
"Ich habe einen der Sauerstoffdistributoren herbei gerufen!", rief Gina. "Die Besatzung verlässt ihn gerade! Er wird mit euch bis unter die Decke steigen. Reicht das?"
"Für den Moment ja", erwiderte Sphinx. "Aber jetzt wo all das über Akira herein gebrochen ist, stehen wir erst am Anfang der Entwicklung. Ich hätte es wissen sollen, dass ausgerechnet Akira keinen schwachen Verlauf haben würde. Ich war nachlässig."
"Die ADAMAS", meldete sich Tyges zu Wort. Seine Stirn war nun mit einem dicken Film aus kaltem Schweiß bedeckt, während er den Kampf gegen mein KI gerade so zu gewinnen schien. "Sie ist ein Kommandoschiff. Oder das Schiff eines Reyan Maxus. Evakuieren wir es und bringen wir Akira an Bord."
"Ist im Moment das einzige was wir tun können", erwiderte Sphinx. Ihre Augen suchten die meinen, fanden sie. Sie erschrak. "Akira?"
Übergangslos fand ich mich in meinem Körper wieder, inmitten all der Schmerzen und dem peinigenden Gedanken, dass ich Kei verletzt hatte - und hätte töten können.
"Akira, wir bringen dich zuerst auf einen Zeppelin, und danach auf die ADAMAS. Du darfst nicht in der Nähe von normalen Menschen bleiben. Du absorbierst ihr KI und gibst es destruktiv an deine Umgebung weiter. Es ist mein Fehler. Ich dachte wir hätten noch Zeit, um dich ordentlich vorzubereiten, aber... Ich weiß nicht wie es jetzt weiter gehen soll."
Langsam nickte ich. Jeder Gedanke, jeder Atemzug, jede noch so kleine Bewegung schmerzten.
Gut, dachte ich. Wie Jerry immer gesagt hat, wer Schmerzen hat ist noch nicht tot.
Langsam war es wirklich an der Zeit um zu erfahren, was diese verdammten antiken KI-Meister wirklich waren. Mein Leben hing davon ab. Meins und das all der Menschen, die ich zu beschützen versprochen hatte.

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Anime Evolution: Krieg
Episode sechs: Werde Asche

Prolog:
Der Mensch wird geboren, in seine Familie, in sein soziales Umfeld, in sein Land. Was so einfach und banal klingt ist in Wirklichkeit ein himmelweiter Unterschied, ein Riesending, eine kleine Gigantomanie, mit der das junge Leben bereits in eine recht eindeutige Richtung gedrängt wird, die es nur schwer wieder verlassen kann. Falls es das überhaupt will.
Die ersten sozialen Kontakte hat das Kind mit der Familie. Mutter, Vater, Geschwister, Onkel und Tanten, Großeltern, Cousins und Cousinen, und vielleicht mit Kindern ähnlichem Alters in der Nachbarschaft, je älter es wird. Bereits hier findet die erste Prägung statt. Das Kind isst was die Eltern ihm geben, redet mit jenen Leuten, mit denen seine Familie Umgang pflegt und findet Freunde in dem Entfernungsrahmen, den ihm seine Eltern zugestehen. Hier findet die zweite Prägung statt, denn die Menschen unterscheiden zwischen "Familie" und "Nachbarschaft", beziehungsweise behandeln deren Vertreter anders.
Das ist aber noch lange nicht das Ende der Prägung, denn hiernach kommt der Staat und prägt das Kind nachhaltig. Der Staat, das ist die abstrakte Gesamtheit einer Bevölkerung, die sich freiwillig oder gezwungen unter einem gemeinsamen Willen und einem gemeinsamen Banner zusammengefunden hat und eine Mega-Kultur bildet, die sowohl auf die Nachbarschaftskultur als auch auf die Familienkultur ausstrahlt.
Um es in einfache Worte zu kleiden, schauen wir uns einen jungen Tuareg an, der am Rande der Wüste in einem Zelt geboren wird, von seinen Eltern lernt den Wind zu hören und die Bewegung des Sandes zu spüren. Er wächst unter dem von nur wenig künstlichem Licht getrübten Sternenhimmel auf und wird, wenn er alt genug ist, seinen Vater bei einer der Salzkarawanen begleiten. Von Dingen wie Internet oder Kampfjets wird er wohl niemals hören, geschweige denn von der UEMF oder einem Strafer der Götter. Dennoch kann er diesen Einflüssen nicht entkommen, denn sie strahlen auf die gesamte Megakultur der Menschheit aus.
Ein anderer Fall ist eine junge Inuit, die mit den Segnungen der westlichen Kultur vertraut gemacht wurde, Technologie ebenso kennen gelernt hat wie moderne Wissenschaft, mit einem Handy ebenso gut umgehen kann wie mit einer Tastatur, und irgendwann einmal von ihren Eltern darauf aufmerksam gemacht wird, das die Kultur ihres Volkes eine völlig andere ist, draußen, im Eis. Das Mädchen wird vielleicht einen Onkel während einer Jagdgesellschaft begleiten, Robben jagen, das Eis kennen lernen und erahnen wie das Leben ihrer Vorfahren war, bevor Internet, die Weißen und auch Schießpulver und Schnaps zu ihnen kamen. Dennoch hat sie nur zwei Pfade, für die sie sich entscheiden kann. Entweder das westlich orientierte Leben in den Städten und Dörfern, oder ein westliches Leben mit gelegentlichen Ausflügen ins Eis, wie es ihre Vorfahren getan haben. Aber auch sie kann sich den Göttern nicht entziehen, denn wenn sie die Erde bedrohen, bedrohen sie alle Menschen. Und wenn sie die Erde vernichten, vernichten sie alle Menschen.
Und dann ist da noch ein junger Mann, der Zeit seines Lebens in einem hierarchischen, strengen Familienclan aufgewachsen ist, stets gefordert und gefördert wurde, der einmal im Familienbusiness eine wichtige Rolle spielen sollte. Seine Kultur und seine Familie sind westlich geprägt, stehen zu Technologie, zur UEMF und treten für den Schutz der Erde ein.
Der junge Mann kann nicht entkommen. Entweder fördert er die UEMF als Teil des Management im Familienbusiness, oder er tritt gleich in die Kampftruppe ein und versucht dort seinen Weg zu finden. Eine Alternative sieht das Leben nicht für ihn vor. Denn weder das Leben als bescheidener buddhistischer Mönch, noch ein Leben als gelehriger Akademiker bewahren ihn davor, zusammen mit allen anderen Menschen in den Fokus der Götter zu geraten. Gewiss, er kann diesen Weg gehen, er kann sich verbergen, oder die Erleuchtung dem Weltlichen vorziehen. Entkommen freilich wird er nie.
Die vierte und letzte in unserer Aufzählung wurde geboren um ein Sternenreich zu erben, um in eine Meta-Gesellschaft einzutreten, die sie nie kennen gelernt hat, weil sie auf der Erde geboren wurde. Ohne die Distanz zu Nag Prime hätten ihre Eltern vielleicht nie zusammen gefunden, und ohne die Bedrohung der Welt durch den Core wären sie vielleicht nie hier geblieben. Ihre Familie war stets eine sehr merkwürdige durchmischte Kulturwelt, einerseits geprägt durch das große Haus Arogad auf Seiten ihrer Mutter, auf der anderen Seite infiltriert durch die Fioran von Vaters wegen. Dazu kamen die japanische und die deutsche Kultur, jene beiden Länder, in denen sie aufwuchs, und von denen ihr immer wieder gesagt wurde, dass sie nicht ihre wirkliche Heimat waren. Aber sie kannte keine anderen Kulturen, und wenngleich die Naguad um sie für ihre Ausbildung sorgten und ihr bei brachten was sie für ein Leben im Turm der Arogad oder in deren Dienste wissen musste, so blieb es doch immer abstrakt für sie. Beinahe so abstrakt wie die Bedrohung durch den Core, der Dai jagte, abstrakt wie der Götterpakt, dem sie sich eines Tages unterwerfen musste. Alles war abstrakt, nur nicht das Leben auf der Erde, ihre Freunde, ihre Familie, die beiden Familienclans der Yamadas und der Bergers. Dennoch konnte sie keinem dieser Aspekte jemals entkommen, egal wie sehr sie sich anstrengte. Das ferne, fremde Leben auf Nag Prime bedeutete ihr nicht mehr als den Atem, den ihre Lehrer verschwendeten, um sie darüber zu unterrichten, und sie sehnte sich nie danach, heimzukehren, denn die Erde war ihre Heimat. Hier, das spürte sie, gehörte sie hin.
Entkommen würde sie nie. Niemals. Nein. Bestimmt nicht. Aber es war auch gar nicht ihre Art, entkommen zu wollen. Nein, sie stellte sich allen Herausforderungen, allen Kämpfen egal welcher Art. Und sie war entschlossen, all diese Kämpfe zu bestehen, zu siegen, damit ihr Leben auf der Erde weiter gehen konnte, wie sie es erhoffte. Sie war vielleicht die unfreiste von unseren vier Beispielpersonen, und doch wieder die mit dem meisten freien Willen, denn sie hatte sich schon früh entschieden und folgte dieser Entscheidung beharrlich.
Was sie nicht wissen konnte war, dass diese Entscheidung einmal mehrere Meta-Gesellschaften miteinander verknüpfen würde.


1.
Angrid Taral war all das, was Therom Fioran auch hätte sein wollen: Groß, stattlich, aschblond und dazu auch noch gewitzt und intelligent. Er war ein Bild von einem Prachtkerl, und das wusste er auch. Das machte ihn irgendwie zu einem kleinen, Frauen verschlingenden Arschloch, der die armen Dinger verführte, benutzte und dann wieder fallen ließ. So ein elendes Schwein. Therom beneidete ihn enorm um diese Fähigkeit.
Darüber hinaus war Angrid auch noch ein Bluthund der Arogads, genauer gesagt der Sohn von Aris Taral, dem Bluthund schlechthin, der durch überschneidete Heiraten sehr eng mit der Kernfamilie der Arogads verwandt war. Leute wie er wurden normalerweise Admiral, Berufspolitiker oder Luxusplayboy. Selbst hier auf der Erde, wo man den Kernwelten des Imperiums ferner war als die Erde der Andromeda-Galaxis, leuchtete der Sonnyboy durch Talent, Geld und seine gehobene wirtschaftliche Stellung als Direktor einer deutsch-japanischen Import-Export-Firma. Was ihm den Vorteil verschaffte, Mädchen beider Nationen zu vernaschen. Zudem war er als Naguad nicht nur sehr langlebig, sondern blieb auch noch äußerlich sehr lange jung. Gut, gut, in dem Punkt waren er und Angrid gleich, denn es machte nichts ob man ein Arogad oder ein Fioran war; die meisten Naguad wurden drei- vierhundert Jahre alt. Wenn man hier und da mit der überlegenen Technologie des Imperiums nachhalf, konnten sogar tausend draus werden. Vorausgesetzt man wollte das auch, denn tausend Jahre konnten sehr lang sein. Doch was nützte ihm das, solange er Therom Fioran war?
Er war nur ein kleiner Kerl mit strohigem schwarzem Haar, einer viel zu großen Nase, wässrigen, tränenden Augen und zwei dünnen Strichen, die sich eigentlich Lippen schimpfen sollten, ihm so aber ein ernstes, zynisches, fieses Gesicht verliehen. Und dann war da noch das viel zu breite Kreuz, das seiner schlaksigen Figur ein groteskes Aussehen verschaffte. Nein, die Natur war nicht sehr nett zu ihm gewesen, seit das Schicksal entschieden hatte, das er als Sohn von Kilat und Eodorm Fioran auf der Erde geboren werden sollte.
Dies war nun bereits achtzig Jahre her, und er war noch immer jung, ebenso wie Angrid. Aber was nützte es ihm? Nichts, einfach nichts.

Eine Hand erschien vor seinen Augen und schnippte energisch. "Hallo? Erde an Therom. Jemand Zuhause?"
Der Fioran schreckte hoch. "Was?"
"Du warst in Gedanken versunken. Ich habe dich mehrfach gefragt, ob die Paris-Reise in trockenen Tüchern ist."
"Natürlich ist sie das. Die Tickets liegen bereit, und ich habe bereits die Bahnreise in Europa telegraphisch angewiesen."
Angrid lächelte zufrieden. "Wie immer Fehlerlos, alter Freund. Ich könnte mir keinen besseren Stellvertreter wünschen. Nur du bringst es fertig, uns in Kriegszeiten nach Paris zu schaffen."
"Japan liegt nicht im Krieg mit Frankreich. Es war relativ einfach."
"Aber Deutschland schon", erinnerte Angrid ernst. "Wenn die französische Polizei erfährt wer ich bin, haben wir nichts zu lachen. Man wird uns wegen Spionage verhaften, und vielleicht an Ort und Stelle hinrichten.
Therom lachte laut auf. "DAS will ich sehen. Womit wollen sie einen Bluthund der Taral töten? Vielleicht mit diesem neuen Maschinengewehr? Eher geht ihnen die Munition aus."
"Oh, in dir steckt wohl doch etwas gute Laune", stellte Angrid fest und lächelte ihn an. "Du solltest mehr lachen und weniger in dumpfen Gedanken brüten, alter Freund."
Diese Worte provozierten ein weiteres Auflachen des Fioran.
"Im Ernst, warum hast du immer so schlechte Laune? Du bist hoch intelligent, sehr gebildet, hast einen tollen Job mit einem erstklassigen Gehalt. Zugegeben, du musst meine Launen ertragen und manchmal hinter mir aufräumen, aber ansonsten würde dich jeder Baron und jeder Rittmeister Berlins um deine Aufgabe beneiden. Und hier in Tokyo sicherlich der einer oder andere spätgeerbte Daimyo."
"Es ist nicht der Job", brummte Therom ärgerlich.
Angrid legte eine Hand an seine Stirn und ächzte gequält auf. "Ob, bitte, bitte, Therom, ich flehe dich an, bitte nicht wieder diese Platte! Erzähle mir nicht wieder davon, wie sehr das Schicksal dich benachteiligt, und wie sehr es mich bevorzugt! Ich kann es nicht mehr hören."
"Du hast gefragt. Aber das tust du schon seit achtzig Jahren", brummte Therom.
"Nein, deswegen nicht. Es ist schlicht und einfach nicht wahr, Therom! Du bist keine kleine krumme hässliche Kröte. Du bist sicherlich keine Schönheit, denn dann wärst du meine Schwester. Aber für einen Mann siehst du gut aus."
"Nicht so gut wie du", protestierte Therom.
"Zugegeben, aber um das zu beurteilen brauchst du einen Betrachter, und jeder Betrachter entscheidet sich anders. Lass doch einfach mal diesen dämlichen Gedanken fallen. Vergiss ihn, lass dich selbst fallen und schaue was passiert. Selbst wenn du hässlich wärst, du bist reich! Die Frauen laufen dir auch so nach, hast du daran schon mal gedacht?"
"Solche Frauen will ich nicht."
"Und trotzdem beneidest du mich um die Bekanntschaften, die ich mit ihnen habe." Angrid schüttelte den Kopf. "Erkennst du nicht, dass du dich selbst in den Wahnsinn treibst? Du beneidest mich um Dinge, die du selbst gar nicht willst, hebst mich auf ein Podest, das du nie erklimmen willst, und badest in diesen negativen Gefühlen. Therom, du bist mein bester Freund, und ich kann es nicht mit ansehen, wie du dich mehr und mehr selbst zerfleischst. Warum sagst du mir nicht einfach was passiert ist? Habe ich ein Verhältnis mit einer Frau, in die du verliebt warst? Ist es das? Dann war sie deine Liebe nicht wert. Willst du besser aussehen? Warum? Der Therom unter dieser Maske wird der gleiche wie zuvor sein. Sag es mir, oder ich muss es selbst herausfinden."
"Es ist nichts dergleichen. Nicht wirklich. Du siehst nur einfach zu gut aus, und neben dir falle ich überhaupt nicht auf. Und das seit achtzig Jahren."
"Himmel, es ist ja nicht so als würden wir uns nur auf der Pelle hocken. Und ich habe dir gesagt, ich habe es dir bei Eridia Arogads linkem Haken geschworen, das ich nicht an Frauen gehe, die dir etwas bedeuten. Ausgenommen natürlich die eine, die ich irgendwann mal treffe und bei der ich hängen bleibe. Da kannst du dann sehen wo du bleibst, aber die ist noch lange nicht in Sicht.
Oder hast du dich unmöglich verschossen? In unsere niedliche Helen zum Beispiel?"
Thorem hustete verlegen. "Nichts dergleichen. Können wir das Thema verschieben, Armin Kruger, und uns zum Tokyoter Hafen aufmachen? Unser Dampfschiff wird in drei Stunden ablegen, und du weißt, was für ein Verkehr heute herrscht."
"Ausweichen kannst du gut", brummte Angrid ärgerlich, "aber es bringt dir nur das eine ein, Thore Fridjof: Ausflüchte."

Angrid schlüpfte in den Gehrock, den Therom ihm bereit hielt, und half dem Freund dann in seinen. Sie waren nun einmal seit achtzig Jahren ein eingespieltes Team, das seinesgleichen suchte. Danach betraten sie das Vorzimmer, wo die Chefsekretärin der Gruppe über drei ausländische und fünf japanische Sekretärinnen herrschte, um das Unternehmen mit zwei Millionen Mark Jahresumsatz am Laufen zu halten. Damit hatte sie die eigentliche Macht in diesem Laden, und Therom hoffte, das sie es niemals heraus fand.
Als die beiden Direktoren der Firma den Vorraum betraten, unterbrach sie die Lektion, die sie in scharfer Stimme einer Angestellten erteilte, die das Pech gehabt hatte, vor ihren Augen einen gravierenden Fehler zu begehen, und kam sofort herüber. Sie hielt eine große Brieftasche hoch und reichte sie Angrid. "Hier drin sind die Tickets für den Dampfer, die Verbindungen des Orient Express bis Ungarn, und ab dort die Reservierung für einen Donau-Dampfer. In Wien geht es mit der Bahn weiter bis Genf. Von dort wechselt ihr nach Monaco und reist ganz legal in Frankreich mit der Bahn weiter. In der Tasche sind fünftausend Pfund Sterling, der gleiche Wert in Franc, und noch einmal eintausend Goldmark für den Notfall." Die große Europäerin legte die Stirn kraus. "Ich kann euch diesen verrückten Trip wohl nicht ausreden, oder?"
Therom unterdrückte ein Auflachen. Mary Aberdeen führte dieses Büro seit zwanzig Jahren und war damit in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Sie kannte fast alle Hintergründe in diesem Krieg zwischen Naguad und Core, die sie ertragen konnte, und sie opferte diesem viel von ihrer Zeit.
Wie sie auch noch eine Familie dabei unter den Hut bekam war ihm schleierhaft. Andererseits hätte er es sich nie verziehen, wenn die kleine Mary, die er hatte aufwachsen sehen, nicht ein wenig mehr Glück im Leben gefunden hätte, als er je erreichen würde.
"Es ist notwendig. In dem Auftrag geht es um zweihunderttausend Franc an Nachkriegsgeschäften", sagte Angrid mit einem dünnen Lächeln. "Vater sagt immer, man kann nie genug Geld haben."
"Gesundheit. Aris Kruger sagt immer: Man kann nie genug Gesundheit haben", protestierte die Chefsekretärin. Ernst und tadelnd sah sie die beiden an. "Könnt ihr mir versprechen, euch aus dem gröbsten Ärger raus zu halten? Ich meine, das ist schwierig, wenn man bedenkt, mit wem ihr euch treffen müsst. Aber könnt ihr mich nicht einfach anlügen?"
Angrid beugte sich vor und gab der Engländerin einen sanften Kuss auf die Wange. "Keine Sorge, die Armee, die mich aufhalten kann, muss erst noch aus dem Boden gestampft werden. Aber um Thore solltest du dir Sorgen machen, Mary."
"Hey!", protestierte Therom, erntete aber nur amüsiertes Gekicher ihrer Sekretärin.
"Versprich mir, dass du auf Thore aufpasst, du alter Weiberheld", mahnte Mary. "Wenn ihm was passiert ziehe ich dir die Ohren lang."
"Schon gut, schon gut. Ich werde besser auf ihn acht geben als auf meine Schwester Karen", versprach Angrid lachend.
Dies schien sie zufrieden zu stellen. Sie gab jedem der beiden ihrerseits einen Kuss auf die Wange - ein mittelschwerer Kulturschock für alle, die den leichten Umgang der drei nicht gewohnt waren - und schloss mit den Worten: "Michael erwartet euch anschließend in Dresden."
Angrid hob abwehrend beide Hände. "Ich bin mir keiner Schuld bewusst."
"Mach keine Witze darüber. Er will mit euch ein paar Dinge über die Otomos bereden. Ihr wisst, er hat großes mit dem Ryuji und Nanako Otomo vor."
"Ist es nicht Sache des Yodama-Zweigs unserer Familie, sich mit den beiden zu beschäftigen?", fragte Therom stirnrunzelnd.
"Es gibt Dinge, die auch den Berger-Teil betreffen, wenn es um die Otomos geht", erwiderte Mary. "Die Reiseroute und die telegraphischen Reservierungen ab Den Haag liegen ebenfalls bei."
"Wie immer exzellente Arbeit", murmelte Therom anerkennend.
Sie wechselten einen letzten, freundlichen Blick miteinander, dann waren die beiden Männer auch schon halb aus dem Büro verschwunden. Mary Aberdeen seufzte tief und lang. Sie würde sie niemals, nie, nie, nie daran gewöhnen, die beiden mitten in irgendeine Gefahr laufen zu sehen. Eher konnte sie sich damit anfreunden, dass die beiden nicht alterten, weder körperlich, noch in ihrem Verhalten - sie benahmen sich mit ihren rund hundert Lebensjahren noch immer wie überaktive Studenten. Dennoch taten sie es immer wieder, liefen mit offenen Augen in wahre Schrecken.
Schrecken, die über die Menschheit herein brechen würden, wenn sie diese nicht als erste abfangen würden. Manche Dinge, die sie selbst schon erlebt hatte, waren zu gewaltig und zu grausam, als das die breite Öffentlichkeit sie hätte verstehen oder akzeptieren können. "Viel Glück, meine beiden Lieblingsonkel", flüsterte sie zärtlich und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Da war immer noch ein Fehler, der nachhaltig getadelt gehörte.
***
Japan hatte in den letzten einhundert Jahren eine erhebliche Veränderung erfahren, fand Therom, der diese aus eigener Hand mit erlebt hatte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens hier verbracht und war immer fasziniert gewesen von dem Wesen seiner Bewohner, von der Fähigkeit zu großem Wandel, der in ihnen innewohnte. Und von der Bereitschaft, Neues aufzunehmen. Wenn er da hingegen seinen Blick auf seine zweite Heimat richtete, auf Europa, so schienen Inventionen dort nur allzu leicht verbreitet zu werden, wie man am Beispiel der Dampflok und der Eisenbahn sehen konnte. Aber solche Dinge, die Erkenntnisse kamen nicht so leicht bei den unteren Schichten an, fanden nicht diese fundamentale Verbreitung.
Dann war da die japanische Verschlossenheit. Sie lächelten immer, verbeugten sich vor ihrem Gegenüber anstatt ihm die Hand zu reichen und lebten in den großen Ballungsgebieten wie Tokyo mehr für sich als für ihre Umgebung.
In Deutschland hingegen hatten die Menschen weder vor, noch während, noch nach den napoleonischen Kriegen groß ein Blatt vor dem Mund genommen. Groß, laut, frech, zugleich politisch und immer mit irgendjemand auf Konfrontationskurs.
Vielleicht war es dieser Widerspruch, der ihn beide Länder interessant finden ließ. Vielleicht war es der Gegensatz, den er für sein eigenes Leben brauchte. Vielleicht gefiel ihm auch nur in beiden Ländern die Verpflichtung gegenüber dem Herrscher, der seit 1870 auch in Deutschland ein Kaiser war... Vielleicht lag es auch daran, dass er in beide Gesellschaften problemlos adaptierte, während ihm die Royalität der Engländer und die Arroganz der Franzosen heftige Probleme bereitete. Selbst in einem kleinen Land wie Belgien hatte er einen schweren Stand, nur weil er herkam wo er herkam. Wenn er ernsthaft darüber nachdachte, dann waren es wohl die Widersprüche seiner Herkunft, die Geheimnisse seiner Vorfahren und der Kampf gegen Torah und den Core, die es ihm schwer machten, sich irgendwo heimisch zu fühlen, wo er nicht bereits eine große Unterstützung hatte. Und dies waren für ihn in Japan die Yodamas und in Deutschland die Berger.

Eines der größten Zeichen der Veränderung, die Japan in nur wenigen Jahrzehnten erlebt hatte waren die Dampfschiffe, die auf allen Gewässern Ostasiens verkehrten. Seit der Zeit des ersten Nachbaus anhand von Skizzen, findigen Ingenieuren und genügend Mut zum Risiko kurz nach Beginn der Meiji-Ära hatte sich die Zahl der militärischen und zivilen Dampfschiffe explosionsartig vermehrt. Die ZA ZA MARU war eines jener vielen Dampfschiffe, das Japan mit der Welt verband. Ein hoch modernes Ozeantaugliches Schiff, das bereits auf Hilfssegel und Takelage verzichtete und den Globus binnen weniger Tage umrunden konnte. Vor nicht ganz vierzehn Jahren hatte Japan im Krieg mit Russland bewiesen, das es moderne Kriegsschiffe bauen und einsetzen konnte; einen Wimpernschlag später dominierten seine Schiffe die japanischen Einflussgebiete und liefen alle großen Häfen an.
Die ZA ZA MARU selbst würde bis Kapstadt fahren, während sie selbst in Delhi von Bord gehen und den Zug nehmen würden. Interessant an der Geschichte war, dass die Firma an der Reederei dieses Schiffs einen nicht unbeträchtlichen Anteil hielt.
"Und da erhebt sich das Stahlschiff", murmelte Angrid, als die Kutsche endlich Sicht auf den Hafen hatte. "Mit dem Bau der zivilen Stahlschiffe ist die Ära der Holzschiffe im kommerziellen Sinne wohl grundsätzlich vorbei."
Therom sah den Freund spöttisch an. "Kann ein einzelner Mann wirklich in eine so endgültige Aussage so viele Hintertürchen offen lassen, die es ihm erlauben, seine Meinung zu revidieren oder zu korrigieren?"
"Die Geschäftswelt ist ein Haifischteich, das weißt du doch. Und gerade wir Haie selbst müssen vorsichtig sein in allem was wir tun." Angrid grinste dünn. "Gut, dass wir in die Eisengruben in Afrika investiert haben."
"Gut, das wir in die Werften investiert haben. Vielleicht bauen sie eines Tages ja raumtaugliche Kriegsschiffe für uns", erwiderte Therom.
Skeptisch sah Angrid den Freund an. "Nicht in den nächsten zweihundert Jahren. Die Entwicklung der Menschheit ist rasant, aber nicht so schnell wie du hoffst. Sie beherrschen ja nicht einmal eine schlichte atomare Kettenreaktion."
"Ich wette mit dir, in spätestens fünfzig Jahren haben wir den ersten Reaktor, der kalte Fusion betreibt", konterte Therom.
"Du meinstest wohl fünfhundert Jahre. Und das auch nur, wenn wir sie selbst bauen und auf dem Markt einführen", spottete Angrid. "Aber für so eine Technologie ist die Menschheit noch zu jung, solange sie ihre Flugzeuge aus Holz bauen und mit Stoffbahnen bespannen. Ich sage dir was: In sechzig Jahren haben wir das erste überschalltaugliche Flugzeug, in einhundert das erste konventionelle heiße Atomkraftwerk. Und gut vierzig Jahre später können wir zumindest die Theorie der kalten Fusion propagieren."
Therom schnaubte amüsiert. "Möchtest du drauf wetten?"
"Nein. Nachher hast du Recht, und ich irre mich", erwiderte Angrid flapsig.

Der Kapitän der ZA ZA MARU erwartete sie am Pier, in Begleitung seines Ersten Offiziers. Er begrüßte die Reederei-Gesellschafter überschwänglich und versprach ihnen die besten Kabinen sowie für jeden Abend die Ehre des Kapitänsdinner. Dabei war der Mann nicht devot, nur höflich und sehr neugierig.
Zehn Minuten später erwies es sich, dass der Kapitän zumindest nicht übertrieben hatte, was die Räume anging. Therom und Angrid hatten beide großzügige Suiten im victorianischen Stil erhalten, nicht weit entfernt von der Brücke, auf dem höchsten Deck gelegen.
Ein heißer Tee erwartete sie bereits, und ungeniert bediente sich Angrid einerseits am Tee und andererseits an den Sitzmöbeln in Theroms Suite.
"Wir hätten Kaffee bestellen sollen", murrte er und pustete in die dünne braune Flüssigkeit in seiner Porzellantasse.
"Du brauchst ihn ja nicht zu trinken", erwiderte Therom und schenkte sich seinerseits eine Tasse ein. Im Gegensatz zu dem Koffeinkonsumenten vor ihm mochte er lieber einen schönen grünen oder weißen Tee. Einen schwarzen, wenn er kurzfristig etwas Energie brauchte.
Nebenbei aktivierte er das Notebook, welches er meistens getarnt als fleischfarbenen Aufkleber auf dem linken Unterarm trug. Es entfaltete sich sofort als holographische Bedieneroberfläche. Dafür, das es auf der Erde hergestellt worden war, brachte das kleine Gimmick eine ordentliche Leistung.
"Ah, das Datenpaket aus Deutschland ist eingetroffen. Wir werden gleich einen aktuellen Überblick zur Weltlage haben", murmelte er konzentriert und nippte am Tee.
Angrid wischte mit einer Hand durch das Hologramm, um die Aufmerksamkeit des Freundes zu erhalten. "Arbeiten können wir später immer noch. Bis Jakarta brauchen wir vier Tage. Lass uns lieber die andere Frage klären. Was ist los mit dir, alter Freund?"
"Wie, was soll los sein? Darf ich meinen blondgelockten, Frauenbegeisterten Kompagnon nicht aus tiefstem Herzen beneiden?"
Angrid erhob sich und legte einen Arm um den Freund. "Was aber beneidest du wirklich? Die Frauen, die eine schnelle flüchtige Liebschaft mit mir suchen und sich mir deshalb in die Arme werfen? Oder die Leichtigkeit, mit der ich mit ihnen reden kann?" Der Arogad grinste ihn burschikos an. "Immer wenn du unglücklich verliebt bist und nichts auf die Reihe kriegst, dann jammerst du immer wie schwer es dir fällt mit Frauen zu reden. Und dann kramst du die Neid-Nummer aus, obwohl du mit den berechnenden, selbstsüchtigen oder einfach nur dummen Weibern gar nichts anfangen könntest, mit denen ich mich abgebe."
"Bitte, Angrid, das tut doch überhaupt nichts zur Sache. Können wir uns nicht stattdessen auf die Core-Aktivitäten auf der Erde konzentrieren? Die MAXIL kommt diese Tage auch zurück und bringt Nachrichten aus dem Imperium. Du weißt, das unsere Position auch damit steht und fällt, ob wir unentdeckt bleiben. Sollte ein anderes Haus Interesse an der Erde entwickeln, sollte das Kaiserreich hier ernsthaft intervenieren, sind wir ganz schön in der Klemme."
"Und genau das meine ich mit später erledigen. Glaubst du mir macht es Spaß, dich deprimiert zu sehen? Glaubst du es bereitet mir Freude, wenn du seufzt und leidest?"
"Glaubst du mir macht es Spaß, in der zweiten Generation auf der Erde fest zu sitzen und gegen einen geheimnisvollen, übermächtigen Gegner zu kämpfen, zudem gegen einen bedrohlichen Magier? Glaubst du, ich wäre nicht lieber Zuhause im Fioran-Turm, im Zentrum unserer Kultur, unserer Hauptstadt? Glaubst du, ich will das alles hier?"
"Und was willst du da? Mit deiner Einstellung würdest du auch dort jede Frauenbekanntschaft in den Sand setzen. Da kannst du auch hier bei mir bleiben."
"Es ist ja nicht so als wäre ich nicht gerne auf der Erde", erwiderte Therom mürrisch. "Oder als wäre ich nicht gerne mit dir zusammen. Aber ich bin kein Taral, und ich bin für diesen Schattenkrieg einfach nicht gemacht. Vielleicht tun mir ein paar anständige Haus-Intrigen einfach besser als die ewigen Kämpfe auf Leben und Tod gegen Torah, seine Anhänger und seine Kampfcyborgs."
"Vielleicht würde dir auch eine Freundin mal gut tun. Ich meine eine richtige Freundin. Was fürs Leben. Eine schlaue Frau, gewitzt, gebildet, mit dem Herzen da wo es hin muss. Und die mindestens einen Bruder hat, und deshalb mit Männern schon umzugehen gelernt hat." Angrid erhob sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und marschierte im Zimmer auf und ab. "Was würde Mutter jetzt machen? Sie würde jemandem befehlen, eine Tochter zu zeugen, sie auszubilden und ganz nach deinem Gusto zu erziehen, um sie später mit dir zu verheiraten. Dauert nur fünfzehn Jahre. Kannst du so lange warten?"
"Witzig! Wirklich witzig! Bin ich vielleicht dieser japanische Nationalheld, der sich seine eigene Frau heran gezogen hat? Nein, bin ich nicht. Also bitte, versuche Vortein nicht solche Flausen in den Kopf zu legen. Sie würde so etwas wirklich tun." Therom erschauderte kurz. Ja, Vortein Arogad war dazu durchaus in der Lage, denn die Frau aus der Kernfamilie der Arogads war sehr hierarchisch eingestellt und sich ihrer eigenen Befehlsgewalt, die nur von Eridia übertroffen wurde, mehr als bewusst. Außerdem benutzte sie immer was sie hatte. Allerdings pflegte sie ihre Werkzeuge auch, was Therom in einem Anflug von Ironie zugeben musste.
"Okay, okay, das sollte ich Mutter also besser nicht vorschlagen. Obwohl sie sich nicht nur um mich Sorgen macht, weil sie meint, ich muss langsam mal zur Ruhe kommen. Sie sagt immer, Vater hätte nur fünfzig Jahre gebraucht, um seine Hörner abzustoßen, wie die Engländer sagen. Aber ich erwidere dann immer, dass ich lieber eine Ewigkeit auf die Richtige warte und mit ihr meinetwegen nur ein Jahr in absolutem Glück verbringe, als ein Jahrtausend mit der Falschen."
Therom zuckte bei der Erwähnung von Angrids Vater zusammen. Seg Mitur alias Jeremy Thomas war nicht einfach nur der Branchenleiter für Amerika im geheimen und weltumspannenden Netzwerk der Naguad auf der Erde, er war auch sein Lehrmeister. Ein strenger, unnachgiebiger und harter Lehrmeister, der aber zumindest aus dem leicht verweichlichten Fioran schließlich doch einen ernst zu nehmenden Gegner gemacht hatte. Noch immer verband er mit der Erwähnung Segs einen Schauder auf seinem Rücken, der teils aus Angst und teils aus Stolz auf seinen Meister geboren war. Hm, wenn eines auf der Erde klappte, dann die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Fioran und Arogads.
"Nette Philosophie, alter Freund, aber denke mal lieber dran, das du vielleicht keine tausend Jahre haben wirst. Als Schlüssel bist du ein Hauptziel von Juichiro Torah und seiner Sekte."
"Danke. Musstest du mich daran erinnern?", fauchte Angrid aufgebracht. "Es ist ja auch vollkommen normal, eines Tages von einem Dämonen mit der Schulterbreite eines Grizzlys entführt zu werden, um von einer acht Meter langen Spinne ultimativ dazu aufgefordert zu werden, ein fünfzigtausend Jahre altes Artefakt im Körper aufzunehmen, das die Vernichtung der Erde verhindert, solange es mit einem lebenden Organismus verbunden ist." Ärgerlich sah er Therom an. "Ich, mein Herr, habe jedenfalls vor, sehr, sehr alt mit dem Schlüssel zu werden!"
"Na, na, rege dich ab, Bruder. Trink lieber noch etwas Tee. Du wolltest mir gerade eine Frau backen, oder?"
Angrid quittierte die bedingungslose Kapitulation des Freundes mit einem amüsierten Schnauben. Wenn die Sache mit dem Hauptziel nicht so entsetzlich wahr gewesen wäre hätte er sich absolut nichts daraus gemacht, der Träger des Schlüssels zu sein. So aber sah er die Gefahr, dass ein anderer, an seiner Stelle den Schlüssel tragen musste, wenn er starb. Und er wollte niemanden seiner Freunde dieser Gefahr aussetzen. Und er wollte auch keine Familie haben, die ihn fortan erpressbarer und verletzlicher machte als je zuvor. Andererseits wusste er, dass er sein Schicksal nehmen würde, wie es sich ihm bot.
"Backen ist so ein einfaches Wort. Heranzüchten, ja, das ist es. Wie eine kostbare Orchidee in der idealen Farbe, mit dem idealen Duft heranzüchten, bis sie zu dir passt. Wäre zumindest eine bessere Alternative, als Karen heiraten zu müssen, oder?"
Therom verschluckte sich an seinem Tee, als Angrid seine jüngere Schwester erwähnte. In einem großen Schwall spie er die Flüssigkeit wieder aus. "Eine schreckliche Vorstellung", gestand er. "So ein wunderschönes, junges Mädchen, und daneben ich knochiger, spitznasiger Mann. Was für ein furchtbares Bild."
"Die gebrochenen Beine nicht vergessen, bitte", mahnte Angrid.
"Die gebrochenen... Wieso gebrochene Beine?"
"Die ich dir zufügen würde, wenn du dich mit meiner Schwester abgeben würdest", erwiderte der Arogad mit einem breiten grinsen. "Obwohl... Von allen Männern auf dieser Welt wärst du der einzige, bei dem ich nicht automatisch zur Pistole greifen würde, wenn du um sie wirbst." Er dachte einen Augenblick nach. "Ich würde erstmal mit einem sehr heftigen Hammerschlag auf dein Kreuz anfangen. So sehr mag ich dich."
"Idiot", brummte Therom und nahm einen neuen Schluck. Karen Taral war fünfundachtzig Jahre jünger als ihr großer Bruder, und mehr als behütet aufgewachsen. Für Angrid war sie mehr eine Tochter als seine Schwester, und er brannte regelmäßig in glühender Eifersucht, wenn er auch nur ahnte, sie könnte sich einem Mann ernsthaft zuwenden. Oder einer der großen, haarigen, ungewaschenen und natürlich komplett unzuverlässigen Männer könnte ernsthaft ein Techtelmechtel mit Karen anfangen wollen. Seine Idealvorstellung vom Mann für sie war eine Mischung aus Cäsar, Hercules und Alexander dem Großen. Ohne die Affären, versteht sich.
"Eher würde ich was mit deiner Mutter beginnen als mit deiner kleinen Schwester."
"Oho, das werde ich ihr erzählen. Vielleicht stoßen deine Vorstellungen ja auf fruchtbaren Boden bei ihr, Fioran."
Therom schnaubte amüsiert. Oh nein, in diese simple Falle würde er Angrid nicht gehen. "Ich bitte darum. Und übermittle ihr auch meinen Terminplan, damit wir unsere Stelldicheine planen können."
Für einen Moment sah Angrid den Freund entgeistert an, dann schnaubte er und wanderte weiter durch die Suite. "Dann doch lieber Karen."
Erneut spuckte Therom seinen Tee aus.
"Trinken, Junge, trinken, nicht ausspucken", tadelte Angrid.

"Kommen wir zum Thema zurück, bevor ich tatsächlich noch deine Schwester heiraten muss, Frauenheld", bemerkte Therom bissig. "Wir sind ein deutsch-japanisches Großunternehmen mit weltweiten Kontakten. Dennoch sollten wir es in Frankreich gerade etwas schwer haben. Immerhin hat Japan 1904 ihren russischen Verbündeten Saures gegeben, und im Moment stecken sie bis zum Hals in einem Krieg mit Deutschland."
"Und genau deshalb sind wir auch nicht als Deutsche unterwegs, sondern als Perser", sagte Angrid mit einem energischen Nicken.
"Perser?"
"Das geht schon in Ordnung. Blonde Perser sind jetzt nicht so häufig, aber sie kommen vor."
"Das ist nicht mein Problem.Aber ich frage mich, wie du uns mit gefälschten persischen Papieren durch Persien bringen willst."
"Hast du kein Vertrauen mehr zu mir, kleiner Bruder? Wir können schlecht in den Orientexpress als Deutsche einsteigen und als Perser aussteigen. Lass mich das regeln und kümmere du dich um die Abwehr der Core-Agenten."
"Was uns wieder zum Thema bringt. Die französische Loge, die mit uns den Core bekämpft, ist sehr nachlässig geworden. Wir verzeichnen eine Menge unbehinderter Aktivität der Torah-Anhänger in Frankreich. Vielleicht zu viel."
Angrid runzelte die Stirn. "Verständlich. Sie haben einen Krieg am Hacken, der so ist wie kaum ein Krieg zuvor. Wie ernst die Lage ist kannst du daran sehen, dass Frankreich sogar mit seinem Erzfeind England auf dem gleichen Schlachtfeld steht. Ausgerechnet die beiden Nationen, die mit ihrem hundertjährigen Krieg in die Geschichte eingegangen sind, stehen nun Schulter an Schulter in den verschlammten Schützengräben von Holland bis zur Schweiz. Alle Männer von loyaler Gesinnung tun jetzt natürlich das, was sie für den größten Dienst für ihr Land halten." Der Arogad lächelte kalt. "Wir sollten einen Kampfcyborg erledigen und der Loge vorführen, um ihre Erinnerungen aufzufrischen. Zu Zeiten Richelieus hätte es eine solche Entwicklung nie gegeben. Vater sagt immer, das wäre ein Staatsmann mit Blick über den Weltenrand hinaus gewesen. Er hätte immer verstanden, wie kleinlich die europäischen Konflikte im Gegensatz zum Krieg mit dem Core waren." Angrid stutzte kurz. "Und noch immer sind."
"Und du meinst, das nützt was?"
"Nein, nicht wirklich. Deshalb werden wir uns, während wir versuchen mit dem Außenhandelsministerium ein paar lukrative Exklusivverträge mit ihrem Südostasienkolonien abzuschließen, auch nach neuen Rekruten umsehen, die uns beim Kampf gegen den Core helfen."
"Und wie stellst du dir das vor? Nein, das ist keine Kritik. Das ist eine ernst zu nehmende Frage. Du weißt, dass die meisten Menschen zwar schon mal Jules Verne oder Hans Dominik gelesen haben, aber die Existenz von Außerirdischen nicht begreifen. Vor allem wenn sie weder grüne Haut noch blaue Haare haben."
"Hm", machte Angrid. "Hm. Und wenn wir uns auf die Kinder ehemaliger Logenmitglieder konzentrieren? Sie sollten zumindest ansatzweise erfahren haben, was ihre Eltern tun. Und der Schutz der Erde ist ein erstrebenswertes Ziel."
"Du verkennst die Lage. Die Yodamas, die Berger, die Huntingtons, die Duvalles, die Morgenrodts und wie sie alle heißen sind in der Regel nicht in der Kleinstaaterei verhaftet, begreifen die Erde und ihren Schutz als Ganzes. Alle anderen aber können sich eine Bedrohung für die ganze Welt gar nicht vorstellen. Sie sehen Konflikte noch immer auf Länderebene. Und wenn sie eine außerirdische Invasion wirklich für möglich ansehen, dann denken sie: Die fremden Länder in denen die Außerirdischen gelandet sind, sind weit weg und gehen mich nichts an."
"Deshalb will ich ja die Kinder derjenigen aufsuchen, die mit uns gekämpft haben", beharrte Angrid.
"Und die an unserer Seite gestorben sind? Interessanter Aspekt. Dann nimm lieber Geld als Anreiz."
"Ich sehe, wir werden darüber noch diskutieren müssen. Und ich muss an meiner Idee noch etwas feilen." Angrid legte die Rechte an seinen Hinterkopf und lachte. "Ich vergesse zu schnell, wie eng der Horizont der meisten Menschen ist. Ihr Blick geht meistens nur bis zur Landesgrenze, und alles was drüben passiert, passiert beim Feind."
"Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Immerhin wächst die Welt durch Telegraphie und Radio immer mehr zusammen. Aber anscheinend muss man der Welt einen gemeinsamen Feind geben, damit sie sich eine solche globale Bedrohung vorstellen können."
"Das ist eine sehr gute Idee. Warum bauen wir nicht ein einzelnes Land als globale Bedrohung auf? Wir könnten einen Strohmann aufstellen, der sein Land in diesen Krieg peitscht und der ganzen Welt den Kampf ansagt. Dann haben wir einen Weltkrieg gegen einen gemeinsamen Feind." Angrid winkte ab, als er Theroms entgeistertes Gesicht sah. "War nur ein Witz. Ich habe keine Lust, ein paar Millionen Tote auf mein Gewissen zu laden."
Er grinste frech, klaute sich einen Apfel aus der Obstschale und verließ die Suite. "Wenn du mich brauchst, ich arbeite auf dem Oberdeck."
"Sprich, du flirtest mit irgendeinem harmlosen kleinen Ding, das auf dein strahlendes Lächeln und deine blonden Haare reinfällt."
"Auch. Neidisch?"
"Natürlich bin ich neidisch. Wir sehen uns beim Kapitänsdinner."
"Bis dann. Vielleicht habe ich bis dahin ja Begleitungen für uns besorgt."
Therom seufzte, als sich die Tür hinter Angrid schloss. So war der junge Arogad nun mal. Und wenn der Fioran ehrlich war, wollte er ihn auch gar nicht anders haben.
***
Als Therom aus dem Bett hoch fuhr, aktivierte er sein KI. Es verstärkte seine Hände auf die Härte von gutem deutschen Stahl, ließ seine Aura aber nicht aufleuchten. Ein Gefühl hatte ihn geweckt, eine Präsenz. Die Kampfcyborgs der Gegner, meistens plumpe Maschinen mit begrenztem Aktionsradius, waren KI-technisch meistens tot. Ein KI-Meister konnte sie nicht spüren, aber auch nicht anhand der fehlenden Aura erkennen. Dazu hätte er ihnen sehr nahe kommen müssen. Das war es nicht gewesen, mehr sein Instinkt für Gefahren. War es ein Cyborg? Oder mehrere? Oder hatten seine empfindlichen Sinne auf etwas anderes angesprochen?
Vom Moment des Aufwachens bis zu dem Moment, wo er den huschenden Schatten an der Tür registrierte, war nur eine gute Sekunde vergangen. Er schlug zu, mit beiden geballten Händen. Er traf etwas hartes, metallisches, was unter der Wucht seines Schlags zu knirschen begann. Also doch ein Cyborg. Als sein Schlag die Luft aus den Lungen des Konstrukt trieb, erklang ein leises keuchen. Therom wollte nach setzen, aber in diesem Moment endete das Keuchen in einem Seufzer, und der abgetrennte Kopf mit dem Rechengehirn rutschte von der Schulter und fiel zu Boden. Schmierflüssigkeit und Blut der organischen Komponente traten aus der Wunde hervor.
Hinter dem besiegten Gegner stand Angrid, in der Hand ein japanisches Katana. Er hob die Hand und zeigte fünf Finger. Danach knickte er zwei Finger wieder ein. Aha, fünf hatte er erkannt, und drei von ihnen lebten noch.
Therom huschte lautlos aus dem Bett und zog aus dem Nachtschrank seine Pistolen hervor. Sie waren wohl die einzigen Modelle der Welt mit Schalldämpfer. Sie gehörten allerdings auch zu den wenigen Waffen auf der Erde, die eine mit KI aufgeladene Kugel abfeuern konnten. Als er bereit war, nickte Angrid ihm zu und gab seine Wächterfunktion für den Freund auf. Therom erwiderte das Nicken und schlich hinter dem Arogad auf den Gang. die restlichen drei Cyborgs - plus einer eventuellen unbekannten weiteren Anzahl - wussten mittlerweile, dass die beiden Naguad von ihrer Anwesenheit wussten. Also befanden sie sich nach dem misslungenen Attentat auf Therom nun in der Defensive. Sie würden den Gegner nun finden oder mit der permanenten Gefahr eines weiteren Attentats leben müssen. Und darauf hatte Therom wirklich keine Lust.

Sie trennten sich auf dem Gang. Therom ging Richtung Maschinenraum unter Deck, Angrid übernahm die Oberdecks und die Passagierkabinen.
So weit es ging löschte der Fioran seine Präsenz aus. Das beinhaltete nicht nur seine KI-Aura, sondern auch seine Atmung, seine Schritte und die von ihm verdrängte Luft. Er selbst wurde zu einem verschwommenen Schatten, der selbst unter den sporadisch aufgehängten brennenden Lampen kaum zu erkennen war, eine Technik die er in Japan erlernt hatte, als er mit einer japanischen Spezialeinheit des Geheimdiensts trainiert hatte, den Nekokami, zu deutsch Katzengöttern.
Er erreichte den Abstieg in den Kesselbereich, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken. Der Decksteward schlief in seinem kleinen Büro, war weder betäubt noch getötet worden, wie Therom dank des KI-Fluss in dessen Körper feststellte. Faulheit und Pflichtvergessenheit konnte also auch Leben retten, dachte er amüsiert.
Die ZA ZA MARU wurde mit Kohlen befeuert, um die mächtigen Maschinen anzutreiben, welche das Schiff dann mit fünfzehn Knoten durch das chinesische Meer beförderten. In das sie nach seiner Rechnung gegen Mitternacht eingefahren waren. Für die Begriffe der Menschen war das eine unglaublich schnelle Reise. Es wurde wirklich ernsthaft Zeit, mal wieder die eine oder andere Inventionswelle zu starten. Zum Beispiel auf dem Flugzeugmarkt fehlten neben den leichten, wendigen Kampfeinheiten aus Holz und Leinwand große Transportflugzeuge. Der Krieg in Europa hatte die Entwicklung vom Doppeldecker zum Eindecker gesehen. Er würde auch das erste Metallflugzeug sehen, und damit einen wahren Quantensprung im Flugverkehr. Danach war eventuell der Dieselmotor an der Reihe, weltweit promoted und auch für den Schiffsbau eingesetzt zu werden.
Aber bis dahin war der Maschinenraum mit den mächtigen Heizkesseln ein ungemein staubiger Ort, um nicht zu sagen: erbärmlich verdreckt. Kohle, der fossile Brennstoff, der im Moment dem Erdöl noch vorgezogen wurde, staubte fürchterlich, vor allem in geschlossenen Räumen. Die armen Teufel, die den Drecksjob hatten, die Kohlen in den Heizkessel zu schaufeln, durften zudem nicht einmal bei Tag ans Oberdeck. Kein Wunder, denn die schwarz eingepuderten Gestalten wären der Schrecken sämtlicher Passagiere geworden. Ihre Arbeit hatte wirklich den Namen Drecksjob verdient. Es wurde wirklich Zeit, den Dieselmotor einzuführen, oder zumindest eine moderne Einschüttvorrichtung für die Kohlen zu erfinden.

Selbst um diese Uhrzeit wurden die Kessel gefahren. Immerhin fuhr die ZA ZA MARU auch bei Nacht, um seinen zahlenden Passagieren eine schnellstmögliche Reise zu gewähren. Deshalb hörte Therom über den Lärm hinweg auch verschiedene menschliche Stimmen, die sich immer wieder etwas zuriefen.
Er schlich in den Maschinenraum und erkletterte eine Balustrade, nur um sich Auge in Auge mit einem Cyborg zu sehen. Therom drückte ab, bevor er überhaupt richtig erfasste, was er da sah. Die KI-verstärkte Kugel durchschlug den Cyborg glatt und riss ihn wie eine Gliederpuppe von den Beinen. Mit einem hohen Klang schlug sie in die gegenüberliegende Stahlwand ein und blieb nach gut zwei Zentimetern stecken. Sein Gegner hatte das kopfgroße Loch, das einmal durch den Oberkörper ging, garantiert nicht überlebt.
Okay, da waren es nur noch zwei. Und all jene, die Angrid nicht entdeckt hatte.
Kommunizierten sie miteinander? Zweifelhaft. Wenn es ein Angriff auf die Naguad war - und davon ging Therom aus - dann mussten sie wissen, dass jedwelcher Funk auch von ihnen mitgehört werden konnte. Gingen sie dann einzeln vor, oder überwachten sie gegenseitig ihre Positionen? Therom für seinen Part blieb sicherheitshalber nicht am gleichen Fleck, sondern eilte weiter. Das helle singen von Metall auf Metall an der Stelle wo er sich kurz zuvor noch befunden hatte, sagte ihm wie gut er daran getan hatte. Er schätzte den Winkel, sah über die Brüstung und feuerte seinerseits einen Schuss in die Tiefe. Die Kugel war nicht KI-verstärkt, damit ein Fehlschuss oder Querschläger nicht die Kessel durchschlug und sie mitten in die Katastrophe führte, die er und Angrid zwar überleben konnten, nicht aber Passagiere und Mannschaft. Die Kugel ging auch prompt daneben, scheuchte aber einen weiteren Cyborg aus seinem Versteck.
Laute aufgeregte Stimmen erklangen, als die Crew den Fremden entdeckte. Einer lief herbei und forderte den vermeintlichen Gast dazu auf, den Maschinenraum sofort zu verlassen. Der Cyborg wischte ihn mit einem einzelnen Hieb mehrere Meter durch die Luft.
Zuerst war die Truppe erstaunt. Dann griffen die fünf Männer nach allem was ihnen wie eine Waffe erschien: Schaufeln, Besen, Hämmer, anderes Werkzeug.
Der Kampfroboter des Cores war dadurch nicht zu beeindrucken, im Gegenteil. Er ließ den ersten Angriff mit stoischer Ruhe über sich ergehen, bevor er zwei der Männer mit heftigen Schlägen von sich fort trieb. Körperlich war er den Menschen klar überlegen, und beinahe schien es Therom, dass die Maschine mit den organischen Muskelkomponenten sich die Zeit nahm, um mit den Kohleschauflern zu spielen. Interessant. Normalerweise folgten die Cyborgs nur ihrem Programm, das kaum Raffinessen aufwies. Hatten sie es hier mit einem Einsatz zu tun, der von einem Koordinator betreut wurde? Jemand, der die Maschinen steuerte? Therom würde den Gedanken weiter verfolgen. Doch erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Er sprang über die Brüstung, landete fünf Meter tiefer genau auf der Schulter des Cyborgs und setzte beide Pistolen auf dessen Kopf. Auf die Entfernung brauchte es keine KI-verstärkten Kugeln. Er drückte ab und beendete das Pseudoleben seines Gegners. Dabei war es ein riesiger Vorteil gewesen, dass der Cyborg ihn nicht gesehen hatte. Wenn es einen Koordinator gab, konnte er nicht wissen, wer den Cyborg wie ausgeschaltet hatte.
Als die Maschine nach vorne kippte, entdeckte er den dritten - und hoffentlich letzten - Cyborg. Er hatte einen der Verletzten an sich gerissen und bedrohte ihn mit seiner Waffe. Prompt dachte Therom an eine Lockvogelnummer, bei der dieser sich präsentierte, um ihn, den Naguad, ins Freie zu locken.
Langsam kippte sein besiegter Gegner nach vorne. Therom verließ die Schultern kurz bevor er aufschlug. Lässig landete er auf beiden Füßen und knickte dabei nicht einmal ein wenig ein. "Alles in Ordnung?", fragte er den Nächststehenden.
"Ja, Sir, soweit schon. Was sind das für Monster?"
Therom lachte abgehackt. "Monster halt. Keine Sorge, ich kümmere mich darum." Er drückte dem Mann unauffällig seine zweite Pistole in die Hand, als er ihn passierte. Dann ging er auf den Cyborg zu, der sich als Geiselnehmer versuchte.
"Bleib da stehen, Naguad!", klang die synthetisch perfekte Stimme des Cyborgs auf. "Dieser Mann wird sterben, wenn du dich bewegst!"
"Und du mit ihm!", sagte Therom. Natürlich hatte ein Cyborg keine Angst vor dem Tod, er lebte ja nicht. Aber wenn er nicht mitspielte würde der Koordinator, den er hinter dieser Szene vermutete, gleich die ganze Crew im Maschinenraum töten, die Kessel vernichten und das ganze Schiff in Gefahr bringen. Angrid hätte es eine seiner fürchterlichen Cowboy-Nummern genannt. Und er hatte wohl Recht damit.
"Ich jage den Kessel hoch, Naguad. Dann bist du auch mit dran!", zischte die Maschine und nickte in Richtung des Heizkessels, an dem eine Funkgesteuerte Haftladung klebte. Nun war sich Therom sicher, es mit einem Koordinator zu tun zu haben, womöglich einem Menschen. Ein Offizier des Cores wäre wortfauler gewesen.
"Also gut. Was willst du?"
"Deine Waffe. Wirf sie her."
Langsam sicherte Therom seine Pistole, ließ sie am Schutzbügel vom Abzug herab baumeln und warf sie dann in Richtung des Cyborgs. Nun ging alles sehr schnell.
Sein Gegner nahm die Waffe vom Kopf seiner Geisel, sah für eine Sekunde links an ihm vorbei.
Zugleich streckte Therom die Hand nach hinten aus und spürte wie seine zweite Pistole darin landete. Er warf sich nach vorne, wirbelte nach links und sah einen vierten Cyborg zwischen den Maschinen. Therom schoss, traf und schleuderte den Gegner mit der KI-verstärkten Kugel gegen die nächste Wand, und rollte sich über die rechte Schulter ab. Heißes Metall sang glockenhell, als es in Form von abgefeuerten Kugeln hinter ihm her hetzte wie ein gieriger Jagdhund seiner Beute.
Therom benutzte eine Rohrleitung als Podest, sprang in fast drei Metern Höhe und hatte freies Schussfeld. Er feuerte, und zugleich feuerte der Mann, der die Geisel gewesen war. Theroms Kugel schlug dem Cyborg in die Brust, die des Arbeiters zerschmetterte das Kinn des Riesen, obwohl sie nicht mit KI aufgeladen war. Der Cyborg fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Dann kam der schwierige Part, nämlich der Aufprall, da er, um sicher schießen zu können, nicht darauf geachtet hatte, sich rechtzeitig zu drehen. Also prallte er mit voller Wucht gegen die Wand des Kessels, und tropfte daran herunter wie ein Vogel, der gegen eine Glasscheibe geflogen war.
Hastig rappelte sich Therom wieder auf und erwartete schon halb einen spöttischen Kommentar von Angrid zu hören, der seine peinliche Szene beobachtet haben musste. Aber er kam ohne Spott wieder hoch. Kurz musterte er die Umgebung, fand aber keine Spur eines sechsten Feindes. Dann ging er zu dem zerstörten Cyborg neben dem Kessel. Er nahm dem Arbeiter die Pistole aus der Hand und verstaute sie zusammen mit der anderen unter seiner Jacke. Dann zog er seine Brieftasche und zückte zwei Dinge. Eine Visitenkarte und ein Billet über einhundert Pfund Sterling.
Beides reichte er dem Burschen, der geschossen hatte. "Du und dein Kumpel", er sah seinen Helfer, der ihm die zweite Pistole zugeworfen hatte, mit einem Nicken an, "meldete euch bei dieser Adresse, wenn ihr wieder in Japan seid. Ich erkenne Talent, wenn ich es sehe. Das Geld ist für euch alle."
Die Arbeiter kamen nun näher. "Was zum Teufel war das, Sir?", fragte einer von ihnen.
Therom trat auf den malträtierten Brustkorb, sodass das Metall knirschte. "Es sind Roboter. Maschinenmenschen. Sie wurden gebaut, nicht geboren." Er warf seinen Helfern einen ernsten Blick zu. "Die einhundert Pfund gehören euch, aber ich erwarte dafür eine Gegenleistung."
"Jede, Sir."
"Dieser hier, der da hinten, und oben auf das Balustrade. Schmeißt sie ins Meer. Wenn die Leute erfahren, das es Maschinenmenschen gibt, entsteht nur unnötige Panik."
Mit großem Respekt und Ehrfurcht sahen die Männer ihn an. "Natürlich, Sir, sofort. Und danke, dass Sie uns gerettet haben."
"Ich musste sie eh auslöschen. Aber das bleibt unser Geheimnis."
Die Männer grinsten mit ihren von Kohlenstaub verdreckten Gesichtern. "Aber klar, Sir."
"Dann ist ja alles gut. Ich muss weiter. Vielleicht sind noch mehr von diesen Dingern auf dem Schiff."
"Sollen wir Ihnen helfen, Sir?", fragte der Bursche, der den Cyborg aus nächster Nähe abgeschossen hatte.
"Oh, danke, aber ich bin nicht allein. Mein Partner ist da oben. Und er wird mir nichts übrig gelassen haben, fürchte ich. Gute Nacht, Männer."
"Gute Nacht, Sir."

Als Therom den Maschinenraum verlassen hatte, griff eine eiskalte Hand des Entsetzens nach ihm. Ein verdammt mieses Gefühl wühlte seinen Magen auf. Er hatte wahnsinnige Angst um Angrid.
Schließlich fand er den Freund in den Trümmern zweier weitere Cyborgs, die Angrid im Nahkampf vernichtet hatte. Nur wandt er sich in Krämpfen am Boden. Doch das war nicht so spektakulär wie das tiefe blaue Glühen, das seinen ganzen Körper einhüllte. Therom hatte schon viel gesehen, auch und gerade im Zusammenhang mit KI, aber das war ihm neu.
Angrid hatte sich erbrochen und schien ihn kaum zu sehen. Eine seiner zitternden Hände deutete auf die Trümmer. "Au... auf..."
"Aufräumen, schon klar. Wie immer lässt du mir den lästigen Teil der Arbeit", seufzte Therom. Innerlich aber hatte er eine Scheiß Angst um seinen Freund.
"Be... Be...", sagte Angrid stotternd.
"Wie seine Hoheit befehlen. Ich stecke dich danach ins Bett." Fieberhaft überlegte er, wer ihm an Bord helfen konnte, wer Angrid helfen konnte. Dieses Phänomen war ihm vollkommen unbekannt. Und das machte ihm Angst, vor allem um Angrid.

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2.
"Und Doktor, wie sieht es aus?", fragte Therom bange. Es war doppeltes Glück, dass wenigstens ein asiatischer Arzt an Bord war, und er auch noch bereit gewesen war, weit nach Mitternacht nach seinem Patienten zu sehen.
Herr Li, ein Han-Chinese aus Singapur, beendete gerade seine Untersuchung. Neben Therom war nur noch der Kapitän in der Suite anwesend, untröstlich über die Tatsache, ausgerechnet bei dieser Fahrt keinen Schiffsarzt mitgenommen zu haben.
"Es liegen keine körperlichen Symptome vor", sagte der Arzt mit gerunzelter Stirn. "Sein KI-Fluss ist auch ungestört. Er ist ein Meister mit hoher Erfahrung in seinem Schmieden und dessen Anwendung. Ja, ich möchte sagen, er ist vollkommen gesund. Ich kann alle möglichen körperlichen Ursachen für das Leuchten ausschließen. Im Umkehrschluss komme ich dagegen zur Diagnose, dass das Leuchten für seine Lähmung verantwortlich ist. Deshalb folgere ich, dass das Leuchten körperfremd ist. Wir können nichts für ihn tun als ihn ruhen zu lassen. Oder wir suchen nach der Ursache, beseitigen das Leuchten und beseitigen den körperlichen Missstand."
"Könnte Radium im Spiel sein?", fragte der Kapitän nachdenklich. "Ich tausche mich mit einem Freund an der Sorbonne regelmäßig aus. Er hat mir von einigen erstaunlichen Phänomenen im Zusammenhang mit den Entdeckungen von Madame Curie und ihrem Mann Pierre berichtet. Unter anderen sollen große Mengen in der Lage sein, selbstständig zu leuchten. Wenn man genügend davon hat, wenn man es in den Körper von Direktor Kruger einbringt, dann kann auch er daraus von selbst leuchten."
Für eine Sekunde dachte Therom darüber nach, verwarf den Gedanken aber wieder. Wäre Angrid so stark radioaktiv verseucht, dass er bereits von sich aus leuchtete, wäre er wahrscheinlich schon tot.
Auf jeden Fall hätten die Umstehenden längst über Übelkeit und Schwindel geklagt.
"Nein, Radium schließe ich aus. Es ist noch giftiger als Blei, und eine solche Menge, um ihn so aussehen zu lassen hätte ihn längst getötet", murmelte Therom.
"Dann müssen wir nach der Ursache suchen", sagte der Arzt entschlossen und legte beide Hände auf Angrids Leib.
"Was macht er denn jetzt?", fragte der Kapitän überrascht.
Auch Therom war ein wenig verwirrt, denn der chinesische Arzt setzte zu einem Verfahren an, das er bisher nur bei Naguad-Ärzten beobachtet hatte, und auch da nur bei Meistern ihres Fachs. Herr Li plante definitiv einen KI-Scan vorzunehmen.
Therom ließ ihn gewähren. Schaden konnte es sicherlich nichts.
Herr Li schloss die Augen. Therom beobachtete den Arzt dabei, wie er ein paar tausend Kalorien verbrauchte, um mehr KI in seinem Leib zu schmieden. Es war ein spezielles, leichtes KI, wie geschaffen um geformt und verwendet zu werden. Eleganter als das harte KI, das er mitunter als Waffe benutzte.
Der Arzt sandte das KI in seine Hände, und von dort ließ er es zwischen beiden Händen wechseln und dabei Angrids Körper durchströmen. Dabei bekam er ein sehr gutes Bild über den KI-Haushalt seines Patienten und über den Zustand seiner Innereien.
"Nichts gebrochen, wie ich bereits diagnostiziert habe", murmelte er selbstversunken. "Die Organe arbeiten hervorragend, das Herz ist etwas zu schnell. Die Chakren sind gut austrainiert, aber nicht überlastet. Herr Kruger ist es gewohnt, sehr schnell sehr viel KI zu schmieden. Ein wahrer Meister."
Der Kapitän verzog die Miene skeptisch. "Davon verstehe ich nichts. Ich folge eher der westlichen Medizin."
Therom seufzte innerlich. Egal wie besorgt der Skipper um seinen bedeutenden Passagier war, im Moment war er ein Fremdkörper unter Verschwörern. Oder Fachleuten. Er hatte als einziger keine Ahnung von KI und dessen Bedeutung für den Menschen, und deshalb störte er.
Gerade hatte sich der Naguad eine Strategie zurecht gelegt, um den Skipper aus der Suite herauszukomplimentieren, als Doktor Li plötzlich aufschrie und beide Hände von Angrids Körper riss. Beide Handflächen waberten noch sekundenlang im gleichen blauen Glühen, bevor die Flammen nach und nach erloschen. Therom zweifelte nicht daran, dass der Arzt dies selbst getan hatte. Mit unglaublichem Können, großer Erfahrung und einem eisernen Willen.
"Doktor? Geht es Ihnen gut?", fragte der Naguad.
"Jetzt ja. Aber ich kann ein Nachtvesper gebrauchen. Kapitän, wenn Sie das für mich arrangieren könnten... Eine Untersuchung kostet viel Kraft."
"Ja. Ja, natürlich. Ich leite alles in die Wege und lasse es auf Ihr Zimmer bringen."
"Auf meine Rechnung, natürlich. Ebenso wie die Reise von Doktor Li", sagte Therom mechanisch.
"Ich werde den Zahlmeister entsprechend instruieren. Entschuldigen Sie mich einen Moment."

Nachdem der Kapitän die Suite verlassen hatte, ruckten die Köpfe des Chinesen und des Naguad wie auf einem geheimen Befehl zueinander. Sie begannen zugleich zu reden. "Was haben Sie...?"
"Wie konnte das...?"
Therom und der Arzt schwiegen verblüfft, dann lachte der Naguad und forderte Herrn Li auf, zuerst zu sprechen.
"Herr Fridjof, wie konnte das geschehen? Es ist mir unbegreiflich, wie so etwas sein kann, aber es scheint mir, Herr Kruger trägt in seinem Innern eine Lebensform, die auf KI basiert. Ich kann es nicht genau beschreiben. Ich habe bereits Geister exorziert und unbeseeltes freies KI vernichtet, aber dieses Ding... Ich weiß nicht ob es ein Parasit oder ein Symbiont ist. Auf jeden Fall ist es für seine Lähmungen verantwortlich."
Der Key. Therom erschrak, als seine schlimmste Vermutung bestätigt wurde. "Wie viel wollen Sie wissen, Doktor?", erwiderte er trocken. "Oder besser gefragt, wie viel können Sie ertragen?"
Der Chinese runzelte die Stirn. "Ist es so schlimm?"
"Noch viel gewaltiger."
Die beiden Männer tauschten einen langen Blick aus, und weil Therom den Chinesen mochte, der mit seinen vierzig Jahren mitten im Leben stand, gestattete er ihm einen ausführlichen Blick auf seine gestählte KI-Aura. "Es tut mir Leid, Sie in etwas hinein gezogen zu haben, was vielleicht über das hinaus geht, was Sie zu akzeptieren bereit sind. Ich verspreche Ihnen, dass wir nicht wieder zusammentreffen werden, sobald wir dieses Schiff verlassen."
"Nein, nein, Sie verstehen mich falsch. Ich war Zeit meines Lebens immer der Meinung, man könne nie genug wissen. Deshalb bin ich den Freimaurern beigetreten, deshalb bin ich Arzt geworden, und kein Kaufmann. Ich würde mich freuen, wenn ich für Sie nützlich sein könnte, egal in welcher Art."
"Das ist... Ein sehr großes Angebot", stotterte Therom. Der Mann vor ihm war für einen vierzigjährigen Menschen einbeachtlich erfahrener KI-Meister. Einen von ihnen in ihren Reihen zu begrüßen war keine dumme Entscheidung. "Ich werde Sie auf meiner Rückreise aufsuchen. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, voneinander zu profitieren."
"Es wäre... Schön. Sie sind ein aufrichtiger Mann, und die Sache, die Sie vertreten ist daher auch aufrichtig. Vielleicht denke ich zu naiv. Vielleicht verpasse ich aber andernfalls die größte Chance, die sich je in meinem Leben geboten hat."
"Wir werden wieder aufeinander treffen", sagte Therom fest und bot dem Mann die Hand. OHne zu zögern ergriff der Chinese seine Rechte und drückte auf europäische Art fest zu.
"Ich werde mich erst einmal dem Nachtmahl widmen, das mir der Skipper versprochen hat. Danach will ich noch einmal nach Herrn Kruger sehen. Ich kann zwar nichts für ihn tun, aber er ist nun mal mein Patient. Meine Prognose ist, dass der Parasit oder Symbiont sich beruhigen wird und das Glühen wieder erlischt. Ohne das wir etwas dafür oder dagegen tun müssen. Aber wir sollten ihn dennoch nicht alleine lassen."
"Keine Sorge, Herr Li. Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen, bevor es ihm besser geht."
"Ich habe nichts anderes erwartet." Der Chinese verneigte sich zum Abschied und verließ die Suite.
Therom aber schnappte sich einen Stuhl, setzte sich rittlings drauf und starrte auf den glühenden Angrid herab. "Junge, Junge. Was machst du immer nur für Sachen? Hättest du dich mal verstrahlen lassen, das hätten wir besser in den Griff gekriegt. So aber kann ich dir nicht helfen."
Angrid sah ihn an, bevor er mit der rechten Hand eine obszöne Geste machte. Dazu grinste er dünn.
"Ja, ja. Du hast deinen Spaß, selbst wenn du genügend leuchtest, um den ganzen Raum zu erhellen. Und wer hat wieder die Arbeit? Ich."
"Da..." Angrid rang sichtlich nach der Kraft, etwas zu sagen. "Da..."
Therom stutzte und musste lächeln. "Du brauchst dich nicht zu bedanken. Auf dich aufzupassen ist mein Hobby, das weißt du doch. Versuche etwas zu schlafen."
Der Arogad nickte ansatzweise, dann schloss er die Augen.
Einen Augenblick später öffnete er die Augen wieder und verzog die Miene. "Zu... hell.."
Therom hätte beinahe gelacht. Das blaue Leuchten hinderte ihn nun auch noch daran, einzuschlafen.
Es musste die Absurdität dieser Aussage sein, vielleicht die Sorge um den Freund und die Anstrengungen des Kampfes, Therom lachte nun wirklich. Es war ein lautes, befreiendes Lachen. Dann sah er wieder zu seinem Freund herüber - nur um sich einem Fuchs gegenüber zu sehen, der auf seinen Hinterläufen hockte und ihn neugierig musterte. Vor seinen Augen verwandelte sich der Fuchs in ein rothaariges Mädchen. "Ich nehme an, du wolltest meinen armen Angrid nicht auslachen, oder?", fragte das Mädchen mit drohendem Unterton.
Entsetzt fuhr Therom von seinem Stuhl hoch, und bemerkte erst jetzt, dass er nicht mehr an Angrids Bett saß. "Na toll", seufzte er. Das passte zum Tag. Das passte wirklich zum Tag.
***
Er musterte die junge Frau, die ihrerseits ihn musterte. Und er stutzte. "Erstens, wieso mein Angrid? Zweitens, wo bin ich hier? Und drittens, warum hast du nichts an?"
"Na, na, wer wird denn gleich prüde werden, mein lieber Fioran? Hast du schon mal einen Fuchs gesehen, der einen Anzug trägt? Ich dachte eigentlich, du hättest dich von der christlichen Antinacktheitshysterie nicht anstecken lassen. Aber anscheinend habe ich mich da geirrt."
"Es ist nicht die Hysterie. Es ist dein Anblick. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so bleibst."
"Oh, verstehe. Du stehst auf den Kleine Schwester-Typ, Hm? Da muss ich Angrid doch glatt mal ne Warnung mitgeben, dass er dich nicht mit seiner süßen Schwester alleine lässt."
Therom legte eine Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. "Bitte", sagte er nur, und darin war alles enthalten, was ihn gerade störte.
"Na gut, na gut. Immerhin hast du einen guten Grund genannt", murrte die Füchsin. Übergangslos trug sie einen japanischen Kimono. Allerdings war das Ding so kurz geraten und so offenherzig, dass nackt plötzlich eine plausible Alternative darstellte. Vor allem ihr Dekolleté kam sehr gut zur Geltung. "Besser so? Oder soll ich doch ein wenig weniger tragen?", fragte sie mit einem Augenzwinkern.
Das war eine Sekunde, bevor eine große, kräftige Hand ihren Kragen ergriff und sie daran in die Höhe zog. "Okame!", rief sie entrüstet. "Das ist keine nette Behandlung für eine Dame!"
"Für eine Dame sicherlich nicht", murmelte der grauhaarige Riese amüsiert, der die Füchsin am ausgestreckten Arm baumeln ließ, "aber für dich ist sie angemessen. Wer hat dir gesagt, dass du Therom Fioran triezen sollst?"
"Ich trieze ihn ja gar nicht. Aber Angrid sagt immer, der arme Junge hat so ein Defizit an Frauen in seinem Leben... Da dachte ich... Da dachte ich, er würde sich freuen, mal ein wirklich schönes Exemplar von Weiblichkeit zu sehen."
"Und dabei dachtest du ausgerechnet an dich?" Okame lachte prustend.
"Was ist daran witzig, hä? Es gibt viele Männer, die eine schmale Taille und schmächtige Schultern zu schätzen wissen. Und die nicht so auf überwuchernde Fettberge stehen, die manche Frauen vor sich her schieben müssen, sondern lieber handlich und begreifbar eine Handvoll zu schätzen wissen."
"Überwuchernde Fettberge?", klang eine laute und zweifelsohne schlecht gelaunte Frauenstimme auf.
"Au Backe, der Boss", raunte die Füchsin. Hastig rief sie: "Damit habe ich selbstverständlich nicht deine Brüste gemeint, Kuzo-sama. Diese wunderbaren Attribute der Weiblichkeit mit ihrem eleganten Schnitt, ihrer Festigkeit und dem perfekten Profil sind der Inbegriff all dessen was eine Frauenbrust sein sollte!"
Nun trat eine große, schwarzhaarige Frau hinzu. Ihr gehörten anscheinend diese Inbegriffe der Weiblichkeit. Und die Inbegriffe der Weiblichkeit waren wirklich groß und bildeten ein mehr als ausladendes, aber nicht unpassend wirkendes Dekolleté. "Gerade so noch gerettet, Kitsune-chan", schnurrte die große Frau und tätschelte dem Fuchsmädchen den Kopf. Komisch, nebeneinander gestellt versagte alleine ihre Nähe der Füchsin den Begriff Frau und degradierte sie zum Mädchen.
"Dai-Kuzo-sama?", fragte Therom erstaunt.
Die Frau mit den hüftlangen schwarzen Haaren sah ihn lächelnd an. "Das ist richtig, mein lieber Fioran. Ich bin die große Spinne, die Herrin der Dämonen. Angrid oder Michael haben dir von mir erzählt, nicht?" Sie lächelte noch immer, als sie auf die anderen beiden deutete. "Dai-Okame-sama, der Herr der Wölfe. Und Dai-Kitsune-sama, die Herrin der Fuchsdämonen. Ich neige dazu, diese Entwicklung ab und an zu bedauern, aber es hält sich in Grenzen."
"Bedauern? Oooooch", murrte die Füchsin und blies ihre Wangen auf.
Okame nickte Therom zu, dann setzte er die Füchsin ab und klopfte ihr leicht auf beide Wangen. Mit einem Plopp strömte die Luft wieder raus. "Keine Grimassen vor dem Boss."
"Menno", murmelte sie brummig.
Kuzo lächelte nun nur ganz leicht, im Ansatz. Dann deutete sie tiefer in den Wald. "Gehen wir ein wenig, Therom Fioran. Es gibt einige Dinge, die du wissen musst, und einiges was du wissen solltest."
Der Fioran nickte und bot der Herrin der Dämonen seinen Arm an, so wie es vor dreißig Jahren für ein flanierendes Paar von Welt noch üblich gewesen war.
Die Dämonin nahm das Angebot ohne einen Kommentar an, und legte ihren Unterarm auf seine Armbeuge. Dann gingen sie den Weg entlang. Fuchs und Wolf folgten ihnen mit einigen Metern Abstand, und das stete Betteln der Füchsin an Okame, sie auch am Arm zu führen, klang leise zu ihnen herüber.

Kuzo lächelte. "Kitsune mag dich. Das ist ein gutes Zeichen. Sie hat die einmalige Gabe, auf den ersten Blick zu sehen, wer ihrer Hilfe wert ist und wer nicht. Du stehst bei ihr bereits hoch im Kurs."
"Ach, tatsächlich? Sie hat mich nackt empfangen."
Über Kuzos Züge zuckte ein Schmunzeln. "Das habe ich jetzt gerade nicht richtig verstanden. Ansonsten würde ich Kitsune nämlich bestrafen müssen. Sie ist... ein sehr eigenes Mädchen. Und sie ist für uns Dämonen unersetzlich. Auch wenn man es kaum glauben kann, wenn man sie so quirlig und aufgedreht erlebt, ohne sie würde mir vieles schwerer fallen." Kuzo sah nach hinten, aber die Füchsin schien sie nicht gehört zu haben. Noch immer bettelte sie den großen Wolf an, damit er sie genauso am Arm führte wie Therom es mit Kuzo tat.
Wieder huschte ein Schmunzeln über die Züge der großen Spinne. "Aber du bist nicht hier um Triviales über uns Dämonen zu erfahren, Therom Fioran. Möchtest du Fragen stellen, oder soll ich einfach erzählen, was relevant ist?"
"Ich denke, ich werde zuerst einige Fragen stellen. Warum lähmt der Key meinen Freund?"
"Oh, das ist leicht erklärt. Ihr nehmt die Südroute um Japan herum nicht das erste Mal, nicht wahr? Aber durch die Cyborgs ist das Schiff weiter nach Süden gedriftet. Und jetzt befindet sich Angrid in der Reichweite des Götterschiffs, das der Key bewachen soll."
"Schiff? Bewachen?"
Kuzo seufzte. "Okay, wie viel hat man dir über den Key erzählt?"
"Anscheinend nicht genug", murmelte Therom.
"Okay, dann will ich es kurz umreißen. Vor zwanzigtausend Erdjahren etwa existierte eine Zivilisation, die aus euch Menschen und uns Dai bestand. Wir lebten friedlich im Einklang miteinander und breiteten uns über die Sterne aus. Dann aber stießen wir auf die Götter. Die Götter sind eine geheimnisvolle, uns unbekannte Spezies, deren Technologie uns überlegen war. Nur wir Dämonen konnten ihnen dank unserer KI-Beherrschung Paroli bieten. Aber der Krieg lief nicht sehr gut für uns, vor allem nachdem Dämonen mit dem Versprechen geködert wurden, dass ihre Welten verschont blieben, wenn sie auf Seiten der Götter kämpften.
Wir rissen das Ruder dennoch einmal herum, indem wir den ultimativen Krieger erschufen. gewaltige Kämpfer, die bis zu ihrem Tod fochten. Leider waren sie so stark, dass sie noch einmal die gleichen Verwüstungen anrichteten, welche auch die Götter angerichtet hatten. Die Götter konzentrierten sich dann umso mehr auf die Vernichtung der Superkrieger, und schließlich trat tatsächlich Frieden ein. Der Frieden hatte einen Preis: Wir durften nie wieder einen Superkrieger erschaffen. Alle Dämonen, die noch existierten, hatten sich diesem Versprechen zu unterwerfen. Zuwiderhandlungen wurden mit Vernichtung bestraft. Etliche Dämonenwelten wurden vernichtet, weil dort weiterhin an Superkriegern geforscht und entwickelt wurde. Später vernichteten die Götter aus Prinzip jede Dämonenwelt, egal ob dort geforscht wurde oder nicht. Sie waren irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass wir den Superkrieger jederzeit reproduzieren konnten, solange es uns Dämonen gab.
Einzig die Erde bildete eine Ausnahme, denn wir Dämonen hier verfügen über eine Macht, die zum Preis unserer Vernichtung auch die Götter auslöschen kann. Deshalb traten die Götter mit einem besonderen Friedensvertrag an uns heran. Wir sollten zwanzigtausend Jahre Frieden halten. Und wenn es uns gelänge, in dieser Zeit keinen Reyan Maxus zuzulassen, wollten sie uns weitere zwanzigtausend Jahre Frieden geben.
Um diesen Frieden zu überwachen, brachten sie ihr letztes Großkampfschiff auf die Erde, versteckten es und konservierten seine Besatzung für eine kleine Ewigkeit. Sollten wir jemals Anzeichen dafür erschaffen, einen Superkrieger zu erzeugen, dann sollte die Besatzung geweckt werden, um die Erde zu vernichten. Dies wäre dann gleichbedeutend mit der Vernichtung der Götter, denn wir besitzen unsere Machtmittel noch immer."
Therom runzelte die Stirn. "Ihr glaubt doch nicht, dass die Götter sich wirklich an den Frieden halten? Ich meine, wenn sie jede Dämonenwelt vernichten die sie finden, wie könnt ihr da glauben, dass sie sich an den Waffenstillstand halten werden?"
"Oh, sie können nicht anders als sich daran zu halten. Und wir können nicht anders als zwischen zwei Übeln zu wählen. Einen Reyan Maxus zu erschaffen bedeutet vielleicht das Ende für die Götter. Aber wir bringen damit auch ein Übel über alle bewohnte Welten. Es gab nur ein effektives Mittel, um die Superkrieger zu kontrollieren: Sie zu töten, wenn sie sich nicht mehr im Griff hatten. Es gab in der ganzen Geschichte des Krieges nur einen Superkrieger, der seine Fähigkeiten vollendet im Griff hatte."
"Du willst sagen, du hast keine andere Wahl?"
"Ja, ich, wir alle, haben keine andere Wahl. Die Dämonenwelt kann die Zerstörung der Erde überleben. Aber was wären wir ohne unsere Heimatwelt? Was wären alle Dämonen ohne unsere Heimatwelt?"
Dai-Kuzo lächelte wehmütig. "Ich bin mächtig, und vielleicht bin ich eines Tages mächtig genug, um den Göttern endlich Einhalt zu gebieten. Aber dieser Tag ist noch fern, und ich sehe ihn nicht kommen. Noch nicht. Bis dahin aber braucht der Key einen menschlichen Träger, einen Symbionten, in dem er lebt, von dem er lebt. Die Vernichtung des Keys wäre ebenso gleichbedeutend mit der Vernichtung der Erde wie unser Versuch, einen Reyan Maxus zu erschaffen."
"Und dieser Träger ist Angrid."
"Ja. Angrid trägt den Key und damit die potentielle Vernichtung der Erde in sich, bis er eines Tages stirbt. Dann muss ein anderer unserer menschlichen Verbündeten bereit stehen, oder der Key wird sich irgend einen anderen Wirt suchen, über den wir dann keine Kontrolle mehr haben. Nur wenn wir wissen wo der Key ist, haben wir unsere eigene Vernichtung noch in der Hand."
"Wer trug den Key vor Angrid? Das hat er mir nie gesagt."
Kuzo sah nachdenklich in die Ferne. "Ihr Naguad seid nicht unsere ersten menschlichen Verbündeten. Schon lange vor eurer Ankunft hatten wir einen Pakt mit menschlichen Reisenden von jenseits der Sterne geschlossen. Sie waren langlebig wie ihr Naguad, und sie lebten uns zuliebe acht Generationen auf der Erde, bevor die Naguad sie ablösten und sie in ihre Heimat zurückkehrten, um sich auf den kommenden Krieg vorzubereiten." Dai-Kuzo lächelte breit. "Es ist nicht so als würden wir uns vollständig in diesen Waffenstillstand ergeben. Es ist nicht so als träfen wir nicht unsere Vorbereitungen."
"Interessant. Warum habe ich von diesem Vorgängervolk nie erfahren? Warum haben wir nie Spuren von ihnen gefunden?"
"Oh, ihre Spuren siehst du jeden Tag. Viele ihrer Nachfahren, die von ihrem glorreichen Volk nichts mehr wissen, die als normale Menschen auf der Erde leben, begegnen dir jeden Tag auf dieser Welt. Ihr Blut ist vollkommen in den Menschen aufgegangen, jenseits jeglicher Rasse und Religion. Nur jene die mit uns Dai... Mit uns Dämonen paktierten, durften dieses erstrebenswerte normale Leben nicht führen und gaben den Key von Träger zu Träger weiter."
"Und jetzt bereiten sie sich in der Heimat auf den neuen Krieg gegen die Götter vor."
"Wir alle bereiten uns darauf vor. Der Krieg auf der Erde, den ihr für uns gegen den Core und Juichiro Torah führt, ist nicht allein ein Konflikt um die Dämonenwelt. Er ist auch ein Konflikt, um uns alle auf den Krieg vorzubereiten, der kommen wird. Und er wird kommen, das wissen die Götter so gut wie wir."
"Na, da steht uns ja noch was bevor", murmelte Therom. "Moment, Dai-Kuzo-sama, wenn der Key reagiert, weil er dem Schlachtschiff nahe kommt, dann..."
Die große Spinne fächelte sich mit der Linken Luft zu. "Oh, mehr von dieser ausgsuchten Höflichkeit. Mehr von diesen guten Manieren. Du bist so ein Labsal für mich, mein lieber Therom. Ganz anders als dieser vorlaute, angeberische Haufen von Dämonen, mit denen ich mich sonst abgeben muss."
"Hey!", rief Kitsune von hinten. "Was soll das denn heißen, Boss?"
Dai.-Kuzo verdrehte die Augen in komischer Verzweiflung und nickte nach hinten.
Therom verstand und versteckte sein Schmunzeln hinter der Rechten.
"Das habe ich gesehen! Jawohl!", rief Kitsune ärgerlich.
"Du willst wissen warum wir das Schiff nicht angreifen, obwohl wir wissen wo es versteckt ist, richtig?"
"Ja, das hatte ich eigentlich vor."
"Das ist einfach. Es liegt im Tiefseegraben östlich der Philippinen. Es ist der tiefste Punkt auf der Erde. Es ist nicht so als könnten wir nicht dahin gelangen. Aber das Kriegsschiff dort zu vernichten würde auch bedeuten, die Welt zu vernichten. Und deshalb lassen wir es. Wenn du allerdings eine schnelle und ungefährliche Methode kennst, um das Mistding in die Sonne zu werfen, fühle dich frei und sprich dich aus."
Therom hüstelte verlegen. "Wir bauen einen riesigen Löffel, nehme Manila als Ankerpunkt und schmeißen Taiwan auf das längere Ende?"
"Das ist so verrückt, dass es schon wieder plausibel klingt. Aber ich fürchte, die Taiwanesen könnten etwas dagegen haben", erwiderte sie seufzend. "Hast du noch weitere Fragen?"
"Ja. Wie kriege ich den Key aus Angrid heraus?"
"Nur der Key kann entscheiden, ob er seinen Wirt verlässt oder nicht. Er ist normalerweise inaktiv, bis auf seine permanenten Scans nach einem Kriegsbeginn unsererseits. Er geht normalerweise erst beim Tod seines Wirts auf einen neuen über.
Wir haben eine geringe Kontrolle darüber, wer dies sein wird, weil wir den nachfolgenden Wirt in die Nähe des Sterbenden bringen. Auch der Key hat ein Interesse daran, einen möglichst langlebigen Wirt zu haben. Tatsächlich nutzt der Key einen Teil seiner Energie, um den Wirt gesund und aktiv zu halten."
"Macht der Key auch schön?", platzte Therom heraus.
"Was?"
"Schon gut, schon gut", beschwichtigte der Fioran. "Eine Schnapsidee meinerseits."
"Nein, soweit wir feststellen konnten, verändert der Key das Äußere seiner Wirte nicht. Weder zum Vorteil, noch zum Nachteil. Warum fragst du dich das, Therom Fioran?"
"Ich bin zu oft in Angrids Nähe. Das zeigt mir die Unterschiede zwischen uns beiden nur zu deutlich auf", murrte Therom.
"Aber das sind doch nur Äußerlichkeiten. Und die heißen Äußerlichkeiten, weil sie rein äußerlich sind. Über den Menschen sagen sie gar nichts aus. Und wer sich nach Äußerlichkeiten richtet, der findet auch nur Äußerlichkeiten. Abgesehen davon..." Kuzo musterte den Fioran gründlich. "Abgesehen davon kannst du dich ja wohl kaum beschweren, Therom Fioran. Ein schlanker, drahtiger Mann mit einen klassisch schönen Gesicht muss sich um sein Aussehen jedenfalls keine Gedanken machen."
Suchend drehte Therom den Kopf. "Wo? Wo ist er? Ich sehe ihn nirgends."
"Kann es sein, dass du da einen klitzekleinen Minderwertigkeitskomplex hast, Therom?"
"Nennen wir es galoppierenden Realismus", brummte er.
"Nenne es wie du willst. Ich erkenne einen Minderwertigkeitskomplex, wenn ich ihn sehe.
Aber lass uns auf den Key zurückkommen. Du hast sicherlich schon herausgefunden wo du bist, und warum ich dich habe holen lassen."
"Ich wurde mehr mit dem Key verstrickt als ich eigentlich durfte. Und nun bin ich in der Dämonenwelt."
"Es muss "sollte" heißen, nicht "durfte", Therom. Der Key ist letztendlich eine Belastung für seinen Träger und seine Umgebung. Du hast dir aber durch deine Treue und Freundschaft das Recht erworben, den ganzen Hintergrund zu erfahren. Du weißt hoffentlich, dass außer dir und Angrid nur sieben weitere Naguad und neunzehn Menschen so viel oder sogar mehr über die Hintergründe wissen?"
"Ich habe so etwas geahnt, Dai-Kuzo-sama."
"Und du weißt sicherlich, dass es so bleiben soll. Uns liegt nichts daran, den Naguad nicht nur diesen Krieg aufzuhalsen, sondern ihnen auch schon den nächsten zu prophezeien. Lass sie alle Probleme nach und nach angehen."
Therom nickte langsam. Ja, dieses Wissen konnte durchaus bei einigen wenigen bleiben, ohne allen wirklich zu schaden. Die Zeit würde zeigen, wann jeder alles wissen musste, wissen durfte. "Ich stimme zu, Dai-Kuzo-sama."
"Ich bin erstaunt. Das ist keine Höflichkeit von dir, das ist dein Wesen, nicht wahr? Du bist so, Therom."
"Höflichkeit? Du bist die große Spinne. Der Respekt, den ich dir erweise, steht dir auch zu."
Ein Strahlen ging über Kuzos Gesicht. Ein Strahlen, das durchaus mit einem Sonnenaufgang mithalten konnte. "Habt ihr zwei das gehört? So geht man mit der Herrin der Daimon um, und nicht anders."
"Ha, das hält er auch nur tausend Jahre durch", murrte Kitsune.
"Oh, ich denke, er muss mir diesen Respekt schon bald nicht mehr zeigen", erwiderte Kuzo amüsiert. Sie war ein klein wenig größer als der Fioran und trug zudem hochhackige Stiefel. Also beugte sie sich leicht vor. Therom schluckte schwer, als dabei das ausladende und hübsche Dekolleté erst richtig in sein Blickfeld geriet. Doch dieser Anblick wurde schnell von Kuzos Gesicht verdeckt. Verwundert registrierte er die Tatsache, dass die große Spinne ihn küsste. Und mit noch mehr Verwunderung fühlte er, wie sein KI komplett auf den Kopf gestellt wurde. Es war kein unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil, es war angenehm, schön, atemberaubend, herrlich, und ein halbes Dutzend Steigerungen mehr, die ihm gerade nicht einfallen wollten, oder die er erst erfinden musste.
Als sich die große Spinne wieder von ihm löste, lächelte sie mehr als zufrieden, während der junge Fioran das Gleichgewicht verlor und sich auf seinem Hintern wiederfand. "Phantastisch", hauchte er.
"Danke. Das hört ein Mädchen doch immer wieder gern", sagte die große Spinne in einem erfreuten, beinahe singenden Ton.
"Das war ja wirklich mal ein Kuss. Unglaublich! So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich..."
"Oh, es war nicht nur ein Kuss. Es hat auch was mit KI zu tun." Lächelnd kniete sich die große Spinne neben ihm hin und ergriff sein Kinn. "Außerdem war das erst der Anfang, mein lieber Therom Fioran." Erneut verschloss sie seine Lippen mit einem Kuss, und diesmal schien wohlig wärmendes, alles nieder walzendes Feuer durch seinen Leib zu rasen.
"Und das ist erst der Anfang", hauchte sie verheißungsvoll. Zu diesem Zeitpunkt war der Fioran längst Wachs in ihren Händen.
***
"Herr Fridjof?"
Therom schreckte hoch. "Was? Ich muss eingeschlafen sein. Wer...?"
Doktor Li lächelte ihn freundlich an. "Sie hatten etwa fünf Stunden Schlaf. Ihrem Freund geht es besser. Das Leuchten hörte zwei Stunden nach Mitternacht auf, und er konnte selbst ein wenig schlafen. Als er vorhin aufgestanden ist bat er mich, Sie zu wecken."
Therom legte eine Hand an seine Schläfe. Hatte er das alles geträumt? Musste es nicht sogar ein Traum sein? Oder war es einfach zu gut gewesen, um ein Traum sein zu können? Er erinnerte sich an jede Sekunde, jede Bewegung, jede Berührung, an all das, was mit ihm geschehen war... Was mit ihnen geschehen war. Und dann hatte er hier geschlafen? Wie passte das zusammen?
Jene Körperstellen, die Kuzos Hände berührt hatten, schienen noch immer unter ihrer Berührung zu glühen, jene die sie geküsst hatte, standen praktisch in Flammen. Er erinnerte sich sehr genau an alles, was sie ihm abgefordert hatte und was er nur zu gerne zu leisten bereit gewesen war.
Auf den Punkt gebracht hatte er nicht einfach nur mit der Herrin der Dämonen geschlafen, er hatte ein absolutes Wunder erlebt. Ein Wunder, das wohl niemals getoppt werden konnte. Das beruhigte ihn und beunruhigte ihn im gleichen Maße. Er betrachtete seine Hände. "Ich... Legen Sie sich schlafen, Doktor. Sie haben es sich verdient."
Der Chinese lächelte liebenswürdig. "Keine Sorge, junger Fioran. Ein Dämon kommt sehr lange ohne Schlaf aus. Und falls du dich fragst: Ja, all das ist wirklich im Dämonenland geschehen. Die große Spinne hat dich kleinen Naguad nach allen Regeln der Kunst vernascht."
"Was?" Theroms Kopf ruckte hoch und stieß dabei mit dem des Chinesen zusammen.
"Autsch!" "Oh, das tut mir Leid, Doktor Li. Ich wollte... Was haben Sie gerade gesagt?"
"Ich habe gesagt, dass ich Ihren Vorschlag aufgreifen werde, Herr Fridjof. Ein ausgedehntes Frühstück und eine Mütze Schlaf werden mir gut tun. Immerhin habe ich als einziger keinen Schlaf bekommen. Nicht das ich mich darüber beschwere."
"Nein. Natürlich nicht. Haben Sie vielen Dank, Doktor Li. Sowohl Herr Kruger als auch ich waren in den besten Händen."
"Dann erlauben Sie mir, mich jetzt zurück zu ziehen. Wir werden sicherlich noch Gelegenheiten finden, um über dieses und jenes zu sprechen." Der Chinese verneigte sich lächelnd und verließ dann die Kabine.
Irrte sich Therom, oder wuchs der schmächtige kleine Mann urplötzlich in die Höhe, bekam eine gewaltige graue Mähne und ähnelte von hinten verblüffend dem Herrn der Wölfe? Nein, das musste eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Und was war mit der anderen Sache? Je mehr er daran dachte, desto unwirklicher erschien es ihm, dass es etwas geben konnte, das sich so verdammt gut anfühlte. Andererseits war es viel zu intensiv gewesen, um nur ein Traum gewesen zu sein. Und...
Hastig sprang er auf, öffnete seinen Kragen und starrte in den nächsten Spiegel. Tatsächlich! Auf seinem Hals hatte sich ein Hämatom gebildet! Er öffnete das Hemd und betrachtete sein linkes Schulterblatt. Vier lange rote Striemen zogen sich dort herab, genau an der Stelle, wo die langen scharfen Nägel der großen Spinne ihn geschnitten hatten. Tiefer nachzuschauen wagte er dann doch nicht. Es war also real gewesen. Und das musste er erst einmal verkraften.
"Was denn, Adonis? Muss ich dir jetzt einen Spiegel zum Geburtstag schenken, in dem du dich bewundern kannst?", klang die spöttische Stimme Angrids vom Eingang her auf.
Hastig zog Therom das Hemd wieder über die Schulter. "Wenn du wüsstest was ich erlebt habe..."
"Sie küsst gut, nicht wahr?", brummte Angrid amüsiert und stellte ein Tablett mit einem europäischen Frühstück auf dem Esstisch ab. "Dai-Kuzo-sama, meine ich. Sie verbindet ihre Küsse immer mit KI-Scans, wie sie es nennt. Eine einmalige Erfahrung." Angrid zwinkerte dem Freund zu. "Komm, setze dich und erzähle mir wie es war."
"Sie hat mich vernascht", platzte es aus dem Fioran heraus.
Entsetzt starrte Angrid ihn an. "Was?"
"Ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte ja auch nichts dagegen tun." Therom sah den Freund unsicher an. "Hat sie dich...?"
"Nein, verdammt, und ich beneide dich um diese Erfahrung. Soweit ich es weiß bist du der einzige Naguad, mit dem sie je... Nun ja. War es so gut wie ich es mir vorstelle?"
Therom räusperte sich verlegen. "Viel besser als gut. Schlicht und einfach unglaublich. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich bisher erlebt habe."
"Okay, ich bin hiermit hoch offiziell auf dich neidisch, sehr eifersüchtig und zutiefst betroffen. Warum macht sie so was mit dir, aber nicht mit mir?"
"Keine Ahnung. Sie hat zuvor noch irgendwas von inneren Werten geredet, als wir über den Key sprachen. Und dann... Und dann ging alles viel zu schnell. Anfangs. Danach ging es sehr viel gemütlicher zu. Sie hat übrigens gesagt, dein Artefakt hat reagiert, weil wir dem Schiff der Götter zu nahe gekommen sind. Du warst nie auf den Philippinen, oder?"
"Nein, ich hatte bisher nicht das Vergnügen. Und es erscheint mir besser, dass du alle unsere Geschäfte dort in Zukunft erledigst. Innere Werte? Ich bin noch keiner Frau begegnet, der so etwas wichtig war."
"Du begegnest anscheinend den falschen Frauen."
"Treffer und versenkt. Jetzt bin ich eifersüchtig, neidisch, betroffen und auch noch belehrt. Was für Stellungen hat sie denn bevorzugt?"
"Was denn? Willst du nicht mehr über den Key erfahren?"
"Das ist doch jetzt absolut unwichtig. Ich will halt nur wissen ob sie noch besser als Kitsune ist."
"Du hast mit der Herrin der Fuchsdämonen geschlafen?"
Angrid grinste breit. "Ich hatte ab und an die Ehre. Aber ich befürchte, die große Spinne ist noch um einiges besser."
"Heißt das, ich führe immer noch?"
"Was hat das denn mit führen zu tun?", murmelte Angrid ärgerlich.
"Es klang so als hättest du etwas auszugleichen oder aufzuholen", erwiderte Therom trotzig.
Die beiden Freunde sahen sich lange in die Augen. Dann deutete Angrid auf den Platz ihm gegenüber. "Friedensangebot. Du kriegst von meinen Brötchen und erzählst mir alles was du mit Kuzo getan hast. Im Gegenzug erzähle ich dir alles was ich mit Kitsune angestellt habe. Deal?"
"Warum komme ich mir nur gerade vor wie ein Frühpubertierender, der gerade ein unanständiges Bild entdeckt hat?" Therom setzte sich und griff nach einem Messer. "Gib mir ein Brötchen, bitte."


3.
Paris war an sich eine schöne Stadt. Sie war auch eine sehr lange Anreise wert. Ob sie aber genauso wie Venedig mit dem Motte "sehen und sterben" werben sollte war eher fraglich. Das war auch der Grund, warum Therom die Beine in die Hand genommen hatte, um vor einem Dutzend Flics durch die nächtlichen Straßen zu fliehen.
Angrid hingegen schien die Sache Spaß zu machen. Er lief rückwärts neben ihm her und grinste breit. "Also, wir laufen über die Point Noeuf und halten danach auf den Eiffelturm zu, okay? Dahinter wechseln wir wieder auf die andere Seite der Seine und schlüpfen in unserem Hotel unter."
"Bist du sicher, das nützt was? Immerhin hatten die Geheimdienstleute auf unsere Namen ausgestellte Haftbefehle."
"Vor denen wir nichts zu befürchten gehabt hätten, wenn dieses verdammte Land nicht sogar eine harmlose Tänzerin zum Tode verurteilt hätte, nur um einen Erfolg in der Spionageabwehr vorweisen zu können", brummte Angrid und lief wieder normal neben Therom her. "Außerdem steckt hinter dieser Verhaftung definitiv Torah. Ich kann den Kerl förmlich riechen. Und da weißt du halt nicht, ob du überhaupt lebend im Gefängnis ankommst. Weißt du, ich habe keine Lust zu sterben. Ich habe noch so viel vor, so viel zu erleben. Zum Beispiel steht noch eine Liebesnacht mit Dai-Kuzo auf meinem Plan."
"Träume weiter", erwiderte Therom grinsend, während sie über die Brücke hetzten. Er deutete nach oben, und die beiden Naguad sprangen auf das nächste Häuserdach. Unter ihnen liefen Flics aus drei verschiedenen Richtungen zusammen, sichtlich enttäuscht, ihre Beute nicht eingekesselt zu haben.
Die beiden Naguad schlichen auf die andere Dachseite und setzten über den Dächern von Paris ihren Weg zum Eiffelturm fort. "Wir müssen aber zurück. Ich habe das Geld im Tresor gelassen", sagte Angrid. "Nach unserer schönen Reise im Orient-Express, unserem problemlosen Wechsel rein in die Schweiz und wieder raus hätte ich nicht gedacht, dass die Probleme dann in Paris auf uns lauern würden."
"Lass das nicht deine Mutter hören", erwiderte Therom. "Vortein würde dir einen Knoten in die Beine machen und dir die Ohren so lang ziehen, dass du sie als Mütze benutzen kannst, wenn sie hört, dass du das Unerwartete nicht erwartet hast."
"Touché", erwiderte Angrid grinsend. "Trotzdem Hotel?"
"Was bleibt uns anderes übrig? Solange keine Cyborgs im Spiel sind kommen wir relativ leicht aus dieser Falle raus."
Vor dem Eiffelturm endeten die Häuser. Therom konnte sich noch sehr gut an die Weltausstellung erinnern, als Monsieur Eiffel das hässliche Stahlgebilde in die Höhe geklotzt hatte. Es war damals als einmalige Aktion geplant gewesen, aber Paris, die Stadt der Liebe, hatte die hässliche Konstruktion sofort in ihr Herz geschlossen und das Stahlgebilde zu ihrem Wahrzeichen erklärt. Allerdings gab Therom dem Gerippe höchstens weitere zwanzig Jahre, bis Paris seiner überdrüssig wurde und es endlich abbauen ließ.
Die beiden Naguad huschten von den Dächern herab und eilten auf den Eiffelturm zu. Der Platz unter dem Turm war frei von Flics und flanierenden Personen. Nun, es war schließlich auch schon weit nach Mitternacht. Und außer den Polizisten trieben sich nur noch Nachtschwärmer, Geheimagenten und die beiden Freunde in den Straßen herum.
Sie, und die drei einsamen Gestalten unter dem Eiffelturm, die sie zu erwarten schienen.
Die Naguad wollten schon ausweichen, aber da flammte ein Streichholz auf und entriss das Gesicht des Mittleren der Dunkelheit. "Guten Morgen, meine Herren Taral und Fioran", sagte Juichiro Torah, während er sich eine Zigarette anzündete. "Die Verhandlungen mit dem Wirtschaftsministerium endeten etwas abrupt, oder? Tja, seit die Franzosen diese kleine Tänzerin getötet haben, stehen sie international stark in der Kritik. Vor allem der Geheimdienst braucht einen richtigen Ermittlungserfolg, um sich zu rehabilitieren. Da kamt ihr zwei Idioten gerade recht."
Mit der Linken wedelte er das Streichholz aus und grinste die Naguad an. "Ich habe mir schon gedacht, dass ihr zu schlau seid, euch von den Menschen gefangen nehmen zu lassen. Und ich habe gewusst, dass ihr dem Eiffelturm nicht widerstehen konntet. Aber Kinder sind nun mal leicht berechenbar."
"Torah", zischte Angrid. Langsam drückte er sich an Therom vorbei.
Doch der Freund hielt ihn zurück. "Warte, Hitzkopf! Seine Begleiter emissieren zu viel KI!"
Angrid stutzte und bemerkte es selbst. "Was zum...?"
Torah grinste wölfisch. Seine weißen Zähne schienen in der Dunkelheit aufzuleuchten. "Gut erkannt, Therom Fioran. Aber ich wusste gleich, dass du der Denker bist und der Bluthund für das Grobe zuständig ist. Das war auch schon bei deinem Vater und Michael Fioran so." Er machte eine ausladende Handbewegung. "Darf ich vorstellen? Meine Dämonen. Ihr habt die große Freude, die Prototypen zu testen. Ich bin gespannt wie ihr euch machen werdet."
"Dämonen? Prototypen?", argwöhnte Angrid.
"Ich denke, wir werden die Erklärung gleich bekommen. Und sie wird uns nicht im mindesten gefallen", murmelte Therom.
"Nur wenn alles so läuft wie ich es plane, Therom Fioran." Torahs Grinsen erstarb. Er schnipste mit den Fingern. "Holt sie euch!"
Die beiden Gestalten schienen vor den Augen der Naguad in sich zusammen zu sinken. Sie bildeten formlose kleine Pfützen. Und aus diesen Pfützen stieg etwas neues, widernatürliches auf.
Links von Torah entstand ein Hybride, einem Zentauren nicht unähnlich. Das Wesen, fast drei Meter hoch, legte den Kopf in den Nacken und brüllte auf eine gespenstische Weise.
Die andere Pfütze spie einen Menschen aus, eine groteske, verformte und karikierte Version eines französischen Polizisten. Sie war fünf Meter hoch und trug einen Knüppel in der Hand, der die Bezeichnung Baumstamm durchaus verdient hatte. Sein Schrei glich mehr einem düsteren, Unheil verkündenden Grollen.
Dann sprangen die beiden Gestalten herbei, griffen die Freunde an.
Angrid zögerte nicht lange und fing den nieder sausenden Schlagstock auf. "Was sind das für Figuren, verdammt? Für Projektionen sind sie zu real!"
Therom, der gerade dem haschenden Griff des Zentauren durch einen Rückwärtssalto entkam, antwortete: "Es sind Menschen! Menschen, die mit fremden KI aufgeladen wurden! Geradezu übersättigt!" Therom wehrte den nächsten Hieb ab und ging in den Angriff über. Er rannte in den Zentauren hinein und trieb seine Faust tief in dessen Tierleib hinein. Die große Gestalt ächzte erschrocken auf.
Doch das reichte dem Fioran noch nicht. Wie ein Blitz passierte er die Riesengestalt und machte einen gewaltigen Satz auf den Magier zu. Der grinste nur und breitete die Arme aus. "Komm, junger Mann. Versuche dein Glück gegen Torah, den Magus!"
KI leuchtete eisig blau um seinen rechten Arm, als er auf die Erde nieder fuhr wie ein rächender Gott. Dann schlug er mit all seiner Kraft auf Juichiro Torah ein - und zerschmetterte die Bodenplatten mit seinem Hieb. Unter ihm war ein beachtlicher Krater entstanden.
Torah schwebte über dem Krater in die Luft. Er grinste breit. "Ich nehme das mit dem denken zurück, Fioran. Nicht nur, dass du deinen Partner in Stich gelassen hast, du hast noch nicht einmal erkannt, dass ich gar nicht wirklich hier bin. Dies ist eine Projektion. Ein dreidimensionales Hologramm aus euren Werkstätten. Ich lasse mich hierher projizieren, während ich in Wirklichkeit am sichersten Platz von ganz Paris bin."
"Interessant!", raunte Therom und wandte sich wieder Angrid zu. Wenn er Torah nicht direkt angreifen konnte, musste er dem Freund wieder helfen.
Der hatte es in der Tat mit beiden Gegnern zu tun, obwohl Therom den Zentauren recht übel erwischt hatte. Mit rechts hielt Angrid den Polizisten von sich, mit links wehrte er gerade einen Hieb des Zentauren ab.
Therom sprang schnell zurück, um dem Zentauren den entscheidenden Hieb zu versetzen, da begann der Riese zu zucken und zu wanken. Er brüllte auf eine unwirkliche, grausige Art, dann fiel er auf die Seite. Auch der Flic brüllte sein Entsetzen und seine Schmerzen hinaus, ließ den Schlagstock fallen und sackte zuerst in die Knie ein, danach versank er in sich selbst und bildete erneut eine große Pfütze.
"Oh. Das habe ich nicht erwartet. Na ja, es waren halt Prototypen. Ich verabschiede mich dann bis zum nächsten Mal, meine Herren", sagte das Hologramm und erlosch.
"Verdammt!", rief Angrid wütend. "Verdammt!"
Therom schüttelte ärgerlich den Kopf. Das war ihre Chance gewesen. Eine wirklich gute Chance, wie sie die Naguad in den letzten drei Jahrhunderten vielleicht zwei- dreimal erhalten hatten. Und dann hatten sie so kläglich versagt.
In den Pfützen zeichneten sich menschliche Konturen ab, während die Pfützen sich allmählich verflüchtigten. Zurück blieben zwei menschliche Körper, die wie mumifiziert wirkten, Entsetzen auf den Zügen und pure Angst in den Augen.
"Na toll. Jetzt haben wir uns erst Recht Ärger eingehandelt. Zwei Tote", murmelte Therom ärgerlich.
"Aber die gehen nicht auf unser Konto."
"Erkläre du das mal der Polizei, die ohnehin gleich hier sein wird, so wie die beiden gebrüllt haben." Therom warf den Toten einen letzten Blick zu. "Verschwinden wir hier. Nächster Stopp ist Dresden. Michael wird uns zur Schnecke machen."
Unschlüssig stand Angrid vor den beiden Toten, dann nickte er. Sie unterquerten den Eiffelturm und waren schnell im Häusergewirr verschwunden.


Epilog:
In der obersten Etage des Eiffelturms kletterte Juichiro Torah gerade aus dem holographischen Projektor, der sein Bild unter den Turm gesendet hatte.
Ein französischer Beamter musterte ihn vorwurfsvoll. "Monsieur Torah, Ihre neue Waffe hat nicht gehalten was sie versprochen hat."
"Sicher nicht. Sie war auch nur ein Prototyp. Aber wenn Sie bereit sind, mir weitere zum Tode verurteilte Verbrecher zur Verfügung zu stellen, arbeite ich an der Vervollkommnung. Stellen Sie sich eine Armee dieser Giganten vor. Unempfindlich gegen Gewehrfeuer, gegen Tanks, gegen Flugzeuge."
Der Franzose lächelte dünn. "Und dann ist es wie mit den Tanks. Der Gegner entwickelt seine eigenen Monster und kontert uns aus. Dann zählen wieder nur noch Leistung, Taktik, Opferbereitschaft."
"Mag sein, aber bis sie die Waffen kopieren können, gehört das Schlachtfeld den Originalen."
"Zugegeben", sagte der Beamte.
"Und bis dahin werten wir das Experiment als Erfolg. Die beiden Toten können Sie problemlos den Herren Fridjof und Kruger unterstellen. Nun haben Sie einen richtigen Grund, um sie zu verfolgen."
"In der Tat. Das ist erfreulich. Vielleicht gelingt es so, die Geheimloge, die so lange ausländischen Einfluss auf unser geliebtes Vaterland ausgeübt hat, restlos auszulöschen."
"Das wünsche ich mir", sagte der Magier lächelnd. Es würde ein nächstes Mal geben für ihn und die beiden Naguad.
Er winkte einem seiner Leute zu. Der Inder verbeugte sich leicht zum Zeichen das er verstanden hatte. "Den Zeppelin für Meister Torah."
Ein weiterer Gefolgsmann, ein Schwarzafrikaner, nickte und begab sich an ein Funkgerät.
Ein nächstes Mal, aber nicht hier in Paris.

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Anime Evolution: Krieg
Episode sieben: Werde Staub

1.
"Der Krieg ist vorbei, hast du gehört?", raunte Angrid Taral seinem besten Freund Therom Fioran ins Ohr.
"Mein lieber Herr Gesangsverein." Der Fioran-Attentäter registrierte die Nachricht mit hoch gezogener Augenbraue, während er weiterhin interessiert den Ausführungen des U.S.-amerikanischen Vier-Sterne-Generals folgte, der ihm und anderen Managern von Berger Corporation die Vorteile des Einstiegs in den Atombombenbau erläuterte.
Sie hatten also aufgehört. Endlich. Es war höchste Zeit für das kleine asiatische Land gewesen, genauso wie es eindeutig feststand, wer gewonnen hatte, und welche Ideologie es fortan annehmen würde. Was nun kommen würde war eine Orgie der Gewalt, der Exzesse der Sieger an sich, vorgenommen an den Verlierern, an den Kollaborateuren und all jenen, die sie verdächtigten, in irgend einer Form nicht genügend Widerstand gegen die Amerikaner und die Kapitalisten im Allgemeinen geleistet zu haben. Natürlich konnten sie auch zur Tagesordnung übergehen, den Verlierern verzeihen, alle in die große Gemeinschaft ihres Staates integrieren und den Sieg als Sieg verbuchen, der das Nationalgefühl auf Jahrzehnte prägen würde. Aber das würden sie nicht. Therom kannte die Menschen zu gut, um so naiv zu sein, so ein gnädiges Ende des Krieges wirklich zu erwarten.
Allerdings erklärte dies, warum ein General der U.S. Air Force hier bei ihnen vor Michael Berger aufmarschiert war, um die technische und finanzielle Kraft der Berger-Gruppe für die aufwändige Produktion von atomaren Sprengköpfen und Interkontinentalraketen zu rekrutieren.
Natürlich kannte er die Antwort von Michael schon. Nahe am Polarkreis, in den unterirdischen Naguad-Fertigungsanlagen, produzierten sie Waffen, deren Zerstörungskraft über alles hinaus ging, was den Menschen heutzutage zur Verfügung stand. Waffen, die sie hier auf der Erde niemals einsetzen würden, und deren Einsatz sie auch immer verhindern würden. Jetzt auf dem Niveau terranischer Waffentechnologie anzufangen wäre eine Beleidigung allererster Ordnung gewesen. Das Problem war halt, höflich nein zu sagen, und weder die U.S. Air Force zu verärgern, noch sich in das Milliardengrab der Raketenproduktion hinein ziehen zu lassen.
Therom schnaubte frustriert. All die Mittel, die für Ost-West-Ideologien ausgegeben wurden, all die Tatkraft, die in den Aufbau einer unnützen Waffenindustrie investiert wurde, all die viel versprechenden jungen Talente, die Zerstörung statt Fortschritt schufen, fraßen so viele Ressourcen, dass die Menschheit in diesem Jahrhundert nicht über die Mondlandung hinaus kommen würde. Die Jupitermonde, der Mars oder wenigstens eine permanente Station auf dem Mond waren da nicht mehr als ein wagemutiger Traum. Ironisch nur, dass auf der von der Erde abgewandten Seite des Mondes längst naguadsche Automatikstationen existierten. Etwas, was man den paranoiden Menschen auf beiden Seiten des so genannten Eisernen Vorhangs nicht unbedingt unter die Nase reiben sollte.
"Aber wird es die Region stabilisieren? Oder ins Chaos stürzen?"
Angrid lächelte dünn, während sein Blick auf den Vier-Sterner zielte. "Was erwartest du? Die größten Unruhestifter sind doch abgezogen. Vorerst."
"Die zweitgrößten Unruhestifter sind aber zweifellos noch da", erwiderte Therom leise mit Bezug auf die sowjetischen Militärberater im asiatischen Land. Er fügte noch leiser hinzu: "Ich hasse Stellvertreterkriege."
"Wenn Sie Fragen haben, Sir, bitte ich Sie, diese laut zu stellen", tadelte der General.
Therom lächelte dünn. "Keine Fragen. Nur eine Feststellung. Ein eigenes Zentrifugalwerk würde uns mehrere Milliarden Dollar kosten. Kanadische, nicht die schwächeren U.S.-Dollar. Wir sind eine Privatfirma. Glauben Sie wirklich, ausgerechnet unser kanadisches Heimatland würde uns ein Werk subventionieren, mit dem wir U.S.-Waffen bauen werden? Ansonsten wäre die Investition durchaus geeignet, den ganzen Konzern finanziell über den Jordan zu schicken. Zum Beispiel wenn der Air Force unsere Raketentechnologie nicht gut genug ist. Oder wir nicht genügend Uran zur Anreicherung bekommen. Engpässe gibt es immer wieder. Es ist immer ein Fehler, etwas zu bauen mit dem sich eine Sache konstruieren lässt, die irgendwann nicht mehr gebraucht wird"
"Es ist Ihre patriotische Pflicht, uns...", begann der General, und bevor Michael Berger eingreifen konnte, war Therom aufgesprungen. "Sie vergessen zwei Dinge: Wir SIND eine kanadische Firma, und unsere einzigen staatlichen Pflichten haben wir gegenüber dem Commonwealth.
Unsere Beteiligung am Korea-Krieg hat unserem Konzern mehr geschadet als genutzt und beinahe zur Liquidierung geführt. Hätte die Yodama-Gruppe uns damals nicht massiv unter die Arme gegriffen, gäbe es uns heute nicht mehr. Das war eine sehr lehrreiche, schmerzhafte und vor allem eindringliche Erfahrung.
Im Anbetracht all dieser Fakten wollen Sie uns also wirklich erklären, Sir, wir sollten erneut einen militärischen Zweig eröffnen?"
"Tjore", mahnte Michael ernst.
"Schon gut. Ich wollte nur die Bedenken von finanzieller Seite zur Sprache bringen."
"Finanziell", begann der General, "kann ich Ihnen weit reichende Garantien für die Abnahme von vierhundert Interkontinentalraketen im ersten Jahrzehnt geben, dazu eine Option für..."
Nun hob Michael Berger die Hand. "Vierhundert? Sie planen vierhundert Raketen mit multiplen Sprengköpfen, von denen einer die achtzehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe hat? Eine Frage: Waren Sie jemals in Hiroshima? Haben Sie den Ground Zero besucht? Das Museum? Und dann wollen Sie stärkere Waffen bauen? Himmel, wollen Sie die Erde umgraben?"
"Die Sowjets haben diese Waffen. Und wenn wir nicht ein gleichgroßes Bedrohungspotential dagegen setzen, dann..."
"Mag sein, dass Ihr Staat auf Abschreckung setzt. Ich setze auf funktionelles, kostendeckendes arbeiten. Und ich bin von Ihrem Konzept nicht überzeugt, so viele Atomwaffen zu bauen, um die Sowjetunion gleich mehrfach zerstören zu können, nur weil ihre Raketen eine solche Sprengkraft haben. Warum lassen Sie die Russen sich nicht mit mehr und noch mehr Raketen finanziell verausgaben und belassen es bei einem realistischen Zerstörungspotential? Zudem würde es vollkommen reichen, ihre Militärbasen und ihre Ballungsgebiete zu zerstören, sprich, ein Zehntel Ihres jetzigen Arsenals würde diesen Job dreifach erfüllen.
Ganz davon abgesehen, das unser Premierminister bereits hat durchblicken lassen, dass Kanada keine Genehmigung für eine solche Waffenfabrik erteilen würde." Berger sah auf. "Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen zuvorderst das Einverständnis Kanadas einholen, bevor wir uns ernsthaft mit der Materie beschäftigen. Das haben Sie nicht getan. Wenn Sie in dieser Frage schon unzuverlässig sind, wie soll das erst in der Zukunft werden?"
"Nun, das wäre Punkt achtzehn, die Umsiedlung der neuen Industrie nach North Dakota, und..."
Therom sprang auf. Dabei schlug er beide Hände derart kraftvoll auf den Konferenztisch, dass es laut knallte. "Entschuldigen Sie mich, bitte. Beim Thema Umsiedlung endet meine Aufmerksamkeitsspanne."
Ohne ein weiteres Wort verließ Therom den Konferenzraum.

Draußen ergriff ihn eine starke Hand an der Schulter und stoppte ihn. Er wirbelte herum. "Ich weiß was du sagen willst, Angrid, aber ich habe Recht! Alleine schon der finanzielle Aspekt ist verrückt. Das kann ja nur den U.S.-Leuten einfallen, und..."
"Nun, ich gebe zu, eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, aber wirklich verwechselt hat mich noch niemand mit meinem Bruder", spottete Karen Taral.
Verdutzt starrte Therom die blonde Frau an. Wer sie sah, konnte kaum glauben, das sie bereits fünfundsechzig war. Sie wirkte mehr wie siebzehn, und das lag nicht nur an ihren hervorragenden Arogad-Genen. Ihr Training als Bluthund der Arogads und ihre strenge Mutter Vortein taten da sicher ihr übriges, kombiniert mit klassischen terranischen Schminktricks. "Oh. Oh, Karen. Tut mir Leid, aber da drin ist mir der Kragen geplatzt. Und normalerweise ist es Angrid, der mir nachläuft und mich zu beruhigen versucht, und..." Er ließ die Schultern und den Kopf hängen. "Das gibt einen Riesenärger mit Michael."
"So?" Die Taral lächelte überwältigend. "Dann solltest du besser nicht mehr hier sein, wenn sie mit der Konferenz fertig sind. Es ist sowieso Mittag. Warum lädst du mich nicht in ein Restaurant ein? Ich meine, Vancouver wird doch so etwas haben."
"Oh, es gibt dafür einen guten Grund: Angrid."
"Angrid? Was sollte er dagegen haben, wenn ausgerechnet du mich zum Essen einlädst, Therom?"
Der Fioran runzelte die Stirn. Dann schluckte er hart. "Natürlich. Ich vergaß. Bei der großen Hatz auf deine potentiellen Verehrer stehe ich natürlich außen vor. Ich bin ja auch mehr so etwas wie der Ersatzbruder und so..."
"Siehst du? Bei dir schöpft er einfach keinen Verdacht, mein guter Therom", sagte sie lächelnd und hängte sich vergnügt an seinen rechten Arm. "Restaurant. Jetzt. Essen. Wir. Keine Widerrede."
"Wie käme ich dazu, einem Taral den Befehl zu verweigern? Vor allem wenn er so hübsch ist wie du?", scherzte Therom.
Karen kommentierte seine Worte mit einem amüsierten Lachen. "Aus dem gleichen Grund hörst du wohl auch auf Mutter, was?"
Therom drückte den Knopf für den Expresslift. Heftig schüttelte er den Kopf. "Deine Mutter ist die schönste Frau, die ich kenne. Sie sieht sogar noch besser als Kitsune oder sogar Eridia aus. Aber ihr gehorche ich schlicht und einfach nur aus Angst."
"Angst?" Interessiert hob Karen beide Augenbrauen. "Du hast Angst vor Mutter?"
"Welcher Mann mit ein wenig Verstand hat keine Angst vor Vortein?", erwiderte der Fioran mit einem Schaudern in der Stimme. "Von Eikichi Otomo vielleicht einmal abgesehen."
"Wartet! Haltet den Fahrstuhl an! Ich will mit!", klang die Stimme von Angrid im Gang auf.
Karen verzog missmutig das Gesicht, dann drückte sie energisch auf den Knopf, der die Türen schloss. Sekunden bevor der Taral den Fahrstuhl erreichen konnte, glitt die Tür zu.
"Das war nicht nett von dir", tadelte Therom.
"Es war nicht nett von Angrid, sich aufzudrängen", konterte Karen. "Apropos Eikichi Otomo. Du hast davon gehört?"
"Wovon gehört? Meinst du die Sache mit dem Core-Nest in Japan, in das dich ausgerechnet deine Schutzbefohlene hinein gezerrt hat? Euer Glück, dass ich Eikichi einen Tipp gegeben habe."
"Oh, danke dafür. Ich wusste nicht, dass du es warst, der Eikichi informiert hat. Hat uns, glaube ich, das Leben gerettet."
"Na, Schwamm drüber. Hauptsache, euch zwei geht es gut."
Für einem Moment sah Karen zur Seite. "Ja, uns geht es gut. Und einigen geht es sogar besser als gut."
"Orakelst du? Weißt du, ich war schon immer schlecht darin, die Andeutungen und Orakelsprüche von Frauen zu verstehen. Oder um konkret zu sein, ich finde darin keinen Sinn."
"Nein, ich orakele nicht. Ich wollte nur feststellen, dass jetzt wo die zwei fest zusammen sind, Helen irgendwie sehr glücklich und zufrieden wirkt, und..."
"Moment, junge Dame, hast du gerade gesagt, Eikichi und Helen wären zusammen?" Therom hustete angestrengt. "Junge, Junge, das muss ich erst mal verdauen."
Argwöhnisch sah Karen den Freund an. "Du machst mir doch jetzt nicht auch noch Vorwürfe, oder? Ich meine, wie oft musste ich mir das anhören, das ich doch Helens Bluthund wäre, und das ich sie vor den Fängen dieses Menschen hätte bewahren müssen. Bla, bla, bla. Ich bin es Leid."
Nun war es an der Reihe von Therom, verdutzt auszusehen. Dann begann er zu lachen.
"Lachst du mich gerade aus, Therom Fioran? Weil, wenn du es tust, bist du nicht sehr nett zu mir", tadelte Karen.
"Nein, ich lache dich nicht aus. Ich lache über diese vollkommen verrückte Welt. Und ich wette, Dai-Kuzo-sama hat auch da wieder ihre Hände drin."
"Ach, deine alte Immer mal wieder-Flamme", murrte Karen. "Ich erkläre es dir beim essen. Dann wirst du es verstehen. Und noch einiges mehr. Versprochen."
"Einverstanden. Ich kenne da ein wirklich gutes Restaurant am Hafen." Er lächelte die blonde Frau an. "Und der Tag, an dem ich dich auslache ist der Tag, an dem ich dich heirate. So unwahrscheinlich ist das."
"Ach, ist das so?", erwiderte Karen und verstärkte den Griff um Theroms Arm ein wenig. "Wir werden sehen, wann du mich auslachst."
***
Vancouver war eine der aufstrebenden Städte der Westküste. Entstanden im Goldrausch des vorigen Jahrhunderts hatte sie eine Entwicklung wie eine Explosion mitgemacht. Nach dem Gold hatte sie die anderen Schätze der Westküste entdeckt: Holz, Seefisch, Metalle. Seither war sie immer nur gewachsen, niemals geschrumpft. Mittlerweile war sie der bedeutendste Hafen Kanadas, und durch den großzügigen Naturhafen und die klimatisch günstige Lage sowie die geographische Nähe zur USA würde sie sicher bald auch der wichtigste Umschlaghafen der Westküste werden, vor allem für all jene asiatischen Länder, die in den Westen verkaufen wollten, aber aus welchen Gründen auch immer die Amerikaner meiden wollten.
Im Zuge der Entwicklung hatten die Kanadier eine gemütliche Millionenstadt geschaffen, die sich multikulturell, aber kanadisch organisiert gab. Dutzende, hunderte renommierter Firmen hatten sich hier niedergelassen, und Berger Corporation war eine der ersten gewesen, als Vancouver 1886 offiziell gegründet worden war. Damals hatte es nur ein kleines Büro gegeben, das Gold von den Schürfern angekauft hatte, und das zu einem Preis, der immer ein paar Cent über den anderen Einkäufern gelegen hatte. Dies war die Grundlage für das Erfolgsgeschäft geworden, welches Berger Co. etabliert hatte. Heutzutage war Vancouver neben New York die wichtigste Nebenstelle des weltweit agierenden Konzerns, und es sah nicht so aus, als würde dem Konzern in nächster Zeit die Puste ausgehen. Mittlerweile sprach man in den Chefetagen sogar davon, auf den Computerzug aufzuspringen und in Radioröhren und mechanische Relais zu investieren. Den Naguad unter ihnen sowie den eingeweihten Menschen der beiden Familien Berger und Yodama war natürlich klar, dass Röhren und Relais bald von digitalen Speichermedien und Festspeicherkristallen abgelöst werden würden, weshalb diese Geschäftsidee nicht populär war. Ohnehin mussten Berger Co. aufpassen, nicht zu viel Naguad-Wissen zu verbreiten, um einerseits nicht zu mächtig zu werden und andererseits kein lohnenderes Ziel darzustellen. Mit dem Schutz der Erde und dem Kampf gegen Tora und den Core hatten die Naguad auf der Erde ohnehin die Hände voll. Es mussten nicht noch mehr gierige Spekulanten, Investitionshaie und neidisch schielende Geheimdienste dazu kommen als ihnen ohnehin schon auf den Fersen waren.

Ein besonderer Ausblick im nahen Renaissance-Hotel hatte es Therom schon seit langem angetan. Das herrliche Panorama des Hafens sowie die raffinierte, aber nicht überborderte Küche hatten das hauseigene Restaurant des Hotels schon lange zu einem seiner Favoriten gemacht.
Als Stammgast erhielt er natürlich einen Tisch in bester Lage am Fenster, und mit einer gewissen Zufriedenheit registrierte er, niemanden in direkter Hörweite sitzen zu sehen.
Allerdings kannte Angrid diesen Platz zur Genüge und würde notgedrungen irgendwann hier auftauchen, sobald ihn die ewige Sorge um sein kleine Schwester plagte. Und die Sorge würde ihn plagen, selbst bei ihm, Therom, dem langjährigen Freund und Wegbereiter des Arogad-Bluthunds. Es war schon ein Kreuz mit dem Taral. So locker und freigiebig er in seinem Liebesleben war, so sehr verhätschelte und bewachte er seine kleine Schwester. Das hübsche Kind war nun beinahe siebzig, und hatte nicht einmal eine ihrer Beziehungen der Familie vorstellen können, weil keiner es hätte mit Angrid aufnehmen können. Egal ob es sich um einen Naguad oder einen Menschen gehandelt hatte. Viele Verehrer von Karen hatte Angrid dann auch schon im Vorfeld in die Flucht geschlagen. Dabei wollte er nur das Beste für sie. Was das war, davon hatte Karen allerdings eine vollkommen andere Vorstellung als ihr überbeschützender Bruder. Selbst das gute Zureden von Aris Taral, seinem Vater, und Vortein Arogad, seiner Mutter, hatte Angrid nicht davon abbringen können, seine Schwester zu beschützen.
Die nahm es mit Fassung, Humor, ab und an einem depressiven oder hysterischen Anfall, aber ansonsten sportlich.

"Also", begann Therom, nachdem er die Weinkarte wieder fort geschickt hatte, um für sich grünen Tee und für Karen eine süße Limonade zu ordern, "was genau ist in Japan passiert?"
"Nun", murmelte Karen, nahm eine der Blumen aus der Vase und begann mit dem Stiel zu spielen. "Nun."
"So schlimm?", argwöhnte Therom.
"Noch schlimmer." Sie seufzte viel sagend. "Uns wurde eine Information zugespielt, in der vom japanischen Nest die Rede war. Helen hielt die Nachricht für zu wichtig um sie zu ignorieren und reichte sie sofort weiter. Danach bestand sie darauf, die Information zumindest zu überprüfen. Doch aus der simplen Überprüfung wurde eine regelrechte Hetzjagd durch Toras Leute und mehr als ein Dutzend ihrer Kampfcyborgs. Ich hatte zwar versucht, unsere nächste Zweigstelle zu informieren, aber bevor Eikichi und Karl mitten im Nirgendwo auftauchten um uns zu retten, hätte ich nicht daran geglaubt, das sie mich ernst nehmen."
"Euch retten? Zwei Männer sollen geschafft haben, womit der beste Bluthund der Taral nicht fertig geworden ist?", tadelte Therom.
"Sie waren ja nicht alleine. Sie hatten trainierte Leute dabei, fast zwei Dutzend. Gut bewaffnet, erfahren, die ideale Verstärkung gegen Toras Leute. Sie haben dann kurzen Prozess gemacht, und danach wurden Helen und ich in ihr Hauptquartier verbracht.
Da hat mir Eikichi dann erzählt, während Helen erschöpft im Nebenraum schlief, warum er sich vor ihr fürchtete. Vor allem vor dem Moment, wenn sie aufwachen würde."
"Ach, die Geschichte. Das Stadthaus, Dresden. Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen." Therom lächelte dünn. "Eine tolle Geschichte. Uns war allen klar, das der Tod seiner Eltern Eikichi mehr mitgenommen hatte als er zugab. Aber das er Helen nur an den Augen erkannt hatte, als sie mit blutigem Schwert im Zimmer seiner Eltern stand, hat keiner von uns erwartet. Als wir dann dahinter kamen und ihr Zimmer im Stadthaus mit Waffengewalt gestürmt hatten, war er schon weg - ohne ihr ein Haar gekrümmt zu haben. Aber seit beinahe fünfunddreißig Jahren haben die zwei sich nicht einmal ausgesprochen. Obwohl es beiden weh tat. Ihr, Eikichi im Glauben zu lassen, sie hätte seine Eltern getötet - und ihm, Helen glauben zu lassen, er würde dies noch immer tun. Wenn sie also zusammen sind, wie du sagst, dann werden sie sich endlich ausgesprochen haben."
"Wenn du alles schon weißt, warum erzähle ich dann überhaupt noch?", murrte sie.
"Entschuldige bitte. Aber ich war vom ersten Moment der Tragödie mit dabei, in allervorderster Front. Michael hat mir mal gesagt, dass er Helen einen Mann wie Eikichi wünscht. Ein Mann, der all die Ideale und die Ziele vertrat, denen er sich selbst auch verpflichtet fühlt. Aber wie das nun mal so ist, den Wunschkandidaten des Vaters mögen die Mädchen meistens nicht. Also hat er die Zügel schleifen und die beiden einfach machen lassen. Ich gebe zu, sie haben lange gebraucht, aber schließlich haben sie doch zusammen gefunden."
Karen lächelte schief. "Oh ja. Und zwar stantepede ohne lange zu zögern. Und das gleich mehrmals. Gut, das ich mich mit den Jungs von Eikichis Team ordentlich betrunken habe. So musste ich mir die beiden wenigstens nicht durch die Papierwände anhören. Die hatten ordentlichen Nachholbedarf. Und Karl ist ein wunderbarer Saufpartner für positive Gelegenheiten." Sie seufzte. "Und für traurige Gelegenheiten auch. Aber egal, das erklärt, warum Eikichi von Michael noch nicht umgebracht wurde. Oder gevierteilt. Oder beides. Der arme Junge ist sich in dem Punkt noch nicht ganz sicher, was Helens Vater mit ihm anstellen wird. Andererseits ist er sich ziemlich sicher, Eridia auf seiner Seite zu haben. Sie wird ihn beschützen. Oder seinen Resten ein ehrenvolles Begräbnis verschaffen."
"Sarkasmus war noch nie deine starke Seite", tadelte Therom.
"Ich überbringe Eikichis Worte eins zu ein", konterte sie und nahm dankbar ihren Softdrink vom Kellner entgegen, der bei ihrem freundlichen Lächeln bis unter die Haarspitzen errötete.
"Ich weiß wie Michael darüber denkt. Und ich weiß wie Angrid dazu steht. Er ist vollkommen auf Eikichis Seite, möchte ich wetten", sinnierte Therom und kostete von seinem Tee. "Aber wie ist es mit Eridia? Ich meine, du kommst doch aus Japan. Was erzählt man sich so im Yodama-Haupthaus?"
"Oh, Eridia wäre dieses Jahr drauf und dran gewesen, die beiden zu zwingen, sich auszusprechen. Man konnte die wehmütigen Seufzer und die ausgeschnittenen Fotos und Berichte aus Zeitungen und Zeitschriften in ihren Räumen ja so schon kaum noch ertragen - und das war nur das was mir Karl erzählt hat. Rate mal, warum ich mit Helen eigentlich in Japan war."
"Oh", machte Therom. "Oh, das passt gut zu Eri. Und es würde mich auch nicht wundern, wenn sie die ganze Geschichte mit dem Nest eingefädelt hätte, damit Eikichi Helen retten kann. Diesmal hat sie also keine Fehler gemacht."
"Wie, diesmal?" Interessiert sah Karen auf.
Therom zögerte. Doch dann gab er sich einen Ruck. "Du weißt, damals als Eikichi wie ein kleiner zweiter Lupin in Helens Zimmer eingedrungen war, habe ich dem Team angehört, das sie retten wollte. Letztendlich war es nicht notwendig, weil Eikichi nicht in der Lage gewesen war, sich an der vermeintlichen Mörderin seiner Eltern zu rächen.
Danach war ich bei Michael, der mit Eridia telefonierte - natürlich mit unserer Naguad-Technik. Dabei kam heraus, das Eridia zwar alles Menschenmögliche getan hatte, um Eikichis Eltern vor Tora zu beschützen... Aber nicht vor den örtlichen Yakuza, die von unserer Zweigstelle, welche die Otomos leiteten, versucht hatten, Schutzgeld zu erpressen. Das war uns allen so banal erschienen, das wir sie einfach ignoriert haben. Als sie ihrer Erpressung Taten folgen ließen, taten wir auch etwas. Aber inkonsequent, ungenügend, zu wenig. Das Ende vom Lied waren zwanzig tote Yakuza und ein Ehepaar, das für uns Naguad, für diese Welt noch Großes hätte leisten können. Ganz davon abgesehen, das wir zwei gute Freunde verloren haben. Helen war damals die einzige in Reichweite, die überhaupt hatte eingreifen können, als wir endlich merkten, wie ernst die Lage wirklich war. Und vor allem wie dringend. Sie hatte mich dabei, dazu noch drei weitere Fioran-Attentäter. Aber wir kamen zu spät, um ihre Leben zu retten. Wir konnten nur noch ihre Mörder töten. Selten habe ich mir so sehr gewünscht, Angrid wäre auch dabei gewesen. Oder ein anderer Taral."
Karen schnaubte halb amüsiert, halb frustriert. "Tadel ist angekommen."
"Ich habe es nicht als Tadel gemeint, Karen. Selbst ein Bluthund der Taral ist nicht immer an der Seite seines Schutzbefohlenen. Außerdem wäre es eine Schande gewesen, eine intelligente und engagierte Frau wie dich auf eine Existenz als Bodyguard zu beschränken."
"Vielleicht hätte es an diesem einen Tag geholfen", erwiderte sie.
"Vielleicht aber auch nicht. Wir haben alle Yakuza getötet, die an dem Mord direkt oder indirekt beteiligt waren. Und danach erwirkten wir bei der nächsthöheren Gruppe die Auflösung dieser Untergruppe. Seither versucht niemand mehr, Haus Yodama zu erpressen. Insofern haben wir konsequent gehandelt.
Und schneller hätten wir nur vor Ort sein können, wenn wir vor dem Verbrechen da gewesen wären, Karen. Also mach dir darum keinen Kopf."
"Und was hat das mit Eri oder der Nacht in Dresden zu tun?"
Therom lächelte dünn. "Es war Eridias Entscheidung, die Otomos von Karl beschützen zu lassen. Sie hielt das für ausreichend. Beinahe wäre er auch getötet worden, und ohne die überlegene Naguad-Medizintechnologie wäre er sicher an den schweren Verletzungen gestorben. Eri hat die Gefahr für die Otomos schlicht und einfach unterschätzt. Das gleiche gilt für die Nacht in Dresden. Bevor Eikichi ankam, hatte Eri uns gewarnt, dass der Junge Helen in der Mordnacht erkannt haben könnte und sich eventuell rächen würde. Grund genug für uns, sie bei allen Spaziergängen, beim einkaufen und beim Weg in die Bibliothek oder das Theater mit einigen unserer besten Leute zu beschützen. Wir wollten Eikichi vor einer Riesendummheit bewahren, indem wir ihn durch Präsenz abschreckten. Davon ihm die Wahrheit zu sagen, hielt Eri nichts, weil sie glaubte, er würde die größeren Zusammenhänge nicht verstehen, geschweige denn begreifen, dass Helen selbst auf dem Level eines ausgebildeten Taral-Bluthundes ist."
Karen hüstelte amüsiert. "Fast."
"Fast. Aber das ist auch schon eine beeindruckende Kampfkraft. Wir wurden dann ganz einfach von Eikichi überrumpelt, als er sich nicht lange damit zufrieden gab, Helens tägliche Routine auszuspähen. Er drang einfach ins Haus ein, noch in der ersten Nacht, und ließ uns allesamt wie Idioten aussehen." Therom lachte rau auf. "Teufel, ich habe Michael schon lange nicht mehr mit so viel Bewunderung in der Stimme gehört. Also, bei ihm bin ich mir eigentlich sicher, dass er eher dafür stimmt, dass die beiden heiraten. Ob er Eikichi danach noch vierteilt wage ich nicht vorher zu sagen."
"Wie praktisch", erwiderte Karen spöttisch.
Mit den Getränken kam auch die Karte. "Was kannst du mir empfehlen?"
"Von dieser Karte? Alles."
Der Ober lächelte bei diesem Kompliment seines Stammgastes. "Unser Hummer ist grundsätzlich fangfrisch."
"Uh, bitte keinen Hummer. Wenn ich daran denke, wie die armen Kerle lebend ins heiße Wasser geworfen werden, nur damit ich was zu knabbern habe, wird mir ganz schlecht. Haben Sie nicht etwas, was schon länger als fünf Minuten tot ist?"
Therom eilte dem konsternierten Mann zu Hilfe. "Probiere das Steak. Du wirst kaum ein besseres bekommen. Das Fleisch ist eine japanische Rinderart aus der Kobe-Region. Wirklich lecker, und wirklich tot."
"Ich denke, das kann ich mit meinen Nerven vereinbaren. "Also, einmal ein Steak vom Kobe-Rind, bitte. Durchgebraten. Fast schwarz wäre mir am liebsten."
"Miss, wenn ich dazu raten darf, die hervorragende Konsistenz des Fleisches würde darunter leiden, wenn es durchgebraten ist. Das Fleisch wird zäh. Angebraten oder Medium hingegen lässt dieses wirklich hochwertige Fleisch zart wie Zuckerwatte."
"Zuckerwatte? An Ihren Schlagworten sollten Sie aber noch arbeiten, junger Mann."
Therom unterdrückte ein prustendes Lachen. "Zweimal das Kobe-Rindersteak, Medium. Als Beilage für die Dame Fries, ich nehme eine große Ofenkartoffel mit extra viel Quark. Ach, außerdem hätten wir gerne noch eine Flasche Ketchup." Er sah zu Karen herüber. "Habe ich was vergessen?"
"Oh, dafür das du mich eher selten ausführst, hast du die Details noch gut im Kopf gehabt. Ich bin einverstanden."
Der Ober seufzte erleichtert und machte sich daran, die Bestellung weiter zu geben.
"Das hat dem armen Burschen aber ganz schön zu kauen gegeben. Wetten, er wird selbst die nächste Zeit keinen Hummer anrühren?"
"Ist seine eigene Schuld, wenn er nie darüber nachdenkt, was die armen Schalentiere durch machen müssen, bevor sie auf dem Teller landen." Karen schüttelte sich. "Außerdem hasse ich das Geräusch von zerberstendem Panzer, wenn man die Scheren aufknackt."
"Ist nebenbei bemerkt auch eine ganz schöne Sauerei."
"Dann doch lieber ein gepflegtes Steak. Aber wehe es hat nicht die Konsistenz von Zuckerwatte." Sie lächelte ihm verschwörerisch zu und zwinkerte.
Therom antwortete mit einem Blick auf seine Uhr. "Merkwürdig. Wir sitzen hier seit zwanzig Minuten, aber dein Bruder ist immer noch nicht aufgetaucht."
"Sehr merkwürdig." Sie stützte ihr Gesicht auf beiden Händen an, die Ellenbögen fest auf dem Tisch platziert, und lächelte ihn an. "Vielleicht hält er dich ja für den einzigen vertrauungswürdigen Mann auf dieser Welt, dem er seine Schwester anvertrauen kann?"
Therom lachte laut. "Ich glaube eher, er sucht mich in den italienischen Restaurants am Hafen oder in dem chinesischen Lokal, in das ich ihn neulich mitgeschleift habe." Er beugte sich ein wenig vor. "Bei dir, mein Schatz, ist kein Mann jemals gut genug."
"Ich liebe es, wenn du mir Komplimente machst, Therom."
"Oh, das war kein Kompliment. Das hat er mir tatsächlich ins Gesicht gesagt. Er traut jedem Mann zu, in einer unbewachten Sekunde über sein armes kleines Schwesterchen herzufallen wie der große böse Wolf aus dem Märchen und es nach Strich und Faden zu verführen."
"Und? Was wäre so schlimm daran? Befürchtet er, die Männer würden mich danach geschändet und missbraucht einsam zurücklassen?"
"Einmal ganz davon abgesehen, dass ein Bluthund der Taral auf dieser Welt nur von einer ganz kleinen, erlesenen Zahl von Menschen überhaupt zu irgendetwas gezwungen werden kann", sagte Therom trocken, "glaube ich, fürchtet er sich eher vor denen, die es ernst mit dir meinen."
"Du meinst die, die mich nach dem Sex wirklich heiraten wollen?" Amüsiert zog sie eine Augenbraue hoch.
"Ich meine die, die nach dem ersten Mal Sex mit dir immer Sex mit dir haben wollen", schloss er.
"Wie interessant. Und wie steht Angrid zu den Männern, über die ich herfalle, die ich benutze und missbrauche und danach einsam und verzweifelt zurücklasse, nachdem ich mich genügend ausgetobt habe?"
"Oh, ich glaube, das würde er vollkommen aus seiner Sicht der Realität ausblenden, weil du, sein zartes, sanftes Schwesterlein, so gar nicht sein darfst. Es würde seine Welt vollkommen auf den Kopf stellen."
"Ah." Sie beugte sich ein wenig vor. "Das heißt also, wenn ich dich nach Strich und Faden verführen würde, dann würde Angrid das vollkommen ignorieren, um nicht wahnsinnig zu werden? Wie überaus interessant. Und wie viel es erklärt."
"Andererseits bin ich mir sicher, dass er dir für diese Worte ohne weiteres den Mund mit Seife auswaschen würde, wenn er sie hören könnte", spottete Therom. "Abgesehen davon glaube ich nicht, dass du ebenfalls zu einer solchen Promiskuität wie dein Bruder neigst."
Sie schnaubte amüsiert. "Mein lieber Therom, ich versuche vielleicht nicht, Casanovas Rekord zu brechen oder mit meinem Bruder mitzuhalten, aber ich lebe schon ein paar Jahrzehnte. Ich habe meine Methoden, meine Möglichkeiten und meine Erfahrungen. Aber falls dich das beruhigt, ich kratze im Gegensatz zu Angrid nicht am dreistelligen Bereich."
"Wie überaus beruhigend, dieses Thema mit dir zu besprechen." Unwillkürlich weitete der Fioran seinen Hemdkragen. Misstrauisch beäugte er die junge Frau vor sich. Das Thema gefiel ihm wunderbar. Und genau das war das Problem. Was plante Karen? Ihn zu benutzen, um der dreistelligen Zahl ihrer Verflossenen näher zu kommen? Okay, er hatte bei weitem nicht so viel Erfahrung mit Frauen wie sein bester Freund, aber ihm war schon klar, dass er und Karen eigentlich nicht nahe genug waren, um zwanglos über Sex zu plaudern, ohne das es um... Sex ging.
"Apropos Thema. Eines würde mich ja interessieren. Hast du was gelernt?"
"Gelernt? Meinst du über die amerikanische Rüstungsindustrie?"
"Nein, nicht so etwas banales. Lass sie doch wettrüsten so viel sie wollen. Wir werden schon dafür sorgen, dass keine Seite tatsächlich seine Atomwaffen benutzt. Ich meine die wirklich wichtigen Dinge. Deine Augen haben vorhin so geläutet, als ich deine Immer mal wieder-Freundin erwähnt habe."
"Dai-Kuzo."
"Genau die. Sie ist mehr als fünftausend Jahre alt und gewiss kein Kind der Traurigkeit. Hat sie dir ein paar schöne Sachen beigebracht, wenn sie mit dir geschlafen hat? Ich meine, eine sexuell aktive Frau mit ihrem Alter muss zwangsläufig länger Sex gehabt haben als wir beide an Lebensspanne aufbringen."
Therom fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Wieder lüftete er seinen Kragen.
"Bitte sehr, die Steaks vom Kobe-Rind, Medium."
"Danke", erwiderte Therom und griff mehrfach vergeblich nach dem Besteck.
"Oh, die French Fries sind genauso wie ich sie mag. Groß, lang und dick." Karen nahm ein besonders gelungenes, goldgelbes Exemplar vom Teller und schob das Kartoffelstück langsam in den Mund. Der Blick ihrer Augen hatte dabei eine ganz besondere Note.
Erneut lüftete Therom seinen Kragen. Was, wenn sich Angrid diesmal dazu entschloss, die Männer, die sich Karen selbst aussuchte, nicht zu ignorieren?
"Ich bin in der Hölle", murmelte er.
Karen lächelte mit leicht geröteten Wangen. "Iss auf, Therom, und vorher kommt der Himmel."
Oh, er war sich sicher, jeden Funken Energie zu brauchen, den dieses Essen ihm bescheren würde.
Therom winkte den Ober zu sich heran. "Ich würde gleich zahlen wollen, Fred."

2.
Einen halben Tag später, draußen war die Sonne schon lange untergegangen, lag Therom friedlich in einem Doppelbett des Renaissance und streichelte gedankenverloren über weiche, warme Frauenhaut. Die Tatsache, dass sich unter dieser Haut die Schwester seines besten Freundes befand, mit der er lange, ausgiebig und wiederholt geschlafen hatte, irritierte ihn beinahe so sehr wie die Frage, wann genau Angrid Taral die Tür zur Suite aufbrechen, hier herein stürmen und ihn umbringen würde.
"Dass so eine wie du mal mit so einem wie mir schlafen würde...", sinnierte er.
"Was hast du zu meckern?", murrte sie und suchte für ihren Kopf eine bequemere Stellung auf seiner breiten Brust.
"Nicht zu meckern. Es wundert mich nur. Ich meine, eine Klasse Frau wie du, und ein farbloser Strolch wie ich..."
"Gute Antwort. Das erspart es mir, dich ausgiebig zu bestrafen." Sie sah auf und zwinkerte ihn an. "Andererseits, vielleicht entgeht dir da was."
Therom fühlte, wie er eine Gänsehaut bekam. Gleichzeitig schoss ihm das Blut nicht nur in die Wangen, sondern auch noch in sein bestes Stück.
Karen, die seine Gänsehaut bemerkte, ließ ihre Hand zwischen seine Beine fahren. "Runde neun? Therom, du bist ja wirklich unersättlich", schnurrte sie und glitt höher, um seinen zaghaften Protest unter ihren Küssen zu ersticken. Während Karen wieder einmal das Ruder übernahm und Stellung, Tempo und seinen Erregungsfaktor bestimmte, war der Fioran noch immer gefangen zwischen seiner körperlichen Begierde und der Erkenntis, wer die Frau war, die gerade rittlings auf ihm saß und mit ihren rhythmischen Beckenbewegungen das Blut aus seinem Gehirn abfließen ließ, um andere Körperteile zu unterstützen. Seine Blicke, seine Hände, all seine Sinne glitten dabei über ihren perfekten Körper, ihre nackten Brüste, die schmale Taille, die alleine schon einen gestandenen Mann dankbar heulen lassen könnte, hätte er das Glück gehabt sie zu berühren. Ihre perfekt proportionierte Hüfte und das nahezu perfekte Gesäß ließen ihn in diesen sinnlichen Momenten am Rande von Wahnsinn und Ekstase schwanken. Ein Gefühl, wie er es so noch nicht erlebt hatte.
Sie kamen zusammen, und erschöpft und befriedigt ließ sich das Mädchen, das er so nie kennen gelernt, geschweige denn eingeschätzt hätte, wieder auf seine Brust sinken. "Na, das ging ja gerade so."
Erstaunt riss Therom die Augen auf. "Wie, das ging gerade so? Und das fällt dir nach dem neunten Mal ein?"
Sie lächelte ihn aus halb geschlossenen Augen an. "Ich weiß nicht was deine Dai-Kuzo-sama dir so tolles beigebracht hat, aber damit ich wirklich mit dir zufrieden bin, mein lieber Fioran, werden wir noch oft und viel miteinander üben müssen." Ermattet schoss sie die Augen. "Sehr viel und sehr oft."
Überrascht sah er Karen an, wie sie beinahe sofort einschlief. Zögernd schloss er die Arme um sie und drückte sie an sich. Nein, diese Entwicklung hatte er nicht erwartet. Er hatte auch diese Seite an ihr nicht erwartet. Aber er war nicht überrascht, enttäuscht oder brachte ihr irgend ein anderes negatives Gefühl entgegen. Im Gegenteil. Es hatte sich alles so... Gut angefühlt. So perfekt. So richtig. So vollkommen. Er hatte den Sex, nein, die Liebe mit ihr wirklich sehr genossen. Und er hatte sich vor dieser Facette ihrer Persönlichkeit nicht erschrocken. Im Gegenteil, diese Leidenschaft passte zu ihr ebenso wie das alltägliche Lächeln, das sie ihm in den letzten sechzig Jahren geschenkt hatte.
Erstaunt schlug er sich eine Hand vor die Stirn. Himmel hilf, hatte er sich etwa in Karen verliebt? Ausgerechnet in Angrids Schwester? Was das für ihn persönlich bedeutete stand außer Frage. Noch höher hätte er seine Hoffnungen und Träume nur noch stecken können, wenn er Vortein einen Antrag gemacht hätte. Oder Eridia Arogad.
Andererseits, warum hatte sie mit ihm geschlafen? Und warum war er immer nur Wachs in den Händen aggressiv auftretender, sexuell aktiver Frauen, die ihn wollten?
Ja, was sah sie in ihm? War es die Erfahrung mit Dai-Kuzo, die sie fasziniert hatte? Oder... Ihm stockte für einen Moment der Atem, als er den Gedanken beendete. Oder liebte sie ihn?
Dieses ein Wort, nur gedacht, ließ einen Schauder durch seinen Körper laufen, der durchaus mit einem Orgasmus mithalten konnte, aber auf seine ganz eigene Art viel intensiver war. Und im selben Augenblick erkannte er, was für ein Idiot er doch die ganzen Jahre gewesen war. Er hatte sich nicht gerade erst in Karen verliebt. Nein, das lag schon weiter, viel weiter zurück. Er hatte dieses Gefühl immer unterdrückt, weil er seinem besten Freund gerecht werden wollte, und sich dabei eine Askese auferlegt, die ihm jetzt sehr idiotisch vorkam. So, er liebte also Karen Taral, die Tochter von Aris und Vortein, Schwester von Angrid, Patenkind von Michael und Eridia. Mit dieser Erkenntnis musste er nun leben. Und Karen selbst? Sie hatte zwar gesagt, dass sie mit ihm noch viele Male üben wollte, aber konnte man das als Anzeichen ihrer Liebe sehen? Das sie etwas für ihn, den besten Freund ihres überprotektiven Bruders, empfand, wusste er. Aber Liebe?

Als das Telefon neben dem Bett klingelte, wollte Therom danach greifen. Aber Karens Hände hielten seinen Arm fest. "Geh nicht ran", bettelte sie. "Egal wer es ist, er kann warten. Bleib hier bei mir. Lass mich diese Illusion noch etwas genießen. Ich..." Sie schluckte und schloss die Augen wieder. "Ich will dich nicht mehr gehen lassen, Therom. Du gehörst mir nicht, aber ich will dich nicht mehr los lassen."
Diese Worte jagten eine Hitzewelle durch seinen Leib. Fassungslos sah er sie an. Konnte das wirklich sein? War es möglich? War dieses verdammte Universum ein einziges Mal gerecht?
Er küsste ihre erröteten Wangen und ignorierte das Klingeln. "Bereit für Runde zehn?"
"Ach, ist die Pause schon vorbei?", neckte sie ihn.
***
Am nächsten Morgen checkten die beiden erschöpft, aber glücklich - und dank der zwei ausgiebigen Snacks zwischendurch - nicht völlig entkräftet aus. Sie nahmen ein gemeinsames Taxi zurück zur Firma und verabschiedeten sich in der Lobby. Karen gehörte zum Yodama-Department im zweiten Stock, offiziell war sie Übersetzerin. Therom hingegen war Mitglied des Vorstands mit Schwerpunkt auf Auftragsakquise. "Wann sehe ich dich wieder?", fragte sie wehmütig.
"Zur Mittagspause?"
Karen verdrehte die Augen. "Sehr witzig, Therom Fioran."
"Wir müssen es ja nicht wieder so ausufern lassen. Diesmal vielleicht nur ein kleines Essen..."
"Und vielleicht ein Kuss? Oder zwei? Oder...?" Verheißungsvoll küsste sie den Fioran.
"Überredet." Er erwiderte den Kuss und gab sie danach frei. Wehmütig sah er sie im Aufzug verschwinden, bevor er selbst in den Expresslift für die Chefetage stieg.

"Verdammt, Tjore, wo warst du?", empfing ihn Michael Berger besorgt. "Ich habe dir gestern den ganzen Nachmittag hinterher telefoniert! Du hast hier immer noch einen Job zu erledigen, oder?"
Therom hob die Schultern. "Tut mir Leid, Michael. Ich habe die ganze Zeit verschlafen. Was gab es denn so dringendes?"
"Ich hätte dich sehr gut für eine Gegenkostendarstellung gebrauchen können, um diesem verrückten Air Force-General die Luft aus den Segeln zu nehmen. Wir haben ihn einfach nicht davon überzeugen können, dass Berger Co. nicht interessiert ist. Stattdessen referierte er über Subventionen, staatliche Fördergelder und den Nutzen für die bemannte Raumfahrt. Armin ist für dich dann eingesprungen und hat dem lieben General klar gemacht, dass wir so oder so bei seinem Plan würden drauf zahlen müssen."
"Ist Finanzierung nicht eh sein Aufgabengebiet?", fragte Therom stirnrunzelnd.
"Nicht wenn es um Auftragsakquise geht", tadelte Michael. "Um neun kommen die Taiwanesen. Ein Deal für eine Modelinie, mit der wir achthundert Großverteilerzentren in Nordamerika kurzfristig und zweitausend langfristig beliefern können. Du hast eine halbe Stunde Zeit, mir eine Kosten-Nutzen-Rechnung zu liefern."
"Ist längst vorbereitet. Ich bin nicht vollkommen unzuverlässig, Michael", erwiderte Therom pikiert.
"So? Dann hole deine Notizen. Ich will das Fazit wissen, bevor ich mit den Taiwanesen rede."
"Ist gut, Chef."

Als er sein Büro betrat, hatte er noch gute Laune. Den Deal und die Kosten-Nutzen-Rechnung mit den Asiaten hatte er schon vor langer Zeit vorbereitet. Ein Geschäft, an dem die Firma Berger wahrscheinlich ein paar Dutzend Millionen pro Jahr verdienen würden. Natürlich auf Kosten der Binnentextilindustrie, aber Business war kein Kuschelkurs, sondern knallharte Arbeit.
Ihm rutschte allerdings das Herz in der Hose, als er Angrid in seinem Büro arbeiten sah.
Der Taral sah auf als er Therom hörte. Er lächelte verlegen. "Entschuldige. Ich bin gestern Abend nicht mehr dazu gekommen, deine Unterlagen wieder weg zu räumen. Gefunden habe ich sie recht einfach. Gelobt sei dein Ordnungssinn. In einem Büro wie meinem hätte ich wahrscheinlich mehr Erfolg gehabt, indem ich den Aktenschrank sprenge und die unverbrannten, herausgeschleuderten Papiere sortiert hätte."
Therom fühlte, wie sein Blut absackte. Kreidebleich starrte er seinen besten Freund an. "Ich habe mit Karen geschlafen."
"Und wenn ich schon mal dabei war, wollte ich auch gleich deine Zahlen für den Taiwan-Deal suchen. Da sind sie ja auch schon. DU HAST WAS?"
Entgeistert und mindestens ebenso bleich wie er starrte Angrid ihn an. Sein linkes Augenlid zuckte unkontrolliert und seine Rechte, welche die Dokumente hielt, hatte sich um den Pappeinband gekrampft und ihn bereits zerquetscht.
"Ich habe mit Karen geschlafen. Gestern Mittag, gestern Nachmittag, gestern Abend, gestern Nacht und heute Morgen. Mehrfach."
Kreidebleich wie er war ließ sich Angrid auf einen Sessel sinken. "Du hast... Und ich dachte immer, du... Ich dachte du wärst mein bester Freund, und..."
"Ich habe keine Ausreden anzubieten. Ich stehe zu dem was ich getan habe."
"Natürlich wirst du das!" Und natürlich wirst du für das, was du getan hast, voll gerade stehen!", rief Angrid und fuhr auf. "Du wirst sie heiraten! Jawohl, heiraten! Und dann ziehst du mit ihr in eine schöne Parterre-Wohnung, damit die Pfleger dich in deinem Krankenbett auch ab und zu an die frische Luft schieben können, während deine Knochen heilen, die ich dir jetzt brechen werde!"
"Du hast es nicht gewusst?", fragte Therom erstaunt. "Wer hat uns dann im Hotelzimmer angerufen?"
"Natürlich habe ich es nicht gewusst! Ich habe dir vertraut! Ich wollte dir im Aufzug auch nur sagen, dass du Karen an meiner Stelle ausführen sollst, weil ich noch einen plötzlichen Termin hatte, aber... Aber ich hätte nicht gerechnet, dass du mein Vertrauen so missbrauchst! Einfach meine kleine Schwester zu verführen!"
"Erstens geht deine kleine Schwester auf die Siebzig zu, was selbst bei uns Naguad als erwachsen durchgeht, und zweitens hat sie mich verführt. Allerdings brauchte es dazu nicht viel."
"Oh. Das klingt zumindest nach einer waschechten Taral. Meine Familie hatte schon immer das richtige Händchen für Hormone und dergleichen. Aber das kommt wohl eher von Mutter. Vater ist in der Beziehung eher unbegabt." Wütend sah Angrid den Freund an. "Versuche nicht mich abzulenken, ja?"
"Versuche ich doch gar nicht!", begehrte der Fioran auf. "Es ist halt passiert und ich habe es sehr genossen. Und wenn du sie gut genug erpressen kannst, dass sie über meine Unzulänglichkeiten hinweg sieht, werde ich sie auch heiraten, und... Und..." Er schluckte trocken.
Fassungslos schüttelte Angrid den Kopf. "Du bist der Mann, den sich Dai-Kuzo ausgesucht hat. Du bist der Mann, der etwas erlebt hat, wovon alle anderen Männer nur träumen können. Und du hast immer noch diesen dämlichen kleinen Minderwertigkeitskomplex? Therom, warum tust du dir das dauernd an?" Mürrisch sah Angrid zur Seite. "Ich meine ja nur, von allen möglichen Kandidaten für meine Schwester wärst du derjenige, mit dem ich noch am besten leben könnte. Das habe ich schon immer gedacht."
"Was?" Irritiert griff sich der Fioran an die Schläfe und senkte den Blick. "Noch mal kurz für die billigen Sitzplätze... Du hast gedacht, ich und Karen würden gut zusammenpassen, und du hast es mir nie gesagt? Ich verschwende fünfundvierzig Jahre meines Lebens damit, meiner Traumfrau aus dem Weg zu gehen, und du denkst, wir passen eigentlich zusammen? Bei allem was mir heilig ist, Angrid, aber... Was zum Henker tust du da? Warum wendest du mir den Rücken zu?"
"Ich schmolle. So wie du redest muss ich ja glauben, du hättest Angst davor, das ich dir wirklich alle Knochen zertrümmere. Dich umbringe oder dich verstümmele, foltere oder langsam zu Tode quäle."
"Nun, vielleicht nicht so extrem wie du es darstellst, aber ich hatte nie wirklich das Gefühl, du würdest eine Liaison zwischen Karen und mir positiv gegenüber stehen."
"Ach, genau. Und deshalb habe ich dich gestern mit ihr auch allein gelassen. Oder letzten Monat. oder letztes Jahr die drei Termine. Oder davor das Jahr. oder noch ein Jahr zuvor sogar viermal, davon einmal am Weihnachtsabend!"
"Langsam, langsam", sagte Therom mit irritiertem Lachen, "das klingt ja schon fast so, als hättest du uns verkuppeln wollen."
Angrid sah über seine Schulter kurz zu dem Fioran herüber, bevor er frustriert schnaubte und die Wand wieder interessanter fand.
"Ich nehme mal ganz stark an, dass Karen endlich der Kragen geplatzt ist. Wenn sie auf dich gewartet hätte, müsste sie wahrscheinlich länger als zweitausend Jahre leben. Die Sache mit Eikichi und Helen hat ihr wohl da den Rest gegeben."
Therom lachte leise auf.
"Was ist daran so witzig?"
"Oh, ich stelle mir gerade vor, wie Eikichi reagiert, wenn er von Helens beiden selbst ernannten großen Brüdern überraschenden Besuch bekommt und sich eventuell fragt, wir könnten ihm seine Beziehung verleiden. Den Schreck gönne ich ihm schon. Immerhin war es seine Sturheit, die Helen hat leiden lassen."
"Und du meinst, das versöhnt mich damit, dass du mit meiner Schwester geschlafen hast? Dummkopf."
"Hast du mir nicht gerade zu erklären versucht, dass du mich sowieso mit ihr zusammenbringen wolltest?", spöttelte Therom.
"Unter meiner strikten Kontrolle und in einer entsprechenden Atmosphäre. Aber doch nicht so... So wild durcheinander. Ich meine, habt ihr wenigstens ordentlich verhütet, oder werde ich jetzt noch Onkel?"
Therom winkte ab. "Ach komm. Trotz allem bin ich kein Anfänger und... Das ist eine interessante Frage. Habe ich eigentlich verhütet?"
Entsetzt sprang Angrid auf. "Ich bin noch zu jung, um Onkel zu werden! Und von Babypflege weiß ich nur das, was ich damals gelernt habe, als Helen in dem Alter war!"
"Beruhige dich wieder, Meister der Unerschütterlichkeit. Wie ich schon sagte, ich bin kein Anfänger mehr. Ich habe sie natürlich nicht geküsst, damit sie nicht schwanger wird."
Angrid legte beide Hände vor sein Gesicht und seufzte. "Ich Idiot. Warum frage ich dich? Warum gebe ich dir eine solche Vorlage? Immer wenn ich dir den kleinen Finger reiche, nimmst du dir die ganze Hand. Und das mit einer Zuverlässigkeit, die mich nicht mehr überraschen sollte." Er sah wieder auf. "Also, habt ihr?"
"Hat das Renaissance-Hotel eine gut bestückte Hausapotheke mit Service rund um die Uhr?"
"Halunke", knurrte Angrid ärgerlich. Er erhob sich, griff nach der halb zerknüllten Pappmappe und drückte sich an Therom vorbei auf den Gang. "Jetzt bin ich sauer. Und wenn ich sauer bin, muss jemand büßen."
"Ich bin es anscheinend nicht. Wen hast du denn so im Auge für die Opferrolle?"
Angrid grinste breit. "Na wen wohl? Eikichi Otomo natürlich. Wir fliegen gleich nach der Konferenz nach Japan rüber. Nimm Karen mit. Als Helens Bluthund wird sie dabei sein wollen."
"Du wirst ihn doch nicht umbringen? Angrid?"
Der große blonde Mann lächelte schief. "Natürlich nicht. Aber kann ich etwas dafür, wenn er es denkt?"
"Bestie", murmelte Therom und folgte ihm zum Konferenzraum. Der arme Eikichi Otomo. Andererseits, wenn er Angrid Taral überlebte, würde auch Oren Arogad kein Problem mehr für ihn sein.

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3.
Schweigend saßen die beiden Männer und die Frau im Fond der schweren Limousine, während sich der Wagen seinen Weg durch den Tokyoter Stadtverkehr bahnte. Die japanische Hauptstadt war in letzter Zeit beträchtlich angewachsen, sodass man von einer Stadt Tokyo kaum noch sprechen konnte. Eher von einer Art Großbezirk... Seit einige pazifische Inselarchipel ebenfalls zum Großraum gehörten, zumindest.
Der Weg zum großen Otomo-Anwesen im Kanto-Bezirk war jedenfalls sinnlos gewesen. Der Hausherr war ausgeflogen. Und mit ihm seine Braut. Karl, die treue Seele der Otomos, hatte ihnen dann eine Adresse in einem der familiäreren Bezirke gegeben, in denen es große Häuser mit ausufernden Gärten gab - in einer Stadt wie Tokyo, die ständig nach Platz gierte, eine absolute Todsünde und ein Zeichen für Geld. Aber wie Angrid den jungen Eikichi kannte, hatte der es mit seinem neuen Haus nicht übertrieben. Gerade ausreichend, um notfalls für ein paar Tage als Gastquartier für die ganze Verwandtschaft zu dienen - oder als provisorisches Hauptquartier für seine Firma.
Als der schwere Wagen endlich die Schnellstraße verließ und in das Gewirr einer Wohngegend einfuhr, lehnte sich Angrid entspannt zurück und gähnte. "Wisst ihr, dass..."
"Still!", fuhr ihm seine Schwester dazwischen.
Angrid sah sie überrascht an. "Aber..."
"Kein Wort, habe ich gesagt." Ihr Blick war zwingend, beinahe mörderisch.
Therom schnaubte amüsiert. "Da sieht man mal wieder, dass..."
"Du auch!"
"Ich auch? Was habe ich denn..."
"Still!"
Resigniert gab Therom auf. Normalerweise gab sich Karen nicht so dominant, herrisch und launisch. Bestenfalls fordernd, und fordernd und fordernd. Oh ja, das konnte sie.
Therom und Angrid wechselten ein paar wissenden Blicke. Der von Angrid verspottete den besten Freund und warf ihm vor, schon unter dem Pantoffel seiner Schwester zu stehen. Therom revanchierte sich mit rollenden Augen und dem Hinweis, dass der große Bruder nicht minder parierte. Die beiden sahen zu Karen herüber. Aber sie war überhaupt nicht bei der Sache. Ihre Wangen waren blass, beinahe fahl. Sie biss sich auf die Unterlippe, und ein dünner Faden Blut bewies, dass die Haut bereits durchgebissen war. Karen merkte es nicht einmal. Ihr Blick war stetig nach vorne gerichtet, aber ihre Haltung steif, und die Augen unnatürlich weit geöffnet. Sie war hochgradig nervös, angespannt und hatte Angst. Als sie die Blicke der beiden Männer endlich bemerkte und die Sorge in ihnen sah, ächzte sie gespielt und ließ sich zu einer Antwort herab: "Vortein ist auch da."
Angrids Augen leuchteten auf. "Mutter? Sehr gut. Sie wird Eikichi ganz schön..."
"Du hast Redeverbot", erinnerte Karen ihren Bruder. "Und außerdem hoffe ich genau das nicht. Ich meine, sogar Eri hat nichts gegen Eikichi, und das ist doch ein tolles Zeichen. Aber wenn Vortein nun..." Wieder biss sie sich auf die Unterlippe. Ihre Sorge galt eindeutig Eikichi Otomo, und damit der Beziehung zu Helen, im Umkehrschluss wiederum ihrer Schutzbefohlenen. Damit war bewiesen, dass Karen in jedem Fall hinter den beiden stand. Aber was konnte Vortein Arogad schon großes tun, was die junge Taral derart in Sorge fallen ließ? Therom gab sich die Antwort resignierend selbst: Verdammt viel.

Als der Wagen vor einem netten kleinen Anwesen hielt, stellte Therom verärgert fest, dass er ohne es zu merken bereits auf Eikichis Seite gerutscht war. Und maßgeblich daran beteiligt war Karen gewesen. Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, sich nicht überfahren zu lassen, nicht einfach ihrer Führung zu folgen, und sich eine eigene Meinung zu bilden. So hatte zumindest der Plan ausgesehen.
Angrid hingegen schien bester Laune. Das konnte gut, das konnte schlecht für Eikichi Otomo sein. Tatsache war jedenfalls, dass er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Mutter hatte. Spötter, von denen übrigens keiner mehr lebte, hatten ihm mal einen Ödipus-Komplex unterstellt und darin die Lösung für seine Bindungsängste gesehen. Sie hatten ja nicht wissen können, dass es Angrid belastete, Träger des Keys zu sein, der diese Welt retten half. Diese Unsicherheit war es, die ihn unfähig machte, eine feste Bindung einzugehen. Oh, er würde das niemals zugeben, aber Therom kannte ihn schon viel zu lange, viel zu gut.
An der Mauerpforte, die das Grundstück von der Straße abtrennte, standen zwei uniformierte Wächter. Uniformiert, wenn man wusste, was schwarze Sonnenbrillen, schwarze Anzüge und die diskrete Beule unter dem Jackett auf Höhe der linken Brust bedeuteten. Leibwächter des Hauses Yodama. Ein deutlicheres Zeichen, dass Vortein in der Nähe war, gab es nicht.
Der Linke nickte ihnen zu. "Guten Morgen, Ms. Taral. Mr. Taral. Mr. Fioran." Er öffnete die Tür und winkte die drei Naguad hinein.
Vor der Haustür standen noch einmal zwei Wächter, diesmal Bluthunde der Arogads. Therom kannte beide persönlich, wenn auch nur von ein paar wenigen Einsatzbesprechungen von Unternehmungen gegen Toras Netzwerk. Auch hier wurden sie freundlich begrüßt und durch gewunken. Die Haustür öffnete sich... Und bot ihnen an, in die Hölle einzutreten.

Als erstes schlug ihnen die Druckwelle entgegen. Karen, die nur einen leichten Rock trug, hatte sichtliche Mühe, das Kleidungsstück in akkurater Form zu halten. Dann folgte das Licht. Therom, der noch immer fasziniert auf die Szene starrte, wurde derart geblendet, das er minutenlang nur noch bunte Lichter sah. Und schließlich kam ES.
"Ah, verdammt, meine Augen! Mutter, was tut ihr hier?"
Vortein Arogad wandte sich von ihrer beobachtenden Position knapp außerhalb des Kreises um und lächelte den drei Neuankömmlingen entgegen. So wie sie sahen weitere fünf Personen zu, unter ihnen Helen Arogad und ihre Mutter Eridia, während vier Priester in einem Kreis saßen, in dessen Zentrum Eikichi Otomo einen halben Meter über dem Boden levitierte und in regelmäßigen Abständen Licht und Druckwellen emissierte.
Als Therom wieder sehen konnte, stellte er einerseits fest, das im Haus keinerlei Zwischenwände verbaut worden waren und andererseits nichts existierte, von einer schönen Fassade, der Decke und einem Holzdielenfußboden abgesehen. "Das würde mich auch interessieren!"
Vortein Arogad kam ihnen entgegen. Von der anderen Seite des Kreises folgte ihr Dai-Kitsune. Der Rotschopf grinste schief, als sie die Neuankömmlinge erkannte. Angrid lächelte überrascht.
"Ihr kommt gerade rechtzeitig. Ich habe Arno Futabe gebeten, das AO-Potential von Eikichi auszuloten. Er kommt aus einer starken Familie mit hervorragenden Anlagen, um das AO zu schmieden und zu verwenden. Im Moment aber reflektiert er nur. Furios, zugegeben, aber es ist lediglich eine Reaktion. Seine manipulativen, offensiven Fähigkeiten sind erbärmlich."
"Dennoch hat er eines der größten KI-Potentiale der Erde", meldete sich Kitsune zu Wort. "Ich meine, man muss nicht aus einer starken Familie kommen um gut darin sein mit seinem KI umzugehen. Aber es ist manchmal recht hilfreich. Im Moment gefährdet er sich aber eher selbst, deshalb sind wir gerade dabei, zwei Drittel seiner Kräfte zu versiegeln. Da seine defensiven Fähigkeiten aber auch noch unbewusst ablaufen, dauert es ein wenig und führt zu leichten Nebenwirkungen."
"Leichte Nebenwirkungen?", ächzte Therom. "Brennt da hinten nicht die Wand?"
Kitsune ließ sich einen prächtigen Fuchsschweif wachsen, mit dem sie einmal kurz wedelte. Die Druckwelle blies die Flammen aus. "Wo?", fragte sie scheinheilig.
Helen trat nun ebenfalls zu ihnen herüber. In ihren Augen stand pure Begeisterung. "Hallo, Karen, Angrid, Therom! Habt ihr so was schon mal gesehen? Ich meine, ihr Bluthunde seid sowas sicher gewohnt, aber in dieser Stärke? Onkel Arno meinte, wenn Eikichi von kleinauf trainiert hätte, dann wäre er mit vierzehn bereits ein überragender KI-Meister geworden! Ist das nicht erstaunlich? Allerdings bezweifle ich, dass er die Geduld aufbringt, sein KI jetzt noch ein Jahrzehnt zu trainieren, um es zielgerichteter einzusetzen."
"AO", verbesserte Vortein.
"KI", widersprach Kitsune.
"AO!", wiederholte Vortein und sah die Füchsin böse an.
"KIIII!", sagte diese stur und starrte zur größeren Frau ebenso böse hinauf.
Helen seufzte. "Mama, die beiden streiten schon wieder!"
Entsetzt fuhren Vortein und Kitsune herum, gerade rechtzeitig um sehen zu können, wie Eridia Arogad die linke Augenbraue beträchtlich in die Höhe zog. Dabei entstanden Falten auf ihrer Stirn, und das bewies, dass dies gewiss nicht die erste Runde zwischen der Arogad und der Dämonin gewesen war. Und das die Erbin des Arogad-Turms mittlerweile sauer genug war, um den Disput der beiden gewaltsam zu beenden.
Vortein und Kitsune ergriffen jedenfalls den leichteren Part der Tapferkeit und demonstrierten eine für sie ungewöhnliche Einigkeit. Der Anblick der beiden, sich aneinander lehnenden Frauen mochte den Insider zum lachen bringen. Allerdings wog das Wissen schwerer, dass es durchaus das letzte Lachen des Lebens sein konnte.
"So", sagte Helen zufrieden. "Wäre das auch geklärt. Mama meint jedenfalls, dass wir uns um Eikichis enormes Potential zu wenig gekümmert haben. Es muss unter Kontrolle gebracht werden, damit es uns nicht schadet." Sie kicherte verlegen. "Sie meinte, er könnte mich vielleicht verletzten, wenn er beim Sex die Kontrolle über sich verliert."
"Das sagt man nicht so blümerant", tadelte Therom erschrocken. "Vor allem du nicht, junge Dame!"
"Was denn, was denn? Auf einmal prüde geworden, Herr "Die Herrin der Dämonen will mich öfters mal"-Fioran?" Sie lachte auf, als sie das Entsetzen in Theroms Blick sah. "Schon gut, schon gut. Das mit dem Sex ist ja auch nur einer der Gründe. Ein anderer ist, dass Eikichi sich tatsächlich keine Zeit nehmen will, um sein KI beherrschen zu lernen. Onkel Arno hat dafür zehn Jahre veranschlagt. Er meint, es ist besonders schwierig jemandem die Grundbegriffe der KI-Manipulation beizubringen, wenn er es schon jahrelang falsch praktiziert hat. Und das will Eikichi ja nicht." Helen seufzte. "Ich will ja auch nicht zehn Jahre auf ihn verzichten, und so. Onkel Arno hat dafür nämlich ein sibirisches Bergkloster vorgeschlagen, in dem sechzehn Stunden am Tag trainiert und den Rest der Zeit gebetet wird. Und dann ist da auch noch der Aspekt, die wahre Stärke seines Potentials auszuloten. Das ist wichtig für unsere Kinder, wisst ihr?"
"Ach, Kinder? So weit seid ihr schon? Wie überaus interessant. Weiß Eridia das?"
"Nur kein Neid, mein lieber Vetter. Es war ja Mutters Idee, mehr über Eikichis Potential zu erfahren. Wir haben auch seine Cousins und Cousinen in dieser Generation bereits getestet, aber ihre Potentiale sind nicht annähernd so ausgeprägt wie seines. Mutter ist wirklich begeistert bei dem Gedanken, was für Kinder aus unserer Verbindung entstehen werden."
"Du bist also fest entschlossen", stellte Karen fest. "Gute Arbeit."
"Natürlich bin ich das. Ich habe lange genug darüber nachgedacht und mich entschieden. Eikichi ist meiner, und niemand nimmt ihn mir wieder weg."
"Dann wird es dich ja freuen, dass Karen sich auch einen geangelt hat", sagte Angrid trocken.
Misstrauisch sah Helen ihren Cousin an. "Und er lebt noch, obwohl du gesund und aufrecht vor mir stehst? Wer ist er? Gott?"
"Nahe dran. Mein bester Freund, der mich schmählich verraten und verkauft hat."
"Höre nicht auf ihn", riet Karen. "Das ist nur seine Art, mir und Therom Glück zu wünschen." Karen zwinkerte Helen zu, die mit großen Augen zurückstarrte. Sie deutete auf Karen. "Du?"
Die Taral nickte. "Und er?" Ein wenig zögerlich, dann aber entschlossen, nickte auch er.
"Und du hast da nichts gegen?", fragte sie zweifelnd an den Taral gerichtet.
Angrid räusperte sich verlegen. "Nichts ist übertrieben. Ich werde Therom langsam und schmerzvoll töten müssen, wenn er Karen jemals weh tut. Aber ansonsten muss ich ja meine Schwester ihr eigenes Leben leben lassen."
Helen klappte die Kinnlade herab. Nur mühselig gewann sie die Kontrolle zurück. "Wer bist du, und was hast du mit Angrid Taral gemacht?"
"Hör auf", fauchte er zurück. "So schlimm bin ich nun auch wieder nicht!"
Karen lachte dazu höhnisch und bitter. "Oh doch, du bist so schlimm. Aber den hier behalte ich jetzt. Basta." Sie lächelte zu Kitsune herüber. "Danke an deine Chefin. Sie hat ihm ein paar wirklich gute Tricks beigebracht."
Großmütig winkte Kitsune ab. "Ja, ja, die Amateur-Liga. Wenn du mal bei uns in der Oberliga rein schnuppern willst, gib Bescheid. Ich habe nichts dagegen, zwei Studenten zugleich zu haben, Karen-chan."
"Ähemm!" Vortein sah düster in die Runde. "Können wir an dieser Stelle den Disput unterbrechen und wo anders fort setzen? Die Mönche dürfen nicht unterbrochen werden, und ich habe da zufällig ein paar wichtige Fragen an meinen zukünftigen Schwiegersohn. Er wird doch mein Schwiegersohn, oder?"
"An mir soll es nicht scheitern", versprach Karen großmundig.
Therom griff an seinen Kragen und lüftete ihn. Auf einmal war ihm sehr, sehr warm.
"Moment, Auszeit. Warum darf das Ritual nicht unterbrochen werden?", hakte Angrid nach.
"Weil sie schon seit acht Tagen dabei sind und keiner Lust hat, so etwas noch einmal durchstehen zu müssen", erwiderte Helen säuerlich. "Also gehen wir besser irgendwo einen Tee trinken. Nicht, dass wir die Konzentration der Mönche so kurz vor dem Ziel noch stören und alles zunichte machen."
"Ist dir eigentlich bewusst, dass man so etwas nicht sagt, Helen? Es könnte genau die Situation herauf beschwören, die du eigentlich nicht haben willst", tadelte Kitsune.
"Ha. Lächerlich. Das ist eine Chance von eins zu einer Milliarde. So unwahrscheinlich, darüber denke ich nicht mal nach."
"Dann solltest du Staatliches Lotto spielen, wenn du bei dieser Quote bereits Glück hast", grollte eine dunkle Stimme, Augenblicke bevor die Tür zum Garten in den Raum geschleudert wurde.


4.
Als die Tür auf den Kreis der Mönche zuflog, wurde selbst das leichte, mit Papier bespannte Holz zum Geschoss. Bevor sie jedoch Schaden anrichten konnte, war der fünfte Beobachter dazwischen und wischte die Tür mit einer nebensächlichen Handbewegung beiseite. Sie wurde an der nächsten Wand zerschmettert. Dai-Okame-sama entblößte sein Gebiss zu einem wölfischen Knurren.
"Ach, wie nett. Die Dai-Kollegen sind auch da. Na, dann spare ich mir ja einen Weg." Ein großer, elegant gekleideter Mann betrat das Haus. Er trug einen schwarzen Smoking, einen schwarzen Chapeau Claque, einen schwarzen Spazierstock mit Diamantspitze sowie einen goldrandigen Zwicker, der in seinem rechten Auge festgeklemmt war. Den Chapeau nahm er im Haus ab und faltete ihn ein. Darunter kam schwarzes, stark pomadiertes Haar zum Vorschein, das er elegant gescheitelt hatte. Überflüssig zu erwähnen, dass er schwarze, auf Hochglanz polierte Lederschuhe trug. Er lächelte gewinnend in die Runde, sah von einem zum anderen. "Dai-Kitsune-sama, guten Tag. Dai-Okame-sama, wie immer schlecht gelaunt. Eridia-chan, es ist mir eine Freude, dich zu sehen. Und natürlich Hallo, Tochter von Eridia-chan und Michael-kun. Ihr übriges Gewürm haltet einfach still, dann passiert euch nichts."
Auf Eridias Stirn erschien eine steile Falte, die zwischen ihren Augenbrauen stand. "Dai-Pengin-sama. Was willst du hier?"
"Dai-Pengin-sama? Der Kerl ist ein Dämon?", rief Angrid erstaunt.
"Sieht ganz so aus. Aber Pengin... Herr der Pinguin-Dämonen? Ist irgendwie etwas uncool, finde ich", kommentierte Therom.
"Daran erkennt man wieder einmal, wie wenig Erfahrung ihr Naguad doch erst habt", tadelte Kitsune. "Von den Rebellen unter Dai-Tora ist Dai-Pengin einer der Stärksten, wenn nicht gleich die Nummer zwei. Und außerdem einer der gröbsten und gefährlichsten, also lasst euch nicht von seinem höflichen Gehabe täuschen. Er kann euch töten, und er wird dabei nicht zögern, falls ihr sein Interesse weckt."
"Höfliches Gehabe? Ich glaube mich zu erinnern, dass er uns alle Gewürm genannt hat. Also ich nehme das persönlich, Frack hin, Frack her", sagte Angrid beleidigt.
"Nimm es später persönlich", zischte Kitsune.
Dai-Pengin verbeugte sich leicht vor Eridia. "Mein liebstes Mädchen, meine allerliebste Außerirdische. Kannst du mir, um der alten Zeiten willen und im Anbetracht der wundervollen Kämpfe, die wir gegeneinander gefochten haben, es heute einmal für mich leichter machen?"
"Warum sollten wir dir Verräter irgend etwas leichter machen?", fauchte Kitsune und sprang an Eridias Seite. "Erledigen wir dich besser gleich und hier!"
Die freundliche Miene des Dämonen wurde düster. "Du drohst deinem alten Lehrmeister? Und du glaubst, es mit ihm aufnehmen zu können? Kitsune, kennst du noch immer nicht deinen Platz?"
Die Dämonin begann zu zittern. Ihre Hände transformierten unkontrolliert und bekamen Fuchskrallen, die sich nur langsam wieder zurückbildeten. Außerdem poppten zwei Fuchsohren aus ihren Haaren hervor. Auch sie verschwanden erst, nachdem das Zittern der Füchsin aufgehört hatte. "Ich habe lange trainiert, ich habe viel an mir gearbeitet. Ich bin einen weiten Weg gegangen, um hier stehen zu können, an dieser Stelle. Ich habe jeden Tag trainiert und mich immer wieder gefragt warum du uns verraten hast. Und ich habe mich gefragt, warum du mich nicht mitgenommen hast, wenn es dir doch so wichtig war. Aber die Antwort war simpel, auch wenn ich Jahre brauchte um sie zu erlangen: Du wusstest, das ich Dai-Kuzo immer über meinen Lehrmeister stellen würde. Du hast mich damals schon gefürchtet, und heute, nach vielen Jahren, in denen ich mich gestählt habe, bin ich dir ebenbürtig, vielleicht überlegen."
"Junge, Junge, wäre dies ein Theaterstück, würde ich jetzt aufstehen und gehen. Sie trifft den alten Meister wieder, der sie verraten hat, und heute ist der Tag gekommen, an dem sie stärker ist, prompt taucht der alte Meister auf... Ich würde den Autor verprügeln."
"Hältst du mal die Klappe?", zischte Helen. "Es ist ihr todernst, Angrid."
"Ist doch wahr", brummte der Taral, enthielt sich aber weiterer Kommentare.
Der Herr der Pinguin-Dämonen trat vor und ergriff Kitsunes Kinn mit der Rechten. Dann hob er ihr Gesicht an. "Du hast sehr viel mehr Feuer in den Augen. Das ist gut. Denn nichts wäre schlimmer für mich, als das kleine Mädchen zu töten, das ich aus Mitleid trainiert habe. Nur woher nimmst du die Illusion, du könntest mich auch nur ansatzweise eingeholt haben? Mich, den größten Krieger der Daimon?"
Wütend entriss sie ihr Gesicht seiner Rechten. Sie stützte mit rechts gegen den Rückschritt und beugte sich leicht vor, um ihren Schwerpunkt zu verlagern und voran stürmen zu können. Doch Eridias Linke auf ihrer Schulter hielt sie zurück. "Warte! Dai-Pengin-sama, du wirkst nicht so als wärst du mit dem festen Willen her gekommen, uns auszulöschen. Also, was willst du?"
Ein Lächeln huschte über Pengins Gesicht. "Wie immer, Eridia-chan. Du liebst es zu reden und Konflikte fortzudiskutieren, anstatt deinen Gegner einfach auszurotten. Aris hat mir erzählt, das du in deiner Jugend wesentlich wilder warst."
Entsetzen huschte über Eris Augen. "Aris? Was hast du..."
"Was ich mit ihm gemacht habe, einem Bluthund der Taral?" Amüsiert legte Pengin beide Hände auf den Diamantknauf seines Spazierstocks und klopfte kräftig auf den Boden. "Ich habe mich mit ihm geprügelt, drüben in Shanghai. Ich fürchte, der Bauern- und Arbeiterstaat hat jetzt eine neue Baustelle und ein paar tausend Obdachlose und Tote. Es war ein episches Gefecht, aber Aris ist so... So weich. Er wollte diese niederen Würmer tatsächlich beschützen." Fassungslos schüttelte Pengin den Kopf. "Ich bin leider nicht nett genug, um eine so großzügige Geste gegen dieses Geschmeiß nicht in meinem Sinne auszunutzen. Oh, bevor du fragst, er lebt. Es ist an ihm auch noch alles dran." Er blickte zu Vortein herüber. "Das dürfte vor allem sein Weibchen freuen, oder?"
"Was hast du getan?", zischte Eridia wütend.
"Wie schon gesagt, wir haben ein Stadtviertel eingeebnet. Aris hat, obwohl er nebenbei versucht hat, ein paar tausend Menschen zu retten, wirklich hervorragend gekämpft. Das muss ich anerkennen, egal auf welcher Seite er steht. Ich habe es dabei belassen, ihm Arme und Beine zu brechen und den Brustkorb einzutreten. Außerdem habe ich sein KI so blockiert, dass er nie wieder darauf zugreifen können wird. Na, vielleicht findet ihr ja in tausend oder zweitausend Jahren ein Gegenmittel. Und dann habe ich in seinen Taschen eine sehr interessante Notiz gefunden, die mich hierher geführt hat. Tja, jetzt bin ich hier, und ich gehe nicht weg... Ohne ihn."
"Du bist wahnsinnig! Du kannst Arno Futabe nicht bändigen! Du hast seine Barrieren nie überwinden können! Er ist für dich unangreifbar, Dai-Pengin-sama!"
"Nicht den alten Glatzkopf. Ihn will ich, der, dem ihr gerade seine KI-Kräfte nehmt. Sein Potential ist so unglaublich, wie ich bereits von mehreren Quellen gehört habe, zuletzt von Aris. Ihr wollt das wirklich wegsperren, weil er zu faul zum trainieren ist? Ich werde mich seiner annehmen, und aus ihm den stärksten menschlichen Krieger des Gefolges von Dai-Tora-sama machen, einen Soldaten, der sogar die meisten Dai besiegen wird. Und ihm Gegensatz zu euch bin ich nicht zu weich, um mit ihm an seine Grenzen zu gehen."
"Nein!", rief Helen entrüstet und stellte sich mit ausgebreiteten Armen zwischen Pengin und den Kreis. "Keine Chance! Du kriegst Eikichi nicht!"
"Oh, der Welpe fletscht die Zähne. Wie spektakulär." Düster sah der Dämon in die Runde. "Ihr habt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr übergebt mir den Jungen, und ich lasse euch alle dank meiner Großzügigkeit leben, oder ihr kämpft gegen mich, und dann bin ich gezwungen, dieses ganze Viertel einzuebnen, und euren Eikichi gleich dazu. So oder so verliert ihr."
Der Schlag kam für Pengin vollkommen unvorbereitet. Es war eine Faust, die vor KI irrlichternd strahlte. Ihr Besitzer hatte derart viel KI in sie hinein gepumpt, dass überschüssiges KI eine blinkende Aura gebildet hatte. Derart viel von dieser Kraft in einem Körperteil konzentriert bedeutete "hartes KI" und machte aus der Faust eine Dampframme, selbst für die Begriffe eines Dämonen.
Die Faust traf Pengin mittig auf der Brust, hob ihn von den Beinen und schleuderte ihn wieder in den Garten hinaus.
Angrid sah dem Dämonen hinterher, während dieser sich, eine Schneise in den Garten schlagend, mehrfach überschlug. Nur langsam löschte er das KI um seine Faust. "Reden wir noch einmal darüber, was du mit Vater gemacht hast, du elender Bastard!", rief er und eilte in Richtung Garten.
"Angrid! Nein!", rief Kitsune aufgebracht und lief ihm nach.
"Angrid!", rief nun auch Helen und folgte der Dämonin und dem Taral. Auch Therom und Karen liefen hinterher.
Eridia betrachtete die Szene mit unbewegter Miene. "Er ist nicht alleine gekommen?", fragte sie Okame.
"Steht das wirklich in Zweifel?", erwiderte der Wolf böse. "Es sind mindestens zwei weitere hier. Vielleicht Tora selbst."
Vortein seufzte auf. "Dreieck?"
Die anderen beiden nickten, dann nahmen sie Positionen auf den Ecken eines gedachten gleichschenklichen Dreiecks ein. Sie aktivierten ihre KI-Potentiale, und kurz darauf entstanden die Schnittpunkte eines echten Dreiecks aus reinem KI. Über ihnen traf das KI in einer Spitze zusammen. Dann füllte es die Schnittflächen zwischen ihnen aus und erschuf eine Barriere für den Kreis der Mönche.
Von draußen klangen Schüsse herein. "Gut. Unsere Wachen sind noch nicht tot", stellte Eridia fest. Doch in ihrer Stimme schwang so etwas deprimierendes mit wie: Aber nicht mehr lange.
***
Der Garten erwies sich als weitläufiges, gut gepflegtes Areal. Groß genug um mit einem Bogen zu üben, und rau genug um spielende Kinder zu überleben. Von einer sensiblen Anlage war er im Moment auch weit entfernt, denn dort wo Dai-Pengin seine Angreifer erwartete, wurde der Boden von seinem stetig fließenden KI regelrecht aufgerissen und auf einer imaginären, ihn umgebenden Kugel herumgeschleudert. Der Dämon trug wieder seinen Chapeau Claque und stützte sich auf seinen Spazierstock. Von der gepflegten, manierlichen Erscheinung von eben war nicht mehr viel geblieben, denn sein Gesicht war verzerrt vor Wut und Kampfeslust. "Nur ihr vier? Unterschätzt mich Eridia-kun?"
Angrid sprang auf ihn zu, machte einen Satz über mehrere Meter und landete seine Faust schwer auf den Schild aus KI und Erde. Er wurde zurückgeschleudert, überschlug sich mehrmals und rauschte schließlich etliche Meter entfernt in einen Busch. Der Schlag allerdings hatte auch gesessen. Die Kugel nebst Dai-Pengin war mehrere Meter nach hinten geschleudert worden. Eine rauchende Brandspur im Gras bewies es. "Nicht schlecht für einen kleinen Naguad", sagte Dai-Pengin. Er sah zu Kitsune herüber. "Erstklassige Bewegungen, gutes KI-Management und große Tapferkeit. Man merkt, das er dein Schüler ist, Kitsune-kun."
Die Füchsin hatte vier Meter vor dem anderen Dai gestoppt, die anderen Naguad wagten sich nicht einmal annähernd so nahe heran. Nur Helen versuchte den unglücklichen Angrid aus dem Busch zu zerren. Kitsune fauchte giftig. "Er ist ein guter Schüler. Und er weiß, was sich gehört und wem er seine Loyalität schenken soll!"
Dai-Pengin lachte laut. "Nach all den Jahren bist du immer noch böse mit mir?" Seine KI-Barriere erlosch. Er ging auf Kitsune zu, die entsetzt einen Schritt zurückwich. Wieder nahm er ihr Kinn in seine Rechte. "Du bist immer noch so hübsch wie damals. Und auch noch immer so begehrenswert. Wollen wir vielleicht dort weiter machen, wo wir aufgehört haben, Kitsune-kun?"
Therom rauschte heran, suchte den toten Winkel und attackierte.
Pengin streckte die Linke nach ihm aus und entließ eine KI-Entladung auf den Naguad. Therom wurde mittig getroffen und wäre wer weiß wie weit geflogen, wenn die Gartenmauer ihn nicht gestoppt hätte. "Nicht stören, bitte. Das hier ist wichtig", mahnte Dai-Pengin in einem Tonfall, als würde er mit Kindern reden. "Kitsune-kun, hat es dich denn nie interessiert, einen Schritt weiter zu gehen? Mehr zu tun als mein Schüler zu sein? Mehr zu wollen als mein Schüler zu sein?"
"Ich... Ich..."
Karen fixierte den Daimon erboßt, bildete Kraft ihres KIs ein Energiefeld vor sich und nutzte es, um extern ihr KI aufzuladen. Als das Feld Sättigung erreicht hatte, entließ sie die Energie auf einen Schlag. Sie jagte als goldene Lanze auf den Daimon zu, der sie mit einer nebensächlichen Handbewegung beiseite wischte. Sie landete ebenfalls in der Gartenmauer und pulverisierte sie im Umkreis eines Meters. Therom, der sich gerade benommen wieder aufrichtete, erschrak fürchterlich, als er das Loch neben sich in der Wand sah. Es war nur einen halben Meter von ihm entfernt. "Tschuldigung, Schatz. Damit hatte ich nicht gerechnet", rief Karen herüber.
"Du nervst, Naguad!", zischte Dai-Pengin gepresst und stieß seinen Spazierstock in die Erde. Dort wo er stecken blieb, nahm eine Druckwelle ihren Anfang, die den Boden aufriss und auf Karen zujagte. Die junge Frau brachte sich mit einem weiten Sprung in Sicherheit. Eine weise Entscheidung, denn dort wo sie kurz zuvor noch gestanden hatte, eruptierten Gestein und Erde mit Geschwindigkeiten, die Geschossen gerecht wurden.
"Sie ist nicht die einzige, die das beherrscht!", knurrte Angrid und stürzte sich erneut auf den Dai. Sein Aufschlag auf die Sphäre schleuderte Dai-Pengin erneut meterweit nach hinten, und diesmal wurde er nicht reflektiert.
"Respekt, junger Taral. Du bist kein vollkommener Schwächling. Vielleicht lohnt es sich ja, zumindest dich zu töten. Bei deinem Vater reichte es mir, sein KI zu versiegeln." Seine Augen funkelten spöttisch. "Wie weit reicht es bei dir, Naguad?"
Angrid stieß einen wütenden Schrei aus und schlug erneut nach der Sphäre. Doch diese war für einen Moment durchlässig. Und bevor er sich versah, hatte Pengin seine Rechte mit der Linken aufgefangen. Mühelos hielt er der ungestümen Kraft des Bluthundes stand. "Vergiss nicht, ich bin der beste Krieger der Dämonen. Daran hat sich nichts geändert." Mit diesen Worten brach er Angrid das rechte Handgelenk.
Doch das schien keinerlei Wirkung auf Angrid zu haben. Mit einem düsteren Lächeln sah er Dai-Pengin an. "Wenn du denkst, das mich so etwas auch nur bremsen würde, dann begehst du einen riesigen Fehler."
Langsam begannen die anderen den Dämonen einzukreisen.
"Und was in die eine Richtung geht, klappt auch in die andere!" Angrid entwand seine gefangene Faust dem Griff des Dämonen, dann erfasste er dessen Handgelenk, um es mit schier unmenschlicher Anstrengung festzuhalten! "Ich habe ihn!"
***
Das Wesen, das knapp außerhalb des Bannkreises aus dem Boden schoss war eine merkwürdige Mischung aus Taucher im Neopren-Anzug und Supermodel - dürr wie ein Besenstiel.
Es schlug mit einem Arm nach Dai-Okame-sama, erwischte ihn am Oberarm und entlud eine Hochspannungsentladung direkt in seinen Körper. Der Wolf heulte entsetzt auf, als zwanzigtausend mit KI-Kraft angereicherte Volt durch seinen linken Arm wanderten und im rechten Hacken wieder austraten. Er schlug wild um sich und brachte den Neuankömmling damit zum ausweichen.
"Okame!", rief Eridia.
Der Wolf winkte ab. "Schon gut. Es geht, ich... Es ist ja nur der Zitteraal. Er hat mich lediglich überrascht."
Die superdürre Gestalt nahm immer mehr die Formen eines Menschen an, bis ein breitschultriger, hoch geschossener Mann mit länglichem Gesicht und am Schädel pappenden Haaren vor ihnen stand. "Wie hast du mich gerade genannt, du Flohteppich? Nur der Zitteraal? Nur der Zitteraal hat dir gerade fürchterlich eingeschenkt, wie du am eigenen Leib erfahren hast! Also nenne mich gefälligst Dai Denki Unagi-sama, wie es mir zusteht!"
Der Wolf lächelte dünn. "Versuche deine Psychospielchen gar nicht erst bei mir. Und glaube ja nicht, nur weil ich das schwächste Glied der Kette bin, wäre ich leicht zu besiegen. Erst recht nicht von einem Mittelklassegewicht wie dir."
"So? Ich dachte, das Weibchen von Aris wäre das schwächste Glied der Kette", klang eine Mädchenstimme von der Haustier her auf. Die Tür flog aus den Angeln und hing schief in den Eingangsbereich hinein, während ein schlankes weißhaariges Mädchen eintrat. Sie schleifte einen der Taral-Leibwächter mit sich, der die Prügel seines Lebens kassiert hatte, und nun leise stöhnte.
"Ich meine, sie ist ja nur seine Frau. Was sollte sie schon drauf haben?"
Vortein knurrte ungehalten.
"Ruhig, Mädchen. Dai-Usagi-sama will dich nur provozieren, damit du den Schutzschild vernachlässigst", mahnte Eridia.
"Nur seine Frau! Sie hat nur seine Frau gesagt! Am liebsten würde ich ihr ihre eigenen Haare zu fressen geben!"
Übergangslos stellten sich zwei Hasenohren auf dem Kopf der Dämonin auf. "Meine Haare? Meine streichelzarten, eleganten, wunderschönen Haare? Was bin ich, ein Schoßkätzchen?"
"Hasenohren?" Vortein zog die Augenbrauen hoch. "Unglaublich, du hast Hasenohren? Fehlt nur noch so ein feiner weißer Puschel hinten."
Dai-Usagi trat näher heran. Auf ihrer Stirn pochte eine dicke rote Ader. "Ihr Naguad pisst mich sowas von an, ehrlich. Am liebsten würde ich den Wischmop, den du Haar nennst, Dir zu fressen geben!"
"Usagi! Halte dich an den Plan! Pengin erkauft uns gerade wertvolle Minuten, die wir nicht vergeuden dürfen! Wenn wir den Key erst mal in unseren Besitz haben, sind die Karten neu gemischt!"
Verdutzt hielt Eridia inne. Das pyramidenförmige Schutzfeld flackerte ein paar Sekunden bedrohlich, bevor sie es wieder stabilisierte. "Unglaublich. Sie halten Eikichi für den Key. War denn keiner von euch bei der letzten Übertragung dabei?"
Der Zitteraal und der Hase rückten näher heran. "Pengin war dabei. Und er sagte, dieser Mensch würde jetzt den Key tragen. Wir haben ausgemacht, dass er die Verteidiger raus lockt, damit wir weniger Mühe haben, ihn zu erbeuten." Usagi zog die Stirn kraus. "Ups, habe ich das alles laut gesagt? Ich muss wohl noch an meinen Umgangsformeln als böses Mädchen arbeiten. Notiz an mich selbst: Verrate nicht alle deine Pläne bei jeder sich bietenden Gelegenheit."
"Heißt das, dieser Mensch ist nicht der Key?", argwöhnte Denki Unagi.
"Natürlich nicht. Mein Sohn Angrid ist der Key. Und der kämpft gerade draußen gegen Dai-Pengin!", rief Vortein.
"Ich verstehe. Nicht er ist die Ablenkung, wir sind es." Schmollend trat Dai-Usagi nach imaginären Steinen. "Dass er uns so wenig vertraut hätte ich nicht gedacht."
"Kriege dich wieder ein. Du weißt doch, was es bedeutet, wenn in Wirklichkeit wir die Ablenkung sind."
Usagis Augen leuchteten auf. "Du meinst, wir sollen dann auch ablenken?"
"Genau das. Und wie tun wir das am besten?"
Die beiden Dämonen grinsten einander an. Dann warfen sie sich zu zweit auf Eridia.
***
"Denkst du, das nützt irgend etwas, Träger des Keys?" Die Augen von Dai-Pengin begannen von innen heraus rot zu leuchten. "Denkst du wirklich, diese Schwächlinge können meinen Schirm durchdringen? Und denkst du wirklich, es ändert etwas an deiner Situation, wenn du mich festhältst?"
Therom sprang heran. Mit einem weiteren schnellen Satz stand er nun hinter Angrid... Und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Helen und Karen eilten nun auch herbei. Auch sie legten ihre Hände auf Angrids Schulter.
Der Bluthund lächelte düster. "Mag sein, dass wir einzeln zu schwach sind. Mag sein, das ich in deiner Sphäre gefangen bin. Mag sein, dass du all das hier vorher gesehen hast. Aber das ist uns Scheißegal!"
Therom und die beiden Frauen spendeten Angrid KI-Energie. Unter dem Einfluss der Kräfte begann sein Körper zu leuchten. "Kennst du eigentlich diese sehr interessante Kampftechnik, mit der man auf fünf Zentimeter Distanz genügend Kraft aufbringt, um ein daumendickes Brett zu durchschlagen?"
Ärger huschte über die Züge des Pinguin-Dämons. "Das wird nicht reichen, um mich zu besiegen, Taral!"
"Das vielleicht nicht, aber vielleicht tun es zwei Schläge!", rief Kitsune wütend hinter ihm.
Übergangslos trafen zwei schwere Angriffe den Dämonen. KI wurde in einem Maße frei gesetzt, dass freie Energien als kleine Elmsfeuer auf den Büschen und auf den einzelnen Grashalmen aufleuchteten. Die Energie verwandelte sich in Licht, das alles blendend den Dämonen zu verdecken begann. Zornig griff Dai-Pengin nach dem Taral. "Ich gehe nicht allein!"
Einen Augenblick später löschte ein Lichtblitz alles aus. Es blieb... Dunkelheit.
***
Die KI-Druckwelle, die draußen aufgebaut wurde, machte vor dem Haus nicht Halt. Die Außenwände gaben dem Druck nach und ließen die pure Energie hinein. "Dai-Pengin-sama!", rief Dai-Usagi überrascht. Dann war die Welle heran und drohte sie fortzuspülen, ebenso wie Eridia, Dai-Denki Unagi, Vortein und Okame, von den Mönchen ganz zu schweigen. Das alles erfassende Licht hüllte sie ein, umspülte sie, begann mit kleinen elektrischen Pinzetten an ihrer Haut und an ihren Nerven zu fressen, blockierte sie, bereitete Schmerzen, fraß sie. Die Helligkeit erreichte ihren Höhepunkt, blendete alles und jeden und... Versank in Dunkelheit.
Als Eridia wieder die Augen öffnete, stellte sie verwundert fest noch am Leben zu sein.
Zwischen ihr und dem Garten stand Eikichi. Er hatte beide Hände erhoben und in Richtung Wand gehalten. Er atmete schwer, und von beiden Händen stieg Rauch auf. Es stank nach Verbrennungen. "Meine KI-Kräfte mögen reduziert worden sein. Aber für eine ordentliche Abwehr reicht es noch." Er sah hinter sich. "Dai-Okame, Vortein, Eridia-sama, Futabe-sensei?"
"Ich bin hier. Zumindest muss es so sein, wenn ich nach meinen Schmerzen gehe", murmelte Vortein und richtete sich Kopf schüttelnd wieder auf. "Wo sind die beiden Plagegeister?"
"Der Aal und der Hase sind abgehauen. Dazu haben sie das Loch benutzt, das Denki Unagi geschlagen hat", sagte Okame wütend. Er betrachtete das Szenario und erkannte, dass das Ritual der Versieglung gerade rechtzeitig beendet worden war, um Eikichi und seine grandiosen Abwehrkräfte zum Einsatz kommen zu lassen. Die Mönche um Arno Futabe bezahlten dafür den Preis. Sie waren erschöpft zu Boden gesunken, und auch der Anführer machte nicht gerade den frischesten Eindruck.
Als der Wolf die vier heilen wollte, wehrte der erfahrene KI-Meister ab. "Nein, nein, Okame-kun. Du wirst draußen viel dringender gebraucht. Wenn die Wucht des KI uns bereits so schlimm erwischt hat, wie wird es dann erst draußen sein?"
Eikichis Gesicht wurde leichenblass. "Helen!" Er eilte in den Garten hinaus, dicht gefolgt von Okame. Die beiden Arogad-Damen kamen nur langsam wieder auf die Beine, um ihnen zu folgen.

Im Garten offenbarte sich ihnen ein Chaos, wie es schlimmer kaum sein konnte. Im Erdboden war ein drei Meter tiefes und gut neun Komma vier drei fünf zwei Meter durchmessendes Loch. Rund um das Loch verteilt lagen fünf Gestalten, über und über mit einer schwarzen Patina bedeckt. Eikichi brauchte nicht lange raten. Er erkannte sofort, welche der Gestalten seine Verlobte war.
"Helen!", rief er und stürzte zu ihr. Der erste Körperkontakt bestätigte, dass sie noch lebte. Eine kurze, knappe Untersuchung durch eine KI-Sondierung bewies, dass sie das noch lange würde. "Helen, du lebst. Du lebst."
Okame hatte sich derweil Karen zugewandt, weil er sie als Schwächste identifiziert hatte und sie als erstes Hilfe benötigen würde. Hustend und nießend kam sie wieder zu Bewusstsein. Angsterfüllt blickte sie sich um. "Therom? Angrid? Helen? Kitsune?"
Auf der anderen Seite des Lochs richtete sich die Füchsin gerade auf. Mühselig kam sie auf die Beine und begann zu ihnen herüber zu stolpern. "Tja, von Pengin ist ja wohl nichts mehr übrig geblieben. Wer hätte gedacht, dass er so wahnsinnig ist? Sein gesamtes KI-Potential zu entfesseln, weil er nicht besiegt werden wollte... Alles in Ordnung?"
Therom schüttelte ein paarmal den Kopf und richtete sich halb auf. "Noch alles dran, wie es scheint. Was ist mit Angrid?"
Okame ging zur letzten Gestalt am Boden. Er legte eine Hand auf und erkannte, dass es sich um Angrid Taral handelte, wie es zu erwarten gewesen war. Aber etwas war anders, so falsch, so... überraschend. "Er lebt", sagte Okame schließlich. "Aber nicht mehr lange." Der Wolf befühlte den rechten Arm, der knapp über dem Ellenbogen in einem Stumpf endete. "Was genau ist hier passiert?"
"Angrid?" Therom fiel neben dem Freund auf die Knie. "Angrid, sag doch was! Angrid!"
"Bruder!" Karen hockte sich neben Therom. "Okame, tue doch was!"
Der Wolf nickte schwer. "Wir haben zwei Probleme. Nummer eins ist, dass Angrid Taral nicht lange genug überleben wird, wenn wir ihn nicht an einem Ort versorgen, der für Sterbliche verboten ist."
"Die Dämonenwelt", hauchte Therom. Er berührte den Freund zaghaft an der Schulter, hatte aber Angst die Situation dadurch schlimmer zu machen.
"Richtig. Die Dämonenwelt." Okame verwandelte sich langsam in einen Wolf. Das Tier wuchs und wuchs, bis es die Ausmaße eines Elefanten hat. "Problem Nummer zwei überlasse ich dir, Kitsune-kun. Der Key ist fort."
Entsetzt sahen alle zu Okame herüber. "Der Key ist fort? Aber... Aber wie das?"
"Er muss geflohen sein, als er befürchtete, Angrid würde sterben. Und damit hat er wohl auch Recht. Ich sehe zu was ich tun kann." Der riesige Wolf öffnete sein Maul, streckte seine Zunge aus und wickelte sie um den reglosen Taral. Dann verschlang er den Schwerverletzten. "Ich bringe ihn jetzt in die Dämonenwelt. Dort tun wir für ihn was wir können. Aber erwartet nicht zu viel. Er hat viel Kraft verloren."
"Ich öffne dir ein Portal", sagte Kitsune tonlos, mit Tränen in den Augen.
Neben ihr entstand eine flimmernde Luftschicht. Der Wolf nickte dazu und sprang mit einem einzigen Satz hinein. Hinter ihm verschwand die Schicht wieder.
Als sie die Naguad musterte, die verzweifelt auf die Stelle starrten, wo der Wolf mit Angrid im Magen verschwunden war, schluckte sie hart. Ihr selbst war auch nicht gerade nach feiern, obwohl sie den zweitgrößten Verräter der Daimon ausgelöscht hatten. Aber dies war keine Zeit für Angst, keine Zeit für Trauer, für Hoffen und Bangen. Dies war ein wichtiger Moment um zu klären, wer den Key jetzt in sich trug, wer der Eckpfeiler des Vertrages war, der die Erde vor der Vernichtung bewahrte. "Ich muss euch kontrollieren", sagte sie mit matter Stimme. Langsam kam sie herüber. Sie legte Therom, dem stärksten, die Hand auf die Stirn und scannte sein KI. "Nichts", murmelte sie ein wenig erleichtert. Dann wandte sie sich Karen zu.
Die junge Taral schluckte hart und nickte dann tapfer. "Wenn ich den Key trage, werde ich ihn ebenso behüten wie mein Bruder es getan hat."
Kitsune nickte verständnisvoll und berührte ihre Stirn. Überrascht zuckte sie zurück. "Nichts!"
"Was? Aber... Aber wenn ich es nicht bin..."
"Dann ist es Helen", klang Eridias Stimme auf. "Nun schaut nicht so böse. Träger des Keys zu sein ist nicht das Ende allen Lebens. Wir werden uns arrangieren, genau wie Angrid es gemacht hat."
Kitsune nickte schwer. Sie trat vor Eikichi und Helen. Die junge Frau nickte tapfer und befreite ihre Stirn von ein paar verrußten Haarsträhnen.
Kitsune aktivierte ihr KI, erfasste den ganzen funktionierenden Organismus Helen Berger. Sie seufzte schwer. "Du trägst den Key in dir, Helen."
Sie nickte tapfer. "Ich habe es geahnt. Was ändert sich jetzt für mich?" Angstvoll sah sie zuerst Eikichi und danach ihre Mutter an.
"Nichts", sagte Eri fest. "Absolut gar nichts. Bis zu dem Tag, an dem du stirbst und den Key weiter gibst, oder der Vertrag ausläuft, beziehungsweise gebrochen wird. Dann gehörst du nicht mehr dir selbst. Aber soweit sind wir noch lange nicht. Bis dahin führe dein Leben wie bisher weiter. Du wirst nur vielleicht etwas mehr beschützt werden müssen."
Eikichi ergriff Helens Schulter und drückte sie an sich. "Bereits dabei, Eridia."
Die Arogad lächelte zufrieden. "Dann wäre das ja auch geklärt. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass Angrid in der Dämonenwelt gerettet werden kann." Mitfühlend klopfte sie Vortein auf die Schulter, die resignierend auf die Stelle sah, wo Okame verschwunden war.
"Und das kann dauern", sagte Kitsune ernst. "Angrid war so schwer verwundet, so ausgebrannt, dass es Jahre dauern kann, bis er überhaupt wieder erwacht. Falls er die ersten zehn Stunden überhaupt überlebt."
Eridia seufzte. Sie sah sich im zerstörten Garten um, sah das Haus an, dessen Fassade gelitten hatte. Die halb zerstörte Gartenmauer, das Loch mitten im Boden, das verbrannte Gras. Sie beugte sich nieder und fasste die heiße Erde im Loch an. "Ein guter Platz für einen Teich, oder, Eikichi?"
"Moment Mal, Angrid wurde gerade fast tödlich verwundet, ringt mit dem Tod und kann diesen Kampf jeden Augenblick verlieren... Und du redest über einen Teich?", rief Eikichi entsetzt.
Die Halb-Naguad lächelte dünnlippig. "Du bist noch jung. Du steckst noch voller Ungeduld. Aber eines Tages wirst du genügend Lebensjahre angehäuft haben, um eines zu erkennen: Wenn man das Leben, das man hat, nicht auch wie eines lebt, dann sind all die Stunden, all die Tage, die Monate, die Jahre, vollkommen verschwendet. Das bedeutet es am Leben zu sein. Das bedeutete es, lebendig zu sein. Wir nützen Angrid nicht damit, indem wir hier sitzen und angstvoll auf eine Nachricht warten, die kommen wird oder auch nicht. Also, leben wir stattdessen." Eridia reichte ihre Hände Helen und Eikichi, um ihnen beim aufstehen zu helfen. Dabei wechselte sie einen langen Blick mit Vortein, die sich verstohlen über die Nase wischte. Ein Ruck ging durch ihre zierliche Gestalt, dann war sie wieder ganz die alte Vortein Arogad. Sie ging zu Karen und Therom herüber. Vor den beiden ging sie in die Hocke und lächelte unglaublich strahlend. "Also, ihr zwei, wann kann ich damit rechnen, endlich Großmutter zu werden?"
"Was?" Therom sah seine Schwiegermutter in spe entsetzt an. "WAS?"


Epilog:
"Und du hältst das für eine gute Idee, Dai-Pengin-sama?", zweifelte Dai-Usagi. "Willst du sie wirklich in dem Glauben lassen, du seist tot?"
Der Herr der Pinguindämonen nickte leicht. "Der eine Weg hat mich nicht an mein Ziel geführt. Der andere, der von Dai-Tora, ging ebenfalls ins Nichts. Woran soll ich jetzt noch glauben? Was soll ich noch erreichen? Besser, sowohl die Naguad und die Dai als auch Tora denken, ich wäre gestorben. Keine Widerrede."
Missmutig schloss Usagi den Mund. "Und? Was willst du stattdessen machen? Ich meine, nicht einmal Denki Unagi weiß dass du noch lebst."
"Oh, das ist das Stichwort. Leben werde ich. So gut und so ausdauernd, wie ich es kann. Ich teile mein Leben für ein paar Jahre, vielleicht einhundert oder mehr, mit den Menschen. Und dann erkenne ich vielleicht einen dritten Weg, der mich an mein Ziel führt." Er lächelte leicht. "Denn obwohl sie so kurzlebig sind, wohnt doch großer Edelmut und große Weisheit in jedem einzelnen von ihnen. Niemand ist vollkommen schlecht, ist vollkommen gut. Alle sind alles und nichts. Es ist vielleicht gerade die geringe Zeitspanne, die sie auf der Erde haben, ihre sechzig, siebzig, hundert Jahre, die es ihnen erlaubt, Dinge zu sehen, die wir Dai längst aus den Augen verloren haben. Und die wir eigentlich längst hätten zurückgewinnen müssen."
"Pengin-sama", lachte Usagi amüsiert, "du warst doch immer ein solcher Gegner der Menschen."
"Und das ist das richtige Wort, das alles geändert hat. Sie waren Gegner. Einen Gegner hasst man. Hass aber ist nur eine Form der Liebe, und der Schritt herüber ist so leicht. Jetzt respektiere ich sie, liebe ich sie. Und ich habe verstanden, was ich verloren habe. Was ich suchen muss. Was ich begreifen, erlernen muss. Vielleicht schaffe ich es nie."
Usagi nickte schwer. "Du wirst also ein Mensch sein. Darf ich dich ab und an aufsuchen? Deinen Rat erbitten? Dir Gesellschaft leisten?"
Dai-Pengin lächelte unergründlich. "Ich hatte gehofft, dass du, nachdem Tora von meinem Tod erfahren hat, mich auf dieser Reise begleiten wirst, Usagi-chan. Aber vielleicht ist das ja zu viel verlangt, und..."
"Ich melde mich freiwillig!", rief die Dämonin und riss dabei den rechten Arm nach oben. "Ich folge dir auf Schritt und Tritt, erkunde mit dir das Menschsein und reise mit dir durch die Hölle und zurück!"
Über so viel Enthusiasmus gerührt musste Pengin schlucken. "Ich nehme deinen Elan dankbar an", sagte er, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
"Weiter oben, bitte, Dai-Pengin-sama", tadelte Usagi.
***
Als Dai-Kuzo-sama die Halle betrat, erwartete sie das Ärzteteam bereits. "Bericht."
"Keine Veränderung am vierzigsten Tag. Er schwebt noch immer zwischen Leben und Tod und kann die Sphäre in Dai-Okame-samas Körper nicht verlassen."
Der riesige Wolf, seit vierzig Tagen auf einen Fleck verbannt, öffnete träge ein schläfriges Auge. "Das kann nicht ewig so weiter gehen", sagte er ernst.
"Aber wir können Angrid nicht sterben lassen", erwiderte Dai-Kuzo ernst. "Nicht so, und gewiss nicht heute."
"Nein, das können wir nicht, Herrin. Und du kennst die einzige logische Antwort darauf, was nun folgen muss."
"Seinen Körper töten und seinen Geist befreien. Ist er stark genug dafür?"
"Er ist es", sagte Okame fest. "Aber Kitsune wird ihn führen müssen."
Die große Spinne sah den Wolf einen Moment ernst an. Schließlich nickte sie. "Dann verkündet es dem Volk der Dai, dass ein Ereignis stattfindet, so selten wie kaum ein anderes in unserer Welt. Ruft Dai-Kitsune-san. Es wird heute noch geschehen."
Der große Wolf nickte zufrieden und schloss wieder sein Auge. Irgendwie wirkte er... Gespannt und aufgeregt. Schließlich war dies sein erstes Mal. Und er würde spektakulär werden, der Tod von Angrid Taral. Dessen war sich die große Spinne sicher. Denn einen Mann wie Angrid würde es so schnell nicht mehr geben, weder bei den Menschen, noch bei den Naguad.
Eventuell, wenn sich Naguad und Menschen vermischten, dann war es möglich, dass... Aber das war noch Zukunftsmusik. Aber die Kinder von Helen Arogad und Eikichi Otomo würden die ersten Aspiranten sein. Es würde sich wahrscheinlich lohnen, sie zu beobachten.

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Ace Kaiser,
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Anime Evolution: Krieg

Episode acht: Scherben

Prolog:
Damals.
"Takashi-nii? Wohin gehst du? Takashi-nii?"
Mizuhara hielt inne, als er die Stimme seiner kleinen Schwester hörte. Andächtig starrte er auf die kleine Tasche, die er mit Unterwäsche und Hygieneartikeln gefüllt hatte. Alles andere würde gestellt werden. "Ich gehe zur UEMF, Haru. Akira braucht mich."
Entsetzen stand in den Augen seiner kleinen Schwester. Sie machte einen Schritt ins Zimmer, schien nach ihm greifen zu wollen und stockte doch. "Takashi-nii, ist das wirklich nötig? Recht es nicht, wenn Takeru-onii-sama in der UEMF dient? Musst du auch dein Leben riskieren?"
Takashi packte die letzten persönlichen Dinge ein und schloss die Tasche. Er nahm sie auf und schulterte sie. Dann ging er langsam auf seine Schwester zu. "Was ich mit meinem Leben mache, liegt alleine in meine Hand. Ich habe schon vor sehr langer Zeit entschieden, dass ich Pilot bei der UEMF werden will. Ich werde einen Mecha steuern, das habe ich immer gewusst, immer geplant. Nun werde ich früher damit anfangen als ich eigentlich erwartet habe."
"G-gibt es keinen anderen? Gibt es keine Erwachsenen, die das für dich tun können?", fragte sie verzweifelt.
"Nein, gibt es nicht. Und ich bin sehr froh, dass es so ist. Dass ich jetzt meine Chance kriege, und nicht erst in der fernen Zukunft. Dass Akira mich braucht." Für einen winzigen Moment stockte er, sah seiner kleinen Schwester in die Augen. Doch er verging, und Takashi drückte sich an ihr vorbei aus dem Zimmer. "Für dich ist gesorgt, Haru. Tante Anna verwaltet dein Haushaltsgeld und dein Taschengeld. Außerdem bist du schon fast mit der Mittelschule fertig."
"Es geht nicht ums Geld! Es geht um dich, Takashi-nii! Warum lässt du mich auch allein? Warum lasst ihr alle mich im Stich?"
Takashi trat auf den Gang hinaus. "Weil es nicht um dich geht, Haru. Es geht um mich, es geht um Akira Otomo und es geht um das Schicksal der Erde. Ich werde dafür mein Leben riskieren."
"Wer hat dir gesagt, dass du dein Leben riskieren sollst?", schrie sie.
Ein dünnes Lächeln huschte über seine Züge, als er ein letztes Mal zurück sah. "Du kommst alleine zurecht. Du bist selbstständiger als ich es heute bin. Und du hast mehr Kraft als deine beiden Brüder zusammen. Die Zeit ohne mich und Takeru wird dir gut tun, glaube mir. Und letztendlich tue ich das nicht nur für Akira, sondern auch für dich."
"Warum ist dir Akira Otomo wichtiger als deine Schwester? Ich hasse ihn!"
"Vielleicht tust du das wirklich. Vielleicht tun das viele. Vielleicht... Vielleicht hat er in seinem Kampf nur wenige Menschen, die ihm zur Seite stehen. Auch darum muss ich jetzt gehen. Ich habe eine Verantwortung übernommen, und ich werde ihr gerecht werden." Er sah noch einmal zurück. "Lerne fleißig und halte deine Position als Beste der Schule. Ich erwarte, dass du auf der Fushida-Oberstufe problemlos in die Schülervertretung kommst und sie irgendwann anführst. Das ist das einzige was du mir schuldest. Das einzige was ich verlange."
Takashi wartete keine Antwort ab und verließ das Haus. Draußen erwarteten ihn bereits Mitschüler aus dem letzten Jahr, die ebenso wie er zur Rekrutierungsstelle der UEMF unterwegs waren, um Akira Otomo dabei zu helfen, die Welt zu retten.
Haru sank langsam auf die Knie und weinte. "Ich werde nie zur UEMF gehen. Ich hasse sie. Ich hasse Akira Otomo! Ich hasse sie, hasse sie, hasse sie!" Schluchzend sah sie dabei zu wie ihre Tränen zu Boden fielen.


1.
Rooter Kevoran legte verärgert die Stirn in Falten. "Die Daina entführen eine deiner Drohnen, Tarco Pahel!"
"Ja, Kapitän, ich habe es bereits bemerkt. Die Selbstzerstörungssequenz wurde bereits aktiviert."
"Und warum sehe ich ihn nicht zusammen mit diesem Hawk in die Luft gehen? Ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, dass gerade ein Core nicht in die Hände der Daina fallen sollte."
"Die Explosion hätte längst erfolgen müssen. Ich verstehe das nicht. Die Drohne hat bis zu diesem Augenblick perfekt funktioniert. Hat der Key vielleicht...?"
"Nonsens!", rief der Kapitän und machte eine Geste, die keinen Widerspruch zuließ. "Würde der Key gegen uns arbeiten können, gäbe es dieses Schiff entweder schon nicht mehr, oder wir würden immer noch da unten ruhen. Gehen wir eher davon aus, dass es sich um eine Fehlfunktion handelt.
Ich sehe, dieser Hawk bringt den Core der Drohne auf diesen leichten Kreuzer. Vernichte ihn."
"Verstanden, Kapitän."
Rooter gab sich gelassen und leicht verärgert, aber innerlich beurteilte er die Situation vollkommen anders. Gut, sie hatten es geschafft, aus dem Tiefseegraben aufzusteigen. Gut, seine Leute waren wieder aus der Stasis erwacht. Gut, die Reparaturprotokolle hatten den größten Teil des Schiffs repariert, und sie waren sogar dabei, die jüngsten Gefechtsschäden zu flicken, die durch diese verrückten Daina entstanden waren. Aber aus dem Schneider waren sie noch lange nicht. Vor allem nicht, nachdem es den Daina da draußen gelungen war, zwei der acht Drohnen zu vernichten. Diesen Kampfkraftverlust durfte er ebenso wenig unterschätzen wie den Kreuzer, der über seiner RASZHANZ hing. Auch die kleine Flotte aus Oberflächenschiffen durfte nicht ignoriert werden, wenn sie überleben wollten. "Was machen die Wassergebundenen Schiffe?"
"Die Unterseeischen Einheiten starten Raketen. Ebenso mehrere der kleineren Begleiteinheiten des Trägers. Die RASZHANZ verzeichnet dreiundachtzig Kontakte."
Indigniert schnaubte der Kapitän ärgerlich. Nette Idee des gegnerischen Kommandeurs, auf einen Moment zu warten, in dem seine Drohnen gebunden waren, bevor er den Raketenbeschuss begann.
"Key, sind diese Raketen atomar bestückt?"
Helen Otomo kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. "Ich sage es mal so: Diese Seeleute sind Chinesen. Eigentlich sollten sie keine Atomwaffen an Bord haben. Wundern würde es mich allerdings nicht. Aber bei dieser Menge, Kapitän, sollten Sie ohnehin nicht allzu viele durch kommen lassen."
"Danke für diesen äußerst hilfreichen Tipp, Key. Vritrives Acouterasal!"
"Kapitän?" "Bringe so viele gegnerische Mechas zwischen uns und die anfliegenden Raketen, bevor wir das Abwehrfeuer eröffnen. Warum nicht zwei Kertels mit einem Griff pflücken?"
Die Göttin lächelte leicht. "Verstanden, Kapitän."
"Und jetzt sieh und lerne, mein lieber Key, dass selbst deine so hoch gelobten Daina bei ein klein wenig Verwirrung höhere Verlustzahlen haben werden." Er knirschte mit den Zähnen. "Darin unterscheiden sie sich nicht von uns."
Helen Otomo tat wie ihr befohlen wurde und beobachtete die Schlacht. Die HINDENBURG sandte Partikelfeuer und weitere Raketen auf den Weg, verzichtete aber auf atomare Waffen. Zumindest solange die eigenen Mechas gefährdet waren. Und die Drohnen der RASZHANZ hielten diesen Gegner dicht genug am Schiff. Selbst Eikichi würde es schwer fallen, hier leichtfertig das Todesurteil für über hundert menschliche Piloten zu sprechen.
Das Schlachtschiff der Götter erwiderte das Feuer, nicht mit der gigantischen Strahlenkanone, die beinahe die Nordamerikanische Ostküste vernichtet hatte. Aber die Angriffe waren mächtig genug, um die Schilde des Kreuzers der Bismarck-Klasse in Bedrängnis zu bringen und teilweise zu durchschlagen.
Auf der anderen Hälfte des Schlachtfelds näherten sich die Raketen der chinesischen Flotte. Auch keine atomaren Marschflugkörper, jedenfalls soweit Helen wusste. Aber China war immer für die eine oder andere Überraschung gut. Die Kastration der Gelben Tiger wäre jedenfalls ein guter Grund gewesen, besonders angepisst zu sein.
Als die Raketen auf zwanzig Kilometer heran waren, begann die RASZHANZ mit dem Abwehrfeuer. Energiegestützte Flak und mechanische Kanonen beschossen die heran rasenden Raketen. Ihre Trefferquote stieg mit der Annäherung an das Götterschiff. Helen registrierte, dass der Kapitän Recht hatte. Das Gros der Raketen würde in jenem Bereich vernichtet werden, in dem sich die Mechas der HINDENBURG und die überlebenden Einheiten der Gelben Tiger waren. Über die paar, die durch kommen würden, wollte sie nicht nachdenken. Aber die Explosionen der anderen Raketen mitten in den Reihen der terranischen Piloten würde ihnen größte Mühe bereiten, vielleicht einige vernichten.
Einige Sekunden später war die Zahl der angreifenden Raketen auf fünfzehn reduziert worden. Das war nicht so gut wie Helen erwartet hatte. Griffen die Reparaturprotokolle noch nicht so gut? Im Gegenzug hatte es aber weitere Mechas der Menschen erwischt, oder zumindest gut genug irritiert, um sie zu leichten Opfern der Drohnen zu machen. Nach diesem Schachzug waren die Gelben Tiger auf eine aktive Kompanie reduziert worden. Helen sah dabei zu, wie ein stark beschädigter Eagle langsam auf Atlantis zutrudelte. Ersaufen oder zerschellen. Beides keine erstrebenswerte Schicksale.
Dann kam der Einschlag der restlichen Raketen in die RASZHANZ. Mehrere Erschütterungen gingen wie Druckwellen durch das Schiff, rissen Götter von den Beinen. Helen drohte zu stürzen, wurde aber vom Kapitän und der Ersten Offizierin davor bewahrt. "Danke", sagte sie leise.
Der Kapitän erwiderte nichts. Er sah seine Stellvertreterin ernst an. "Vritrives Acouterasal, ich stelle fest, das wir abstürzen."
"Abstürzen würde ich nicht sagen. Temporär des Antriebs beraubt passt schon eher. Wir werden auf Atlantis notlanden."
"Mitten in Dämonenland."
"Mitten in ein Gebiet, in dem der Gegner nicht wagen wird, uns am Boden zu vernichten."
"Permanenten Angriffen der Dai ausgeliefert."
"Ausgeliefert ist so ein hartes Wort. Wir müssen unsere Defensivfähigkeiten ohnehin testen. Vergessen Sie nicht, Kapitän, wir haben schon oft genug gegen Dai gekämpft. Aber diesen Dai da draußen fehlt jegliche Kampferfahrung gegen Götter."
Mit einem mürrischen Grunzen wandte sich Rooter erneut dem Gefecht zu. "Wir stürzen immer noch ab. Bereite alles für den Abwehrkampf vor und lege Augenmerk auf die Reparaturen."
"Entschuldigt bitte wenn ich mich einmische, aber ist die RASZHANZ nicht verloren, wenn sie erst einmal auf Atlantis gestrandet ist?"
Ein flüchtiges Grinsen huschte über die Züge des Kapitäns. "Auf einem anderen Planeten zu einer anderen Zeit würde ich dir Recht geben, Key. Aber nicht hier, nicht heute und nicht auf Atlantis. Wir haben den Dai nie wirklich getraut, deshalb haben wir die eine oder andere Notfallstrategie entwickelt. Vritrives Acouterasal, bereite alles dafür vor, um die Garnison zu wecken. Wir führen Entlastungsangriffe auf die Dai und ihr Zentrum durch, solange die Reparaturen dauern. Danach nehmen wir die Garnison auf und brechen in den freien Weltraum durch. Mit wie vielen Banhes kann ich rechnen?"
Die Erste Offizierin dachte kurz nach. "Zweihundertelf, vielleicht zweihundertzwanzig, wenn die Konservierung auf Atlantis so gut funktioniert hat wie bei uns in der Tiefsee. Dazu kommen achttausend Götter."
Entsetzt sah Helen die beiden an. "Ihr habt ein Depot auf Atlantis?"
"Kein Depot. Ein Waffenlager, eine Garnison. Eine vollständige Rhetta an Banhes und Infanteristen. Einer der Trümpfe, die wir für den Fall der Fälle auf der Erde installiert haben." Seine Züge verloren jedes Anzeichen von Humor und Freude. "Wecke sie auf, Vritrives Acouterasal!"
"Jawohl, Kapitän."
Helen musste zugeben, der Kerl hatte Eier. Sein Schiff stürzte gerade ab, und er plante schon wieder bis zum Durchbruch in den freien Raum. Oh ja, Eikichi und Akira hätten ihre helle Freude daran gehabt, diesen Gott persönlich kennen zu lernen.
***
Der Himmel... Er war so wunderschön. Tiefblau, makellos. Haru hätte ewig hinein starren können. Sie fühlte sich wohl, wie in Watte gepackt. Es war warm, einschläfernd warm, und ein leises, kaum wahrnehmbares raunen verhallte sanft in ihren Ohren.
Beinahe glaubte sie, im dunkelblauen Himmel einen Stern aufblitzen zu sehen, nur für einen Moment. Was für ein herrlicher Gedanke, mitten am hellichten Tage Sterne sehen zu können. Was für ein Erlebnis.
Doch dann war da etwas, was die Watte durchdrang, was ihre kleine Idylle störte, an ihr zerrte. Sie ignorierte es. Sie brauchte keine Störung. Nicht jetzt, nicht hier. Doch es war hartnäckig, penetrant. Ärgerlich. Aber es störte Haru nicht. Nicht mehr, schon lange nicht mehr.
Plötzlich wurde ihr der Blick auf den Himmel versperrt. Sie stutzte einen Moment, bis sie erkannte, was da den Himmel verdeckte. Es war Philips Gesicht, kaum zu erkennen hinter dem getönten Visier seines Raumhelms. Was tat er hier? Warum störte er sie?
"HARU!", rief er und schüttelte sie an den Schultern.
Übergangslos verschwand die sie umhüllende Watte, entließ sie in die raue Wirklichkeit. Schmerzen durchfuhren sie, und der Geräuschpegel erreichte unanständig hohe Werte. In all dem war Philips von Sorge zerfurchtes Gesicht der dominierende Faktor.
Sie atmete aus, musste husten und zog tief die Luft wieder in die Lungen. "Ich bin da, Philip. Ich bin da. Was ist passiert?"
Ihr Stellvertreter atmete erleichtert aus. "Wir sind abgestürzt, Haru. Das Schlachtschiff der Götter hat uns abgeschossen. Wir haben dann versucht notzulanden, aber das hat nicht ganz funktioniert! Schnell, Haru, wir müssen hier weg!"
"Was? Abgestürzt? Wo...?"
"Wir sind auf Atlantis, und das Götterschiff stürzt auch gerade ab! Wenn wir hier nicht schnell fort kommen, wird es uns einfach zerquetschen!"
Oh, das machte Sinn. Das erklärte auch, warum Philip den Gunner-Platz verlassen hatte. Notfalls hätte er Harus Platz einnehmen können, um sie hier weg zu bringen.
Die junge Frau versuchte die verschiedenen Systeme zu reaktivieren. "Ab auf deinen Platz! Wenn ich durchstarte, solltest du angeschnallt sein!"
"Ist gut", erwiderte er erleichtert und kletterte zurück auf seinen Sitz.
Da! Eine Anzeige! Noch nicht die Bord-K.I., aber immerhin ein Ortungsbild! Das erste, was sofort ins Auge fiel, das war dieser gigantische Klotz, der ziemlich exakt in ihre Richtung unterwegs war. Er reduzierte seine Geschwindigkeit, aber nicht weit genug, um dem Schicksal zu entgehen, die Erde zu küssen. Das war das feindliche Schlachtschiff der Götter. Haru murmelte einen derben Fluch und schaffte es, einen anderen Monitor zu aktivieren. Die Schadensanzeige leuchtete auf und informierte sie darüber, dass der Treffer den Eagle schwerstens kastriert hatte. Ohne die Notenergie im Rückenpack wäre es ein wesentlich schnellerer Weg zurück zur Erde gewesen. Der Treffer hatte sowohl die Batteriepacks im Torso als auch beide Beine hinweg gewischt. Im Grunde war der Eagle nur noch ein Wrack. Aber wenn es ihr gelang, das Rückenpack zu aktivieren, ein wenig Schub raus zu kitzeln, nur ein klein wenig für drei-, vierhundert Meter... Verdammt, wie entlockte man einem Wrack Energie? Sie versuchte es mit KI, aber auch das führte nicht zum gewünschten Erfolg. Im Gegenteil, ihre Energie floss sinnlos aus ihr heraus wie Wasser aus einem bodenlosen Fass.
Zwanzig Sekunden, bis das Feindschiff aufschlug. Sie checkte ihre Möglichkeiten. Keine. Aussteigen und laufen? Nein, die Strecke war zu weit, das hätten sie von Anfang an versuchen sollen. Andererseits, was hätte sie da draußen vor der Druckwelle geschützt? Und ein unbequemes Gefühl im rechten Bein verriet ihr, dass laufen ohnehin keine Option gewesen wäre. Blieb nur noch sterben? Für einen Moment war sie versucht, John Takei zu rufen, ihre Rettung einzufordern, oder wenigstens ein paar letzte Worte zu sagen. Aber wenn John sich nicht um den abgestürzten Eagle kümmerte, dann nur weil er es nicht konnte. Es war ihm unmöglich, und er hatte die Rettung der Welt vor das Leben seiner beiden Schützlinge gestellt. Ein dünnes Lächeln huschte über Harus Züge. Sie hatte damit gerechnet, das sie sterben konnte, wenn sie Akira Otomo aktiver unterstützte. Nur so bald hätte sie nicht damit gerechnet. Dennoch, Johns Entscheidung war richtig.
"Philip?" "Ja?"
"Es tut mir Leid. Der Eagle ist nur noch Schrott." "Ja."
"Philip?" "Ja?"
"Es war mir ein Vergnügen, mit dir zu arbeiten." Fünfzehn Sekunden. Zwölf. Zehn.
Philip schnallte sich wieder ab, kam nach vorne und ergriff ihre Hände. "Haru, ich... Haru..."
Eine feingliedrige, schlanke Hand schlug ihm kräftig auf den Rücken und trieb ihn damit weit genug nach vorne, um seinen Helm mit Harus Helm kollidieren zu lassen.
"Merke dir was du sagen willst, und tue es später. Jetzt haben wir keine Zeit dafür", sagte eine Frauenstimme, löste Harus Gurte und umschlang sie mit dünnen, aber starken Armen um die Taillen. Als er vom Boden hoch gehoben wurde, sah Philip erstaunt auf, direkt in zwei grüne, spöttisch glimmende Augen. "Willkommen auf Atlantis, Haru Mizuhara und Philip King." Einen Augenblick später war das Cockpit des Eagle-Wracks leer. Eine Viertelsekunde, bevor die Druckwelle des abstürzenden Götterschiffs das Material wie Pappe deformierte.
Dann schlug das Schiff auf, schlitterte mehrere hundert Meter über dem Boden und kam in einer Fontäne aus Dreck, Rauch und Flammen zur Ruhe. Ein gewaltiges Grollen wie bei einem schweren Beben ging durch das Land. Vorerst würde das Götterschiff wohl nicht in den Orbit entkommen, wo es seine Waffen gefahrlos für sich selbst einsetzen konnte.


2.
Ein wenig konsterniert, eigentlich mehr distanziert betrachtete Kei Takahara seine rechte Hand. Sie blutete nicht. Sie schmerzte nicht. Und dennoch bestand sie auf der Innenseite nur noch aus zerfetztem Fleisch und einigen Sehnen. Selbst die Knochen schimmerten hier und da durch. Das hatte Akira gemacht. Okay, nicht freiwillig. Aber von ihm war die destruktive Kraft ausgegangen. Genauer gesagt hatte er die natürliche magnetische Molekülbindung von allem aufgehoben, was er berührt hatte. Lediglich die drei Dämonenkönige Okame, Sphinx und Tyges hatten diese Kraft unterdrücken, bündeln können. Akira meinte es nicht böse, er war nur seit seiner unfreiwilligen Erhebung zum Reyan Maxus halt ein KI-Staubsauger geworden. Und nun begann er über diese Fähigkeit die Kontrolle zu verlieren. Weniger über das KI-saugen an sich, aber über die Verarbeitung des KI. Es erinnerte an damals, als er gegen Torum Acati gekämpft hatte, als er sich mit dem Admiral der Naguad einen halben Kilometer tief in den Boden der AURORA gefräst hatte, und das nur mit seiner Aura. Nun hatte sich diese Fähigkeit verselbstständig und löste bei allen Molekülen die Bindung auf, wenn er das Material berührte. Das beinhaltete den Tisch vor Ginas Restaurant, eine ihrer Speisekarten, und Keis rechte Hand. Da, man konnte genau sehen, wo der Daumen Akiras gelegen hatte. Auch dort war ein Loch gefräst worden, sogar eine Kerbe in einen Fingerknochen geschlagen. Faszinierender Anblick.
Makoto Ino platzte in das Behandlungszimmer. "Kei!"
"Ich bin hier, Mako-chan."
Atemlos kam der Generalstabschef der AURORA neben ihm zum stehen. "Oh nein. Nein, das sieht ja schlimm aus. Kei, es tut mir so Leid, aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich wusste ja nicht, dass diese Fähigkeit, die er im Kampf mit Acati gezeigt hat, derart außer Kontrolle geraten konnte." Der Taral griff nach der Hand und drückte die Finger seiner Rechten tief ins verletzte Fleisch. Von der Wunde breitete sich wohlige Wärme aus.
"Was tust du, Mako-chan?"
"Ich heile dich mit meinem KI. Ich bin derzeit der stärkste KI-Meister, der zur Verfügung steht. Yoshi hilft dabei, Akira vom Sauerstoffdistributor auf die ADAMAS zu schaffen, sein Opa ist auch dabei, die Dämonenkönige sowieso, und der einzige Slayer, der an meine Fähigkeiten als Heiler ran reicht, namentlich unsere gute Emi-chan, ist hoch schwanger. Da gehen wir lieber keine Risiken ein."
"So, so. Du bist also ein KI-Meister. Wann hattest du vor, uns diese Neuigkeit mitzuteilen?", scherzte Kei. Er zuckte zusammen, als seine Hand plötzlich zu schmerzen begann. Es war nicht intensiv, aber nervig. Es fühlte sich an, als würde ein Igel über seine Hand rollen.
"Tut weh, eh? Ich stimuliere gerade die abgefrästen Nerven zum Wachstum. Außerdem überrede ich deine Zellen dazu, wieder Fleisch, Knochen und Sehnen zu bilden."
"Du überredest sie?"
"Alter KI-Heiler-Slang. Die Alternative wäre, dein Fleisch wachsen zu lassen und Sehnen nachträglich zu implantieren. Die Aussicht, deine Hand dann wieder benutzen zu können läge allerdings nur bei achtzehn Prozent. Und da haben wir noch nicht mal die Haut drauf gebracht, geschweige denn Tastsensibel gemacht."
Kei legte die Linke auf Makotos Schulter. "Ich weiß das wirklich zu schätzen, das du das hier für mich tust, solange meine Nerven noch nicht abgestorben sind. Obwohl du lieber bei Akira wärst. In sicherem Abstand zu ihm, aber wenigstens in der Nähe."
"Halte die Klappe, Kei. Du bist mein Freund, und du brauchst meine Hilfe", erwiderte der Bluthund böse. "Außerdem warst du es, der Joans heimliche Besuche bei uns Zuhause gedeckt hat. Ich schulde dir eh was."
Kei schluckte hart an dem Kloß, der plötzlich seine Luft abschnürte. "Auch das weiß ich zu schätzen, Mako-chan", krächzte er.
Makoto sah ihm ernst in die Augen. "Wir sind Freunde. Und wenn ausgerechnet wir Kleinen nicht zusammen halten, wer kümmert sich dann um uns, Konteradmiral Takahara?"
Kei lachte prustend wie über einen guten Witz. "Hätte mir das jemand vor drei Jahren erzählt, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ich und Konteradmiral mit eigener Flotte. Oder du, junger Mann, Freund von Joan Reilley und General an Bord der AURORA. Was für erstaunliche Entwicklungen."
"Ich bevorzuge: Was sind wir doch für erstaunlich fähige Leute."
"Das auch", sagte Kei trocken und nickte. Er hatte zwar, ehrlich gesagt, manchmal Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten, an seinem Können und daran, ob er diesen hohen Rang und diese wichtige Aufgabe überhaupt verdiente, aber dann stellte er immer wieder fest, wie leicht ihm diese Arbeit von der Hand ging. Vielleicht war er dazu geboren worden, um Soldat zu werden. Offizier zu sein, Menschen zu führen. Vielleicht hatte Akira nur beschleunigt, was ohnehin irgendwann passiert wäre. Vielleicht aber wäre er irgendwann auch Kapitän eines Firmenkonsortiums geworden und dort für ein paar zehntausend Menschen verantwortlich gewesen. Da war ihm diese Variante schon lieber.

Die Tür zum Behandlungszimmer flog auf, und Ami Shirai stürmte herein. Erst stürzte sie auf Kei zu, schien ihn umwerfen zu wollen. Dann aber starrte sie auf die Wunde, die unter Makotos Hand immer noch sehr gut zu erkennen war. Sie raunte erschrocken auf. Als sie Kei wieder in die Augen sah, schien es als spüre sie alle Schmerzen, die eigentlich er hätte empfinden müssen.
Abwehrend hob Kei eine Hand. "Es tut nicht weh. Nur dieses elende Aktivieren der Nerven kribbelt etwas."
"Dennoch! Diese Wunde, sie... Kei-chan, es tut mir so Leid. Wären ich oder ein anderer Slayer in der Nähe gewesen..."
"Was dann? Eventuell wäre ein anderer verletzt worden. Eventuell hätte Akira, ohne es zu wollen, etwas wichtigeres aufgelöst als ein paar Zellen meiner Hand."
"Das nennst du ein paar Zellen?", hauchte sie entsetzt.
"Wie ich schon sagte, es tut nicht weh. Außerdem hat der beste Heiler an Bord der AURORA beschlossen, mich zu versorgen. Und bis der Zeit hat, hilft Mako-chan halt aus."
"Merkwürdig. Die Reaktivierung der Nerven muss eigentlich mehr Schmerzen verursachen", murmelte Makoto in spielerischem Tonfall.
"Das war ein Witz. Verstehst du keinen Spaß mehr, Herr Ino?"
"Einer meiner besten Freunde wurde schwer genug verletzt, um am Schock sterben zu können. Nein, Spaß habe ich gerade nicht im Sinn. Reiß dich mal zusammen und leide ein wenig. Das gibt dann auch Pluspunkte bei Ami." Makoto zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
"Pluspunkte kann er sammeln, wenn er wieder geheilt ist. Wie weit gehen wir heute, Sensei?"
"Heute regen wir die Zellen nur zum Wachstum an. Wir legen einen sterilen Verband auf und fügen alle zwölf Stunden eine neue Sitzung an. Nach zwei Tagen ist seine Hand dann wiederhergestellt." Makoto zog eine Augenbraue hoch. "Deinen Worten entnehme ich, dass du mir assistieren willst."
Vor den Augen der beiden Männer hüllte sich Ami in ihre Slayer-Rüstung. "Du zeigst mir wie das geht und was ich machen soll, okay? Ich bin nicht so gut im heilen. Und ein nein akzeptiere ich nicht. Kei ist mein Kerl, verstanden?"
Ein wohliger Schauer ging durch Keis Körper. So direkt hatte es die schlanke Frau noch nie gesagt. Aber es klang wirklich, wirklich gut in seinen Ohren. Wäre er nicht schon verliebt gewesen, jetzt hätte er schwer mit einem zerspringendem Herzen zu kämpfen gehabt. Er beugte sich vor und küsste sie.
Ami erwiderte den Kuss einige Zeit, dann drückte sie Kei mit dem rechten Zeigefinger lächelnd zurück. "Später, Kei-chan. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Also, Makoto, was kann ich tun?"
Der blonde Junge grinste breit. "Hätte ich nicht Joan, dann würde ich jetzt neidisch werden. Ich mache dir dir Heilung eines Zellenclusters einmal vor, Ami. Dann markiere ich dir Sektoren, in denen du das nachmachst. Hier, so stimuliere ich die Knochen zu Wachstum. Jetzt du. Weniger Energie. Es ist mehr ein locken. Ja, so ist das nicht zu schlecht. Nein, nicht zu sehr. Schnell wachsen ja, zu schnell wachsen nein. Dann sind sie stabiler. Hm, du lernst schnell, Mädchen."
"Es geht ja auch um Kei. Nicht mal bei Akira wäre ich da so bei der Sache", erwiderte sie entrüstet, und für einen Augenblick sahen sich die drei an, bevor sie zusammen lachten. Für einen Moment unterbrachen sie die Behandlung.
"Es geht ihm gut", sagte Kei, und scheiterte am Versuch, ermutigend zu lächeln. Aber was dieses Thema anging, da spürte er halt Schmerzen, schlimmere als seine Hand eigentlich hätte verursachen müssen. Tiefe, pochende Schmerzen. Weil es da einen wichtigen Freund gab, dem er nicht einmal helfen konnte, wenn sich sein ganzer Körper auflöste. Verdammt frustrierend, Konteradmiral Kei Takahara. Verdammt frustrierend.
***
Als das Kurierschiff im Kanto-System das Transportwurmloch verließ, gellten die Alarmsirenen. Nicht dass die Mannschaft eine Warnung gebraucht hätte. Nicht dass die Nerven aller Anelph, Naguad und Menschen an Bord nicht ohnehin bis zum zerreißen gespannt war. Nicht dass die Szene, die sie alle erwartete, wirklich eine Überraschung war. Aber es war halt Tradition, und Traditionen hielt man ein, selbst wenn sie unsinnig, überflüssig oder gar gefährlich waren. Überflüssig zu sagen, dass der Kapitän der sprungfähigen Fregatte SANSSOUCI ein sehr traditionsbewusster Mann war.
"Das Kanto-System", stellte Commander Eskender Saleed fest. "Wie es scheint, haben sie noch nicht angefangen, Admiral."
Der alte Mann beugte sich in seinem Notsitz ein wenig vor und betrachtete das taktische Hologramm des Skippers aufmerksam. "Wie viele haben sie versammelt? Wissen wir genaues, Eskender?"
Der Skipper lächelte dünnlippig. "Wir haben hier einiges aufgefahren, fast einhundert Schiffe der Arogads und der Daness versammelt. Dazu kommen noch einmal genauso viele Schiffe der Naguad-Marine und der verbündeten Häuser. Der Gegner kommt indes auf etwas mehr als eintausend Schiffe. Die meisten sind jedoch Raider, deren Kampfkraft wir ohne ein zünftiges Gefecht nicht einschätzen können. Aber da sie nicht zum Core gehören, rechnen wir ihnen im Moment noch zwanzig Prozent Kampfkraft ab." Saleed deutete in der Hologrammanzeige auf drei Planetenbahnen. "Wenn wir verteidigen, hier, hier und hier, sind wir leicht im Vorteil. Aber dazu müssten sie uns angreifen. Im Moment brauchen sie sich entweder nur auf Lorania oder das Regionalflottenhauptquartier zu beschränken, um uns Stück für Stück auseinander zu nehmen. Sie wissen ganz genau, dass wir Lorania nicht entblößen können, dass wir die Flottenzentrale nicht unverteidigt lassen. Es ist ein Patt, und selbst ein brandneues Schiff mit der allerneuesten Technologie wie die SANSSOUCI ändert nicht viel daran, Admiral Ryon."
Jano Avergan Ryon lächelte ebenso dünnlippig wie der Kapitän. "Sehr gut. Ein Patt hindert sie vielleicht daran, in meinem Heimatsystem zu kämpfen."
"Bis eine Seite Verstärkung heran führt", stellte Saleed ernst fest.
"Bis eine Seite Verstärkung heran führt. Und da das Verräterhaus Logodoboro anscheinend über Core-Welten verfügt, die Raider-Kampfschiffe herstellen, wird diese Verstärkung nicht lange auf sich warten lassen." Sein Blick streifte über das Hologramm, erkannte die Sperrriegel über den Planeten. Er ließ sich die Namen der Schiffe anzeigen und pfiff manches Mal anerkennend auf. "Das ist vielleicht das erste Mal in meinem Leben, das ich mich über die Anwesenheit so berühmter und kampfstarker Naguad-Schiffe im Kanto-System freue. Vielleicht ist das Patt doch nicht so deutlich wie wir glauben."
Saleed schnaubte amüsiert und warf dem Admiral einen scheelen Blick zu. "Und vielleicht ist das Patt nun ganz aufgehoben, wenn ausgerechnet Avergan Ryon zurück kehrt, der Mann, der den Exodus angeführt und Akira Otomo für seine Zwecke eingespannt hat. Ich habe mir sagen lassen, dass man Ihren Namen nur in Ehrfurcht geflüstert ausspricht."
Ryon winkte ab. "Bah, das ist nicht wegen der Flucht. Jeder Idiot hätte die Flotte nach dem ersten Sprung raus aus Kanto anleiten können. Falls ich hier immer noch einen guten Ruf genieße, dann nur weil ich in der Flotte einen guten Job gemacht habe."
"Ach so, ich verstehe. Die Polizeiaktionen und die Niederschlagungen ganzer Rebellionen. Das dunkle Kapitel der Naguad."
Der alte Admiral räusperte sich verlegen. "Ja und nein. Es ist... Vielleicht nicht ganz so einfach wie ich Akira Otomo vor anderthalb Jahren berichtet habe. Wahr ist, das ich vielen Schiffen und vielen Soldaten in auswegslosen Situationen den Arsch gerettet habe. Wahr ist, dass gerade wir Kantonesen als Troubleshooter begehrt waren und stets an Brennpunkten eingesetzt wurden - und zum Überdruss noch einen unfähigen, von sich selbst überzeugten Haus-Admiral als Vorgesetzten bekamen, der uns schon halb selbst in den Untergang geführt hätte, wenn ich nicht gewesen wäre."
Fragend zog der Iraner eine Augenbraue hoch. "So?"
Ryon lachte laut. "Ich bin ein frecher Anelph, mein lieber Eskender, frech, dreist und gerade heraus. Ich habe schon mehr Naguad-Admiräle über eine öffentliche Leitung Vollidiot genannt als eine Kompanie Finger hat. Leider lag ich selten falsch. Zum Glück war mir der Hausrat der Elwenfelt aus Gründen die ich nicht verstehe, immer sehr gewogen. Selbst nach Debakeln, wenn große Schiffsverluste und tausende Tote auf den Anelph abgewälzt werden sollten, der sich weigerte die Gift anzunehmen, hielt irgend jemand seine schützende Hand über mich. Leider hat mich das nicht gerade bescheidener oder vorsichtiger gemacht."
"Und irgendwann waren Sie frech genug, um einfach mit ein paar Anelph die Biege zu machen."
"Etwas flapsig formuliert, aber so ist es." Ryon seufzte. "Sehen Sie, seit wir von den Elwenfelt entdeckt und dank der Intrigen der Logodoboro militärisch unterworfen wurden, ist viel Wasser Loranias Flüsse hinab geflossen. Ich habe tief, sehr tief in die Strukturen der Naguad geschaut. Ich habe viele getroffen, die ich heute noch Freund nennen würde, wenn sie mich nicht im Gegenzug Verräter nennen. Aber ich habe auch viele getroffen, die unpassende Positionen hatten, durch Familienbande, Protektionismus und dergleichen. Meistens musste ich mich mit ihnen herum schlagen. So kommt es mir zumindest vor. Dadurch, das wir von den Elwenfelt missioniert wurden, sind wir dem Elwenfelt-Genom zugerechnet worden, egal ob wir die Gift annehmen oder nicht. Aus diesem Grund war es auch das Haus Elwenfelt, das unsere Kampfschiffe und unsere Besatzungen anforderte. Und wenn ich mal so darüber nachdenke, was ich gesehen, erlebt und gehört habe, im Dienste des Hauses Elwenfelt, an den Verrat der Logodoboro denke und die eigentlichen Kapazitäten des Hauses Elwenfelt berücksichtige, dann muss ich wohl ehrlich sagen, dass ich das Haus durch eine schwere Zeit gerettet habe. Wenn es heute immer noch neun große Häuser gibt, dann liegt es einzig an mir."
"Frustrierend, so etwas festzustellen, oder? Nach all den Verlusten, all den Toten auf beiden Seiten. All dem Krieg, dem Ärger. Verzeihung, ich wollte Sie nicht unterbrechen, Avergan Ryon."
Der Admiral schmunzelte nachsichtig. "Da gibt es nichts zu verzeihen. Sie haben ja Recht, Eskender. Aber es ist auch nur die halbe Wahrheit. Sehen Sie, die Türme der Naguad stehen zu neunt. Dazu kommen die Regierung, die Flotte und ungezählte Hauslose Bürger. Und das, obwohl Haus Arogad bereits vor über zweitausend Jahren die Gift erfand, und lediglich Awarima und Fioran diese Methode nie angewendet haben, beziehungsweise wieder aufgaben. Diese Häuser sind Daness, Arogad, Bilas, Koromando, Elwenfelt, Grandanar, Fioran, Logodoboro und Awarima, wie Sie wissen. Die beiden größten Häuser Daness und Arogad sind derzeit ein Bündnis eingegangen, das mindestens so lange halten wird wie Akira Otomo lebt. So lange er und Solia Kalis von den Daness verlobt sind, werden die Daness auch den Turm ihrer Familie nicht aus Arogad-Besitz zurückfordern. Das Leben der Naguad formt sich, ob mit, ob ohne Haus, um diese neun Türme. Sie sind Staaten im Staat, und haben unterschiedlich große Macht. Sie schicken ihre Leute in die Regierung, ins Militär, in die Verwaltung, sie handeln als eigenständiges Haus, haben ihren Sitz im Parlament und formen die Naguad-Politik. Und sie führen Krieg gegeneinander. Das führt zu vielen ungewöhnlichen Allianzen, merkwürdigen Schattengefechten. Heutzutage nennt man drei der Häuser Lakaien der Großen. Die Daness verlassen sich auf die kleineren Häuser Awarima und Bilas, während sich Haus Arogad seit mehreren hundert Jahren der Freundschaft und Treue der Fioran versichert. Die anderen vier Häuser kochen in diesem Schatten ihre eigene Suppe. Früher einmal war Haus Elwenfelt der Lakai der Arogad. Doch das änderte sich lange bevor das Kanto-System erobert wurde. Die Verbindungen zerbrachen, wurden unwiederbringlich zerstört. Dies war zu einer Zeit, als Haus Arogad durch das Riesenprojekt, den Planeten Arogad für Naguad bewohnbar zu machen, geschwächt und unflexibel war. Stimmen im Haus Elwenfelt sprachen von einer neuen Zeit für sich, für eine Expansion, die sie aus dem Schatten der Arogad heraus treten lassen und auf eine Stufe mit Daness heben würde. Dies war der Beginn einer Offensive an Material, an Eroberungen, an Expansion. In nur einhundert Jahren verdoppelte Haus Elwenfelt die Zahl der von ihm kontrollierten Welten. Doch anstatt inne zu halten und die neuen Welten zu konsolidieren, expandierten sie weiter, zerfaserten sich, drohten sich aufzulösen. Haus Logodoboro bot ihnen damals Hilfe an, gegen ein Stück vom Kuchen, und die Elwenfelt griffen dankbar zu."
"Logodoboro. Da wird einem doch einiges klar. Warum das Verhältnis zu den Arogad zerbrach, wieso sich Logodoboro als Lakai anbot, warum danach alles für Haus Elwenfelt so furchtbar schief ging."
"Sie sind ein Mann mit scharfem Verstand. Tatsächlich waren es die Logodoboro, die praktisch überall, wo die Elwenfelt präsent waren, Unruhe schürten, Aufstände anzettelten und Sezession betrieben. Das war hier im Kanto-System nicht anders als auf Dutzenden anderen Welten. Leicht hätte all das im Blut versinken können, hätte es hunderttausende Tote bei den planetaren Bevölkerungen geben können, unabhängig ob sie Naguad, Daima, Daina oder von einer anderen Rasse waren. Und das war sicher der Plan der Logodoboro, alle Strukturen der Elwenfelt zu übernehmen, nachdem das Haus sich letztendlich völlig verausgabt hatte. Aber darauf warteten sie vergeblich, bis ihr Verrat offensichtlich wurde. Und wenn ich darüber nachdenke, dann fällt mir nur ein Faktor ein, der nicht Jano Avergan Ryon heißt, der manche Schlacht umgerissen, manche Flotte gerettet und manche planetare Bevölkerung wieder zufrieden gestellt hat. Dieser Faktor war Oren Arogad, das Oberhaupt seines Hauses. Als die Schwäche der Elwenfelt immer offensichtlicher wurde, war er es, der dem alten Verbündeten Unterstützung gab und Hilfe ohne Gegenleistung anbot. Er war es, der das Militär drängte, einige der militärischen Aufgaben auf Schlüsselwelten wie Lorania zu übernehmen, um den Elwenfelt Kapazitäten frei zu machen. Das ist auch der Grund, warum die Tod und Ehre-Division der Arogad in Elwenfelt-Territorium diente, und das als regulärer Bestandteil der Streitkräfte des Reichs der Naguad. Soweit meine Geschichte und meine Erkenntnisse."
Ryon seufzte leise, schloss die Augen und lehnte sich zurück. "Zu meiner Zeit war ich ein hervorragender Offizier. Ein Mann mit Ruf, der selbst auf seiner Heimatwelt respektiert wurde, obwohl er wie ein Söldner von den Elwenfelt herum gescheucht wurde. Rückzuge unter Feindfeuer organisieren, verlorene Raumschlachten drehen, ganze planetare Bevölkerungen zur Räson bringen ohne sie auszulöschen... Ich hatte viel getan, viel erreicht, viel gesehen. Aber ehrlich gesagt merke ich erst jetzt, wie viele der Kämpfe wir einzig und allein den Logodoboro verdanken. Wie viele Anelph haben sterben müssen, weil sie die Elwenfelt einfach nur tief in die Scheiße reiten wollten, wie ihr Terraner sagen würdet. Was also bleibt mir anderes übrig, als nach Hause zurück zu kehren und dabei zu helfen, den Logodoboro wieder die Tour zu vermasseln?"
Ryon öffnete wieder die Augen und lächelte breit. "Genau das, mein lieber Eskender, wird mir einen Riesenspaß bereiten. Und das ist es wert, ist es wirklich wert."
"Na, dann wollen wir mal hoffen, dass die Logodoboro den Namen des Mannes nicht vergessen haben, der ihre Übernahme der Elwenfelt verhindert hat", sagte Saleed mit angriffslustiger Miene. "Kurs auf Laccus, Eins O!"
"Aye, Aye, Sir!"
***
Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, sah ich in besorgte Gesichter. Sie gehörten unseren Dai an Bord, und schmerzlich wurde mir bewusst, dass ausgerechnet mein Lieblings-Dai Kitsune irgendwo im Weltraum unterwegs war. Ohne Abschiedsgruß, ohne ein einziges Wort. Das tat mir weh, mehr als ich vielleicht zu zu geben bereit war. Anderen gegenüber. Oder belog ich mich in diesem Punkt auch selbst?
"Was...?", fragte ich mit rauer Stimme.
Sphinx versuchte sich an einem Lächeln und scheiterte grandios. Ihre Miene war ein Zerrbild aus Trauer und Angst, notdürftig von einem Lächeln kaschiert. Angst um mich, nicht vor mir. Zumindest hoffte ich das.
"Du bist ein Reyan Maxus geworden, Akira. Du erinnerst dich?"
Ich wollte antworten. Immerhin war das ein alter, ein uralter Hut. Seit ich Prime auf das Dreifache seiner Größe aufgebläht hatte, seit ich die Kinder der Götter besucht hatte, war es allgemein bekannt, das ich vom Reyan Oren zum Maxus weiter geklettert war. Mir war nur nicht bewusst gewesen, dass damit Probleme verbunden waren. Ich hatte es da eher mit den Worten eines weisen alten Mannes gehalten, der einmal gesagt hatte: Mit großer Macht kommt große Verantwortung.
Halunke. Hätte er mal lieber gesagt: Große Macht kann dich großartig gefährden.
Das wäre der Wirklichkeit sehr viel näher gekommen. Zumindest meiner Wirklichkeit, hier und jetzt.
"Wir dachten eigentlich, wir hätten noch Zeit, noch die Gelegenheit, ein wenig in unseren Archiven zu forschen und dir deine neuen Kräfte als Maxus rechtzeitig zu deuten... Bevor eine Katastrophe eintritt. Aber dann hast du alles wieder einmal beschleunigt, Akira."
Ich runzelte die Stirn. Dann erinnerte ich mich an Kei. Und an seine rechte Hand, die sich unter meiner Berührung langsam aufzulösen begonnen hatte. "KEI! Geht es ihm gut?"
Okames kräftige Hände drückten mich wieder runter. Zurück auf die schmucklose Krankenliege, auf der ich lag. "Er wird behandelt. Er hat keine Schmerzen und wird keine Schäden davon tragen", informierte mich der sonst so wortkarge Dai.
Ich nickte erleichtert. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn ich war mir sehr, sehr sicher, dass ich Keis Fleisch von den Fingern gelöst hatte, auch wenn das nie meine Absicht gewesen war.
"Du musst mir jetzt gut zuhören, Akira. Ich weiß nicht sehr viel über die Reyan Maxus, denn es gibt sie seit dem Krieg mit den Göttern nicht mehr. Die Reyan Maxus waren die mächtigsten Daina und Daima, die wir kannten. Manche waren mächtiger als die Dai selbst. Und es war nicht unbedingt diese unglaubliche Macht, die sie... Von den anderen isolierte. Es war eine Fähigkeit, die... Die sie zu Monstern entstellte, egal ob sie es wollten oder nicht. Je stärker diese Fähigkeit bei ihnen ausgeprägt war, desto stärker waren sie auch letztendlich. Und desto länger hielten sie im Krieg stand. Bis sie besiegt wurden oder den Freitod suchten. Und die ganze lange Zeit, von ihrer Erweckung als Reyan Maxus bis zu ihrem Tod... Lebten sie allein auf den Kommandoschiffen wie der ADAMAS."
Meine Hände krallten sich in Sphinx' Unterarm. Die Haut fühlte sich weich und warm an. Und was das beste war, sie löste sich unter meinen Fingern nicht auf. "Warum?"
"Es ist ihre KI-Fähigkeit. Sie verdanken ihre große Macht dem Umstand, das sie permanent freies KI aus ihrer Umgebung aufsaugen und sich zu eigen machen. Dieses KI geben sie ebenso unkontrolliert, wie sie es sammeln, als Aura an ihre Umgebung ab. Was dann passiert hast du an Ginas Tisch gesehen."
"Er hat sich aufgelöst."
Sphinx nickte bestätigend. Das war nicht besonders ermutigend für mich. Überhaupt nicht ermutigend. "Wie ich schon sagte, wir wissen nicht mehr sehr viel über die Reyan Maxus. Aber was wir wissen, ist, dass sie von Menschen besonders viel freies KI aufnehmen und es besonders stark an ihre Umgebung abgeben. Normale Menschen, tote Materie, Pflanzen können sich damit nicht arrangieren. Es kommt zu ungewöhnlichen Effekten, wie diesen Auflösungserscheinungen. Deshalb lebten die Maxus meistens allein auf ihren Kommandoschiffen. Alleine schon, um diese nicht willentlich zu gefährden. Doch dieser hohe Preis hatte auch etwas Gutes. Ihre Kampfkraft war die Höchste, über die wir Dai, die Daina und die Daima verfügten. Mit ihnen waren wir in der Lage, den Krieg zu beenden und die Götter zu besiegen. Zumindest glaubten wir, das wir das getan hätten. Als sie nach dem Tod des letzten Reyan Maxus wieder zu schlugen, verloren wir Dutzende Welten an sie und mussten für die Erde einen schmerzvollen Kompromiss eingehen, um sie und die Millionen Daina auf ihr schützen zu können. Damals waren die Dai nicht bereit gewesen, weitere Daina auf den Weg des Reyan Maxus zu schicken, um ihrer Seelen und ihres Verstandes willen. Es führte fast zu unserer Vernichtung. Auch diesmal leben wir in schwierigen Zeiten. Doch diesmal haben wir einen Reyan Maxus. Dich, Akira."

Ich verstand, und das in jeder Konsequenz. Deshalb die Trauer in ihrem Blick, deshalb das die mürrische Miene vom alten Wolf, deshalb das unverholene Mitleid in Torges' Blick. Sie wussten was mir blühte. Sie würden mich auf die ADAMAS bringen, und ich würde sie nicht wieder verlassen, bis ich eines Tages besiegt war, oder den Freitod wählte. Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich unbesiegbar war, ob ich der Erde und den Verbündeten als Maxus in einem Kommandoschiff besser dienen konnte als zuvor in meinem Mecha. Aber ich war mir sicher, das mein Leben ein geringer Preis dafür sein würde, um galaxisweiten Frieden zu erreichen. Der Haken bei der Geschichte war allerdings, das ich keine Ahnung hatte, ob und wer bereits hinter den Göttern und ihren Kindern lauerte, um als nächster die gierigen Hände, Klauen oder Flossen nach uns auszustrecken.
Nachdenklich betrachtete ich die Decke über mir, eine typische Decke, wie sie in Helikoptern üblich war. Dies war eine Polizeimaschine, die ich noch nicht aufgelöst hatte. Weil wir zu hoch flogen, oder weil die Dai meine Fähigkeiten gewaltsam unterdrückten? Ein wenig von beidem, vermutlich.
"Ihr bringt mich auf die ADAMAS, und da werde ich bleiben", stellte ich tonlos fest. "Für den Rest dessen, was man Leben nennt."
Die Miene von Sphinx verzog sich zu einer gequälten Grimasse des Schmerzes. Sie litt furchtbar, als sie mich diese Worte sagen hörte. Und sie litt noch weit mehr daran, mich in dieser Situation zu wissen. Sie haspelte nach Worten, legte ihre herrlich kühlen Hände an meine Wangen, kämpfte um eine Eingebung. Um etwas tröstliches, was sie mir sagen konnte.
Aber was war in der Lage, mich zu trösten? Mir meinen Schmerz zu nehmen? Ich meine, auf ewig isoliert in der ADAMAS zu bleiben, alles und jeden gefährdend, der es wagte, mir nahe zu kommen, was würde das für ein Leben sein? Und die Dai, die hier und jetzt meine destruktive Kraft im Griff zu halten versuchten, wie lange durften und konnten sie bei mir bleiben, bevor meine unheilvolle Fähigkeit auch ihr KI stahl und in zerstörerische Kraft umsetzte?
"Wir sind gleich bei einem Sauerstoffdistributor, Akira. Er bringt uns durch das Hologramm in der Decke, zu einer speziellen Andockbucht, an der die ADAMAS angelegt hat. Dafür müssen wir innen das Gestänge durchqueren. Es ist der schnellste und sicherste Weg, um dich von Bord zu bringen. Wir..." Sphinx verstummte erneut, verlor die Fassung und brauchte bange Sekunden, um ihre Stimme wieder zu finden.
"Vorsicht! Vernachlässige deine Kraft nicht!", warnte Okame.
Sphinx nickte verstehend, konzentrierte sich wieder mehr darauf, meine Kräfte zu binden. Und dabei war ich mir sicher, dass ich, hätte ich das gewollt, alle drei beiseite hätte wischen können.
"Ihr werdet mich nicht begleiten", stellte ich fest. "Denn ihr habt keine Ahnung, wann ich euer KI anzapfe, und wie stark ich es frei gebe."
"Ja", gestand sie tonlos. "Wir werden das ausprobieren. Nach und nach. Unsere Grenzen, deine Grenzen. Aber hier und heute, für deinen Schutz, müssen wir dich alleine auf die ADAMAS schicken."
Sie bat nicht um Verständnis, sie bat nicht um Vergebung. Sie bat nicht einmal um ein wenig Mitleid. Sie sagte einfach wie die Dinge waren, und sie sah den Konsequenzen direkt ins Auge. Sie tat einfach, was sie musste. Eine Einstellung, die gerade der Held der beiden Marsfeldzüge nachvollziehen können sollte, ging es mir ironisch durch den Kopf.
"Meine Freunde?"
Sphinx versuchte sich erneut an einem Lächeln, und diesmal gelang es. "Niemand verbietet dir, mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Wir richten eine Standleitung ein, abhörsicher, nur für dich und das Haus. Du wirst sie alle immer um dich haben, nur nicht bei dir."
In voller Konsequenz bedeutete dies vor allem eines: Ich durfte nie wieder mit Megumi zusammen sein, sie nie wieder berühren, mich nie wieder von ihr berühren lassen. Alles was wir waren, was uns gemeinsam ausmachte war nun auf Bildschirme oder Hologramme beschränkt. Diese Erkenntnis fühlte sich an wie ein massiver Schlag in die Magengrube. Und das war es auch, ein unerlaubte Tiefschlag, der mir den Atem raubte und mir die Kraft zu nehmen drohte.
Aber hatte ich das Recht zu hadern? Hatte ich das Recht, diese Kraft, dieses Geschenk abzulehnen? In den letzten Wochen und Monaten war eines immer deutlich geworden: Mit den Anelph, mit den Naguad, mit dem Kaiserreich oder gar dem Core wären wir militärisch immer irgendwie fertig geworden, hätten es irgendwie reißen können. Aber gegen die Götter sahen wir keine Sonne. Selbst unser mächtigstes Schiff, die AURORA, hatte nur mit Mühe und Not über einen einzigen Strafer gewonnen. Im heimatlichen Sonnensystem jedoch tummelten sich derzeit mehrere Strafer. Über Iotar hatte ein weit größeres Sternenreich als wir es waren und je sein würden Dutzende Flotten zusammen gezogen und gegen angreifende Strafer geführt. Am Ende der Kämpfe hatten die Strafer ihr Ziel erreicht. Vom Gegner war nichts übrig geblieben, außer ein paar treibenden Wracks. Und selbst diese geballte Macht hatte nicht mehr als ein halbes Dutzend gegnerische Schiffe abwehren können. Wenn mir also mit dieser Kraft die Macht gegeben wurde, die Götter zu besiegen und die Bedrohung abzuwehren, vielleicht für immer zu vernichten, wer war ich, dass ich dieses Geschenk ablehnte, mit mir haderte? Vielleicht, wenn ich lang genug lebte, würde es eines Tages eine Möglichkeit für mich geben, dieses unheilvolle KI-saugen und KI unkontrolliert abgeben abzustellen. Vielleicht würde ich nicht immer so isoliert sein. Nur wer lebte, durfte hoffen. Letztendlich war es ein Schicksal, nämlich meines, das ich in die Waagschale war, deren andere Schale mit sechs Milliarden Menschen gut gefüllt war. Nein, ich durfte nicht gegen diese Entwicklung sein. Stattdessen musste ich hoffen, schnell genug Kraft genug zu haben, um alleine einen Strafer besiegen zu können. Vielleicht mehrere. Eventuell alle. Das war meine Bürde. Das war mein Auftrag. Das war verdammt noch mal mein Job. Und diese Erkenntnis tat verdammt weh, die Gewissheit so viel zu verlieren. Aber trotzdem, Schmerzen bedeuteten immer, dass man noch lebte.
"Okay, bringt mich auf die ADAMAS. Versuchen wir aus diesem Dilemma etwas raus zu holen. Zum Beispiel eine erstklassige Waffe gegen die Götter", sagte ich ernst, gefangen, wieder selbstsicher.
Ich hob meinen Zeigefinger drohend. "Aber das enthebt euch Dai nicht davon, nach einer Möglichkeit zu suchen, um mir aus dieser Scheiße wieder raus zu helfen."
"Aber Akira, Scheiße sagt man nicht. Das ist so ein hartes Wort für so eine weiche Masse", scherzte Sphinx.
Wider erwarten kam der derbe Scherz bei mir gut an. Ich prustete, unterdrückte einen Lacher. Und ich fühlte mich gleich viel besser. Noch war nichts zu spät, nichts am Ende. Mein Tod war nicht beschlossen, und es war auch noch nicht in Stein gemeißelt, dass ich den Rest meines Lebens alleine auf der ADAMAS verbringen musste. Im Gegenteil, solange ich lebte, lebte auch die Hoffnung. Und wenn ich wirklich eine derart effiziente Waffe war, dann würden die Götter den Tag verwünschen, an dem sie wieder aus ihrer Deckung gekommen waren.
Hauptsache, ein Reyan Maxus war genug für diese Aufgabe. Nur weil dieser eine Akira Otomo hieß, bedeutete dies nicht automatisch meinen Sieg. Denn neben den Göttern hatten wir auch noch genug mit hausgemachten Gegnern zu tun. Zum Beispiel dem Haus Logodoboro. Oder den Sympathisanten des Kaisers der Iovar. Den Resten des Legats. Und, und, und. Wahrlich, ein Reyan Maxus reichte da kaum, konnte gar nicht überall sein.
Als sich dieser Gedanke in mir festgesetzt hatte, war es wie ein Schock. Die Gewissheit, dass ich diesmal wieder meinen verdammten Abschluss nicht machen konnte, wurde davon vollkommen verdrängt. Meine neue Erkenntnis war um vieles schrecklicher, grausamer, endgültiger. Ich wurde panisch. Und Menschen, die in Panik gerieten und die Kraft eines Reyan Maxus ihr eigen nannten, waren eine schlechte Überraschung, selbst für drei Dai.
Als sich die Liege und der Boden des Hubschraubers unter mir aufgelöst hatte und ich ungebändigt und ungebremst gen Erdboden fiel, die verdutzten Blicke der drei Dai auf mich gerichtet, unter mir der nahe Wald, da wusste ich längst, was ich jetzt tun musste. Und das sehr schnell, bevor meine Handlungen einem oder mehreren Menschen das Leben kostete. Ich drehte mich in der Luft, bekam die Füße nach unten. Ich sammelte mein KI in ihnen, um gleich bei der Landung einen Sprung auszulösen, der mich ein, zweihundert Meter näher an Fushida City bringen würde. Vielleicht würde ich für mein Ziel gegen meine eigenen Freunde kämpfen müssen.
Das musste ich in Kauf nehmen. Das Ziel war zu groß, zu wichtig. Ich hatte tiefe, unendlich tiefe Angst um meine Schwester.

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3.
Als Haru Mizuhara vor einem halben Jahr auf die Fushida Oberstufe gewechselt war, hatte sie sich fest vorgenommen, einerseits ihrem Bruder als Schülersprecher nachzufolgen, und andererseits dieses überzogene, heldenhaft verklärende Bild von diesem reichen Bengel, Akira Otomo, wieder gerade zu rücken. Relativ schnell hatte sie eine Gruppe Gleichgesinnter gefunden, Angehörige von toten Schülern meist, die bei Otomos Feldzug auf dem Mars gestorben waren, während er hatte weiterleben dürfen. Aber es waren auch Menschen darunter, die es einfach nicht richtig fanden, das Otomo so viele Taten zugeschrieben wurden, obwohl nicht einmal er, der Übermensch, so viel würde leisten können. Und einige, die aus Kuriosität dabei waren.
Aber Haru war nicht so einseitig zu glauben, dass die oberflächliche Propaganda dieser Gruppe ausreichen würde, um den verwöhnten Bengel von seinem Übergott-Thron zu stoßen. Also hatte sie sich, auf ihre beiden Brüder berufend, die in der UEMF dienten, am Vorbereitungsprogramm für die Mechas beworben und war angenommen worden.
Zu ihrer größten Überraschung hatte das Training nicht, wie sie befürchtet hatte, regelmäßige Lobpreisungen des Überhelden Akira Otomo beinhaltet. Die Lehrer, die sie auf Sparrow, Hawk und Eagle ausbildeten, waren sachlich, korrekt und hielten sich beim Thema Meinungsvorbildung vollkommen zurück.
Haru hatte ein Talent für Mechas, vor allem für den Eagle, den großen, klobigen Artillerie-Mecha, weshalb ihre Lehrer sie für den Phoenix empfahlen - was gleichbedeutend war mit einer Empfehlung zum Offiziersanwärter. Nun umfassten die Schulungen, sorgfältig abgestimmt um ihr zu ihrer Last als stellvertretenden Schulsprecherin nicht allzu viel Mehrarbeit aufzunötigen, auch Taktik-Schulungen für Gruppen und Kompanien. Dabei wurden Aufnahmen eingesetzt, die während der Marsfeldzüge gemacht worden waren. Sie und eine kleine Handvoll weiterer Schüler analysierten Fähigkeiten und Taktik der Gegner, diskutierten die Taktik der UEMF und sprachen über Verbesserungen. Zu ihrer größten Überraschung waren die UEMF-Taktiken weder perfekt noch wasserdicht, und manchmal bedeutete die Eigeninitiative eines einzelnen Piloten die Rettung einer ganzen Kompanie. Aber die Lehrer machten ihr auch klar, dass die UEMF viele Kampfarten auf dem Mars zum ersten Mal kennen gelernt hatte, zum ersten Mal ausgeführt hatte. Der reine Bodenkampf zum Beispiel, der in der Kaverne unter dem Nyx Olympos einzig möglich gewesen war, hatte viele adhoc-Probleme hervor gebracht, auf die sie sich schnell hatten einstellen müssen. Und sie hatten es getan, wenngleich auch unter schweren Verlusten.
Aber es war etwas anderes, was sie dabei wirklich faszinierte. Eine Handvoll Mecha-Piloten tat sich hervor, wo immer sie auch in den Kampf eingriffen. Leisteten mehr als die anderen, retteten aussichtslose Situationen, schlugen sich mit den schwersten Gegnern.
Ein einzelner Eagle hatte es ihr besonders angetan, der mit der schlafwandlerischen Sicherheit eines Scharfschützen alle anderen in seinen Schatten stellte. Wie sich für sie später heraus stellte, war General Ino der Pilot gewesen, und der jetzige Colonel Futabe sein Bordschütze. Das verwunderte sie schon ein wenig, weil es nicht in ihr Weltbild passen wollte. Vor allem wunderte sie sich darüber, dass die Ausbilder nicht speziell auf ihre Elite-Soldaten hingewiesen hatten. Aber Haru erkannte sehr schnell, dass das vollkommen unnötig war. Ihre Taten, die Aufnahmen, sprachen für sich selbst, sprachen für Yoshi Futabe und Makoto Ino.
***
Als Haru erwachte, schloss sie sofort wieder geblendet die Augen. Sie stöhnte leise und legte eine Hand vor ihr Gesicht. Wortfetzen drangen an ihr Ohr, die auf einen handfesten Streit schließen ließen.
Sie versuchte es erneut, deckte ihre Augen mit dem Schatten ihrer Hand ab, und konnte sogar etwas erkennen. Langsam schälten sich Konturen hervor, und sie erkannte den blauen Himmel über sich. Was war passiert? Wo war sie? Das letzte woran sie sich erinnern konnte, war der Absturz auf Atlantis. Das, und den bevor stehenden Absturz des Götterschiffs auf ihre Position, die sie und Philip hätte auslöschen müssen. Warum lebte sie noch?
"Wir können sie nicht weiter vordringen lassen!", rief eine zornige Männerstimme. "Kuzo, das ist nicht dein Ernst! Sie sind in unserer Hand, am Boden gestrandet! Geben wir ihnen den Gnadenstoß, bevor Schlimmeres geschieht! Zum Beispiel, das sie ihr Schiff reparieren und wieder starten, um die Erde dann aus dem Weltraum heraus zu vernichten!"
Eine sonore Frauen-Altstimme antwortete ihm. "Einverstanden, Tora. Du kommandierst die Umschließung und wehrst alle Ausbruchversuche ab. Wenn du es schaffst, dann führe Kommandos ins Innere und versuche so viel wie möglich zu beschädigen. Wenn es möglich ist, vernichte das Schiff. Gehe aber sicher, dass du nicht auch zugleich den ganzen Planeten vernichtest. Es gibt einen Grund dafür, warum das Götterschiff selbst notgelandet eine Bedrohung für uns ist."
Haru richtete sich auf, blinzelte, und erkannte endlich, wo sie war. Sie lag auf einem goldenen Boden, der seltsam warm war, sich beinahe bequem an sie anschmiegte. Sand? Nein, dazu war der Grund zu fest. Sie sah in Richtung der Stimmen, und erkannte einen großen blondhaarigen Mann, der mit einer schwarzhaarigen Frau diskutierte. Tora und Kuzo? Dann waren sie Dämonen. Das Ziel ihrer Erkundungsmission. Genau die Wesen, von deren Bedrohung oder deren Lauterkeit sie sich hatte selbst überzeugen wollen.
"Wo...?", brachte sie mühsam hervor.
Sie spürte, wie jemand sie im Rücken ergriff und stützte. "Trink erstmal etwas, Haru-chan. Es wird dir gut tun."
Dankbar griff sie nach der Flasche und nahm einen tiefen Schluck von dem herrlichen, köstlichen, einfachen Wasser. Als sie husten musste, wurde ihr die Flasche wieder weg genommen.
Sie hustete erneut und sah ihren Gönner an. "Takei-sensei."
Eine Mischung aus Respekt, Ärger und Erleichterung huschte über die Miene des Mannes. "Von Rechts wegen müsstest du eigentlich tot sein, Haru Mizuhara. Sei froh, dass Dai-Kuzo-sama dich und Philip für rettenswert befunden hat."
Fragend weiteten sich ihre Augen. Die Erinnerung an die letzten Sekunden, an die Druckwelle des herab stürzenden Götterschiffs, an Philips letzte Worte, all das brach über sie herein. Und dann war da diese Stimme gewesen...
"Ich bin kein Anfänger, Kuzo. Wir werden uns genau ansehen, was wir vernichten. Wir wollen den Göttern schließlich schlussendlich nicht die Arbeit abnehmen."
"Dann ist es beschlossen. Stelle dein Kommando zusammen. Die Wolfsdämonen, die das Schiff zuerst erreicht haben, sprechen bereits von ersten Kämpfen, also bereite dich entsprechend vor."
Haru schreckte zusammen. Ja, das war die Stimme, die sie kurz vor dem Ende, vor ihrem Ende gehört hatte.
"Und jetzt gehe, Dai-Tora. Einer meiner Gäste ist erwacht."
Die beiden trennten sich, und die große Frau trat zu Haru und Takei heran. "So, so. Du bist also die kleine Schwester von Takashi?" Sie schmunzelte, als sie die junge Frau im Druckanzug eingehend musterte. "Absolut kein Vergleich mit ihm. Allerdings stehst du ihm bei den Fähigkeiten, einen Mecha zu führen, nicht besonders nach. Du hast großes Talent, junge Mizuhara. Wir werden eine Verwendung dafür finden." Sie sah zu Takei herüber. "Wie geht es dem anderen, Thomas?"
"Philip King ist noch nicht bei Bewusstsein, aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Soll ich ihn wecken?"
"Solange Toras Offensive läuft, wird es für ihn nichts zu tun geben", erwiderte Kuzo. "Auch für dich nicht, junge Mizuhara, vor allem solange du keinen Mecha führst."
"Sie ist nicht vollkommen wehrlos. Sie beherrscht ihr KI bereits recht gut", wandte Takei ein.
"Mag sein, mein alter Freund. Mag sein. Aber kann sie es mit einem Dai aufnehmen? Wenn nein, dann ist ihr Leben da draußen verschwendet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir das für deine Schülerin wünschst, nachdem sie gerade erst einer anderen lebensbedrohlichen Situation entkommen ist. Dank meiner bescheidenen Hilfe, wohlgemerkt."
"Wofür ich dir dankbar bin, Dai-Kuzo-sama. Wir werden ihre Fähigkeiten und die ihrer Freunde noch bitter brauchen. Sie haben erfolgreich gegen die Mechas der Götter gekämpft."
Dai-Kuzo wandte sich ab. "Und wir müssen damit rechnen, dass das nicht die einzige Überraschung war, welche die Götter für uns vorbereitet haben. Im Gegenteil, ich rechne damit, dass uns das Schlachtschiff umso mehr Sorgen macht, je weiter die Reparatur voran schreitet. Dann nützt uns auch unser kleiner Spion an Bord nicht mehr allzu viel."
Ein großer blonder Mann trat zu der Dämonenkönigin. Er hätte hübsch sein können, wäre sein Gesicht nicht so furchtbar ernst gewesen. "Tora-sama hat seine Offensive begonnen. Er stieß sofort auf stärkeren Widerstand als die Wolfsdämonen berichtet haben. Ich kann mir nicht helfen, aber für mich sieht das aus wie eine Hinhaltetaktik."
"Und damit hast du natürlich Recht, Kuma. Koordiniere unsere Angriffe mit der UEMF und der chinesischen Marine. Gib Eikichi Bescheid, dass er weitere Antischiffsraketen bereit halten soll."
"Aber Dai-Kuzo-sama, Atombomben auf Atlantis?"
"Gegen diese Bedrohung müssen wir alle Opfer bringen. Auch wenn dies bedeutet, dass große Teile von Atlantis verwüstet oder verseucht werden. Schlussendlich sind wir die wahren Gegner der Götter, und wir sollten keinen geringeren Preis bezahlen als die Chinesen. Oder die UEMF. Oder die Naguad."
Dai-Kuma-sama räusperte sich verlegen, so als würde er sich an eine peinliche Wahrheit erinnert fühlen. "Ich hoffe, das wird nicht nötig sein."
"Das hoffen wir alle. Ach, und bei der Gelegenheit besorge doch bitte einen neuen Eagle für Haru-chan. Sie hat bereits bewiesen, wie verdammt gut sie ist. Und das wir trotz ihres Misstrauens den Dai gegenüber diesmal auf der gleichen Seite steht wie wir." Sie lächelte die Schülerin freundlich an. "Können wir uns darauf einigen? Für den Moment, junge Mizuhara?"
Haru fühlte sich überrumpelt und überfahren. Woher hatte sie...? Wie hatte sie...? Warum hatte sie...? "Ja", krächzte sie mit rauer Stimme.
"Na, das ist doch mal eine gute Nachricht." Dai-Kuzo-sama beugte sich vor und ergriff ihr Kinn. Ihr Lächeln bekam einen herzlichen, süßen Ton, der Haru einen wohligen Schauder über die Haut sandte. Als sich dann die Lippen der Dai auf die ihren senkten, kam zum Schauder noch ein Stromschlag hinzu, der sie von innen nach außen drehte.
Dai-Kuzo-sama richtete sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder auf. "Interessant, Haru-chan. Interessant. Du hast großes Potential, auf vielen Gebieten. Wenngleich du ein klein wenig dazu neigst, offensichtliches zu übersehen." Sie sah Takei an. "Thomas, der OLYMP schickt deine Division herüber. Du wirst sie in etwa einer halben Stunde übernehmen können. Dein Stab kann sich hier auf der AO einrichten. Deine Kids müssen dann auch wieder fit sein."
Takei nickte ernst. "Geht klar, Dai-Kuzo-sama. So leicht lassen wir uns von den Göttern bestimmt nicht unterkriegen."
"Etwas anderes habe ich auch nicht von dir erwartet. Nicht von dir." Die Dai lächelte zufrieden und wandte sich ab.
John Takei lächelte ihr hinterher, bis sie an einer Brüstung stand. "Meinst du, du kannst wieder stehen, Haru?"
"Ich weiß nicht", ächzte sie. "Was war das? Es fühlte sich gut an, aber auch so... Aufwühlend. Also, ein normaler Kuss war das nicht." Sie errötete. "Nicht, das ich gerne Frauen küsse."
"Keine Sorge, das war nur Dai-Kuzo-samas Spezialität. Ein KI-Scan, um dein Potential auszuloten. Das macht sie nicht sehr oft. Ich möchte es nicht beschreien, aber nach Akira Otomo und eventuell nach Megumi Uno dürftest du die erste sein, die Dai-Kuzo-sama so sehr interessiert. Los, probieren wir es." Takei richtete sich auf und zog Haru dabei auf die Füße.
Während sich die Perspektive der Japanerin veränderte, veränderte sich auch ihre Sicht der Welt. Sie glaubte, schwindlig werden zu müssen, als sie erkannte, dass sie nie und nimmer auch nur in der Nähe von festem Boden war. Sie stand auf einer Plattform, die ein paar hundert Meter in der Luft schwebte. "Wo sind wir hier?"
Takei schmunzelte. "Dies ist die AO, Dai-Kuzo-samas Kriegsschiff. Nicht unbedingt ein Kommandoschiff wie die ADAMAS, aber immer noch ein Gegner, der es mit der HINDENBURG aufnehmen könnte. Die Dai setzen es nie ein. Das sie es heute tun, sollte genug darüber sagen, für wie gefährlich sie die Situation halten."
Zweifelnd sah sie Takei an. "Du meinst, unter dieser Plattform ist noch..."
"Ein ganzes verdammtes Schiff von der Größe eines Zerstörers, genau."
"Wow!", hauchte sie. Verdammt, da hatte sie ihr Abenteuer. Und vielleicht den ersten Hinweis auf ihre Frage, die Götter betreffend.
***
"Es könnte schlimmer sein", murmelte Kevoran, während die aktuellen Reparaturdaten über sein Terminal liefen. Als die RASHZANZ aus ihrem Tiefseeversteck gestartet war, hatte sie längst nicht volle Stärke erreicht gehabt. Ein paar Atombomben und Torpedos später waren die Schäden in den Außenbereichen größer, aber die internen Schäden, auf die es ankam, hatten abgenommen. Trotz der Erschütterungen, trotz der Sekundärexplosionen im Schiff. Wenn sein Schiff jetzt noch in der Lage gewesen wäre zu fliegen, wäre es selbst für diese überkandidelte Raumstation namens OLYMP ein ernsthafter Gegner gewesen. Aber man konnte nicht alles haben, und wenn doch, dann meist nicht zur gleichen Zeit.
Dennoch, es lief alles nach Plan. Zumindest nach Ausweichplan drei, den er mittlerweile gezwungen war zu benutzen. Die Aktivierung der Garnison war für diesen Fall nicht vorgesehen gewesen, war nur eine Zwischenlösung. Sie hatte nur in zwei möglichen Fällen aktiviert werden sollen: Entweder bei der totalen Zerstörung Lemurs, um die Waffenkameraden zu retten, oder beim Versuch, Atlantis zu erobern, also von außen und von innen. Jetzt aber sollten die Kämpfer vor allem eines tun, nämlich der RASHZANZ Zeit für Reparaturen erkaufen und den Weg in den Himmel frei kämpfen. Plan drei halt. Kevoran und sein Stab hatten ihn vor der Hibernation entwickelt, aber nicht einmal seine übervorsichtige Erste Offizierin hatte jemals daran gedacht, dass es so weit kommen würde. Vielleicht hätten sie doch die ganze verdammte Welt vernichten sollen, solange sie sich noch auf dem Grunde des Tiefseegrabens befunden hatten. Vielleicht wäre das die richtige Entscheidung gewesen, um diese endlose Schlacht zwischen Dai und Göttern zu entscheiden. Aber warum hatten sie dann diese unendlich lange Zeit da unten gelegen und geschlafen? Nein, das war nicht der Weg der Götter und würde es auch nie sein. Nicht solange es Leben in seinen Adern gab.
"Key!"
Die junge Frau wandte sich dem Kapitän zu. Bisher hatte sie Vritrives Acouterasal interessiert über die Schulter geschaut, aber sie folgte dem Ruf sofort. "Skipper?"
"Die Situation hat sich geändert. In mehr als einer Beziehung. Wo befinden sich die Pforten, die aus der Daimon heraus führen?"
"Es gibt zwei permanente Pforten, die zum Trabanten führen, drei die zum Mars führen... Verzeihung, zum vierten Planeten. Und es gibt achtzehn Orte im hohen Orbit, an denen Schiffe durch temporär erschaffene Portale ein- und ausfliegen können. Wir schalten sie immer nur für kurze Zeit, um Strafern der Götter keine Chance zu lassen, einzufliegen."
"Aber die Tore zum Trabanten und nach Ares... Zum Mars sind permanent offen?"
"Sie sind permanent offen, werden jedoch bewacht."
"Eine interessante Möglichkeit. Tarco Pahel!"
"Kapitän!" "Nimm dir den Key, lass dich in die Garnison bringen und sprich mit dem Ranghöchsten Überlebenden der Kryostase. Da wir selbst kaum Verluste hatten, wird das wohl Andeema Turak sein. Sie soll ein Schleicher-Team zusammen stellen, noch bevor die Garnison in den Kampf eingreift oder sich gar bemerkbar macht. Dieses Team soll nach Ares gehen und auf dieser Welt nach den eingelagerten Kommandoschiffen der Dai suchen. Wenn sie sie finden, müssen die Schiffe zerstört werden. Und zwar bevor die Dai sie aktivieren oder sogar einer dieser vermaledeiten Oren Maxus eines aktiviert. Und wir..." Kevoran zögerte. "Das ist alles, Tarco Pahel."
"Verstanden, Kapitän." Der bullige Gott blaffte einen Befehl an seinen Stellvertreter, dann reichte er Helen Arogad die Hand. "Einmal in die Garnison, bitte."
"Wir haben ein Wort dafür auf der Erde. Wir nennen Personentransportdienstleister Taxi."
"Taxi? Dann einmal in die Garnison, Taxi."
Sie berührte seine Hand mit einem dünnen Lächeln, dann waren beide verschwunden.
Der Kapitän starrte einen Moment auf die Stelle, an der die beiden gerade noch gestanden hatten, bevor der Key über die Ley-Linien von Atlantis fort gereist war. "Freunde dich nicht mit ihr an, Tarco. Selbst als Key ist sie unser ärgster Feind", murmelte er. Anschließend verschaffte er sich einen Überblick über die Lage seines abgestürzten, beschädigten und den Angriffen der feindlichen Mechas ausgesetzten Schiffs. Nun, es konnte schlimmer sein, aber sicher nicht sehr viel.
***
"SANSSOUCI, Identität bestätigt. Einflugkorridor bestätigt. Anflug auf Laccus frei gegeben." Der Lotse, der dem Skipper nervös vom Hauptbildschirm zulächelte, schien irgendwie erleichtert. "Im Moment haben wir keine Feindschiffe auf Ihrem Kurs. Aber die Raider sind schnell, und Sie sind nur alleine. Also, achten Sie auf sich, SANSSOUCI. Es wäre ein großer moralischer Verlust, wenn ausgerechnet ein terranisches Schiff versenkt wird."
"Wir geben uns Mühe", versprach Commander Saleed. "Die Systemverteidigung wurde auch nach Laccus transferiert?"
"Die Admiräle hatten die Wahl, die Regionaladmiralität zu evakuieren oder zu halten. Da Laccus auch kommerziell genutzt wird, blieb da nicht wirklich viel Spielraum. Die Systemverteidigung liegt bei Admiral Arogad an Bord der AROGAD. Diese hält gerade einen Orbit um Laccus."
"Ich habe gehört, sie wurde beim offensichtlichen Verrat der desertierten Logodoboro schwer beschädigt. Wie ist ihr Gefechtsstand?"
"Ich bin nicht befugt, Ihnen näheres darüber zu sagen. Aber Admiral Arogad wird Sie sicherlich unterweisen, Commander Saleed."
"Eventuell wird er auch mich unterweisen", meldete sich Jano Avergan Ryon zu Wort und erhob sich von seinem Notsitz.
Die Augen des Anelph wurden groß, dann noch ein wenig größer, und schließlich sackte ihm ganz langsam die Kinnlade herab. "Sie... Admiral, Sie... Hey, Leute, der Alte ist wieder da!"
Aufgeregtes Geraune kam über die Funkleitung herüber. Für einige Minuten verschwand der Kommunikationsspezialist vom Bildschirm, nur um durch einen Offizier mit seltsam Plastikhaftem Gesicht ersetzt zu werden. "Dreisternträgerin Amada hier. Willkommen zurück in Kanto-System, Admiral Ryon. Admiral Achander wurde bereits informiert, ebenso Admiral Arogad. Es wird für alle verbündeten Einheiten eine Erleichterung sein, wenn sie hören, dass das Bollwerk von Zantu unter uns ist."
"Bollwerk von Zantu?", fragte Eskender interessiert.
"Einer meiner Spitznamen, die mir früher Kritik auf Lorania eingebracht haben. Sie wissen schon, bevor wir von Unterdrückten zu Verbündeten aufstiegen."
"Ich verstehe. Glaube ich. Der Otomo-Effekt?"
"Ich glaube, das beschreibt es ganz vortrefflich", schmunzelte der alte Admiral.
"Skipper, Anruf von der AROGAD. Admiral zu Admiral", meldete der Funk.
"Durchschalten. Sir, Sie sind anscheinend beliebt."
"Das ist immerhin besser als vorher. Da war ich nur gesucht und berüchtigt."
Der Hauptbildschirm teilte sich. Auf der noch leeren Hälfte erschien ein Mann in Arogad-Hausuniform. Der über die rechte Schulter reichende Banner wies ihn als Admiral aus.
"Rogan Arogad hier. Jano Avergan Ryon, es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen. Ich habe damit gerechnet, das Sie eines Tages die alte Heimat besuchen werden, seit ich Aris begegnet bin. Das Sie allerdings in dieser schwierigen Situation zu uns stoßen, werte ich als Glücksfall."
Jano Avergan Ryon schmunzelte. "Es ist mir ebenfalls eine Ehre, Sie kennen lernen zu dürfen, Rogan Arogad. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus."
"Ich glaube kaum, das ich mit dem Bollwerk von Zantu mithalten kann, Admiral", sagte der andere bescheiden.
"Meine großen Taten liegen bereits hinter mir. Sie aber haben das Leben noch vor sich." Ryon räusperte sich. "Ich bin auf direkten Befehl der Systemkommandantin Eridia Arogad hier her gekommen."
"Sie sollen den Laden hier übernehmen?", argwöhnte der Arogad. "Ich als Haus-Offizier habe damit keine Schwierigkeiten, vor allem nicht bei Ihrer Reputation, Admiral Ryon. Aber man wird sehen müssen, was Admiral Achander dazu sagt."
"Admiral Achander", meldete sich auf der anderen Hälfte des Bildschirms der Anelph zu Wort, "würde sich im höchsten Maße geehrt fühlen, unter dem Bollwerk von Zantu zu dienen."
"Ich habe keine Befehle, hier das Kommando zu übernehmen. Meine Anwesenheit ist lediglich unterstützender, beratender Natur. Wortwörtlich befahl mir Meisterin Arogad, alles mir mögliche zu tun, um das Kanto-System zu halten und seine Bewohner zu beschützen."
Neon Zut Achander wechselten einen schnellen Blick mit Rogan Arogad. "Admiral Ryon, ich denke, Sie dienen diesem Befehl am besten, wenn Sie Verantwortung übernehmen. Können Sie sich vorstellen, welchen Motivationsschub es für Anelph, Naguad, Terraner und Core-Daima bedeuten, würde, wenn das Bollwerk von Zantu, beziehungsweise der Koordinator des Exodus das Kommando über die Verteidigung übernimmt? Können Sie sich vorstellen, wie die Wirkung auf die Logodoboro sein wird?"
"Nanu? Seit wann geben Sie freiwillig Ihr Kommando auf, Neon?"
"Wer spricht hier von Kommando aufgeben? Sie übernehmen einfach das Oberkommando über alle Alliierte im Kanto-System, Jano."
"Also, langsam will ich die Geschichte mit Zantu wirklich hören", flüsterte Saleed dem Naguad zu.
"Wir diskutieren darüber, wenn wir uns gegenüberstehen, Neon", wich Ryon aus. "Admiral Arogad, werden Sie uns die Ehre Ihrer Anwesenheit in der Regionaladmiralität geben?"
"Selbstverständlich, Admiral. Ich stelle Ihnen Begleitschutz. Es gab bisher zwar noch keine Übergriffe der Logodoboro und der Raider, aber sobald sie erfahren, dass das Bollwerk von Zantu an Bord der SANSSOUCI ist, werden sie alles tun, damit er uns nicht erreicht."
"Danke, aber das wird nicht nötig sein. Wir werden in etwa achtzehn Minuten auf die Höhe von Laccus springen", sagte Ryon sachlich.
"Auf die Höhe von... Aber niemand springt innerhalb eines Systems!", rief Avergan erstaunt.
"Die Terraner sind extrem findig und gehen gerne neue Wege. Sie kennen einen Weg, um auch innerhalb eines Systems zu springen", stellte Ryon fest. "Ich treffe dann in spätestens zwei Stunden mit ihnen allen zusammen. Ryon Ende."
"Der Otomo-Effekt, was?", fragte Rogan Arogad amüsiert. "Es war nicht anders zu erwarten. Also in zwei Stunden. Arogad Ende."
"Man sollte meinen, ein Mann meines Alters und meiner Erfahrung wäre vor Überraschungen jeder Art gefeit. Aber seit Aris Arogad hier durch gezogen ist, lerne ich beinahe jeden Tag etwas Neues kennen. Avergan Ende."

Als der Hauptbildschirm wieder zu einer statischen Ansicht des Kanto-Systems wechselte, sagte der Skipper der SANSSOUCI: "Sie schulden mir eine Erklärung, Bollwerk von Zantu."
Der Anelph lächelte dünn. "Stellen Sie sich einen Leichten Kreuzer vor, der unter schwerem Feindfeuer auf einer rebellischen Welt landet, sich dort auf einem Raumhafen festkrallt und fast neun Stunden alles abwehrt, was ihn angreift, während zeitgleich zwei Divisionen Bodentruppen ihr Material vernichten, um mit ihrem blanken Leben an Bord des Kreuzers zu kommen. Stellen Sie sich vor, wie sich dieser Leichte Kreuzer anschließend durch die massierten Raumverbände kämpft, und trotz schwerster Schäden ins nächste sichere System springt. Stellen Sie sich vor, diese Aktion hätte achttausend Naguad das Leben gerettet. Dann haben Sie ungefähr eine Ahnung vom Bollwerk von Zantu."
Eskender Saleed runzelte die Stirn. "Klingt irgendwie stark nach etwas, was Akira Otomo tun würde."
Ryon lachte. "Das ist wahr. Und das ist ein Kompliment."
"In der Tat." Der Iraner grinste breit. "Sprung vorbereiten. Sprungcountdown starten. Alarm für unsere Dai, sie sollen sich darauf vorbereiten, den Antrieb zu beschicken."
Ein Vielzahl an Bestätigungen antworteten dem Commander, während in den Eingeweiden zwei Dämonen, ein Wolfsdämon und ein Bärendämon, ihre Kabinen verließen, um ihren Teil zur Sicherheit der SANSSOUCI zu leisten.


4.
An Bord der AURORA, im großen Innenraum, beobachtete ich leicht irritiert, wie sich die Naturgesetze für mich auf den Kopf stellten. Normalerweise fiel die kleinere Masse auf die größere Masse zu, um es mal simpel und nicht vollkommen korrekt auszudrücken. Im Moment aber kam mir gegen dieses Gesetz die ganze Bodensohle in voller Fahrt entgegen.
Eine tolle Idee, wirklich eine tolle Idee! Was war nur mit der guten alten Methode, einfach zu fragen? Nach einem Handy, einer Funkverbindung? Was war mit dem höflichen Weg? Warum hatte ich brachial aus dem Sauerstoffdistributor ausbrechen müssen, um einen knappen Kilometer gen Erdboden zu fallen, und alle anderen über meine Absichten im Unklaren zu lassen? Im Moment war ich nicht mehr als ein Monster, das alles vernichtete, was in seinem Umkreis passierte. Und das umso zerstörerischer wurde, je mehr KI es zu fassen bekam. Hatte ich irgendeinen Versuch unternommen zu verhindern, dass die Dais und Meister Futabe mich nicht für vollkommen verrückt halten mussten? Nein, eher nicht. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, wenn sie mir nachsetzten. Wenn sie Gewalt gegen mich einsetzten. ICH hätte in dieser Situation zur Gewalt gegriffen, bis mein Zielobjekt zur Ruhe gekommen wäre.
Was mich zu meinem jetzigen Problem brachte. Ja, da huschte bereits Tyges durch das Loch hindurch, das ich gerissen hatte. Dann waren Sphinx und Okame schon auf dem Weg. Im besten Fall warteten sie da unten auf mich. Okay, ich war ihnen einmal entkommen, aber in dem Moment hatten sie mir helfen wollen, nicht versucht mich zu stoppen. Nun waren die Karten anders gemischt, und mein dummer kleiner Vorstoß würde beendet sein, bevor er begann.
Andererseits hatte ich einen triftigen Grund für mein leicht irrationales Verhalten, und das war der einzige Mensch, der meine Genetik teilte - meine Schwester Yohko. Wenn ich zum Reyan Maxus wurde, wie hoch war dann die Chance, das sie auch einer werden würde? Auch ein alles um sie herum vernichtendes Monstrum? Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte ich diese Entwicklung noch verhindern. Immerhin hatte sie ihre KI-Fähigkeiten erst spät entdeckt, damals als die AURORA auf der Erde Zwischenstation gemacht hatte. Kurz bevor sie aufgebrochen war um mich zu suchen. Und da bestand immer noch die Gefahr, das sie es als erstrebenswert betrachten würde, eine Reyan Maxus zu werden. So von wegen die Menschheit zu retten, und so. Nein, das konnte ich nicht zulassen, genauso wenig wie ich diese schreckliche Fähigkeit wohl nie wieder los wurde. Ich wusste, was ich wollte. Und ich hatte eine vage Idee, wie ich das erreichen konnte. Aber dafür musste ich mit Yohko sprechen. Sie erpressen, wenn nötig. Falls der Befehl ihres großen Bruders nicht ausreichte.
Ich wandte mich wieder dem Erdboden zu. Noch hundert Meter, eventuell. Und da unten lauerten unter Garantie schon zwei meiner Lieblings-Dais. Voller Sorge für mich, nur mein bestes wollend. Würden sie verstehen was ich erreichen wollte? Würden sie mich unterstützen? Ich wusste es nicht. Wusste nicht einmal, ob mir noch jemand zuhörte, hier oder auf der ADAMAS. War ich nicht längst schon für alle nur noch eine scharfe Bombe, die bei falscher Handhabung explodieren würde?
Okay, vielleicht tat ich den beiden Unrecht. Aber ich durfte... Ich konnte mich jetzt nicht stoppen lassen.
Was waren meine Optionen? Sollte ich mich in ICH und ES aufteilen? Mein Körper, rein instinktgesteuert, hatte vielleicht die Kraft und die Fähigkeiten, den beiden Dais, und dem dritten, der mir gerade folgte, zu entkommen. Andererseits, wenn ich meinen Körper sich selbst überließ, verstärkte das eventuell den Effekt, und die AURORA bekam neben dem neuen Fahrstuhl zur Bodensohle, dessen Schacht ich einst im Kampf mit Torum Acati getrieben hatte, eine neue Schleuse, direkt ins Weltall. Nein, die Aufteilung war zu riskant geworden. Zu gefährlich. Zu unberechenbar. Ich hatte immer noch eine Verantwortung. Als Offizier der UEMF, als oberster Offizier des Cores, als Vertreter des Hauses Arogad und der Daness, als Teil der Familie Lencis. So lange ich aus eigener Kraft und aus eigenem Willen verhindern konnte, das ich unendliche Schäden anrichtete, würde ich es tun. Die Alternative hieß also kämpfen.

Ungefähr an diesem Punkt wurde mir klar, das ich nackt war. Das ich mir mit meiner KI-Fähigkeit die eigene Kleidung vom Leib gebrannt hatte. Und das ich mir deshalb reichlich dämlich vor kam.
Mehr instinktiv hüllte ich mich in meine KI-Rüstung, die Hausuniform der Arogads. Die hielt stand. Glücklicherweise. Den Nebeneffekt, den meine Entscheidung haben würde, konnte ich in jenem Moment noch nicht voraus ahnen. Aber ich neigte dazu, Gelegenheiten zu nutzen, wenn sie sich mir boten.
Als ich mich in die KI-Rüstung gehüllt hatte, nahm ich etwas wahr, eine Präsenz, die ich noch nicht kannte. Ich ordnete sie dem KI zu, konnte sie aber nicht bestimmen. Die Sphinx oder der Wolf waren es nicht. Beide würden nicht so dumm sein, und mir ihre Positionen verraten, nur für den Fall das ich zu fliehen versuchte. Nein, es war etwas anderes, ursprünglicheres, wilderes, und doch gezähmtes. Ich sah es nicht, ich hörte es nicht, ich fühlte es nicht, aber es war da, unauffällig, am Rande meines Bewusstseins. Es war wie eine Stimmgabel, die angeschlagen worden war. Es war keine störende Erfahrung, auch keine, die meine Aufmerksamkeit heischte. Sie war einfach da, so wie das Zirpen der Zikaden im Hochsommer. Unbemerkt, weil zu bekannt. Unbekannt, weil stets unbemerkt. Eines aber wusste ich genau: Ich kam der Quelle immer näher.
Die Erkenntnis ließ nicht lange auf sich warten: Es war im Boden.
Ich landete auf einem Knie, federte mit dem anderen Bein ab, stützte mich zusätzlich mit der Rechten. Meine Hände verkrallten sich im Gras unter mir, und meine außer Kontrolle geratene Aura zerblies die molekulare Bindung der Pflanzen zu grünbraunem Staub. Ich fühlte mich nicht nur verdammt, ich war es auch. Verdammt dazu, fortan immer freies KI aufzunehmen, und es unkontrolliert an meine Umgebung abzugeben, um dessen molekulare Bindung zu zerstören. Und was gewann ich dabei?
Ich spürte Sphinx mehr als das ich sie kommen sah, wie sie von hinten auf mich zu eilte. Nicht um mich anzugreifen. Ihre Aura war nicht aggressiv, nur besorgt. Nur um mich zu halten, denn sie, Dai-Okame und Tyges waren wohl die einzigen lebenden Wesen, die mich berühren konnten. Oder die Schäden, die ich ihnen zufügte, schnell genug reparieren konnten.
Okame kam von vorne. Er breitete die Arme aus, um mir den Weg zu versperren. Seine Augen waren dabei voller Sorge für mich, was mich bei dem alten Stockfisch schon ein wenig verwunderte. Zugleich fühlte ich, wie mich die Füße von Tyges berührten, sich in meinen Rücken bohrten. Wie sein durch einen Kilometer Fall beschleunigter Körper regelrecht in mich zu bohren versuchte. Ich nahm es ihm nicht übel. Ich war KI-Meister und weit rauere Behandlung gewöhnt.
Ja, ich war KI-Meister. Und ich wusste jetzt, was der Vorteil daran war, ein Reyan Maxus zu sein.
Ich griff nach der geheimnisvollen Präsenz, die ich zuvor gespürt hatte - und befand mich auf einer rasanten Achterbahnfahrt durch ein unwirkliches Lichterfest, zugleich gebremst und beschleunigt, herum gewirbelt, rotiert in beide Richtungen. Die alles umfassende Stille betäubte meinen Gehörsinn, und mein Gleichgewichtssinn vermittelte mir den Boden in alle Richtungen zugleich. Ich ließ los, fand mich übergangslos in der realen Welt wieder, rammte einen Betonpfeiler, prallte an ihm ab, überschlug mich mehrfach und blieb schließlich in einer Erdmulde liegen, die langsam aber sicher tiefer wurde. Okay, ich war ihnen entkommen. Für den Moment. Doch hatte ich mich Fushida City genähert, oder hatte ich mich entfernt? Unfähig, ein Handy zu benutzen, weil ich es zwangsläufig aufgelöst hätte, war ich im letzten Fall verloren. Oder vielmehr Yohko.
Langsam richtete ich mich auf... Und erkannte die ersten Häuser der Stadt. Okay, der Punkt hatte funktioniert. Blieben noch eine ganze Reihe weiterer. Mein wichtigster Punkt dabei war, die Zerstörungen, die ich verursachen würde, so klein wie möglich zu halten. Hoffentlich.
***
"Er tut was?", rief Makoto entrüstet in seinen Komm.
"Er ist uns entkommen und reist jetzt auf den Ley-Linien der AURORA, vermutlich in Richtung der Stadt", erwiderte Sphinx. "Wir wissen nicht was er vorhat, wir wissen auch nicht, wie zurechnungsfähig er ist. Also empfehle ich, ihn zu stoppen, und zwar mit allem was du hast, Mako-chan."
"Die AURORA hat Ley-Linien?", fragte Kei erstaunt.
"Ja, hat sie. Aber die haben bei den kurzen Distanzen hier bisher keine Rolle als Transportmittel gespielt. Bis Akira sie entdeckt hat", rief Makoto ihm zu. "Tante Cynthia, du verlangst hier doch nicht etwa, das ich Mechas gegen meinen Cousin schicken soll! Hallo, ich bin sein Bluthund! Ich soll ihn beschützen, nicht umbringen!"
"Nette Interpretation deiner Pflicht, kleiner Taral, aber erstens kann man Akira mit einem anderen Mittel als einem Mecha kaum bremsen, und zweitens ist es vor allem zu seinem Nutzen, wenn wir ihn stoppen können, um ihn doch noch auf die ADAMAS zu verfrachten. Er ist so plötzlich ohne ein einziges Wort ausgebrochen, das wir gar nicht wissen, ob irgend etwas in ihm vorgeht, oder wieder mal sein ES vorherrscht."
"Aber dann müsst ihr doch den Avatarkörper gesehen haben, den Yoshi ihm erschaffen hat."
"Nicht unbedingt, und du weißt das. Also, halte ihn auf, wenigstens so lange, bis wir Dämonen ihn eingeholt haben."
Makoto stöhnte gequält auf. "Das kann doch nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein."
Er wechselte die Frequenz. "Onee-chan, Akira ist uns unerfindlichen Gründen der Obhut unserer Dai entkommen und verhält sich irrational."
"Das habe ich schon mitgekriegt. Im Moment versuchen wir heraus zu finden, wo er ist."
"Dai-Sphinx-sama empfiehlt den Einsatz von Mechas gegen Akira. Die Panzerung dürfte in jedem Fall gegen seine neue Fähigkeit helfen, Materie aufzulösen."
"Ich würde das nicht unbedingt als Fähigkeit bezeichnen, aber sie hat Recht. Ich starte das Red Team. Sie halten sich ohnehin wegen Wartungsarbeiten in einem Innenhangar der AURORA auf."
"Gut, nimm das in die Hände. Ich versuche meinerseits, Akira aufzuspüren. Wir KI-Meister sind ja wohl diejenigen, die mit den geringsten Schäden davon kommen werden."
"Einverstanden."
Makoto wechselte wieder die Verbindung. "Mechas sind unterwegs. Das Red Team wird eingesetzt."
"Also einige der besten. Gut, das sie zur Verfügung standen. Wir suchen weiter. Ich melde mich, wenn wir eine Spur von Akira haben. Andrews Ende."

Frustriert atmete Makoto aus. Wenn auch nur einer der Mecha-Piloten einen Befehl missverstand, wenn er in Panik geriet, wenn er einen Fehler machte, dann würden Waffen auf Akira schießen, die ansonsten verwendet wurden, um Banges zu vernichten. Und das würde Akira weh tun. Nicht unbedingt umbringen, aber weh tun. Und dann waren da noch diverse Fraktionen, die Akira ohnehin nicht gerade positiv gegenüberstanden und das Thema für sich ausschlachten würden. Er konnte die Schlagzeile schon vor sich sehen: Endlich enthüllt! Akira Otomo bedroht uns alle!
Und das nach all dem, was er für die Menschheit, für den Core, für das Kaiserreich, für das Imperium geleistet hatte. Nein, er hatte es wahrlich nicht verdient, so behandelt zu werden.
Makoto griff nach seiner Uniformjacke. Neben ihm tat Kei das gleiche.
"Was tust du da, Admiral?" "Ich ziehe mich an, wie du siehst. Und anschließend helfe ich dir dabei, Akira aufzuspüren. Vergiss nicht, ich kenne ihn. Ich weiß wie er tickt. Und ich habe ihn bisher noch immer aufgespürt, selbst wenn ein gewisser Bluthund versagt hat."
Makoto räusperte sich verlegen. "Kommst du auch mit, Ami?"
"Ich habe gerade die Slayer informiert. Wir werden alle suchen. Kannst du Joan benachrichtigen? Sie hat sich immer noch nicht in unser kleines Nachrichtennetz eingeloggt. Angeblich weil ihr Job als Superstar zu viel Zeit kostet."
"Ich schicke ihr eine Textnachricht", versprach Makoto. Sie eilten auf den Gang, und von dort zum Hauptportal, wo ein Elektrowagen auf sie wartete. Es war erleichternd zu wissen, dass so viele Menschen in Sorge um Akira aufbrachen, um ihn zu suchen. So viele Menschen sorgten sich um ihn... Ein Überschallknall ließ ihn zusammen zucken. Diese Geschwindigkeiten im begrenzten Innenraum der AURORA waren Wahnsinn und wurden nur von den Besten ausgeführt. Das auch nur in absoluten Notfällen. Oder wenn jemand wirklich viel Lust auf ein paar Wochen Stubenarrest hatte. "Fehlt nur noch, dass die Idioten anfangen rum zu ballern", knurrte Makoto.
"Mal den Teufel nicht an die Wand", mahnte Kei und stürmte durch die Fronttür.
***
Für den kronosischen KI-Agenten war es ein Leichtes, die Person zu verdrängen, die er beherrschte, als diese besondere Gelegenheit über die Bildschirme flimmerte: Akira Otomo auf der Flucht, und der Einsatz von Mechas wurde erlaubt. Es bedurfte nicht viel für ihn, um zwei Dinge zu tun. Einerseits verschleierte er seinen Eingriff in den Text des Befehls, so gut er es konnte, um keine Spuren zu seinem Wirtskörper zu zu lassen. Andererseits fügte er einen kurzen Satz an den Befehl an: Akira Otomo ist zu seiner eigenen Sicherheit mit allen Mitteln zu stoppen, notfalls mit Waffengewalt.
Danach ging der Befehl an alle militärischen Einrichtungen der AURORA. Egal, wie es ausging, der KI-Agent würde sich königlich amüsieren.


5.
"Du wolltest mich sehen, Eridia?", fragte Aria Segeste.
Eridia Arogad lächelte die Banges-Pilotin freundlich an. "Ja. Ich dachte mir, du würdest gerne auf der Brücke sein, wenn die KON den Sprung beendet."
Aria Segeste nickte dankbar, als die Admirälin ihr einen Sitzplatz neben ihrem Sessel anbot. "Sollte ich dann nicht eher bei meinen Banges sein? Ich meine, warum hast du uns sonst auf diesen Geheimtrip raus aus Kanto mitgenommen?"
"Oh, ich werde dich brauchen. Dich und dein Bataillon Banges. Wahrscheinlich schon sehr bald sehr bitter. Aber dieses Sonnensystem, in das wir nun springen, ist absolut sicher. Es besitzt keine Planetenfamilie, die Sonne ist nicht besonders massereich, aber sie besitzt eine eigene Schwerkraftsenke. Und sie ist der Stern, welcher Terra am nächsten steht."
"Das bedeutet, von hier haben wir nur einen lächerlichen Katzensprung nach Terra?"
"Etwas mehr als vier Lichtjahre, und wir sind da. Das System heißt Proxima Centauri. Ein roter Zwergstern dominiert es. Wie gesagt, es ist eigentlich vollkommen uninteressant. Und das macht es für uns so wichtig."
"Wenn du zur Erde unterwegs bist, Aria, warum hast du dann nicht mehr Schiffe mitgenommen? Warum nicht die komplette 5. Banges-Division? Warum nur mich und mein Bataillon?"
Eridia lächelte leicht. "Keine Sorge, ich habe für Ersatz gesorgt, bevor ich das Kanto-System verlassen habe. Wir haben ihn auf halber Strecke passiert."
"Die SANSSOUCI", erkannte Aria im Nachhinein.
"Richtig. Die KON ist ein sehr schnelles Schiff, modifiziert für den Betrieb mit AO. Es ist damit sogar einem Kreuzer überlegen, wenn die AO-Meister ausgeruht sind. Sie ist das ideale Schiff um schnell und unauffällig zu reisen. Ich bin Meisterin Tevell sehr dankbar für diese Leihgabe."
"Wenn unser Ziel die Erde ist, und wir nur mit einem Schiff reisen, warum sind wir dann zuerst nach Proxima Centauri gesprungen? Wir hätten durchaus gleich bis zur Erde springen können."
Die Halb-Arogad lächelte dünn. "Später, Aria. Zuerst muss ich dir etwas erklären. Nämlich was eine einzelne Person ausmachen kann, was sie bewirkt, was sie verändert. Ein einziger Soldat kann auch ohne ein Schiff einen Krieg entscheiden. Wenn er zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt wird. Das gilt für uns beide. Für dich, meine meisterliche Banges-Pilotin, und für mich, die alte Frau des Arogad-Hausmilitärs." Eridia taxierte Aria mit einem amüsierten Blick. "Ich warte auf deinen Widerspruch."
"Du bist doch überhaupt nicht alt, Eridia."
"Den meinte ich zwar nicht, aber schön, das aus dem Mund eines so jungen Menschen zu hören." Sie erhob sich und nickte in Richtung des Hauptschirms. "Meine Aufgabe beginnt jetzt bereits. Deine später, auf der Erde."
"Es scheint dein Hobby zu sein, besonders geheimnisvoll zu wirken", murrte Aria.
"Wir verlassen nun das Wurmloch, Admiral", meldete der Kapitän.
Der Bildschirm wechselte seine Ansicht und zeigte nun eine schematische Darstellung der Schwerkraftsenke von Proxima Centauri.
"Ortung, multiple Impulse, auf Höhe des Absprungpunkts nach Sol!", meldete der Ortungsoffizier. "Fünfundachtzig. Achtundachtzig! Dreiundneunzig!"
"Einkommender Funk mit Überlichtverbindung. Transponderdaten kommen durch." Der Funkoffizier sah erstaunt auf. "Das sind reguläre UEMF-Transponderdaten, allerdings finde ich keines der Schiffe in den Datenbanken."
"Abschließende Ermittlung der Zahl der Kontakte: Zweihundertacht. Erste aktive Ortung identifiziert sie als Schiffe aller Klassen. Design teilweise unbekannt."
"Nun, Kapitän?", fragte Eridia lächelnd.
"Keine Sorge, Meister Arogad. Ich bin weder dumm noch nachtragend. Öffne Kanal, um die verbündete Flotte zu begrüßen."
"Gut. Ich will sprechen, sobald die Kommunikation steht", sagte Eridia.
"Sie können, Admiral."
Sie nickte und machte einen Schritt auf den Hauptbildschirm zu. "Ich bin Admiral Eridia Arogad-Lencis. Die meisten von ihnen kennen mich. Die anderen werden zumindest von mir gehört haben. Ich begrüße die Dai, Daima und Daina, die sich auf meinen Ruf hin hier versammelt haben. Von hier wollen wir die Gefahr, welche die Götter für uns darstellen, ein für allemal beenden. Weitere Einheiten werden noch zu uns stoßen, bis wir die Zahl von fünfhundert Schiffen aller Klassen erreicht haben. Proxima Centauri wird uns für die nächsten Wochen als Sammelpunkt dienen, und für den Moment, in dem wir die Strafer der Götter im Heimatsystem der Terraner attackieren und ausradieren werden. Danach tragen wir den Krieg zu ihren Hauptwelten und beenden die Drohung ein für allemal. Gibt es Fragen?"
"TIMUR, Flaggschiff des Kantari-Verbandes, Komtar Illiges Omtu", klang eine leicht verzerrte Männerstimme über die Verbindung auf. "Wer wird die Ehre haben, all diese Schiffe in die Schlacht zu führen, Admiral Arogad-Lencis? Ich persönlich wäre mit Ihnen mehr als zufrieden."
"Es tut mir Leid, Sie zu enttäuschen, Illiges Omtu. Ich werde das Kommando nur führen, bis wir in Sol-System springen. Zu diesem Zeitpunkt wird unser mächtigstes Schiff, die AURORA ebenfalls ins System springen. Mit ihr wird der eigentliche Befehlshaber der Aktion zurück kommen."
Aria hielt es nicht mehr auf ihrem Sitz. "Akira", raunte sie.
Eridia nickte bestätigend. "Aris Arogad wird dann das Kommando führen. Sein Ruf sollte ihm mittlerweile mehr als voraus eilen."
Der Kapitän der TIMUR stieß ein raues Lachen aus. "Wohl eher seine Legende. Viele meiner Leute bezweifeln, das es so einen Soldaten überhaupt gibt. Sie denken, er ist eine Propaganda-Figur."
"Für die Götter wäre es sicherlich besser, wenn das wahr wäre", sagte Eridia gefährlich leise.


Epilog:
Helen Otomo rematerialisierte mit dem Gott Tarco Parhel inmitten vollkommener Dunkelheit.Der Gott hob sein Armband auf Augenhöhe und rief ein Hologramm auf, das diffuses Licht verbreitete. "Wir sind in der Garnison. Definitiv. Aber warum ist es hier dunkel? Sie sollte längst deaktiviert sein. Die ersten eintausend Schläfer müssen schon wach sein. Wir..."
"Eindringlinge in Abstellraum B 4!", rief eine raue Stimme. Eine Tür wurde aufgestoßen, und irgend jemand schoss blindlings durch die Öffnung.
Helen berührte den Gott und benutzte erneut die Ley-Linie, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Sie materialisierten auf einer hohen Galerie. Unter ihnen brodelte auf allen Ebenen das Leben, während die erwachten Schläfer mit Ausrüstung, Nahrung und Waffen ausgestattet wurden.
"Okay, hier schießt man und fragt anschließend", stellte Helen fest. "Das macht es uns nicht gerade leichter. Kannst du dich hier gegenüber jemandem ausweisen, Tarco Parhel?"
Der Gott runzelte die Stirn. Man sagte, für ein Lächeln brauchte man nur wenige Muskeln und kaum Kraft, während für ein Stirnrunzeln fast alle Muskeln im Gesicht benötigt wurden. Der Waffenoffizier war immer der Meinung gewesen, das sich der Mehraufwand mehr als lohnte.
"Ich weiß nicht. Zum ausweisen müssten sie mir erst einmal zuhören!"
"Da oben!"
Der Gott und der Key traten bis an die Wand zurück, als die ersten Energieschüsse an ihnen vorbei fuhren. Rote Flecken im Bodenbelag zeigten, dass die Erwachten auch auf den Laufweg schossen. Noch hielt das Material. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis es als geschmolzene, ultraheiße Masse zu allen Seiten spritzte.
"Wenn du etwas tun willst, wäre jetzt eine gute Gelegenheit", mahnte der Key.
Er vollführte das Zeichen der Bestätigung und holte tief Luft. "Mein Name ist Tarco Parhel, Dritter Offizier der RASHZANZ! Wir haben die Garnison geweckt, weil wir eure Kampfkraft brauchen! Wer hat den Befehl?"
"Den habe ich!", rief eine kräftige Männer-Altstimme. Ein kleiner, aber sehr breiter Gott kam an der Spitze einer voll ausgerüsteten Infanterieeinheit auf sie zu. "Du bist von der RASHZANZ, sagtest du, Tarco Parhel?"
"Das ist richtig. Und du bist?"
"Render Vantum, General dieser Truppen. Ist Rooter Kevoran immer noch Kapitän der RASHZANZ?"
"Er hat die Kryostase überlebt und das Kommando wieder an sich genommen", bestätigte der Waffenoffizier.
Der General machte ein missmutiges Gesicht. "Mit Rooter kann ich nicht. Er ist ein sturer Kommißkopf. Am besten erschießen wir euch einfach." Der Gott hob seine Waffe, die anderen Infanteristen folgten seinem Beispiel. Kurz darauf begannen die Waffen zornig zu summen, als sie ihre zerstörerische Energie entließen.
`Okay,´ ging es Helen Arogad durch den Kopf, `das ist neu. Die fragen und schießen trotzdem.´

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Anime Evolution: Krieg
Episode neun: Human kill Saints

Prolog:
Daisuke Honda mochte den Banges. Die Modulbewaffnung gab ihm so viele Möglichkeiten, so viele Variationen, dass es eine Freude war, auf einem zu fliegen. Die Menschen hatten den Vorteil der Banges natürlich erkannt, und mit dem Phoenix hatten sie ihren ersten eigenen Modul-Mecha erbaut, der zudem erheblich größer als ein Banges war. Kein Wunder, basierte er doch auch auf einem Daishi Delta, während man einen normalen Banges eher mit einem Daishi Gamma gleichsetzen konnte. Doitsu hatte sich natürlich gleich einen gekrallt, das war klar. Er musste ja seine mangelnden Pilotenfähigkeiten irgendwie ausgleichen und sich einen Mecha zulegen, mit dem es ihm leichter fiel, sein Bataillon zu koordinieren. Aber dass der Yakuza deshalb ihn als konservativ bezeichnete, weil er sich von seinem Red Team Banges nicht trennen wollte, war schon ein starkes Stück. Gut, gut, vielleicht würde er sich mit einem Phoenix anfreunden, irgendwann einmal. Doch bis dahin leistete ihm der Naguad-Mecha sehr gute Dienste. Und solange die Variationen des Phoenix noch nicht die Vielfalt eines Banges erreicht hatten, würde er ohnehin nicht wechseln.
Ein Alarmsignal seines Kommunikators riss ihn aus seinen Gedanken. Mist, und da hatte er gerade einmal nicht an Akira und den ganzen Mist gedacht, der ihm gerade passierte. "Honda."
"Hier ist Sarah. Wurdest du noch nicht alarmiert, Dai-chan?"
"Alarmiert wofür?", fragte er argwöhnisch.
"Akira ist aus dem Transfer zur ADAMAS ausgebrochen und bewegt sich auf die Stadt zu. Sphinx-sama, Okame-sama und Tyges haben versucht ihn aufzuhalten. Jetzt hat das Red Team Startfreigabe. Ich dachte, du wärst schon in deinem Mecha."
"Mich hat keine Nachricht erreicht. Ich wollte gerade Kei im Krankenhaus besuchen!"
"Oh. Das ist ganz schlecht."
"Das ist sogar richtig schlecht!" Daisuke begann zu laufen. "Hör zu, Sarah, ich bin gerade am Römischen Platz! Kannst du mich abholen und zum Westhangar bringen? Da steht mein Mecha."
"Du bist drei Kilometer von deiner Maschine entfernt?"
"Ich habe nicht unbedingt mit einem Zwischenfall gerechnet! Warum ist Akira überhaupt abgehauen?"
"Das haben sie nicht gesagt", räumte Sarah ein. "Sie wissen es wahrscheinlich selbst nicht. Hör zu, Dai-chan, ich bin selbst zu weit weg, aber Emi ist auf dem Weg. Sie wird dich rüber bringen."
"Ist Emi nicht hoch schwanger?"
"Sie ist eine Youma Slayer, und außerdem erst im sechsten Monat. Vertrau mir, sie wird dich schon sicher rüber bringen. Und dann schwinge dich in deinen Mecha und sorge dafür, dass nicht einer der Red Team-Leute aus Versehen auf Akira tritt."
Daisuke fühlte einen kalten Schauder über seinen Rücken gleiten. "Der arme Pilot. Der arme Banges."
"Äh, hallo?" "Später, bitte. Alles klar, Sarah, ich warte."
"Außerdem hat mir jemand eine Information zugesteckt! Demnach haben deine Leute Schießerlaubnis. Wenn du also einen im Team hast, der Akira nicht sonderlich mag, könnte es problematisch werden."
"Äh, Daisuke-san?" "Ich telefoniere gerade. Einen Moment, bitte. Nein, Sarah, bei meinen Leuten wüsste ich niemand, der Akira so sehr hassen würde. Aber da sind ja immer noch die KI-Agenten, und wenn sich einer von Akira bedroht fühlt, dann..."
"Äh, Daisuke-san?"
Entnervt drehte sich der Colonel der Stimme zu. "Was ist denn, zum Donnerwetter?"
Emi Sakuraba fuhr bei seiner lauten Stimme zusammen. Verlegen sah sie zu Boden. "I-ich meine ja nur... Ich soll dich doch zum Westhangar bringen."
Ungläubig starrte Daisuke das Mädchen an. Himmel, wie schnell war sie eigentlich? "Emi-chan ist hier, Sarah. Ich breche hier ab und melde mich später."
"Ist in Ordnung. Sag ihr noch mal lieben Dank von mir. Ich behalte Akira im Auge, irgendwie."
"Danke. Bis später." Daisuke trennte die Verbindung. Verlegen sah er Emi an. "Es tut mir Leid. Ich habe da heftig überreagiert. Es tut mir wirklich, wirklich Leid."
Das verlegene Gesicht verschwand und machte einem strahlenden Lächeln Platz. Allgemein galt sie nicht gerade als die hellste Slayer, aber das war nur Fassade. Er hatte selten eine Frau getroffen, die mit so wenigen Gesten und einigen eingestreuten Worten so viele Menschen gleichzeitig manipulieren konnte. Ob das nun eine natürliche Begabung war, oder ein Zeichen ihrer Intelligenz, stand außen vor. Man sollte sie jedenfalls niemals unterschätzen. "Können wir dann?"
Sie lächelte für ihn, und Daisuke fühlte sich nachhaltig manipuliert. Jetzt schon. Mist.
"Natürlich, Daisuke-san." Sie streckte die Rechte in die Höhe. "Slayer Power..."
Erst war es nur eine Art grüner Nebel, der diffus ihren rechten Arm herab wanderte, dann gab es einen Lichtblitz, und einen Augenblick später trug sie ihre KI-Rüstung.
Irritiert starrte Daisuke sie an. "Nanu? Was ist aus der netten Kombination aus Rock und Trikot geworden? Ich fand, schwarz stand dir immer sehr gut."
"Das Trikot ist so eng, und ich habe doch auch schon Bauch, jetzt wo der kleine Sakura so schnell wächst. Da ist eine Arogad-Hausuniform einfach bequemer."
"Aha. Gutes Argument."
"Wollen wir dann mal?", rief sie, und nahm den verdutzten Mecha-Piloten auf die Arme. Bevor er es sich versah, setzte sie zum Absprung an, und bevor die noch immer von der Verwandlungssequenz überraschten Leute blinzeln konnten, befand sie sich bereits auf dem Dach eines zwanzigstöckigen Gebäudes. Von hier sprang sie erneut, diesmal über eine Distanz von achthundert Metern. Daisuke machte sich klar, dass der Magical Youma Slayer-Express wahrscheinlich die schnellste Form des Reisens in der AURORA war. Nicht unbedingt die bequemste, aber gewiss die schnellste.

1.
Als ich mich übergab, macht ich zwei sehr interessante Beobachtungen. Mein Erbrochenes löste die Erde nicht auf, wenngleich es ein unappetitlicher Anblick war. Und mein Körper löste sie auch nicht mehr auf. Zwei interessante Informationen für mich, denn bisher war ich davon ausgegangen, dass ich den wahnwitzigen Vorgang, freies KI zu absorbieren und unwissentlich wieder zu entlassen, nicht steuern, geschweige denn ihn beeinflussen konnte.
Das freie KI, das von mir absorbiert und destruktiv freigesetzt wurde, zerstörte die magnetische Bindung der Moleküle in meiner Umgebung und war deshalb eine große Gefahr für mein Umfeld. Eine Gefahr, die mir mehr Übelkeit bereitete als die Säure aus meinem Magen, die sich in meinem Mund furchtbar anfühlte. Gab es einen Weg, diesen Prozess doch zu steuern? Ihn zu kontrollieren? Oder wenigstens zu manipulieren?
Ich wälzte mich auf die Seite, legte mich ins halbmeterhohe Gras der Wiese, auf der ich die Ley-Linien der AURORA wieder verlassen hatte. Sicher nicht, schalt ich mich. In der hohen Zeit der Dai hatte es mehrere Oren Maxus gegeben... Vielleicht Dutzende, Hunderte. Und alle waren sie irgendwann ausgetickt, oder als potentielle Gefahr getötet worden. Wenn sie sich nicht selbst ein Ende gesetzt hatten. Na toll, was für grandiose Aussichten für meine Zukunft. Ich war es ja gewohnt, dass mein Leben permanent in irgendwelche Gossen gespült zu werden drohte, und mehr als ein Dutzend Mal hatte ich den Tod vor Augen gesehen, nur um anschließend als strahlender Phönix aus der Asche wieder aufzuerstehen. Aber diesmal war ich mir ziemlich sicher, dass die Gefahr, die ich darstellte, größer war als mein Nutzen. Konnte ich überhaupt noch in Prime steigen, ohne ihn unwissentlich zu vernichten? Gut, Kitsune hatte mich im Umgang mit meiner KI-Rüstung trainiert, und notfalls konnte ich es mit bloßen Händen mit einem Hawk aufnehmen. Aber mit Prime schaffte ich es, ein halbes Dutzend aufzuwiegen. Ich stemmte mich hoch, sah flüchtig nach hinten, um mich zu vergewissern, dass die Dämonenkönige mir noch nicht auf den Fersen waren. Noch so eine Reise auf einer Ley-Linie gehörte sicher nicht zu den Dingen, die ich noch mal tun wollte. Nicht so bald, jedenfalls. Mein Respekt vor Sphinx wuchs auf jeden Fall - diese Frau reiste auf den Lokk-Linien, jenen magnetfeldartigen Strömungen, die Planeten, Monde und Sonnen miteinander verbanden. Ob es mit mehr Übung leichter wurde?
Ich betrachtete meine Hände. Sie hatten sich nicht verändert. Dennoch waren es diese Finger gewesen, die Kei regelrecht das Fleisch von den Fingern gefressen hatten. Ich fühlte mich wie eine moderne Version des König Midas, der mit dem Fluch belegt worden war, das sich alles in Gold verwandelte, was er berührt hatte. Schlecht, wenn man essen, trinken, schlafen, oder wenigstens bequem sitzen wollte. Der Legende nach hatte sich der König ein goldenes Heim geschaffen. Und in dem war er schließlich verhungert. Doch da war ich weit schlimmer dran, denn Midas hatte wenigstens einen großen Haufen Gold hinterlassen. Da wo ich wütete - unfreiwillig - hinterließ ich nur gasförmiges Plasma.
Die Situation war verworren, dramatisch verworren, und mein Verstand sagte mir, dass ich verdammt noch mal so schnell wie möglich auf die ADAMAS gehen sollte, einen Ort, der so gut wie kein natürliches KI erzeugte, weil die Besatzung von Bord gegangen war. Weil es keine hydroponischen Gärten an Bord gab. Weil ich dort allein war, niemanden unwillentlich töten konnte, wie ich es beinahe mit Kei getan hatte. Ich schluckte hart. Kei, verdammt, Kei! Einer meiner ältesten, besten Freunde wäre beinahe von mir aufgelöst worden. Was, wenn ich es geschafft hätte? Was wenn ich auch noch andere getötet hätte? Joan, zum Beispiel? Takashi, Tetsu, oder einen der anderen, die ihr KI nicht kontrollieren konnten? Was, wenn ich wie ein gigantischer Blob durch die Straßen von Fushida City gegangen wäre, eine Aura von Verderben und Tod um mich herum? Einem Mahlstrom auf zwei Beinen gleich? Und... Wäre ich eventuell nackt durch die Straßen gewandelt? Es wunderte mich ohnehin, dass meine Tarnklamotten noch immer nicht aufgelöst worden waren. Noch nicht? Ich atmete tief ein und drehte mich auf den Rücken. Vielleicht gar nicht. Vielleicht durfte ich sie behalten, egal nach welchen Kriterien die Realität in diesem Moment funktionierte. Das bedeutete auch, das ich noch immer die Tarnfarbe trug, die ich mir ins Gesicht geschmiert hatte, als ich mit meinen Freunden auf die Jagd nach dem geheimnisvollen Blue Lightning-Regiment gegangen war. Dass mir das ausgerechnet jetzt, auf der Flucht, einen gewissen Schutz bot, das war pure Ironie des Schicksals. Willkommene, tröstende Ironie. Irgendwie.
Über mir erstreckte sich der klare blaue holographische Himmel der AURORA, der von den überragenden Technologien der Anelph erschaffen worden war. Er erzeugte die Illusion eines unendlichen blauen Horizonts, während die holographische Sonne gerade grell genug war, damit man nicht in sie hinein sehen konnte. Das Licht, das eigentliche Licht in der AURORA, wurde vom gesamten Himmel erzeugt und gleichmäßig verteilt. Ich war immer stolz auf diesen Himmel gewesen, auch wenn er weder perfekt, noch von mir gemacht worden war. Tatsächlich konnte man hier und da die Lichter der Appartements sehen, die in die Seitenwände verbaut worden waren, und die nun keck durch das holographische Blau hindurch lugten und die Illusion Lügen straften.
Aber es war unser Himmel, unsere Illusion, unsere Lüge. Ich liebte sie. Ebenso wie diese Stadt, die so nahe war, dass ich glaubte, nur die Arme ausstrecken zu müssen, um jenes Hochhaus berühren zu können, auf dessen Dach ich mich offiziell mit Megumi verlobt hatte. Ich liebte diese Stadt. Ich liebte die Menschen, Anelph, die Leute aus dem Core, die Naguad, die Dai und Daima, die Iovan in unserer Begleitung. Das machte es mir nicht gerade leicht zu begreifen, wie unheimlich gefährlich mein Vorhaben war. Und wie egoistisch. Dennoch, wenn mir nicht erlaubt wurde, wenigstens diese eine Sache tun zu dürfen, wenn mir verweigert wurde, wenigstens einmal in meinem Leben so vollkommen egoistisch zu sein, dann musste ich an allem zweifeln, was ich bisher getan hatte. Was ich bisher geleistet hatte. Dann wäre es vielleicht besser gewesen, ich hätte mich den Kronosiern angedient. Oder mich nach Hawaii zurück zu ziehen, um dort mein eigenes kleines Königreich auszurufen. Oder im südchinesischen Meer auf einer einsamen Insel meinen eigenen Verein gründen sollen. Langsam wälzte ich mich wieder auf die Seite, stemmte mich hoch. Dieses eine Mal wollte, musste ich egoistisch sein. Musste ich die Welt drehen. Wenn nicht jetzt, dann würde der Menschheit ein wesentlich größeres Grauen drohen, als es nun schon durch die Entstehung eines Reyan Maxus drohte, der seine Kräfte nicht einmal für einen Wimpernschlag im Griff gehabt hatte. Und, bei allem was mir heilig war, bei allen Dämonenkönigen, bei alledem wofür ich bis zu diesem Moment gelebt hatte: Ich würde mein Ziel verfolgen. Ich würde bei allem was ich jemals erreicht hatte, bei allem was ich jemals erreichen würde verhindern, dass ein zweiter Reyan Maxus entstehen konnte. Jemand, der die gleiche Genetik hatte wie ich: Meine Schwester Yohko.
***
Als Daisuke Honda seinen Banges erreichte, registrierte er zu seinem Erstaunen, das bereits drei Maschinen aktiviert waren. Die Konfiguration der fehlenden Maschinen war leicht abzuschätzen; dafür brauchte er sich nur anzusehen, welche der einsatzbereiten Sets im Hangar fehlten. Sollte es ihn unruhig machen, das vor allem die Fernkampfwaffen für mittlere Distanz eingesetzt worden waren? "Danke, Emi. Ich weiß zwar nicht was hier gerade passiert, aber ich denke, es war höchste Zeit, das ich gekommen bin."
Der Hangarchief begrüßte ihn knapp und bündig und informierte ihn über die drei im Einsatz befindlichen Banges, sowie die Konfigurationen, die von Sergeant Tomlin, dem höchstrangigen Soldaten der Dreiergruppe, befohlen worden war.
"Haben sie Schießbefehl?", fragte Daisuke knapp, und versuchte einen kalten Schauder der Angst zu verhindern. Mechas die mit scharfen Waffen Jagd auf Akira machten, das war ein Horrorszenario.
"Sie dürfen sich verteidigen und verhindern, dass der Division Commander ihnen zu nahe kommt. Deshalb hat Tomlin Fernkampfwaffen befohlen. Sie wollen versuchen, ihn aus gewohnten Gebieten raus zu halten."
Daisuke knirschte mit den Zähnen. Das war zwar eine durchaus richtige Entscheidung, aber er hatte nicht ohne Grund gefragt. Konnte er Tomlin trauen? Bisher hatte sich der Amerikaner als guter UEMF-Soldat erwiesen, der eine überdurchschnittliche Leistung erbrachte. Aber was wenn er das Behältnis für einen kronosischen KI-Agenten war, und die Gelegenheit für einen tödlichen Angriff auf Akira nutzen wollte? Sie hatten längst nicht alle KI-Agenten auf der AURORA enttarnt. Und es stand zu befürchten, dass die AURORA während ihres halbjährigen Aufenthalts über der Erde vielleicht noch den einen oder anderen Agenten zusätzlich erhalten hatte. Ein wahres Horrorszenario.
Daisuke zog die Jacke aus, während er auf seinen Banges zulief. Den Druckanzug wehrte er ab, akzeptierte aber den Helm. Das ging ihm alles nicht schnell genug. Natürlich war es richtig, Akira davon abzuhalten, in Wohngebiete zu gelangen, solange er alles auflöste, was er berührte. Andererseits tat er selten etwas Unvernünftiges, und war noch seltener so egoistisch das Leben Anderer aus reiner Willkür zu gefährden.
Daisuke erklomm das Cockpit und startete die Aktivierungssequenz, während Emi sich neben ihm auf dem Notsitz nieder ließ. Fragend sah er die Slayer an.
Sie lächelte und winkte ab. "Du wirst Akira-chan sicher schneller finden als ich. Mit dir bin ich also klar schneller. Und du wirst einen KI-Meister brauchen, wenn du ihn gefunden hast."
Dieser Logik konnte er sich nicht widersetzen. Vielleicht wollte er das auch gar nicht, und gönnte sich das beruhigende Gefühl, eine KI-Meisterin an Bord zu haben. Seine eigenen Fähigkeiten in der KI-Kontrolle waren da eher moderat. "Kenji wird mich umbringen, sobald er hiervon erfährt", brummte er missmutig und schloss das Cockpit. Kurz darauf kam das Start-Zeichen aus dem Hangar. Er aktivierte die Düsen, hob den Mecha zwei Meter vom Boden ab und flog voran durch das große Tor in den Innenraum der AURORA. Nach einer kurzen Orientierung erfasste er die Positionen der drei Banges und hielt auf sie zu.
"Dai-chan", sagte Emi unvermittelt, "irgendwas ist da faul."
"Ich erfasse optisch die Einschläge großkalibriger Schüsse rund um eine einzelne Person", meldete die K.I. des Banges.
Da war tatsächlich etwas faul. War das noch Tomlins Versuch, Akira von der Stadt fern zu halten, oder hatten sie es hier schon mit versuchtem Mord zu tun? Wenn sich die Banges nämlich nicht sehr zurückhielten, dann hatte es mal einen Akira Otomo gegeben. Und er wollte dann nicht in der Haut des ausführenden Schützen stecken. Vor allem nicht wenn er daran dachte, was alleine er diesem Unglücksraben antun würde. "Kanal zu den Banges!", befahl er ernst. Es wurde Zeit, einzugreifen, bevor Akira noch etwas passierte. Es gab nur einen Menschen, der jemals Auge in Auge mit einem Mecha gekämpft hatte, ohne selbst in einem zu sitzen, und auch noch die Frechheit besessen hatte zu gewinnen. Das war Joan Reilley, der einzige Mensch, der als vollwertiger Cyborg der Kronosier bezeichnet werden konnte. KI-Rüstung hin, KI-Rüstung her, Akira konnte das nicht, definitiv nicht.
Zumindest glaubte Daisuke das, bis einer der Banges mittig getroffen und mehrere Dutzend Meter nach hinten geschleudert wurde.
"Da stimmt was ganz und gar nicht", murmelte Emi. In ihrer Stimme klang Furcht auf.
"Verbindung steht, Colonel", meldete die K.I., aber Daisuke war sich überhaupt nicht mehr sicher, was er den Leuten sagen sollte.
***
Im Otomo-Anwesen war es derweil recht still. Die meisten Bewohner waren ausgeflogen, und nur Jora Kalis hütete das Haus und den kleinen Laysan. Sie, und etwa ein halbes Dutzen der KI-Biester, die Yoshi erschaffen hatte. Man konnte sich an sie gewöhnen, ehrlich. Aber leicht war es nicht, unvermittelt einem Braunbären in die Arme zu laufen. Oder plötzlich vor einem Wolf zu stehen, egal wie friedlich er sich gab.
Eigentlich war die Aufgabe recht erfüllend, fand Jora. Und wenn sich für sie die Gelegenheit und der Partner ergab - irgendwann einmal - zweifelte sie nicht daran, dass sie sich auch eine eigene kleine Familie wünschte. Irgendwo auf der Erde, vielleicht, nicht unbedingt im Familienclan. Wie besitzergreifend das Haus Daness war, konnte sie ja von ihrem Logenplatz mit Sicht auf Megumi mehr als deutlich erleben. In der Familie Kalis spielte sie zwar nur eine sekundäre repräsentative Rolle, aber immerhin war sie KI-Meisterin, wenngleich keine inoffizielle offizielle aus Meisterin Tevells Stall. Wenn sie daran dachte, dass einst ihre Kinder als wertvolle Werkzeuge der Politik angesehen werden würden, drehte es ihr den Magen um.
Als die Türklingel ging, zuckte sie zusammen. Sie fühlte sich ertappt und verraten. Ärgerlich erhob sie sich, sagte ein paar beschwichtigende Worte zum kleinen Laysan, der gerade seine Hausaufgaben machte, und ging zur Tür.
Als der Gast eintrat, war sie ehrlich überrascht. "Das habe ich jetzt allerdings nicht erwartet. Komm doch herein, Sostre Daness."
Der große schlanke Mann nickte ihr dankbar und beinahe etwas sachlich zu. Eine Spur zu kalt, um etwas für ihn empfinden zu können, ging es ihr durch den Kopf. Ein frustrierender Gedanke, wenn sie sich vergegenwärtigte, wie sehr Sostre auf seine Cousine Megumi fixiert war. Ob er in Megumi alias Solia verliebt war? Ein dummer, unnützer Gedanke, vor allem wenn sich gleich darauf die Idee in ihren Hinterkopf schlich, dass sie dann vielleicht wegen der großen Ähnlichkeit zwischen sich und Megumi tatsächlich noch Chancen bei ihm hatte.
"Danke." Er zog seine Straßenschuhe aus und trat ein. Sostre war schon oft Gast in diesem Haus gewesen, hatte das Angebot hier ebenfalls einzuziehen jedoch stets abgelehnt. Soweit Jora wusste bewohnte er eine Dachgeschosswohnung in der Innenstadt, und hielt sich ansonsten auf Abruf als Berater der Expeditionsleitung zur Verfügung. Vielleicht gefiel es ihm einfach allein zu leben, nachdem sein ganzes bisheriges Leben im Daness-Turm alles gewesen war, nur nicht einsam.
"Du machst dir keine Sorgen um Akira?", fragte Sostre.
"Akira? Warum fragst du?" Sie führte den Gast in das Wohnzimmer. Laysan sprang freudig auf und lief auf den hochrangigen Daness zu, um ihn zu umarmen. Er mochte Sostre, und bislang hatte der Junge eine erstaunlich gute Menschenkenntnis bewiesen.
"Dann hast du noch nichts davon gehört?" Sostre strich dem Jungen über den Kopf, machte aber keinerlei Anstalten, am Tisch Platz zu nehmen. "Akira ist zur Gefahr geworden."
Erstaunt sah Jora auf. "Wie das?"
"Sein Aufstieg zum Reyan Maxus hatte nicht nur gute Seiten - und die Dämonen haben das gewusst. Sie haben damit gerechnet, dass er irgendwann die Kontrolle über seine Kraft verliert. Aber das es so schnell geht, hat wohl niemand geahnt."
Laysan verstand nicht alles, wohl aber das etwas mit Akira nicht in Ordnung war. Mit großen fragenden Augen sah er den schlanken Mann an.
"Gehe mit Spike und den anderen spielen, Laysan", sagte Jora streng.
"Aber es geht um Akira!", begehrte der Junge auf. "Er ist doch nicht wirklich eine Gefahr, oder? Ich meine, mit den kaiserlichen Truppen ist er immer sehr ruppig gewesen, und einer der Lencis-Admiräle hat mal gesagt, Akira wäre eine ernsthafte Gefahr für die ganze Galaxis..." Verzweifelt versuchte der Junge den Widerspruch zu verstehen. "Ihm passiert doch nichts, oder?"
Wieder strich Sostre dem Jungen über den Kopf. "Nein, Laysan. Nicht so lange Jora und ich etwas dagegen tun können. Und jetzt gehe mit Spike spielen, ja?"
Unsicher nickte der Junge. Doch dann folgte er dem KI-Hund, der bereits in den Garten hinaus trottete.

"Was genau meinst du mit Gefahr?", hakte Jora nach.
"Normalerweise, wertes Cousinchen, sollten die Kräfte eines Reyan Maxus irgendwann in der Zukunft außer Kontrolle geraten. In zwei Jahren, in zweihundert Jahren, je nachdem wie stark und wie intensiv er sich mit seinem AO beschäftigt, beziehungsweise bis er es nicht mehr kontrollieren kann. Ein Maxus ist besonders mächtig, weil er nicht nur sein eigenes AO kultiviert, sondern auch freies AO absorbiert. Ein menschlicher Körper kann überschüssiges eigenes AO abbauen, auch wenn das problematisch und schmerzhaft ist. Fremdes, das er nicht verwerten kann aber strahlt er wieder ab. Das Problem bei einem Reyan Maxus ist, dass dies über seine Aura erfolgt. Manche Reyan Maxus sind an Auskühlung gestorben, andere wurden von ihren Auren aufgehitzt, bis sie starben. Wieder andere aber gaben ihr fremdes AO auf destruktive Art von sich. Sie lösten die molekulare Bindung der Materie um sich herum auf. Das geschah aber meistens erst nach vielen Jahren, in denen sie fremdes AO absorbiert hatten. Einige lernten damit umzugehen, es für weitere wertvolle Jahre zu unterdrücken, zu kontrollieren. Andere wurden auf sogenannte Kommandoschiffe verbannt, ungemein mächtige Einheiten, die exakt auf einen Reyan Maxus zugeschnitten waren."
Jora wurde blass. "Moment, Sostre, das erinnert mich an etwas. Als Akira und Torum draußen auf den Feldern gekämpft haben, damals als die Anelph mit Hilfe des Resonatortorpedos eingefroren wurden, da haben sich die beiden mit ihren Auren durch den Erdboden gefräst. Du willst mir doch nicht etwa sagen...?" Entsetzen legte sich auf ihre Gesichtszüge.
"Ja, Akira ist der destruktive Typ, der sein absorbiertes AO als destruktive Aura abgibt. Er ist vor einiger Zeit zusammengebrochen und hat Kei Takahara mit seiner Aura schwer verwundet. Daraufhin haben unsere Dai beschlossen, ihn auf die ADAMAS zu schaffen, die gerade geräumt wird. Akira aber entkam ihnen. Er ist auf dem Weg nach Fushida City."
"Aber... Warum? Du hast gesagt, so etwas passiert nach Jahren, nach Jahrhunderten?"
"Ich weiß es nicht. Ich habe mit Maros Jorr gesprochen, unserem stärksten AO-Meister unter uns Naguad. Er meint, das Akira manipuliert worden sein könnte. Oder das Faktoren hier eine Rolle spielen, die wir noch gar nicht einschätzen können. Himmel, sein Körper und sein Geist waren fast ein Jahr voneinander getrennt! Und dann hat ein uralter Dai im Paradies der Daina und Daima Akira beinahe getötet, indem er seinen Geist vom Körper gewaltsam getrennt hatte.
Es gibt dieses Sprichwort unter den Menschen: Was mich nicht umbringt, macht mich nur noch stärker. Ich fürchte, diese Erfahrungen haben Akira stärker gemacht. Viel stärker. Unglaublich stärker. Und diese Stärke kann er nicht mehr kontrollieren. Deshalb ist er jetzt ein außer Kontrolle geratener Reyan Maxus, und gehört an einen Ort mit möglichst wenig freiem AO, nämlich der ADAMAS."
"Aber stattdessen ist er auf den Weg hierher. Weiß er, was er mit jedem einzelnen Schritt anrichtet? Weiß er, was er Kei angetan hat?"
"Natürlich weiß er das. Er war nicht geistig umnachtet, als er Sphinx, Okame und dem West End-Dai entkommen ist. Er hat gewusst was er tat. Er hat ein Ziel, Jora, ein Ziel das wir nicht kennen. Und das er uns nicht mitteilen kann, solange wir ihn einerseits jagen und er sich andererseits nicht aufhalten lässt. Und wer weiß, wenn er wirklich manipuliert wurde, dann vielleicht nicht nur sein Körper, sondern auch sein Verstand. Dann ist er eine wirkliche Gefahr für uns." Ernst sah Sostre die Kalis an. "Jorr hat mich zu dir geschickt, Jora. Er sagte, du bist die einzige Person, die meine brennende Frage beantworten kann."
"Und was ist deine brennende Frage im Angesicht dieser Katastrophe, Sostre?", fragte sie mit matter Stimme.
"Denkst du, Antrovil würde etwas bei Akira bewirken? Maros Jorr hat gesagt, dass du die medizinischen Kenntnisse über das AO hast, um das zu beurteilen."
"Unsinn! Antrovil stärkt das Bo, während es das Jong massiv reduziert. Man setzt es bei Verletzungstrauma ein, oder in größeren Dosen, um KI-Meister..." Sie stutzte. Stutzte erneut. "Sora."
Vom Flur kam die Fioran-Attentäterin herein. "Ja?"
"Wo kommt die denn plötzlich her?"
"Sie versteckt sich hier vor Akira", erwiderte Jora amüsiert. "Der einzige Ort, wo er nicht sofort nach ihr suchen würde. Er ist ihr und den ganzen anderen mit dem Blue Lightning-Regiment auf die Schliche gekommen, und deshalb hat er sie für ein paar Antworten gesucht."
"Oh. Ja, das erklärt einiges."
Jora lächelte leicht. "Sora Fioran, haben wir Antrovil an Bord der AURORA, oder können wir es kurzfristig herstellen?"
"Ich werde das sofort in Erfahrung bringen, Jora." Mit einer schnellen, fast flüchtigen Bewegung war sie wieder im Flur, und nichts ließ mehr darauf schließen, dass sie kurz zuvor noch im Wohnzimmer gewesen war.
Sostre pfiff anerkennend. "Ich komme nicht aus dem Staunen heraus, egal wie oft ich mit ansehe, was ein Naguad vollbringen kann, auch ohne Kontrolle über sein AO zu haben. Sora Fioran ist ein verdammtes Gespenst."
"Und ein überaus nützliches." Sie sah Sostre in die Augen. "Suche nach einer Möglichkeit, nahe an Akira zu kommen. Sora macht den Rest. Sorge dafür, dass die wenigstens irgendjemand zuhört. Und prüfe deinen Verdacht. Ist Akira nicht ansprechbar, oder logischen Argumenten nicht zugänglich, ist er eine Gefahr für uns alle."
Sostre nickte und erhob sich wieder. "Auf dich ist Verlass, Cousinchen. Ich weiß das zu schätzen. Du passt weiter auf Laysan auf?"
"Sollte ich die Notwendigkeit oder die Chance sehen, selbst einzugreifen, werde ich das tun. Die sehe ich aber nicht." Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. "Und glaube mir, ich würde zu gerne helfen."
Sostre nickte schwer. Er ging zu Jora herüber und drückte ihr einen Kuss auf die rechte Wange. "Ich biege das schon wieder alles hin. Versprochen."
"Männer", tadelte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen. "Im Versprechen geben sind sie immer groß."
"Ich bin auch ziemlich gut im einhalten", erwiderte Sostre. Er lächelte ihr noch einmal zu. Wie immer hatte er sich nicht gerade den leichtesten Weg ausgesucht.


2.
Tarco Parhel hatte in seinem Leben schon viel erlebt, schon vieles gesehen. Seine Kryostase hatte Jahrzehntausende betragen, und hätte ihn von einem Krieg in den nächsten befördern sollen. Er hatte die letzten Kämpfe zwischen Dai und Göttern mit erlebt, war dabei gewesen, als die RASHZANZ als Kontrollinstanz auf der Welt mit der mächtigsten Daimon versteckt worden war, hatte gesehen, wie sich beide Seiten Zähneknirschend im Angesicht der drohenden gegenseitigen Vernichtung geeinigt hatten, ausradiert und eingeschränkt, wie zwei Völker nach dem Aderlass ihres brutalen Krieges nur hatten sein können. Er hatte mit tapferen Soldaten gedient, mit Feiglingen, mit vielen sehr durchschnittlichen Menschen, die dafür aber andere Vorzüge gehabt hatten. Er hatte die Besten gesehen, die Schlechtesten, die Masse des Durchschnitts, und das in mehrerlei Hinsicht.
Und er hatte schon vor sehr langer Zeit, der eigenen wohlgemerkt, und nicht der abstrakten tatsächlich verstrichenen Zeit, akzeptiert, eines Tages einen gewaltsamen Tod zu sterben. Als der renitente General den Feuerbefehl gab, glaubte er für einen Moment diesen Augenblick gekommen zu sehen. Er hielt sich für tot, denn einen Laserstrahl konnte man weder sehen noch spüren, wenn er ein schönes Loch in den Körper stanzte. Traf er was Wichtiges, verdampfte er zum Beispiel das Herz, dann sorgten Schock und Trauma für einen schnellen Tod. Merkwürdigerweise war er eine Sekunde später immer noch da. Auch in der Sekunde darauf. War er womöglich nur schwer verletzt? Aber warum kippte er dann nicht längst in Richtung Boden, oder taumelte über die Brüstung weit in die Tiefe der Kryo-Einrichtung, um ganz unten als großer Haufen biologischer Überreste zu enden?
Überrascht blinzelte er, als auch nach weiteren zehn Sekunden weder Tod noch Schmerzen noch totaler Kontrollverlust über seinen Körper eintraten. Dann sah er zur Seite, zum Key. Aber die junge Daima war nicht mehr da. Mit einem Gefühl der Verwirrung suchte er sie, und entdeckte sie schließlich auch. Mit beiden Armen und einem Bein hielt sie die Läufe der Laserwaffen nach oben gedrückt, und die Soldaten einschließlich ihres Generals Render Vantum waren nicht in der Lage, sie wieder herab zu nehmen. Zumindest nicht in den ersten siebzehn Sekunden nach dieser überraschenden Entwicklung.
"Nun gehe endlich in Deckung!", zischte die Daima ärgerlich, und dem Waffenoffizier dämmerte, dass sein Leben doch recht schnell vorbei sein würde, wenn er jetzt nicht schnell reagierte. Seine Ausbildung übernahm wieder, und er dankte der Tatsache, das die Kryostase für die Infanteristen dieser Anlage erst vor kurzem aufgehoben worden war. Er hatte also ganz klar einen Beweglichkeitsvorteil. Hastig warf er sich gegen eine Tür, die nach einem Druck auf den Schlosssensor tatsächlich nachgab. Sie entließ ihn in ein Treppenhaus.
Hinter der Tür kniete Parhel nieder, während der erste Infanterist fluchend seine Waffe frei bekommen hatte, um ihm einen feurigen Gruß in die Türzarge hinterher zu schicken.
Tarco zog seine eigene, entsicherte sie und hielt sie feuerbereit. "Komm jetzt, Key!", rief er, bereit, aus der Tür zu springen, und ihre Flucht zu decken.
"Key?", klang die Stimme des Generals auf. Es schwang Unglauben mit. "Warum sollte ein Gott der Key des Paktes mit den Dai werden?"
Überrascht hätte Tarco Parhel beinahe um die Tür gelinst, um den Infanteristen eine gute Zielscheibe zu bieten. Guter Versuch, General, verdammt guter Versuch.
Links von ihm materialisierte der Key. Sie rieb sich die Arme. "Verdammt kräftig, ihr Götter."
Parhel hätte laut lachen mögen. Die wahre Kräftige hier war Helen Arogad, die es mit vier ausgebildeten Soldaten in Kraftverstärkenden Rüstungen aufgenommen hatte. Zwar nur für ein paar Sekunden und eine kleine Schreckzeit, aber so etwas hatte der Waffenoffizier der RASHZANZ noch nie zuvor erlebt.
"Nette Idee, General Vantum!", rief Tarco durch die Tür. "Darf ich durch Ihr Verhalten davon ausgehen, dass Sie sich den Dai ergeben werden, anstatt Ihren Auftrag auszuführen?" Wenn das wirklich der Fall war, dann mussten sie schleunigst ein paar Götter finden, die den alten Auftrag erfüllen wollten. Notfalls musste Vantum abgesetzt werden. Oder, wenn das nicht möglich war, jeder Kampfeswillige Gott auf der einen Seite, und die Verräter auf der anderen Seite versammelt werden.
"Das ist hier doch überhaupt nicht die Frage!", blaffte Render Vantum zurück. "Viel wichtiger ist, warum ein Gott als Key dient! Habt ihr idiotischen Offiziere der RASHZANZ euch auch nur ansatzweise über die politische Lage auf Lemur informiert? Seid ihr überhaupt sicher, dass wir hier gegen Dai und Daina kämpfen, und nicht gegen eingewanderte Götter?"
Das brachte Parhel für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht. "Wir kämpfen gegen Dai, Daina und Daima. Sie sind alle in ansprechender Zahl auf dieser Welt vertreten. Wir wurden vorzeitig geweckt, weil die Dai den Vertrag gebrochen haben. Und jetzt suchen wir nach einem Weg, um diese Welt zu vernichten. Wenn möglich ohne das wir uns ebenfalls vernichten!"
"Und dennoch ist der Key ein Gott", erwiderte Vantum beharrlich.
Parhel wurde ärgerlich. "Die Kryostase ist Ihnen wohl nicht bekommen, General, wenn Sie schon eine Daima-Frau mit einem Gott verwechseln!"
Render Vantum lachte laut auf. "Ich habe nie behauptet, dass sie ein reinrassiger Gott wäre. Sie ist ein Mischling, sonst könnte sie den Key niemals tragen. Aber hast du das Aura-Lesen verlernt, du dummer Schiffsoffizier?"
Aura-Lesen? Das war Aberglaube, mystifizierter Unsinn hoch fünf. Daran zu glauben war beinahe so verwerflich wie AO-Kontrolle zu erlernen, um wie die großen Hunde der Reyan Maxus zu ihren übelsten Zeiten Welt auf Welt zu vernichten. "Auf der RASHZANZ sind wir nicht abergläubisch!", rief er zurück.
"Mag sein, aber anscheinend etwas einfältig", erklang die Stimme des Generals nun direkt hinter ihm. Die warme Mündung eines feuerbereiten Lasers legte sich auf seinen Hinterkopf und begann damit, sich in seine Haare zu schmoren.
Langsam ließ Tarco Parhel seine Waffe fallen. Ebenso langsam wandte er sich um. Okay, sie wollten ihn nicht sofort töten. Er sah zum Key herüber, die nun nicht nur aus dem Treppenhaus, sondern auch von vorne durch die Tür in die Zange genommen wurde.
"Mach dir keine Hoffnungen. Ich will immer noch nicht mit deinem Kapitän zusammen arbeiten. Aber wir haben einen gemeinsamen Feind. Und ich bin neugierig auf den Key." Der General senkte die Waffe, nachdem einer seiner Leute Parhels Pistole an sich genommen hatte. "Ich brauche einen Mediker mit mobilem Labor hier. Sofort." Der General lächelte Helen Arogad freundlich an. "Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Im Gegensatz zu diesem Idioten von der RASHZANZ bist du vollkommen sicher. Ich war noch nie ein Freund von Zwang, Vorschriften und gesellschaftlichen Etiketten."
"Wieso kann ich das nicht glauben?", erwiderte die Arogad spöttisch. "Abgesehen davon das ich den Key in mir trage und deshalb konditioniert bin, bleibe ich immer noch Feind der Götter."
Vantum sah sie sehr ernst an. "Du bist selbst ein Gott", sagte er in einem vollkommen sachlichen Ton. "Ein Mediker mit Analyseausrüstung wird gleich hier sein, und meine Worte bestätigen. Dann wirst du einsehen, dass du als Mischling zwischen den Stühlen sitzt."
Der Mediziner trat ein. Er wurde vom General kurz instruiert, dann begann er mit seiner Arbeit. Eine Hautschuppe des Key reichte ihm für eine Analyse der DNS-Struktur der Humanoiden. Das Ergebnis brauchte nur ein paar Minuten. Als der Mediziner aufsah, wirkte er erstaunt. "Es ist ein offenes Geheimnis, das wir Götter von den Daima abstammen", sagte er in mit Erschütterung in der Stimme. "Unser Genom hat sich fast zehntausend Jahre selbstständig entwickelt, deshalb hat es viele eigene Charakteristika angenommen. Diese Frau hier hat siebzig Prozent dieser für uns typischen Charakteristika in ihrem Genom. Sie ist fast zu drei Vierteln ein Gott."
Tarco Parhel schnaubte überrascht. "Du hast das gesehen, General?"
Vantum nickte ernst. "Ich habe dir gesagt, dass ich das Aurasehen beherrsche. Ihre Aura sieht mehr nach einem Gott als nach einem Daina aus. Ich fand das interessant genug, um es mir bestätigen zu lassen. Wie sicher ist dieses Ergebnis?"
Der Mediziner wirkte leicht verunsichert. "Ich werde es im Labor überprüfen. Aber ich bin mir sehr sicher, dass meine Diagnose richtig ist."
"Unsinn", sagte Helen Arogad bestimmt. "Damit das korrekt sein kann, müssten alle Naguad ja eigentlich Götter sein. Drei Viertel meines Erbguts sind Naguad, ein Viertel ist Iovar."
"Hast du Informationen über diese Völker, Tarco Parhel?", fragte der General.
"Rudimentäre. Beide Völker sind seit einiger Zeit Verbündete des größten Kriegers dieses Planeten. Beide gelten als Daima." Zweifelnd sah er die Naguad an. "Ich will die Prüfung an einem größeren Analysegerät. Wenn das wahr ist, dann müssen wir im schlimmsten Fall das ganze Volk der Naguad als Götter einstufen."
"Wie viele Naguad gibt es denn über den Daumen?", fragte der General Helen.
"Etwas über zwanzig Milliarden. Ich bin da nicht ganz auf dem Laufenden. Aber viele von ihnen haben unsere Genetik aufgeprägt bekommen, das macht eine klare Zahl recht schwierig."
"Sie haben also Daina und Daima mit ihrer Genetik adaptiert." Vantum lachte laut und rau auf. "Das klingt nach etwas, was ein Gott tun würde. Hole deine Gegner auf deine Stufe, und sie rebellieren nicht mehr gegen dich." Amüsiert sah er Tarco Parhel an. "Wie viele Naguad gibt es auf diesem Planeten?"
"Nicht sehr viele. Lemur verzeichnet höchstens ein paar tausend von ihnen, aber fast sechs Milliarden Daina."
"Und habt ihr deren Genetik bereits überprüft? Ich möchte ungern gegen Götter antreten. Verdammt, ich hatte von vorne herein ein schlechtes Gefühl, seit ich aufgewacht bin."
"Wir haben das nicht geprüft", erwiderte Parhel kühl. "Die Erweckung des Keys war ein eindeutiges Zeichen für das Wirken der Dai."
"Ach ja. Und ihr hattet einen Key unter der Nase, der in Wirklichkeit ein Kind der Götter ist." Böse sah Vantum den Offizier an. "Ohne es zu merken! Geschweige denn sie zu prüfen!"
Tarhel zuckte leicht zusammen bei diesem Tadel. "Es gibt definitiv Dai auf dieser Welt", zischte er ärgerlich. "Und sie haben den Vertrag gebrochen. Sie haben sogar einen Reyan Maxus erschaffen. Es herrscht hoffentlich kein Zweifel darüber, dass die Dämonen sowohl die Feinde der RASHZANZ als auch Eure Feinde sind, General."
"Darüber sicherlich nicht. Aber eines interessiert mich gerade sehr: Wisst ihr zufällig, wer der Reyan Maxus ist? Oder wurdet ihr nur über seine bloße Existenz informiert?"
"Es ist ihr mächtigster Krieger. Er..." Tarhel wurde blass. "Er ist der Sohn des Key."
"Also, jetzt wird es interessant." Vantum sah Helen in die Augen. "Stimmt das? Ist dein Fleisch und Blut wirklich so arrogant, sich als stärkster Krieger Lemurs zu bezeichnen?"
Die junge Arogad atmete ärgerlich aus. "Erstens heißt diese Welt heute Terra oder Erde. Und zweitens bezeichnet mein Sohn sich niemals als stärkster Krieger Terras. Das tun immer andere für ihn."
"Weißt du, was es bedeutet, wenn ein Abkömmling der Götter ein Reyan Maxus wird, Parco Tarhel? Weißt du, was das für uns alle bedeutet?"
"Ich heiße Tarco Parhel, General", erwiderte der Offizier störrisch. "Und wir wissen beide, was mit ihm passiert. Er wird eine tickende Zeitbombe, die mit einem unglaublichen Knall untergehen wird. Unsere Experimente mit Göttern, die im AO geschult wurden und selbst Reyan Maxus wurden, sind eindeutig. Das Talent der Götter für AO ist zu groß. Sie absorbieren zu viel. Sie verbrennen innerlich daran. Und dann vernichten sie alles in ihrem Umkreis. Viel schneller und viel stärker als die Maxus der Dai."
Helens Hände ballten sich zu Fäusten, als sie diese Worte hörte. Auch wenn sie unter der Konditionierung des Keys stand, das Schicksal, das Akira hier prophezeit wurde, gefiel ihr überhaupt nicht.
"Auf jeden Fall wird er große Schwierigkeiten haben", erwiderte der General. "Man wird sehen, ob uns in ihm ein großer Gegner erwächst, ein zukünftiger Verbündeter, oder ein weiteres bedauerliches Opfer in unserem Konflikt zwischen Dai und Göttern."
"General, wir sind dann bereit für den Ausfall."
Vantum nickte dem Adjutanten zu, der leise an ihn heran getreten war, um ihn zu informieren. "Gut. Haltet euch bereit. In zwanzig Minuten verlassen wir die Anlange und beziehen Position rund um die abgestürzte RASHZANZ. Wir bleiben defensiv, vorerst."
"Ausfall? Ich dachte, nachdem ihr auf uns geschossen habt, dass..."
"Dass wir unsere erste Pflicht vergessen haben? Dass wir uns nicht mehr daran erinnern, was die Dai, einmal losgelassen, mit den Welten des Konglomerats getan haben? Was sie noch hätten tun können, wenn der Vertrag sie nicht gestoppt hätte? Kriege dich wieder ein, Parco Tarhel. Wir haben uns nur ein wenig mit dir amüsiert. Allerdings habe ich eine Wette verloren. Ich habe darauf gesetzt, dass du dich einpinkeln wirst, wenn wir auf dich schießen."
"Das... Das... Ich habe die volle Kontrolle über meine Körperfunktionen!", rief er ärgerlich. "Und ich heiße Tarco Parhel! Nehmt ihr uns von der RASHZANZ überhaupt ernst?"
"Bleib ruhig, Offizier von Rooter Kevoran. Sei froh, dass wir schnell rausgefunden haben, wer hier mitten in der hochsensiblen Aufwachphase aufgetaucht ist, bevor wir dich und den Key wirklich ausgelöscht haben. Da hat nicht wirklich viel gefehlt."
"Eine unzureichende Rechtfertigung!"
"Die einzige, die du kriegen wirst, Parco Tarhel. Und jetzt lass dich auf dein Schiff zurückbringen, um Kevoran von unserem Angriff zu erzählen. Ich will nicht, das er auf meine Leute feuert."
"Was ist mit Andeema Turak passiert? Ich hatte erwartet, das sie das Kommando führt."
"Was wird wohl mit ihr sein? Sie ist tot. Sie hat die Kryostase nicht mitgemacht und die Anlage verlassen, nachdem wir alle eingefroren waren. Sie ist schon vor ewigen Zeiten da draußen im Götterland irgendwo gestorben. Wahrscheinlich hatte sie bessere Tage als wir alle." Der General fixierte Helen mit ernstem Blick. "Key, komme sofort zurück, sobald du Parco Tarhel auf die RASHZANZ gebracht hast. Ich will, dass du für weitere Tests zur Verfügung stehst, um alle Zweifel auszuräumen. Wir müssen sicher sein, was wir mit dir tun, was wir mit deinen Leuten tun. Und jetzt geh."
Helen nickte, und ergriff die Hand des Waffenoffiziers. Der sagte ärgerlich, kurz bevor die Arogad auf die Ley-Linien sprang: "Ich heiße Tarco Parhel, verdammt!"
***
"Ich kann die AO von hier aus orten", sagte Eikichi Otomo ernst.
Dai-Kuzo-sama verzog ihr Gesicht zu einem dünnen Lächeln. "Es war erforderlich, sie zu aktivieren." Sie hob abwehrend die Rechte. "Keine Sorge, wir werden sie nicht eine Sekunde länger benutzen als unbedingt notwendig. Und wir setzen die Waffen nicht ein. Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Wir setzen hier und heute mehr auf die Kraft der Dämonen, nicht auf die Kraft der mechanischen Waffen."
Eikichi blieb skeptisch. "Das Feindschiff ist kein Strafer. Es ist größer, gewaltiger, stärker. Und seine Insassen, sofern es überhaupt welche gibt, haben schon gegen Dai gekämpft. Vielleicht bleibt dir keine andere Wahl, und du musst die Waffen der AO einsetzen, Dai-Kuzo. Wen wirst du dafür opfern? Dich selbst vielleicht? Ich schaffe gerade alles herüber, was mir möglich ist. Selbst die Amerikaner zeigen sich großzügig, nicht zuletzt dank ihres Interimspräsidenten Dean Richards. Sie senden uns mehrere Kampfgruppen von Hawaii und San Diego. Wenn es irgendwie geht, warte bis sie da sind. Es gibt nicht unendlich viele Dai, aber sehr viel mehr Mechas und Piloten auf der Erde."
Dai-Kuzo lachte rau. "Soll ich von den Menschen verlangen, was ich von meinen Dämonen nicht zu fordern bereit bin, Eikichi? An Mut mangelt es keinem von uns. Und wir kennen unsere Aufgabe, denn immerhin haben wir sie mit in diese Zeit gebracht. Aber vorerst versuchen wir es auf den konventionellen Weg. Tora versucht mit einer Gruppe Untergebener in das Kommandoschiff einzudringen."
"Tora? Du vertraust ihm? Und das, nachdem er dich eintausend Jahre lang bekämpft hat? Nachdem er sich mit dem Core verbündet hat? Nachdem sein Ziel war, die Daimon Atlantis zu entblößen und vernichtet zu sehen? Und ausgerechnet ihn schickst du zu deinen Feinden? Sage mir wenigstens, dass du ihm ein paar Aufpasser mitgegeben hast."
"Es ist nicht die Zeit dafür, engstirnig zu denken und zu handeln. Ausgerechnet von dir hätte ich das nie erwartet, Eikichi. Gerade du hast immer wieder dafür plädiert, dass wir nur gemeinsam widerstehen können."
"Es gibt Ausnahmen. Und diese Ausnahmen sind sehr gefährlich. Glaubst du Tora wirklich, dass er seine Meinung um einhundertachtzig Grad gedreht hat, nur weil die Daimon weg ist? Nur weil der Kontakt mit den Menschen da ist, den er so lange gefordert hat? Vergiss nicht, sein Hauptziel ist es dich als Herrin der Dai abzulösen. Dafür ist er schon einmal über Leichen gegangen. Er wird es wieder tun."
"Der Core ist jetzt dein Verbündeter, Eikichi", erwiderte Dai-Kuzo trocken. "Und Michael hat keine Bedenken. Ich denke, wenn der Engel so etwas sagt, dann muss es fundiert sein. Und, verdammt noch mal, Eikichi, ich brauche Toras Kampfkraft. Wenn du Recht hast, und dieses Ding und seine Besatzung wissen wie man gegen Dai kämpft, dann brauche ich meine Stärksten!"
Ein wenig mürrisch sah Eikichi die Königin der Dai an. "Ich mache mir Sorgen, Dai-Kuzo! Sorgen um dich!"
"Das weiß ich doch, mein Junge. Und ich weiß auch, dass ich nicht gegen Verrat und Tod gefeit bin. Aber das ist mein Risiko. Mein Hals, mein Kopf, meine Schlinge. Ich habe mich entschieden, und wenn ich die Konsequenzen nicht abwehren kann, werde ich sie tragen."
"Das brauchst du nicht, Dai-Kuzo", wandte der Executive Commander der UEMF unsicher ein. "Das musst du nicht."
"Keine Widerrede, Eikichi. Ich habe mich entschieden. Und ich bin immer noch die Seniorpartnerin unserer illustren Runde. Ja, notfalls werde ich selbst mein KI in eine Kanone speisen und dabei vielleicht mein Leben lassen. Oder ich werde im Notfall selbst gegen die Götter kämpfen. Das ist vielleicht unvernünftig, aber ich bin die stärkste Dämonenkönigin. Und dieser Verantwortung, dieser Pflicht bin ich bisher nie aus dem Weg gegangen."
"Ich weiß", gestand Eikichi mürrisch ein. Er presste die Kiefer aufeinander. Ärger, Verzweiflung und Angst standen in seinen Augen. "Wenn nur Eridia hier wäre..."
"Ich bin sicher, Helen tut es auch. Ich bin zuversichtlich, dass sie sich schon bald aus der Konditionierung durch den Key lösen wird."
Eikichi lächelte gequält. "Du hast auch schon überzeugender gelogen."
Die große Spinne erwiderte das Lächeln. "Habe etwas Vertrauen zu deiner Frau, Eikichi. Sie ist viel stärker als du denkst. Und habe Vertrauen zu uns. Wir sind nicht besiegt. Und wir sind noch lange nicht so weit, dass wir uns für die Kanonen der AO opfern müssen. Unsere Situation ist gut, und wenn es Tora gelingt in das Feindschiff einzudringen, wird sie sich erneut verbessern. Außerdem steht die HINDENBURG bereits über Atlantis. Sie hat sich einem fliegenden Schlachtkreuzer der Götter als gewachsen erwiesen. Einem gestrandeten wird sie überlegen sein."
"Ich gehe jetzt nicht auf all die Schwächen und Rücksichtnahmen ein, die dieses Szenario für uns birgt", sagte Eikichi ernst, weit davon entfernt, sich einlullen zu lassen. "Ich schicke lieber alles was fliegen kann, rüber zu euch. Die TORT ist bereits auf dem Weg zu uns. Sie kommt vom Mars rüber."
"Du schickst uns den dritten Bakesch? Ich fühle mich geehrt", spöttelte sie.
"Ich würde euch alle drei und die AURORA dazu schicken, wenn es in meiner Macht läge. Und dazu alle KI-Biester, die überall auf der Welt freies KI einsammeln, noch dazu, wenn sie auch nur einen Funken Kampfkraft hätten", erwiderte der Direktor der UEMF säuerlich. "Stirb nicht, Dai-Kuzo. Stirb verdammt noch mal nicht. Kitsune würde mir die Hölle heiß machen."
"Ich gebe mir Mühe, noch ein paar tausend Jahre älter zu werden", versprach sie lächelnd. "Ach, und falls du deinen falschen John Takei und seine Kids auf Abenteuerurlaub vermisst, sie sind hier bei mir auf der AO."
Für einen Moment zeigte Eikichis Miene Verwirrung, dann verstand er. "Gib mir Thomas."

Das Bild wechselte und zeigte nun den hoch gewachsenen Mecha-Piloten mit der martialischen Augenklappe.
"Seid ihr in Ordnung?"
"Haru Mizuhara hat ihren Eagle gecrasht, aber ansonsten geht es uns allen gut. Wir haben eine Zeitlang gegen das Feindschiff ausgeholfen. Nun befinden wir uns zusammen mit den anderen überlebenden Piloten der Chinesen entweder auf der AO oder auf der XIANG. Wir haben das Feld derweil den Dämonen überlassen, zumindest solange sich die Götter auf die Defensive beschränken. Unser Hauptproblem ist immer noch, das wir keine Ahnung haben, ob und wie dieses Schiff die Erde vernichten kann. Und ob wir den Vorgang vielleicht ungewollt auslösen, wenn wir das Schiff vernichten. Ansonsten ist hier alles in bester Ordnung." Er runzelte die Stirn. "Ist das nicht sonst eine von den Situationen, in die Akira mit Vorliebe platzt?"
"Es ist nicht so, als würden diese Situationen ihn nicht suchen, Thomas. Es ist nur so, das ein ganzer Planet ihm schlecht folgen kann", erwiderte Eikichi in einem Anflug von Humor.
"Okay, das macht Sinn."
"Und? Konntest du den Elite-Piloten gut verkörpern? Oder haben deine Schüler den Braten gerochen?"
"Sie haben keinerlei Zweifel daran, das ich John Takei bin, ehemaliger Top-Pilot des zweiten Marsfeldzugs und Testpilot der Luna Mecha Research. Aber vielleicht ahnen sie, das ihre kleine Verschwörung zugunsten der UEMF schon lange nicht mehr geheim ist. Und das wir sie auf ihre Fähigkeiten testen. Wie Sie immer sagen, Sir, Talent findet man an den unmöglichsten Orten. Und diese drei Jungen und das Mädchen haben so viel Talent, dass es ihnen schon aus den Ohren heraus quillt."
"Es wundert mich nicht. Wirst du sie gegen die Götter einsetzen?"
"Nein, Sir. Außer, es bleibt uns keine andere Wahl mehr. Sollten sie sterben müssen, dann soll das wenigstens an Bord eines Mechas sein."
Eikichi lachte leise gequält auf. "Ich werde diesen verdammte Fluch wohl nicht mehr los, der mich ständig Kinder in Lebensgefahr schicken lässt, was? Ich schäme mich vor mir selbst."
"Wir tun alle nur, was wir tun müssen, Sir", beschwichtigte Thomas. "Und die Kids haben wenigstens eine Wahl. Die hatte Akira damals nicht."
"Doch, die hatte er. Aber andere haben ihm keine Wahl gelassen." Eikichi atmete durch. "Dann tun Sie, was Sie tun müssen, Lieutenant Colonel. Viel Glück bei der Geschichte. Und falls es uns morgen nicht gibt, bringen Sie die Kinder zu mir auf den OLYMP."
"Verstanden, Sir."

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2.
Als Dai-Kitsune-sama die letzten Vorbereitungen traf, summte sie ein Medley von Joan Reilleys besten Hits. Es gab nicht viele Dinge, die ein Dai tun musste, wenn er in den Einsatz gehen wollte. Eigentlich waren nur drei wirklich relevante Dinge zu beachten: Energiebedarf, Energiebedarf, Energiebedarf. Dai waren nur zum Schein materiell. Nein, das war so nicht richtig. Sie waren sehr wohl da, wenn sie einen festen Körper annahmen. Die Materie an sich im gesamten Universum hingegen war eine Illusion, und das erlaubte ihnen, nach Belieben verschiedene Körper zu formen und zu beseelen. Und erschaffen konnte sich der Dai, oder im ihren Fall die Dai, so ziemlich alles, was sich aus Materie schaffen ließ. Von Schusswaffen sah sie ab, vor allem davon, die Munition ebenfalls aus sich zu erschaffen. Welcher Dai war auch so dumm und gab seine eigene Substanz auf?
Was sich so einfach anhörte, war in Wirklichkeit sehr kompliziert. Das KI, die Energie der Dai, war nicht leicht zu erzeugen. Und sie war auch nicht leicht zu beherrschen, geschweige denn in verschiedene Formen zu pressen. Es erforderte Übung, jahrelange Routine. Jahrzehntelange Routine. Jahrhundertelange Routine! Und... Gut, gut, wenn man erst einmal die Übung hatte und mit den Körpern umgehen konnte, dann ging das alles rasend schnell. Dann konnte sich ein kleiner Fuchs schon mal in eine junge Menschenfrau verwandeln. Oder sich einen Kampfanzug erschaffen. Oder einen bestehenden Anzug zu einem Kampfanzug verstärken. Was einige Dai taten, die mit ihren Kräften haushalteten. Und was sie selbst mürrisch ebenfalls als sinnvoll angesehen hatte.
Kitsune konzentrierte sich auf ihre Hand, und ließ sie die Form und die Festigkeit einer Stahlklinge annehmen. Dabei achtete sie besonders darauf, einen möglichst spitzen Winkel zu erschaffen. Als sie fertig war, hatte sie eine armlange Klinge erschaffen, deren Schneide so scharf war, dass sie sogar durch Stahl schnitt. Das klappte auch nur, weil sie den spitzen Winkel im Stahl, der für diese Fähigkeit, den Schnitt, verantwortlich war, bis hinunter in den molekularen Bereich stabil hielt. Auch eine Sache, die sie nicht über Nacht erlernt hatte. Außerdem musste man immer mit diesem komischen Gefühl kämpfen, diesem Gedanken, dass die Klinge ein Teil von einem war. Irgendwie.
Sie hatte fünftausend Jahre Zeit dazu gehabt, der perfekte Krieger zu werden. Sie hatte immer gedacht, diese Aufgabe gemeistert zu haben, denn immerhin hatte die große Spinne sie gelobt. Und bei diesem Charmebolzen war das ein Ereignis von einer Seltenheit, gegen das eine Jahrhundertwende einen Geschwindigkeitsrausch verursachte.
Langsam löste sie die Klinge wieder auf und ließ ihren rechten Arm wieder entstehen. Bedächtig krümmte sie Daumen und Finger, wie um sich zu vergewissern, dass es noch funktionierte.
Ja, solange es genügend Energie gab, solange sie konzentriert blieben und sich nicht zu sehr verausgabten, hatten sie mehr als eine reelle Chance, um das Depot zu sprengen. Verdammt, sechs Dais versuchten hier einen Stützpunkt zu sprengen, der eintausend Kilometer durchmaß, innen hohl war, und ein paar hundert Strafer wartete. Und wer weiß wie viele er in welcher Zeit neu erbauen konnte. Das Schlimme an der Geschichte war, dass dies nicht die einzige Werftwelt der Götter war. Letztendlich konnte die Vernichtung dieser Welt nur eine kurze Atempause bewirken. Aber das war vielleicht genau die Zeit, die sie brauchten.

Eine Waffe landete in ihrem Schoß. Interessant. Einen Neuroschocker kannte sie nur als Modell, aber nicht als funktionsfähige Pistole. "Hier", sagte Antra von den Tiefen, die Dai, die ihr bis aufs Haar glich, "die wirst du brauchen, Kitsune. Der Hauptcomputer besteht aus einem neuronalen Netzwerk. Er wird empfindlich auf den Beschuss mit diesem Schatz reagieren. Sehr empfindlich." Sie lächelte düster. "Bei den Strafern hat er uns gute Dienste geleistet."
Kitsune ergriff die Waffe mit spitzen Fingern am Lauf und hob sie hoch wie etwas Totes. "Ich dachte, diese Dinger wären geächtet, weil sie mehr Daina und Daima verblödet als getötet haben."
"Jorug, mein Herr, hat die alten Depots geöffnet, nur für diese Mission. Und nur weil wir gegen einen neuronal vernetzten Supercomputer kämpfen. Es hat Vorteile, im Kampf mit Maschinen zu sein, findest du nicht?"
Kitsune lächelte dünn, dann ergriff sie die Waffe richtig, entfernte das Energiemagazin und inspizierte sie aufmerksam. Als sie mit dem Zustand zufrieden war, lud sie das Energiemagazin erneut, sicherte und tauschte sie gegen die 44er Magnum, die sie im Schulterholster stecken gehabt hatte. Die großkalibrige Waffe verschwand in einem Holster auf ihrem Rücken. "Danke. Ich gebe sie dir wieder, sobald die Mission vorbei ist. Ich würde so etwas ungern mit nach Hause nehmen."
"Du gehst davon aus, dass wir überleben?", fragte sie interessiert.
"Natürlich. Ich bin die Heldin meiner ganz eigenen Geschichte. Und die Hauptprotagonistin stirbt nie." Für einen Moment dachte sie über diese Aussage nach. "Na ja, fast nie. Außerdem habe ich einen guten Grund, um zu überleben."
"Oh. Männlich oder weiblich?"
"Wie kommst du darauf, dass es kein Dai ist?"
Das schien Antra zu erstaunen. "Ihr bleibt nicht euren einmal gefassten Geschlechtern treu?"
"Ich bin fünftausend Jahre alt. Ich würde es als sehr langweilig empfinden, wenn ich in jedem Jahrtausend im gleichen Geschlecht herum laufen muss. Gut, gut. Der Einfachheit halber wechseln wir auf Lemur das Geschlecht nicht so häufig, aber immerhin tun wir es. Und es gibt auch kein Tabu dagegen."
"Merkwürdige Sitten habt ihr auf der Urheimat. Bei uns gehört es zum guten Ton, herauszufinden was man sein will, nachdem man aufgestiegen ist. Oder nachdem ein geborener Dai erwachsen wurde. Danach bleibt man dabei. Erleichtert viele Dinge im Leben."
"Und macht sie langweiliger", konterte Kitsune.
"Berechenbarer, nicht langweiliger", hielt Antra dagegen.
Die beiden Frauen fixierten einander amüsiert. "Also, männlich oder weiblich?"
"Nicht das was du denkst. Ein junger Daina. Mein Schutzbefohlener. Ich kann ihn unmöglich alleine durch die Weltgeschichte marschieren lassen, jedenfalls nicht auf Dauer. Er hat die ungemein schlechte Angewohnheit, in seinem Kielwasser Explosionen und Verwüstungen zurück zu lassen, obwohl er ständig versucht, alles und jeden zu retten."
"Ah. Ein Verrückter?"
"Von vorne bis hinten. Reinsten Wassers", bestätigte Kitsune. "Ich liebe ihn sehr."
"Ja, das merkt man. Ein Aufstiegskandidat?"
"Ein Reyan Oren, der kürzlich zum Maxus aufgestiegen ist."
"Oh." Erschrocken sah Antra die Füchsin an. "Das... Das tut mir Leid."
Kitsune winkte ab. "Keine Sorge, er hat Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bevor er außer Kontrolle geraten kann. Er hat hervorragende Lehrmeister, die ihm den Umgang mit KI schon von Kindesbeinen an gelehrt haben. Die große Spinne hatte ihn eigentlich bitten wollen, zum Dai aufzusteigen. Er wäre der zweite in den letzten sechshundert Jahren, den sie in unseren Reihen aufgenommen hätte. Und vielleicht können wir die Entwicklung irgendwann einmal umkehren. Er muss kein randalierender, alles verzehrender Berserker werden. Ich finde schon eine Lösung für ihn."
"Ja", sagte Antra nickend, "du liebst ihn wirklich sehr, Füchsin. Dein Verrückter muss ein ganz besonderer Mensch sein. Wie ist sein Name?"
"Welchen willst du wissen? Seinen Namen auf Lemur, oder den, den er von seinen naguadschen Vorfahren hat?"
Antra runzelte die Stirn. "Akira Otomo? Eieieieieiei. Das ist übel."
Kitsune riss ihre Augen auf. "Du kennst ihn?
Die andere Dai prustete und versuchte einen Lacher zu unterdrücken. "Man hat von ihm gehört", sagte sie mit todernster Miene. Ihr Blick wurde bedauernd. "Umso schlimmer ist die Reyan Maxus-Sache. Es gibt einige, die viel von ihm erwartet haben. Immerhin geht das Gerücht um, er hätte alleine zwei Türme der Naguad erobert."
"Oh, das hat er tatsächlich. Irgendwie. Zumindest hat er die Arogad und die Daness glauben lassen, er hätte es getan."
Antra hob eine Augenbraue. "Er soll Offizier im Core geworden sein, und diese Gesellschaft maßgeblich neu bestimmt haben."
"Er ist Anführer des Core-Militärs geworden", dozierte Kitsune. "Und er hat den Core evakuiert, um ihn vor den Strafern der Götter in Sicherheit zu bringen."
Nun wanderte auch die zweite Augenbraue langsam nach oben. "Was ist dran an dem Gerücht, dass er schon seit drei Jahren ein äußerst erfolgreicher Krieger sein soll?"
"Drei Jahre trifft es nicht ganz. Warte, er war etwas mehr als dreizehn terranische Jahre alt, als er das erste Mal in einen Daishi stieg. Und vierzehn, als er den Mars angegriffen hat... Das hat er mit siebzehn noch mal gemacht, nur diesmal hat er die ganze Welt erobert... Ich glaube, ich schweife ab."
Langsam sackte Antra das Kinn nach unten. "Ich habe diese Berichte alle mit Vorsicht genossen. Ich hielt neunzig Prozent für Übertreibungen."
"Bei Akira gibt es keine Übertreibungen", erwiderte Kitsune mit einem glücklichen Lächeln.
"Uff. Ich hoffe, ich habe Gelegenheit, Akira einmal kennen zu lernen. Vielleicht kann ich euch ja sogar bei der Maxus-Problematik helfen."
"Na? Wer glaubt jetzt daran, das wir die Mission überleben?", neckte Kitsune.
"Wenn man aber auch ein Ziel hat", murmelte Antra.

Lertaka der Wind kam zu ihnen herüber, alle sichtbaren Partien seines Körpers mit komplexen Schriftzeichen in brauner Tinte bemalt. Er reichte den beiden je ein Päckchen. "Achtet gut darauf. Es könnte vielleicht die einzige Ration sein, die wir hier bekommen werden."
Die beiden Frauen nahmen sie entgegen. Sie enthielten zwei Liter Wasser und drei Kilo Fertignahrung aus der Wiederaufbereitungsanlage des Strafers A101.
"Danke, Lertaka. Übrigens, schöne Schrift habt ihr. Was bedeuten die Zeichen?", fragte Kitsune.
"Sie sind so eine Art Lebenslauf. Ich habe die wichtigsten Stationen meines Lebens beschrieben. Sie mahnen mich, stets mein Bestes zu geben, um den Lertaka der Vergangenheit nicht zu enttäuschen, ihn und seine Mühen, die mich erst hierher gebracht haben. Und sie ermahnen mich, dem Lertaka in der Zukunft eben diese zu ermöglichen."
"Eine interessante Philosophie", sagte Kitsune leise, während sie ihre Ration verstaute. Sie hatten alle bereits gegessen, um ihren Energiehaushalt auszugleichen. Ohne Ley-Linien, ohne sie umgebendes KI eine lebensnotwendige Grundvoraussetzung. Nicht, dass Kitsune je etwas gegen normale Nahrung und normale Körperfunktionen hatte, aber es bewies, dass die Geschichte langsam ernst wurde. Zudem wusste niemand zu sagen, wie lang der Einsatz dauern würde, geschweige denn was sie im Zentrum bei den Werften vorfinden würden. Nur ihr Ziel war klar: Den ganzen verdammten Werftkomplex zu Sternenstaub zu zerblasen, und mit ihm alle hier eingemotteten Strafer, Vernichter und Sucher.
Entschlossen sah Kitsune Lertaka an. "Na, dann wollen wir dir doch mal was interessantes zu schreiben geben, Lertaka." Sie steckte zwei Finger in den Mund und pfiff herzhaft.
Sofort kamen die anderen drei Dai herbei. "Geht es los?", fragte Livess vom Sternfeuer aufgeregt. Sie hatte ihre goldenen Haare zu einem kunstvollen Knoten hochgebunden, der dennoch unter dem Helm ihrer Kampfmontur kaum auftrug. Ihre klugen grünen Augen blitzten aus dem tiefbraunen Gesicht erwartungsvoll hervor.
"Ja, es geht los. Das Ereignisprotokoll von A101 hat uns ja verraten, wann mal wieder eine Materialfähre an uns vorbei kommt, die den Werftkomplex im Zentrum mit Material versorgt. Auf den springen wir auf und lassen uns bequem tragen." Ihr Blick ging nach oben. Über ihren Köpfen hing der Werftkomplex wie eine Verheißung im ewigen Licht des Stützpunkts. Warum sich die Maschinen die Mühe machten, die gigantische Sphäre mit Licht zu füllen hatte ihnen nicht einmal der Computer beantworten können. Wahrscheinlich war, dass die Götter es so angeordnet hatten, und die Zentralrechner keinen Grund sahen, diesem Befehl zu widersprechen, weil die Technologie, die Materialien und die Energien in vollem Maße vorhanden waren. Nicht, dass ein Dai Licht gebraucht hätte, um sich zu orientieren. Aber im indirekten Licht von ein paar Millionen Leuchtquellen erster Ordnung enthüllte sich ihnen ein größeres Wunder. Ein Wunder, das sie zu zerstören gedachten. Im Kern der Anlage, fast vierzehnhundert Kilometer entfernt, begann der Werftkomplex, in dem Schwerelosigkeit herrschte. Das verschachtelte, gut zweihundert Kilometer durchmessende Riesengebilde bestand aus Zulieferfabriken, Werftanlagen, Energieerzeugern. Trotzdem war nur jede fünfte Werft, die sie erkennen konnten, dazu in der Lage, die gigantischen Vernichter aufzunehmen, jene Giganten, die sie von ihrer Position aus auf der Innenseite der Anlage erkennen konnte. Zwischen gigantischen Haufen von Material jedwelcher Art. Die Sucher, ja selbst die Strafer wirkten beinahe winzig neben ihnen. Geradezu harmlos. Ein gefährlicher Trugschluss, denn Kitsune hatte gesehen, welche Macht alleine die Strafer hatten. Und sie fürchtete sich davor, dass die Götter die Vernichter auf das Universum los ließen. Hier und heute war die Ökonomie ihr größter Freund, denn die Schattenwirtschaft der Götter konnte es sich nicht leisten, die Vernichter zu reaktivieren und über einen längeren Zeitpunkt zu betreiben, ohne zugleich ihre Rohstoffgewinnung erheblich anzukurbeln. Was wieder Ressourcen fraß, und die Werften für Entdeckung anfällig machte.
Rickar der Taucher drückte Kitsune einen holographischen Projektor in die Hand. Die Füchsin aktivierte ihn, und ließ ein dreidimensionales Modell des Kernsektors entstehen. "Wir sind bisher nicht entdeckt worden. Die Naivität der Maschinen ist erschreckend, wenn sie einfach alles ignorieren, was nicht in ihrer Welt existieren kann. Zum Beispiel ein Einsatzkommando der Dai, dass rittlings auf ihren Strafern reitet." Kitsune schwieg für einen kurzen Moment. Elf Dai, die besten von elf Welten, hatten versuchen sollen, jeweils einen Strafer zu entern. Sie waren hier zu sechst, und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die anderen fünf es nicht geschafft hatten. Vielleicht waren sie bereits tot. Dennoch lächelte sie, und versuchte Zuversicht zu verbreiten.
"Die Werften sind kein Gesamtkomplex, wie wir ursprünglich vermutet haben. Unsere Langreichweitenscans haben ergeben, dass die ganze Werft wie organisch gewachsen ist. Die ältesten Komplexe stecken im Kern, und nach außen hin umgeben jüngere Fabriken und Werften wie eine Schale die älteren Komplexe, bis hin zu den Werften, die wir ganz außen sehen. Es gibt zwar eine stringente Struktur, die dafür spricht, dass dieser Aufbau geplant war, aber es gibt explizite Anzeichen dafür, dass die äußeren Bereiche nicht nur neuer, sondern auch moderner sind. Vielleicht ein Grund, warum wir Werften für Vernichter nur hier draußen finden, aber nicht tiefer im Komplex." Kitsune vergrößerte das Hologramm und zoomte eine besondere Stelle hervor. "Ein Teil der Werften sind reine Reparaturdocks. Andere können Schiffe vom Kiel bis zur Vollausstattung neu bauen. Die Struktur der ganzen Anlage ist nicht kompakt. Schächte und Zwischenräume reichen teilweise bis hin zum Kernkomplex hinab. Meistens sind diese Passagen nur von Materialfähren zu passieren, manchmal passt sogar ein Strafer hindurch." Kitsune verkleinerte das Hologramm wieder. Nach einer kurzen Manipulation leuchteten mehrere hellgelbe Punkte in der Struktur auf. "Hier sind unsere Ziele. In diesen Bereichen wird die Energie für den Komplex erzeugt. Hast du keine Bombe, dann mach dir eine, wie mein Taktiklehrer oft zu sagen pflegte. Unser Ziel ist es, die Fusionsreaktoren derart zu übersteuern, sodass es zu mehreren Explosionen kommt, die schließlich den gesamten Kernkomplex erfasst. Im günstigsten Fall atomisieren wir die gesamte Sphäre, und sind zumindest diese Werft der Götter los."
Celeen Atuar hob zögernd die rechte Hand. "Kitsune, wie steht es in diesem Szenario mit dem Überleben des Einsatzteams?"
Die Füchsin runzelte die Stirn. "Ich rechne absolut nicht damit, das wir entdeckt werden. Tatsächlich werden wir ein paar ihrer mobilen Einheiten kapern können, damit sie uns beim Bomben basteln helfen. Für die Zentralrechner werden wir nicht einmal existieren, wenn wir vor ihnen stehen und ihr Gehäuse kicken. Also, natürlich werden wir überleben. Wir kapern eine Fähre zur Innenschale der Sphäre, dort einen Sucher, und anschließend bringe ich euch einzeln nach Hause. Ist das ein Plan?"
"Ich frage ja nur, weil es mir merkwürdig erscheint, dass die Rechner hier einerseits die Existenz eines Einsatzteams der Dai für unmöglich halten, andererseits aber gegen Daina und Daima Abwehrmaßnahmen eingerichtet haben."
"Abwehrmaßnahmen?", echote Kitsune.
Rickar räusperte sich und nickte bestätigend. "Der gesamte innere Werftkomplex wird permanent von harter Strahlung geflutet. Die heiße, energiereiche Variante."
"Und Radioaktivität bedeutet für einen Dai kein so großes Problem, aber Daina und Daima würden in diesem Komplex nach ein paar Stunden bei lebendigem Leib gebraten sein."
"Ich verstehe, was du meinst." Kitsune runzelte die Stirn. "Das ist sehr merkwürdig, denn wenn sie, wie wir wissen, keine Dai hier erwarten, dann sollten sie Daina und Daima erst Recht nicht erwarten. Vielleicht ist es ein Leck. Das Ergebnis eines Unfalls."
Rickar schüttelte energisch den Kopf. "Nein, Kitsune. Es gibt sechs Emissionsquellen, die zufällig mit deinen Energieerzeugern identisch sind. Die Strahlung wird gezielt verteilt."
"Aber das macht doch keinen Sinn", sagte die Füchsin irritiert. "Wieso sollten die Zentralrechner eine indirekte Abwehrmaßnahme gegen Daina und Daima etablieren, wenn sie es für unmöglich halten, dass wir Dai es bis hierher schaffen?"
"Vielleicht haben sie von deinem Akira gehört", scherzte Antra grinsend.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Kitsunes Gesicht. "Ja, das könnte sein."
"Also, eines sollte für uns vollkommen außer Frage stehen", sagte Livess ernst. "Es ist eine gezielte Maßnahme, und sie ist gegen organisches Leben gerichtet."
"Aber das macht doch erst Recht keinen Sinn. Die einzigen organischen Existenzen, die man hier finden könnte, das sind die Götter selbst, und die sind ausgestorben." Kitsune erbleichte, kaum, das sie ausgesprochen hatte. "Ja, da hol mich doch der... Ist das denn zu fassen? Die Maschinen haben die Götter getötet?"
Aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen der Dai. "Das... Das ist unmöglich. Wir kämpfen gegen die Maschinen der Götter, weil sie überlebt haben, ihre Herren jedoch nicht", stotterte Rickar.
"Und warum haben die Götter nicht überlebt?" Kitsune lachte, plötzlich gehässig werdend. "Anscheinend müssen wir zumindest einen Teil der Geschichte neu schreiben. Nicht wir Dai haben die Götter ausgelöscht, zumindest nicht komplett. Die Computer der Götter haben ähnliches verfolgt, wie dieser Werftkomplex beweist. Noch immer schützt er sich selbst vor seinen eigenen Herren."
"Es ist nur ein Indiz", wiegelte Antra ab.
"Ein Indiz, das wir unserem Volk bringen müssen. Es könnte für Ältere, Klügere als uns einiges erklären", sagte Kitsune ernst. Sie sah in die Runde. "Antra, du und Rickar kümmert euch darum, dass uns ein Sucher zur Verfügung steht, wenn wir zurück kommen. Ursprünglich habe ich gedacht, wir hätten genügend Zeit, um die Zerstörung von einem Logenplatz aus zu beobachten, aber das hat sich wohl erledigt. Lertaka, du versuchst in den zentralen Rechnerkomplex einzudringen und so viele Daten wie möglich zu stehlen. Bleiben Livess, Celeen und ich, um die Reaktoren zu sabotieren. Jeder von uns wird zwei von ihnen manipulieren müssen."
Die anderen Dai nickten bestätigend.
"Ursprünglich hätte ich gesagt, dass eine Zeitverzögerung von acht Stunden mehr als genug für uns ist, um der Sphäre bequem zu entkommen. Aber nicht unter diesen Umständen. Ein Einbruch in ihr Computersystem wird die Rechner alarmieren. Wir werden wenig Zeit haben, vielleicht nur ein paar Sekunden, bevor der Zentralrechner das erste Mal reagiert. Andererseits können wir ihn nicht ausschalten, weil wir die Daten aus seinem Inneren brauchen." Mit festem Blick sah sie in die Runde. "Der Reaktor, der unserem Andockplatz gegenüberliegt, muss als erstes explodieren. Wir müssen insgesamt zwei oder drei von ihnen zerstören, noch während wir im Komplex sind. Das könnte die Kettenreaktion bereits auslösen. Aber ich fürchte, wir haben in ein noch viel größeres Unheil hinein gestochert, als uns allen bewusst ist. Deshalb müssen wir einige Risiken eingehen, die keiner von uns eingeplant hat."
"Was passiert, wenn bereits der erste Fusionsreaktor uns alle vier zur nächsten Existenzebene und darüber hinaus bläst, Kitsune?", fragte Celeen ernst.
"Dann haben wir hier draußen immer noch zwei Dai, die zumindest unseren Verdacht zurück zu unserem Volk bringen", erwiderte Kitsune mit festem Blick. "Komm schon. Wer will schon ewig leben?"
"Ich, mit Verlaub. Aber niemand hat jemals behauptet, ewiges Leben wäre ohne Mühen zu bekommen, oder?", erwiderte Celeen grinsend. "Gehen wir es an, meine lieben Mit-Dais."
Die anderen nickten zustimmend. Es stand viel auf dem Spiel, unter anderem ihre Leben. Aber vielleicht war das, was sie zu gewinnen dachten, noch sehr viel wertvoller.
Kitsune lächelte dünn. Wenn sie hier überlebte - falls sie hier überlebte - dann hätte sie eine tolle Geschichte, die sie Akira und den anderen erzählen konnte.


3.
Der Schlag war hart. Ich hatte mit ihm gerechnet, eigentlich schon lange, bevor der Banges nahe meiner Position gelandet war, und mich mit seinen kraftvollen Lautsprechern aufgefordert hatte, stehen zu bleiben. Der Schlag bedeutete, dass mich eine Kugel getroffen hatte. Richtig, getroffen. Meine unheilvolle Fähigkeit, die nach der kurzen Ruhepause wieder aktiv geworden war, hatte das Mistding nicht aufgelöst. Hätte ich keine KI-Rüstung getragen, dann wäre sie über meine rechte Schläfe direkt ins Gehirn eingetreten, um aus der weichen, grauen Masse eine noch weichere, rote Masse zu machen. Ein Exekutionsschuss. Wie gesagt, ich hatte damit gerechnet. Nur wusste ich nicht, ob ich es mit einem übernervösen Scharfschützen zu tun hatte, der schlicht aus Angst reagiert und geschossen hatte, oder ob wieder mal ein KI-Agent versuchte, mich zu töten.
Versuch Nummer eins war fehlgeschlagen, wie ich glücklicherweise registrierte. Das bedeutete für mich aber keine Sicherheit, denn einerseits markierte der Banges sehr genau meine Position, und andererseits hatte mein neuer bester Freund, der Scharfschütze, eventuell eine Idee, wie er meine KI-Rüstung durchschlagen konnte. In diesem Universum war nichts unmöglich und nichts beständig. Es gab nur ein paar Konstanten, und eine davon lautete, dass ich mal wieder tief in der Scheiße steckte. Ich war jedoch nicht gewillt, und bei weitem nicht geduldig genug, um mich aufhalten zu lassen. Oder mich töten zu lassen.
Ein zweiter Einschlag an der gleichen Stelle achte mir bewusst, dass ich gerade die dümmste Idee seit langem ausprobiert hatte: in Gedanken schwelgen, während scharf auf mich geschossen wurde.
Ich warf mich zu Boden und verschwand damit im Gras. Ein Umstand, der meinem neuen besten Freund überhaupt nicht gefallen wollte. In schneller Folge sandte er drei einzelne Schüsse auf meine Position. Einer traf mich am Bauch, zwei gingen knapp daneben. Die KI-Rüstung hielt stand. Leider setzte meine Fähigkeit als Maxus gerade dem Gras zu, und sorgte dafür, das meine spärliche Deckung nach und nach aufgelöst wurde.
Fluchend kam ich auf die Beine und lief geduckt in Richtung Stadt. Um eine Ley-Linie zu benutzen war ich noch zu schwach. Oder ich hatte einfach noch zu viel Angst davor. Bis zu den ersten Gebäuden, den ersten Straßen, die mir Deckung geboten hätten, waren es aber noch mehrere hundert Meter. Leider war ich zwar ein Reyan Maxus, aber ich hatte nicht einmal eine so simple Fähigkeit wie Großvater Michael, der mich einmal mit ein paar Gigantsprüngen durch ganz Fushida City transportiert hatte. Das wäre jetzt sehr nützlich gewesen, auch wenn ich dann für meine lieben Dai-Freunde, die mich zweifellos verfolgten mehr als sichtbar gewesen wäre. Noch sichtbarer als mit einem roten Banges am Hacken. Ich korrigierte mich. Drei Banges.
"Habe ich dich!", klang die Stimme von Sphinx hinter mir auf. Ich spürte ihre Präsenz, ihre Nähe, und vor allem ihre Sorge. All das war mir verständlich, aber ich wusste, dass ich mich jetzt nicht ergeben durfte. Dass ich hier nicht verharren durfte, dass ich weiter machen musste, wenn nicht noch jemand all die Qualen erleben musste, die mir gerade erst noch bevor standen.
Wieder bellte ein Schuss auf, und die Hand von Sphinx wischte über meinen Kragen. Sie grunzte verblüfft auf, und ich hörte ihre Schritte nicht mehr. Halb wandte ich mich nach hinten.
Die Dai hielt sich den schmerzenden Schädel. In ihren Augen war eine beleidigte Verletztheit, und deutlich konnte ich am Rot ihrer Wangen sehen, dass ihr Verstand sich mal wieder zugunsten ihrer Instinkte ausschaltete. "Das hat weh getan, du verdammtes Arschloch!", rief sie anklagend in Richtung des Scharfschützen. Bevor ich es verhindern konnte, und ehrlich gesagt konnte mir gerade wenig besseres passieren, schnellte sie in Richtung des Schützen davon.
Weitere Schüsse fielen, und alle waren auf Sphinx gerichtet. Nun, da schien jemand Cynthia Andrews zu kennen und ausgiebig zu fürchten. Ein Gedanke, der mir ein Grinsen beschert hätte, wenn meine Lage nicht so ernst gewesen werde.
"Commander, machen Sie es uns doch nicht so schwer!", rief einer der Piloten über die Lautsprecher. "Wir finden eine Lösung, aber jetzt müssen Sie erst mal auf die ADAMAS! Niemand fühlt sich wohl dabei, wenn er Sie verletzt!"
Ich musste zugeben, das war beinahe so gut wie der Griff einer Dai nach meinem Kragen. Allerdings wären diese Argumente überzeugender gewesen, wenn nicht die Spitze einer Artemis-Lanze auf meine Position nieder gefahren wäre. Ich spürte die Gefahr erst in letzter Sekunde; die Tatsache, dass die schwingend gelagerte Klinge der Waffe nur einen Sekundenbruchteil hyperschnell vibrierte, nämlich genau jenen Augenblick, in dem sie mich eigentlich hätte treffen müssen, verriet mir, dass ich es mit einem verdammt guten Piloten zu tun hatte.
Ich rollte mich über die linke Schulter ab, überschlug mich mehrmals, und rauschte mitten in einen idyllischen kleinen Gartenzaun hinein, der glücklicherweise aus Holz bestand, nicht aus Stein. In den Trümmern blieb ich einen Augenblick lang liegen, versuchte zu Atem zu kommen. Versuchte zu Verstand zu kommen. Mein ganzer Körper schmerzte, und wäre mein Magen nicht schon leer, hätte ich jetzt die Reste ausgespuckt. Ich fühlte mich so müde, entsetzlich müde. Was machte es für einen Unterschied, ob ich weiter lief, oder dem Banges-Piloten mit der Artemis-Lanze die Arbeit erleichterte? Warum musste ich es überhaupt sein, der immer den ganzen Ärger hatte, der mehr wuchten musste als die anderen? Warum musste ich immer alles alleine durchstehen?
Ich versuchte hoch zu kommen, mich aufzurichten, aber erneut war ich so leer, so kraftlos, dass ich nicht einmal die Zaunreste auflöste, zwischen denen ich lag. Plastik. War ja klar. Echtes Holz wäre auch purer Luxus gewesen, hier an Bord der AURORA. Na toll, ganz toll. Da hatte ich meine Depression überwunden, und nun spielte mein Körper nicht mehr mit. Irgendwo an meine Flanke lauerte ein Scharfschütze, wenn Sphinx ihn nicht erwischt hatte, und hinter mir waren drei der sechs Banges des Red Teams. Außerdem hatte einer der Bastarde nach mir geschlagen, mit einer verdammten Artemis-Lanze, die eigentlich dazu gedacht war, einen Daishi aufzuschlitzen, oder um es gleich mit Schiffsstahl aufnehmen zu können. Verdammt, verdammt, verdammt. Der Ritt auf den Ley-Linien hatte mich vielleicht vor Sphinx und den anderen gerettet, aber er hatte mich auch verschluckt, durchgekaut und wieder ausgespuckt. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin angeschlagen ins Rennen gegangen war. Immerhin war mein Körper vor nicht einmal einer halben Stunde noch von Krämpfen geschüttelt worden.
Ja, dies war ein ungerechter, ein sehr ungerechter Tag für mich.
Wie ungerecht ahnte ich, als über mir das charakteristische Klicken erklang, das ein Schnellfeuermagazin eines Banges machte, wenn es neue Explosivgranaten lud.
Wieder versuchte ich aufzustehen, fort zu kommen. Aber genau so gut hätte der Banges auf meinen Beinen stehen können, mein Versuch hätte nicht weniger kläglich scheitern können.
Dann schoss er. Megumi, wo war sie in diesem Moment? Sakura, meine geliebte Cousine und meine Leibwächterin? Makoto, mein zweiter Bluthund? Sora, meine persönliche Fioran-Attentäterin? Die Zeit dehnte sich. Ich glaubte, das Rauschen hören zu können, welches die Geschosse erzeugten, als sie die Luft durchschnitten. Ich glaubte das Pfeifen zu hören, das die Granaten machten, als sie um sich selbst rotierten, um ihre Bahn stabil zu halten. Meine Sinne waren für einen Moment ultraverlangsamt, aber hoch aktiv. Deshalb spürte ich die Wärme, die Weichheit beinahe sofort. Den Schwung, mit dem ich hoch gerissen wurde, die Kraft, mit der ich erst empor getrieben und danach den freien Fall zu spüren bekam. Die Weichheit, die Wärme wuchs. Und plötzlich beschleunigte die Zeit wieder auf einen normalen Wert.
"Akira! Sag doch was! Akira!"
Ich sah auf. Sora hielt mich in ihren Armen, drückte mich an ihren Busen, und starrte mit wässrigen Augen auf mich hinab. "Akira, geht es dir gut?" Sie strich mit ihrer Rechten über mein Gesicht, während Tränen über ihre Wangen liefen. Hinter mir, aber nicht sehr weit entfernt, explodierte die Feuergarbe des Banges im Erdreich. Ich hörte, wie die mechanische Hüfte des humanoiden Kampfroboters surrte, als er sich umwandte, um sein Ziel - mich - erneut ins Visier zu nehmen.
"Hey, Baker, lass den Quatsch! Du kannst doch nicht auf den Boss schießen!", klang die nervöse Frauenstimme aus dem anderen Banges auf. Ich hörte, wie eine schwere Maschine neben mir aufsetzte.
"Geh aus dem Weg, Caldones! Er frisst alles auf! Er macht alles zu Staub! Er ist ein Dämon, und ich werde ihn hier stoppen!"
"Dazu musst du erstmal an mir vorbei!", blaffte Cardones wütend. Wieder wurde Munition nachgeladen, und voller Entsetzen erkannte ich, dass die beiden Banges sich wegen mir duellieren würden, während ich in direkter Reichweite war!
"Ich denke, das wird nicht notwendig werden", klang eine ruhige, geradezu trockene Stimme auf, die ich nur zu gut kannte. Genauso wie das Geräusch, das Sekunden später erklang, und das entstand, wenn man Stahl durch Stahl zog. In diesem Fall ein Katana durch die Panzerung eines Banges.
Ich lachte rau, als mir bewusst wurde, was ich da hörte. Das rang Sora ein erleichtertes Lächeln ab. Sie nickte. "Ja, es ist Doitsu. Er hat dem Banges einen der Waffenarme abgetrennt. Und im Moment sieht es so aus, als würde er den Piloten aus dem Cockpit schneiden. Akira, wie fühlst du dich?"
"Beschissen", raunte ich mit rauer Stimme, die ich kaum als meine eigene erkannte. "Ley-Linien sind nicht dazu gedacht, um auf ihnen zu reisen."
"Das sind sie in der Tat nicht. Und ich werde dafür sorgen, dass du das nicht noch mal machst", klang Sphinx' Stimme hinter uns auf. Sie kam langsam näher, noch immer ein wenig wütend, den bewusstlosen SCharfschützen hinter sich her schleifend. "Ein KI-Agent. Polizist, kein Angehöriger deines Blue Lightning-Regiments, Sora."
Vorwurfsvoll sah ich Sora an. "Deines Blue Lightning-Regiments?"
Sie richtete mich auf, soweit ich mich selbst gerade halten konnte, und versuchte den Augenkontakt zu vermeiden. "Nicht mein eigenes. Ich bin nur Mitglied. Wir haben einige der besten Terraner, Naguad und Anelph versammelt, um all jene Aufgaben zu lösen, die du nicht erledigen kannst."
Das ließ eine Menge Spielraum für Spekulationen, interessanterweise. Doch da war ein Thema, dem ich mich später widmen würde. Falls es ein später gab, hieß das.
"Ich kann nicht zur ADAMAS. Noch nicht", schränkte ich ein und wehrte sowohl die helfenden Hände von Sora Fioran als auch Cynthias ab, als sie mir dabei helfen wollten, aufzustehen.
"Es gibt nichts was du nicht auch mit Hilfe der Kommunikationsanlagen der ADAMAS erledigen kannst, Akira. Wir müssen dich sofort dort hoch schaffen, bevor du wieder anfängst, Dinge aufzulösen. Bevor du jemanden verletzt wie Kei."
Okay, das hatte gesessen. Und normalerweise hätte mich das auch überzeugt. Aber in diesem speziellen Fall verstärkte es meine Entschlossenheit.
Ich sammelte meine Kraft, meine Energie. Versuchte KI zu schmieden, und meiner Aura hinzu zu fügen. Ich verstärkte meine KI-Rüstung soweit ich es vermochte. "Ich gehe jetzt noch nicht!"
Sphinx sah mich an, in ihren Augen lag die gleiche Wut, die wohl eine Mutter für ein besonders ungezogenes Kind empfand. "Keine Diskussion, Akira! Bevor du noch jemanden umbringst!"
"Wenn er nein sagt, dann heißt das nein. Dai hin, Dai her." Doitsu Ataka stellte sich vor mich, sein Schwert in der Scheide, aber griffbereit.
"Es ist nur zu seinem Besten", wandte Sphinx ein. "Und wenn er das nicht einsieht, dann werde ich deutlicher sein müssen. Glaub mir, junger Ataka, das würde mir dann noch mehr wehtun als dir, aber wenn du mir dabei im Weg bist, wird es kurz und schmerzhaft sein."
Doitsu grinste schief und schob seine Brille die Nase hoch, was einen schimmernden Reflex auf den Gläsern auslöste. "Wenn Akira nein sagt, dann meint er nein. Und da gibt es keine Diskussion."
"Wenn du denkst, dass du kleiner Mensch gegen eine Dai bestehen kannst, dann..."
"Vielleicht kann ich da etwas Überzeugungsarbeit leisten!", klang die Stimme Daisukes auf, während er mit zwei weiteren Banges im Garten landete. Er richtete den Lauf seiner rechten Armwaffe auf Sphinx. "Glaub mir, das wird mir mehr weh tun als dir. Aber Akira hat seine Gründe. Und ich schulde ihm genug, um mich mit der mächtigsten Dai zwischen Iotan und der Erde anzulegen."
"Schmeicheleien bringen dich jetzt auch nicht weiter!", blaffte Sphinx. Sie ignorierte die Waffenmündung und sah wieder in meine Richtung. "Akira! Du wirst Menschen verletzten! Vielleicht sogar töten! Sei vernünftig, gehe auf die ADAMAS. Dort arbeiten wir dann daran, damit du diese schreckliche Fähigkeit zu kontrollieren lernst. Es gibt hier nichts, was einerseits das Risiko wert ist, das du eingehen willst, indem du andere wissentlich gefährdest, und andererseits nicht von der ADAMAS aus erledigen kannst."
Tyges und Dai-Okame-sama setzten Seite an Seite über den Zaun hinweg und stellten sich neben Sphinx.
"Akira, glaube mir, ich liebe dich. Und deshalb kann ich nicht zulassen, dass du etwas so dummes tust!" Flehentlich sah Sphinx mich an. "Akira, sei vernünftig!"
"Ich bin vernünftig!", erwiderte ich laut. "Ich muss jetzt gehen. Ich muss mit Yohko sprechen!"
"Was? Aber warum mit Yohko?", fragte Sphinx erstaunt.
Okame sah mich düster an. "Er glaubt, dass seine Schwester auch zur Reyan Maxus aufsteigen kann. Sie teilen die gleichen Erbanlagen, und obwohl er eigentlich genau weiß, dass KI nichts mit Vererbung zu tun hat, wird er es zu Ende bringen."
"Er kann sie auch von Bord der ADAMAS warnen", wandte Sphinx halbherzig ein.
"Mag sein. Aber nur Auge in Auge kann er sie zwingen." Sostre Daness trat ebenfalls in den mittlerweile prächtig lädierten Garten. Er musterte Akira, dann half er Jora Kalis über die Überreste es Gartenzauns. "Wie ich sehe, löst Akira gerade niemanden auf. Nicht einmal das Gras."
"Vorübergehend. Die Reise auf der Ley-Linie hat sein KI durcheinander gebracht", erklärte Okame. "Sobald es sich eingependelt hat, wird er wieder freies KI absorbieren, und als destruktive Aura an seine Umgebung absondern."
"Oh. Und solange es im Ungleichgewicht ist, ist er keine Gefahr für seine Umgebung?" Sostre runzelte die Stirn. "Ich würde ihn Ley-Linien reiten lassen, bis er kotzen muss."
"Es würde ihm schaden", sagte Sphinx ernst.
"Aber ich habe euch richtig verstanden, oder? Solange Akiras AO im Ungleichgewicht ist, löst er keine Materie auf?", hakte Sostre nach.
"So in etwa." Der Wolf nickte bestätigend.
Sostre grinste über das ganze Gesicht. "Was wäre, wenn ich Akira eine oder zwei Stunden erkaufen könnte, in denen er weder seine Umgebung, noch seine Gesprächspartner auflöst?"
Ich sah ihn aufgeregt an. "Das würde mir reichen!"
Jora und Sostre tauschten einen amüsierten Blick miteinander. "Koffer, bitte."
Jora hielt einen kleinen Aktenkoffer hoch. Sostre öffnete ihn und entnahm ihm ein modernes Injektionsspray. "Du erinnerst dich an die Geschichte im Kanto-System, als man dir ein Mittel injizieren wollte, das dein AO für mehrere Stunden aus dem Gleichgewicht bringen sollte, damit du deine Fähigkeiten nicht einsetzen kannst, Akira?"
"Du meinst die Szene, in der es erst ein tödliches Gift gewesen sein sollte, aber schließlich nur ein starkes Schlafmittel gewesen war?"
"Genau die Szene. Ich habe das Mittel hier. Nicht das Gift, und auch nicht das Schlafmittel. Aber das Zeug, das du ursprünglich bekommen solltest. Es heißt Antrovil. Es stärkt den Bo massiv, also dein Yin, während es den Jong, also das Yang, massiv schwächt. Dein KI gerät nicht nur aus dem Gleichgewicht. Du trittst auch in eine Phase ein, die dich schwerfällig und träge macht. Das dürfte es dir einerseits schwer machen, freies KI zu emissieren, und andererseits weiterhin wie ein Wahnsinniger durch die AURORA zu hüpfen." Sostre hielt mir das Spray hin. "Interesse?"
"Rein mit dem Mist!", sagte ich ernst.
"Nun gut, du hast es so gewollt." Der schlanke Daness drückte mir das Spray auf den Hals, und schoss mir ein paar hundert Mikrogramm des Medikaments ins Blut.
Als ich schläfrig wurde, weckte das ein paar unliebsame Erinnerungen an jene Zeit, die schon so unendlich lange her schien. Verdammter Mist, ich begann weg zu sacken.
***
Als Thomas alias John Takei nach dem Gespräch auf das Vordeck der AO hinaus trat, hatte er halb erwartet, dass eines der Kids vielleicht unfreiwillig gelauscht und ihn enttarnt hatte. Es hätte zumindest zum Geschehen gepasst, das sich sonst immer um Akira entfaltete. Gut, gut, er war nicht Akira Otomo, und auch nicht John Takei, aber immerhin benutzte er seine Legende. Vielleicht färbte ja etwas davon auf ihm ab. Nicht, dass er es wollte. Aber er befürchtete es.
Nichts dergleichen. Sven und Philip standen etwas die Reling hinab und unterhielten sich mit einem Dai des Fuchsclans. Nicht, dass Thomas sich besonders gut bei den Daimon und ihren Familien auskannte, aber er glaubte sich zu erinnern, dass die Füchse und die Bären am liebsten als Krieger dienten. Also waren sie in entsprechender Zahl an Bord der AO vertreten. Er kannte keine genauen Zahlen, aber auf Lemur - der Erde - sollte es ein paar zehntausend Dai geben. Die meisten davon waren hier, auf Atlantis. Einige wenige hunderte lebten zwischen und mit den Menschen. Unerkannt. Thomas stellte sich vor, was Haru und ihre Freunde wohl gesagt hätten, wenn sie gewusst hätten, dass die von ihnen so verdächtigten Dai mitten unter den Menschen lebten. Wenn ihnen der Sinn danach stand.
Mit ein paar raumgreifenden Schritten trat Thomas zu den beiden Jungen an die Reling. Ein guter Platz. Man hatte sowohl auf die Stellungen der Dai als auch auf das Götterschiff einen sehr guten Blick. Die riesigen Mechas der Götter befanden sich noch immer im Clinch mit den Mechas der Chinesen und der UEMF, und es sah nicht so aus als würden die Maschinen den Sperrgürtel ohne weitere Feuerkraft überwinden können. Doch dafür war das Sperrfeuer des notgelandeten Superschlachtschiffs einfach zu dicht. Sie brauchten ein paar weitere Kreuzer. Immerhin bekamen sie den einzigen verfügbaren Bakesch im System, was im Anbetracht der Feuerkraft des Götterschiffs zumindest eine gewisse Beruhigung war.
Das Schiff war gestrandet, aber bei weitem nicht wehrlos. Dazu kam auch noch, dass kein Verteidiger auch nur ansatzweise wusste, ob die Programmierung des Schiffs das eigene Ende mit einkalkulierte, wenn es letztendlich die Erde vernichtete. Wie es der Pakt vorschrieb, den die Menschen, Dai und Naguad gebrochen hatten.
Verdammt, Akira. Es stimmte also wirklich. Er musste nicht unbedingt hier sein, um die ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Es reichte schon ein Stellvertreter, der seinen Namen benutzte, um ein wenig von seinem Flair auf die Welt abfärben zu lassen. Eine überaus interessante Erfahrung.
"John!", sagte Philip überrascht. "Was sagt die UEMF?"
"Der Mars schickt den dritten Bakesch, und Eikichi kratzt alles zusammen, was wir an Schiffen, Mechas und Soldaten haben. Mit ein bisschen Glück reicht es, um das da zu bekämpfen." Er schluckte die weiteren Worte runter, ohne sie auszusprechen. Seine Gedanken darüber, was er von Dai-Toras Kampfeinsatz hielt, tat nichts zur Sache.
"Immerhin." Philips Hände lagen um das Geländer. Er hielt sich so sehr fest, dass die Knöchel weiß hervor traten. "Kriegen wir einen neuen Eagle?"
"Was denn? Bist du so begierig darauf, wieder in die Schlacht zu ziehen?", scherzte Sven Dorff. "Dass Mizuhara darauf brennt, war mir klar. Aber du schienst mir immer vernünftiger zu sein als das durchschnittliche Akira Otomo-Groupie."
"Was für ein nettes Wort", sagte Thomas und stellte sich zwischen die beiden. "Akira Otomo-Groupie. Da kann man ja direkt neidisch werden."
"Sie ist nicht unbedingt ein Groupie, vor allem nicht in dem Sinne", erwiderte Philip schärfer als er eigentlich vorgehabt hatte. "Aber als sie ihre Gruppe gegründet hat, da hat sie Akira gehasst, abgrundtief gehasst. Ihre beiden Brüder sind in der UEMF und riskieren ihre Leben. Der ältere kommandiert die STADTHAGEN. Der mittlere ist Takashi-sempai."
"Takashi, der Gorilla? Einer der besten Sparrow-Piloten der Erde?"
"Genau der", bestätigte Philip nickend. "Ich persönlich war schon immer ein glühender Verehrer von Blue Lightning, und als er sich später enttarnt hatte, von Akira Otomo. Deshalb geriet ich mit Haru immer aneinander, weil sie Akira direkt dafür verantwortlich machte, dass beide Brüder das Elternhaus verlassen haben." Philip zuckte die Schultern. "Ihre Mutter ist schon lange tot. Ihr Vater oft im Ausland unterwegs. Ich kann mir vorstellen, dass ihr Zuhause die Decke auf den Kopf gefallen ist. Und das sie einen Sündenbock suchte. Akira bot sich da geradezu an."
"Und wie kam es zur Wandlung vom Saulus zum Paulus? Wenn ich mal die Bibel bemühe?"
"Du meinst, wie sie vom Hasser zu Verehrer mutierte?" Philip grinste breit. "Daran ist sie selber Schuld. Ich glaube, sie mag den Menschen Akira immer noch nicht. In keiner Weise. Vor allem weil sie ihm vorwirft, er hätte Megumi Uno gar nicht verdient."
"Na, das ist ja wohl auch die Wahrheit!", kommentierte Sven lautstark.
"Oh, ein Megumi-Groupie. Habe ich schon lange nicht mehr erlebt.
Der Hawk-Pilot errötete, räusperte sich verlegen, und gab vor interessiert die Bergkette im Nordosten zu mustern.
"Jedenfalls hat sie sich mit allem beschäftigt, was es über Akiras Kämpfe zu bekommen gab. Einiges war klassifiziertes UEMF-Material. Anderes illegal aufgenommen und unter der Hand verbreitet. Ich glaube, sie lernte ihn auf einer Art professionellen Ebene zu schätzen. Ihn als Piloten, Offizier und Anführer zu bewundern. Und bevor sie es sich versah, verteidigte sie Akira vor ihrer eigenen Gruppe. Das war natürlich das Ende für ihren Haufen, und nicht wenige ihrer alten Weggefährten, die Akira immer noch für ihre toten Verwandten verantwortlich machen, nehmen ihr das heute noch übel. Aber so ist Haru nun mal. Wenn sie sich entschieden hat, geht sie unbeirrt ihren Weg. Und weil Akira Otomo ein KI-Meister ist, wollte sie auch einer werden, weil er Mecha-Pilot ist, wollte sie auch einer werden. Und ich bin mir sehr sicher, bei Megumi Uno will sie ihn auch beerben."
Sven lachte glucksend, und auch über Thomas' Züge huschte ein flüchtiges Grinsen.
"Deshalb hat sie auch die Dai so auf den Kieker. Gefahren für Akira sind nämlich auch ihre Gefahren geworden. Vom rein professionellen Standpunkt aus gesehen, natürlich."
"Natürlich", echote Thomas amüsiert.
"Äh, Leute?" Sven zog am Ärmel von Thomas' Druckanzug.
"Du brauchst nicht an mir zu zerren. Ich stehe direkt neben dir", mahnte Thomas.
"Das... Das ist es nicht, John. Nur..." Er verstummte plötzlich. Aber er konnte in die Tiefe deuten.
Thomas und Philip folgten dem Fingerzeig. Der junge Deutsche runzelte die Stirn. "Das scheinen mir die gleichen Riesenmechadinger zu sein, die auch das Götterschiff einsetzt. Nur, warum kommen sie aus diesem Gebirge?"
"Was auch immer, es kann nichts Gutes bedeuten", knurrte Thomas.
"Gut. Ich bin also nicht der einzige, der sie sehen kann", stellte Sven erleichtert fest. Er wandte sich um. "Ich alarmiere Luc und steige in meinen Mecha."
"Ich komme mit. Philip, suche Haru, und haltet euch bereit. Euer Mecha wird hier jede Sekunde eintreffen. Und ich fürchte, wir werden einen zusätzlichen Eagle gebrauchen können."
"Werde KI-Meister, hat sie gesagt. Werde Mecha-Pilot, hat sie gesagt. Das Universum steht uns offen, hat sie gesagt. Von Mühsal, Tod und Vernichtung hat sie jedenfalls nichts gesagt", sagte Philip.
"Und das bedeutet?", fragte Sven.
"Dass ich keine Wünsche mehr habe. Ich kriege alles serviert, was ich haben will." Er zwinkerte den Freunden zu und machte sich auf die Suche nach seiner Pilotin.
"Und Mizuhara-chan dazu, was?". rief ihm Sven Dorff hinterher.
Philip verharrte kurz im Laufen, als er die Worte hörte. Plötzlich hatte er es eilig.
"Treffer, versenkt, was?" Thomas klopfte Dorff auf die Schulter. "Machen wir uns bereit. Die Scheiße beginnt hier anscheinend erst."
"So wie ich es haben will. Dann habe ich was zu erzählen, falls ich überlebe."
"Hey, du hast den einmaligen John Takei dabei. Was sollte dir passieren?"
"Netter Versuch, John. Netter Versuch."

Epilog:
In letzter Zeit kam es eher selten vor, dass das Haus gut gefüllt war. Ich meine, wann hatten wir schon mal wirklich alle Zeit, hier zu sein? Und damit meinte ich nicht nur meine Mitbewohner, sondern alle Freunde.
Für unsere kleine Versammlung hatten wir uns den Garten ausgesucht. Ich, müde und wacklig auf den Beinen, weil dieses verdammte Medikament der Naguad mir die Kraft raubte, hatte einen Stuhl bekommen. Die anderen standen, hockten, saßen oder knieten im Gras vor mir.
Eine interessante Konstellation. Wäre der Anlass nicht so verdammt ernst gewesen, dann hätte ich mich gefühlt wie ein alter Patriarch im Kreise all seiner Kinder. Wahrscheinlich war das nicht allzu weit von der Realität entfernt.
Ich seufzte, schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Danach vergewisserte ich mich noch einmal, dass niemand direkt neben mir stand, oder mich gar berührte. Ich wollte so etwas wie mit Kei nicht wieder erleben. Auch wenn er mir tausendmal versicherte, dass er keine Schmerzen hatte, und das Makoto die Heilung bereits in die Wege geleitet hatte.
Was wäre wenn ich das nächste Mal Megumi verletzte? Oder Emi, die immerhin gerade hochschwanger war? Kenji vielleicht, den jungen künftigen Vater? Alles erschreckende Gedanken, die mir das Herz zusammenzogen und den Magen dreifach falteten.
Mein Blick ging über die Runde. Ich sah Doitsu in die Augen, dessen rechter Arm gerade von Makoto und Sakura geheilt wurde; ein Wunder, dass der heiße Metallsplitter des Banges-Arm ihm seinen nicht abgeschnitten hatte. Ein genauso großes Wunder, dass er ansonsten unverletzt war, bis auf die Schnittwunde, die aber furchtbar geblutet hatte.
Ich sah Akari an, die mit jedem Tag dem Oni mehr und mehr ähnelte, der sie einst gewesen war, mit einem biologischen Alter knapp über der Achtzehn. Neben ihr hockte natürlich Micchan, wie immer ihre Nähe und ihre Hand suchend. Beide waren teilweise Dai, und ich fragte mich, ob das für ihre Zuneigung den Ausschlag gegeben hatte, oder vielmehr die Tatsache, dass er der einzige Junge war, den ich je mit nach Hause genommen hatte, der solo gewesen war.
Joan musterte mich mit ernstem, wachem Blick. Keine Gefühlsregung, kein Schmerzenslaut schien ihr zu entgehen. Yoshi, der neben ihr kniete, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt.
Megumi kniete auf seiner anderen Seite, den Blick fest auf mich gerichtet. Die Sorge in ihren Augen sprach Bände. Im Hintergrund standen Jora und Sostre, die zwei, denen ich das Wundermedikament verdankte, das mich für diese Zeit hier, vielleicht ein paar Stunden, überhaupt erst befähigte.
Takashi wanderte hinter ihnen nervös im Garten auf und ab. Dabei warf er den Banges und den Hawks, die rund um das Anwesen in den Straßen gelandet waren, nervöse Blicke zu. Er hatte bereits mehr als einmal vorgeschlagen, die Mechas wieder abzuziehen. Aber mit dem Scharfschützen hatten wir lediglich einen weiteren KI-Agenten gefangen. Fehlten noch fünf oder sechs. Falls sie sich nicht vermehrt hatten.
Ebenfalls im Hintergrund hielten sich Okame, Sphinx in ihrer Rolle als Major Cynthia Andrews, und Tyges. Die drei Dai würden eingreifen, wenn - wieder mal - was unvorhergesehenes geschah.
Ich atmete langsam aus, und wurde als Belohnung von einem Hustenanfall geschüttelt. Verdammt, das Zeug machte mich so schwach, ich verschluckte mich am laufenden Band.
Yohko fuhr ein wenig auf, beherrschte sich aber ansonsten.
Mein Blick ging über die anderen. Hina, Daisuke, Sarah, Ami, Laysan, Tetsu. Selten waren wir so zusammen gekommen. Selten war der Grund so ernst.
"Nun guckt nicht so böse", tadelte ich. "Es ist nicht für immer. Ich verspreche, ich werde hart mit Tante Cynthia trainieren, damit ich dieses vermaledeite Materie-Auflösen im Griff habe. So lange werde ich halt in der ADAMAS bleiben müssen."
"Und sie alleine steuern? Na viel Spaß. So gut bist nicht mal du", spottete Kei bissig.
"Tatsächlich sind die Kommandoschiffe der Dai darauf ausgelegt, von einem einzelnen Krieger gelenkt zu werden, wenn es sein muss", warf Sphinx ein. "Einige von ihnen haben sich einen Ruf als hervorragende Krieger erworben. Akira hat zumindest die gleiche Chance. Und uns bleibt die Feuerkraft der ADAMAS erhalten, was nützlich ist, falls uns einer oder mehrere Strafer begegnen."
"So viel zum positiven Aspekt", sagte Micchan trocken.
"Ich bin nicht zurück gekommen, um mich zu rechtfertigen", sagte ich mit fester Stimme. "Um mich zu entschuldigen, vielleicht. Kei, das mit deiner Hand, das..."
"Wie ich schon sagte, kein Problem", wiegelte er ab. "Mach dir mehr Sorgen um deinen eigenen Kopf, Akira."
Gute Idee, aber das ging jetzt nicht. "Wie dem auch sei, ihr wisst, dass ich als Reyan Maxus über einige besondere Kräfte verfüge. Als ich damals mit Torum durch den Boden ging, hat es wohl schon angefangen. Und hier und heute endet es damit, dass ich die Kontrolle über diese... Fähigkeit, Kraft, oder meinetwegen diesen Fluch erst erlernen muss." Ich seufzte tief. "Okame-sama, Cynthia, Tyges, ihr wisst nicht zufällig, ob es genetische Gründe hat, dass ich ein verdammter Reyan Maxus geworden bin?"
"Es kann viele Gründe haben", wich die Dai mir aus. "Fakt ist, dass auch der Begabteste in der Kontrolle des KI nicht weit kommt, wenn er nicht übt und übt und übt. Fakt ist, dass selbst jemand mit wenig natürlicher Begabung zur KI-Kontrolle ein großer Meister werden kann." Sie sah zu Boden. "Wir wissen nicht, welche Faktoren dabei mitspielen, wenn ein Reyan Maxus entsteht. Aber ich kann es nicht ausschließen, dass du einer geworden bist, weil du die genetische Anlage dazu besitzt."
Ich seufzte tief und schwer. Betreten sah ich zu Boden. "Und eines Tages werde ich, selbst wenn ich erlerne, eine Zeitlang mit meiner Kraft umzugehen, die Kontrolle verlieren. Wahnsinnig werden. Eine Bedrohung sein."
Betretenes Schweigen schlug mir entgegen wie ein unheilvolles Raunen.
Ich sah auf, Yohko direkt in die Augen. "Du wirst kein Reyan Maxus, das schwöre ich."
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als ihr vielleicht das erste Mal in den Sinn kam, sie könnte ebenfalls auf dem Weg sein, um ein Reyan Maxus zu werden. Immerhin hatte sie vor nicht allzu langer Zeit ihre eigene Slayer-Kraft entdeckt und dabei die aufgeprägte Genetik der Elwenfelt abgeschüttelt. Sie wirkte entsetzt, fassungslos, bis Yoshi ihr die Hand auf die Schulter legte.
"Du wirst deine Genetik verändern. Ich weiß nicht, ob es etwas verändert, aber ich will keine Chance ungenutzt lassen. Außerdem liegen uns die Kronosier ständig in den Ohren, dass du doch ohne die Gift einiges von deinem guten Aussehen eingebüßt hast, Yohko."
"Du... Du willst, dass ich das Generbe der Kronosier erneut in meine Gene einfügen lasse?"
"Ja", sagte ich schlicht. "Und ich hoffe ernsthaft, dass es verhindert, dass du jemals ein Reyan Maxus wirst."
Ich erhob mich. "Mehr habe ich nicht zu sagen. Die weitere Entscheidung liegt bei dir, Yohko." Ich sah zu den drei Dai herüber. "Bringt mich jetzt auf die ADAMAS."
Und so traten wir Geschwister beide schwierige Wege an. Ich in mein Exil, ohne zu wissen ob ich dort nützlich war, oder wie lange es meine Heimat sein würde, und Yohko in die Frage, ob sie das fremde Erbgut der Elwenfelt auf sich nehmen sollte, doch diesmal freiwillig. Und wenn ich daran dachte, dass all das zu den einfacheren Problemen gehörte, die sich uns stellten, bekam ich Magenschmerzen. Ich hasste es, abgeschoben zu sein. Das würde ich ändern. Definitiv ändern. Irgendwie.

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Anime Evolution: Krieg

Episode zehn: Retrosperspektive für die Zukunft

Prolog:
Die ADAMAS war ein beeindruckendes Schiff, das musste ich zugeben. Das Ultraschlachtschiff der Dai hatte im Grundriss die Form eines Keils, einer sehr populären Schiffsform, die dank der Naguad auch auf der Erde das Grundmodell war. Die ADAMAS maß dreitausendneunhundertundsiebzig Meter vom äußersten Teil des Hecks bis zur vordersten Bugspitze. Am Heck hatte sie eine maximale Breite von zweitausendundacht Metern sowie eine größte Höhe von eintausendsiebzig Metern. Am Bug, zu dem sich das Schiff zum Keil-Konzept verjüngte, war die größte Höhe vierhundertundsiebzehn Meter. Das machte ein Volumen von mehr als neun Komma sechs Kubikkilometern. Ein beachtliches Volumen, vor allem wenn man bedachte, das es zur Zeit nur ein lebendes Wesen aufgenommen hatte: mich. Ein einsamer Gedanke. Aber ich musste zugeben, das Schiff faszinierte mich. Und ich fragte mich unwillkürlich, warum ich mich erst so spät für den Giganten interessierte.
Das Schiff hatte ähnlich wie die AURORA zwei konträr gelagerte Teilchenbschleuniger, einem im Rumpf, und einen im Heck, um die Massenträgheit bei der Beschleunigung auszutarieren und künstliche Schwerkraft im Schiff zu erzeugen. Und dabei konnte der Pulser-Antrieb der ADAMAS durchaus mit der wesentlich kleineren Bismarck-Klasse mithalten, auch wenn die Technologie bereits zehn- bis zwanzigtausend Jahre auf dem Buckel hatte. Es trug mehr als eintausend Waffensysteme, die hauptsächlich am Bug und auf den Großflächen der Keil-Oberseite und der Keil-Unterseite zu finden waren. Die meisten waren für kurze Distanzen bis zwanzig Kilometer ausgelegt, als Abwehr von kleinen Einheiten und Antischiffsraketen. Einige gingen auf mittlere Distanz bis zu zwanzigtausend Kilometer, und der Rest, vor allem die Torpedowerfer, die Partikelkanonen und die Plasmawerfer, erreichten Kernschussweiten von bis zu achtzigtausend Kilometern. Wenn man mal wohlwollend übersah, dass Torpedos dank ihrer selbstständigen Zielsuchsysteme und dank ihrer Treibstoffgenundenen Manövrierfähigkeiten bis zu fünf Millionen Kilometer steuerbar und gefährlich blieben, ein interessanter Wert. Terranische Systeme, auch hier Torpedos ausgenommen, schafften es bestenfalls auf vierzigtausend, bevor die Fokussierung der Plasmaschüsse und Partikelstrahlen verloren ging und den Schaden reduzierte. Das lag vielleicht auch daran, dass die Waffen der ADAMAS bis zu vierfaches Volumen im Vergleich zu UEMF-Waffensystemen hatten.
Dazu kamen acht Katapultsysteme und Wartungsmöglichkeiten für sechshundert Banges oder Mechas. Die künstliche Schiffsintelligenz Arhtur vernetzte all dies und machte die theoretische Besatzung von zehntausend Matrosen und Banges-Piloten theoretisch obsolet, sprich überflüssig.
Schließlich und endlich verfügte der Gigant auf acht Hauptdecks und bis zu unter vierzig Unterdecks pro Hauptdeck Genug Platz für zwanzigtausend Menschen oder Daima. Außerdem hatte das Schlachtschiff einen eigenen Sprungantrieb.
Auf den an der Oberfläche eingerichteten Landeplätzen konnte die ADAMAS eine kleine Flotte mitführen, ähnlich dem Konzept, das wir Terraner mit den ersten sprungfähigen Bismarck-Schiffen verfolgten, die in der Lage waren, mit mehreren Fregatten zu springen.
Und dabei war es äußerst ironisch, dass ich von den neun Komma sechs Kubikkilometern, die mir - das Volumen der Panzerung, der Schiffsmaschinen und der Wände und Decken mal ignoriert - zur Verfügung standen, erst gut fünfzig Kubikmeter in Beschlag genommen hatte. C-Deck, Sektion VIII, direkt hinter der Zentrale der ADAMAS, beinahe am Herzen von Arhtur, der Schiffsintelligenz. Mein Quartier. Mein Exil.
Noch überwog die Neugier auf dieses alte Schiff, noch war da diese Erleichterung, dass ich, als Reyan Maxus dazu gezwungen, fremdes KI zu absorbieren und Ungenutztes wieder unkontrolliert abzugeben, hier niemanden verletzen konnte. Weil die Stahlwände des Schiffs die Eigenelektrizität abschirmten, und freies KI nicht zur Verfügung stand, da ich an Bord alleine war. Noch sah ich die positiven Seiten. Aber die negativen würden kommen, denn sobald wir auf einen Strafer der Götter trafen, dann erwartete man von mir, das ich das erfüllte, was zuvor tausend East End-Daina geleistet hatten. Ich würde im Verbund mit Arhtur kämpfen müssen. Und damit das gelang, mussten wir uns aufeinander einstimmen, musste ich sein Gehirn werden, und zehntausend Daina-Gehirne vollwertig ersetzen. Und dabei spielten automatisierte Banges wie zu Zeiten der Dai-Expansion nicht einmal eine Rolle. Eines war jedenfalls sicher: Ich suchte mir immer noch nicht die kleinen Aufgaben aus. Ein Gedanke, der mich trotz meiner misslichen Lage lächeln ließ.
Und was erwartete mich danach? Nach meinen Trainingseinheiten? Nach der nächsten Schlacht, die ich hoffentlich überlebte? In einem Konzept gefangen, das ich gerade erst kennen lernte, und das vor zehntausend Jahren das letzte Mal benutzt worden war?
Sicher, eines Tages würde ich diese verteufelten Kräfte eines Maxus in den Griff kriegen. Eine Zeit lang würde ich wieder leben können wie zuvor. Bis meine Fähigkeiten nachließen, aus welchen Gründen auch immer. Wenn ich wieder freies KI absorbierte, unkontrolliert von mir gab, und diesmal vielleicht Menschen tötete. Vielleicht war es da besser, gleich auf der ADAMAS zu bleiben. Alleine. Ohne andere zu gefährden. Abgesehen natürlich durch die ADAMAS und ihre Möglichkeiten selbst.
"Ich kann deine Gedanken lesen, Akira."
Erschrocken fuhr ich herum. Ich brauchte nicht verwundert sein, dass ich die Stimme kannte, die mich gerade angesprochen hatte. Ich kannte sämtliche Führungskräfte der Flotte, hatte schon mit den meisten von ihnen Seite an Seite gekämpft. Ich kannte die Dai an Bord der Flotte, jeden einzelnen;übrigens die einzigen, die mich hier besuchen konnten, ohne ihre Leben zu riskieren. Besuchen, ja, denn ihre wertvollen Fähigkeiten der ganzen Flotte vorzuenthalten war ein Egoismus, den ich mir bei aller Einsamkeit, die mir bevorstand, nicht gestatten würde. Niemals.
Das Problem war nur, diese Stimme gehörte keinem Dai.
Mother sah mich spöttisch an, die Lippen geschürzt, und ein halb resignierendes, halb mitleidiges Lächeln auf den Lippen. "Akira, Akira. Du glaubst doch nicht, dass die ADAMAS dein Schicksal ist? Du bist bisher noch aus jeder Falle ausgebrochen und hast dein Schicksal immer gedreht. Warum sollte es diesmal anders sein? Du wurdest nach Nag Prime entführt und hast dich dort als Herr von zwei Türmen etabliert. Du wurdest von deinem Körper getrennt, und kamst als oberster Heerführer des Cores zurück. Du wurdest in den Konflikt der Iovar involviert und hast den Kaiser gestürzt. Denkst du wirklich, dieses bisschen Reyan Maxus-Zeug wäre eine Aufgabe, die du nicht bewältigen kannst?"
"Mother", hauchte ich, immer noch bis ins Mark erschrocken, als ich die holographische Projektion der Frau erkannte. "Bist du es wirklich?"
Nun wurde ihr Lächeln freundlich und warm. Mother, das war die Künstliche Intelligenz jenes kronosischen Supercomputers, in dem ich gefangen gewesen war, damals nach dem ersten Marsangriff. In dem ich kalt gestellt worden war, als Faustpfand für das Leben meiner Schwester, die damals auf dem Mars gefangen war. Mother hatte die virtuelle Welt, in der ich damals gelebt hatte, geleitet. Bis ich aus ihr ausgebrochen war. Ich hatte die virtuelle Welt mehrfach zerstört, ruiniert. Sie hatte immer wieder hochgefahren werden müssen, was mir heute noch ein Gefühl der Befriedigung entlockte. Mother hatte ich damals als meinen Gegenpart erkannt. Ich hatte für sie nie Feindschaft empfunden, weil sie nicht real war. Wie denn auch, als Abbild eines Computers? Eher hatte ich sie als Gegnerin im Schach angesehen, als Rivalin. Nie als Feind, niemals. Und nun stand sie in der ADAMAS? Dreißig Lichtjahre von Terra entfernt? "Ist das ein Angriff?", fragte ich argwöhnisch und spannte mich in Erwartung der Antwort. Anscheinend würde ich nicht annähernd so viel Zeit zum Üben bekommen, wie ich gehofft hatte.


1.
Als Henry William Taylor und Ai Yamagata ins Paradies der Daima und Daina zurückkehrten, wirkten sie niedergeschlagen, verzweifelt, deprimiert. Aber diese Gefühlsregung teilten sie eins zu eins mit Maltran Choaster, dem Viersternträger.
"Ihr habt es nicht rechtzeitig geschafft", sagte Latiss, der uralte, körperlose Dai. Doch es waren kein Spott, kein Hohn in seiner Stimme, nur Resignation.
"Nein, wir haben es nicht geschafft. Aber er hat nichts vernichtet, niemanden getötet. Es gab ein paar Verletzte, aber wir haben die Situation im Griff. Er ist jetzt auf der ADAMAS, wo er kein freies KI absorbieren kann", erwiderte Henry ernst.
"In seinem Exilschiff." Latiss nickte bedächtig. "Und so wiederholt sich die Geschichte. Nun, er ist noch jung und anpassungsfähig. Vielleicht gewöhnt er sich an seine Gabe, und kann sie ein paar Jahrzehnte effektiv unterdrücken, bevor sie so groß wird, dass sie ihm nicht mehr gehorcht. Und vielleicht ist er dann die Einsamkeit gewöhnt und übersteht das eine oder andere Jahrhundert an Bord der ADAMAS."
Betretenes Schweigen antwortete dem alten Dai.
Schließlich seufzte der alte Mann, stellte das Glas mit seinem Cocktail am virtuellen Strand auf den Boden und erhob sich schwungvoll aus seinem Liegestuhl. "Gut, eine Chance gibt es noch, um ihn zu retten. Akira kann immer noch zum Dai aufsteigen. Doch dazu muss er sterben. Und die Reyan Maxus haben in der Regel die Macht, um den Zeitpunkt ihres Todes sehr genau selbst zu bestimmen - aber eher selten die Klarheit, um zu erkennen das der Tod ihr Verbündeter ist."
"Er wird nicht zum Dai aufsteigen. Nicht solange er ein Leben hat, das sich hier zu leben lohnt", sagte Ai Yamagata mit bedrückter Stimme.
"Und das hat er doch verloren, solange man ihn auf der ADAMAS festhält. Warum ist das geschehen? Ihr habt drei Pressoren, die ihn hätten bändigen müssen."
"Sie... Haben keine Übung darin. Sie müssen trainieren, um Akiras Kräfte in den Griff zu kriegen. Und zugleich arbeitet Akira daran, seine Fähigkeiten selbst zu unterdrücken."
"Keine Übung darin? Er ist ihnen bereits jetzt zu stark, und sie befürchten, weil sie reines KI sind, von ihm gefressen zu werden. Wer kann es ihnen verdenken? Ich hatte damals die gleiche Angst, als ich Kydranis an Pressor diente."
Der alte Dai machte eine weit ausholende Bewegung. "Mir scheint, dass Ihr alle gerade jetzt nichts tun könnt, um Akira zu helfen, oder um die Situation auch nur ansatzweise zu verbessern. Akira muss sich selbst helfen. Wieder einmal. Oder die Dämonenkönige müssen genügend Vertrauen ineinander entwickeln, um als Pressoren dienen zu können. Immerhin haben wir es mit einem Reyan Maxus zu tun, einen übermächtigen AO-Krieger, der uns im Konflikt mit den Göttern noch sehr hilfreich sein wird." Auf seinen Wink hin entstanden Dutzende Fenster mit Videomitschnitten. Einige zeigten die AURORA, andere Bilder ihrer Außenkameras. Viele zeigten Erde, Mars und Mond. Eines bildete die derzeitige Szenerie auf Atlantis ab, am Absturzort der RASZHANZ.
"Die Dinge sind wieder einmal in Bewegung. Wir kämpfen wieder einmal an vielen Fronten zugleich, kämpfen wieder einmal gegen die vollständige Vernichtung unserer Art. Und auch wenn die Bedrohung nicht so stark ist wie damals, wir sind auch nicht so stark wie damals. Und unsere Kernwelt war nie so bedroht wie mit diesem halbwracken Kriegskreuzer der Götter mitten auf Atlantis. Ich schätze mittlerweile, wir brauchen einen Reyan Maxus in diesem Krieg, dringender als wir alles andere brauchen."
"Wir?", fragte Maltran.
"Wir. Ich bin nach läppischen vierzigtausend Jahren eurer Zeitrechnung noch nicht bereit zu gehen. Es liegt noch viel zu viel vor mir."
Langsam wandelte sich die Szenerie, unterwarf sich dem Willen des uralten Dai. "Ich denke, die Zeit ist reif für einen Rückblick. Einen richtigen Rückblick, keinen frisierten wie den, den ich dir und deinem Untersuchungsteam untergeschoben habe, Sean O' Donnely. Ich denke, ich werde ein paar meiner Erfahrungen mit Kydranis mit euch allen teilen müssen. Vielleicht lernt Ihr durch diese Beispiele genug, um Akira das Leben zu erleichtern. Wenigstens für eine gewisse Zeit."
"Kann ich dich unterstützen, Herr?", bot Tomar an.
Der alte Dai schüttelte langsam den Kopf. "Nein, mein junger Freund. Jetzt und hier kommt es auf meine Erinnerung an. Das ist nichts, wobei du mir helfen kannst." Er sah ins Rund, sah über acht Millionen Gesichter, die Versammlung aller Soldaten des Cores. "Seid Ihr bereit?"
"Du meinst, wir alle?", fragte Henry verblüfft.
"Es wird keine Interaktion geben. Nur eine, ah, Vorführung", versprach Latiss. Die vielen kleinen Bildschirme verschmolzen zu einer gigantischen Kugel. Und in dieser Kugel begann eine Geschichte. Die Geschichte von Latiss und Kydranis.
***
Mit steinerner Miene verfolgte Eikichi Otomo die Bildübertragungen von Atlantis, das abgestürzte Götterschiff betreffend. Die Selbstreparatur des Giganten arbeitete; heran gezoomte Datenfenster zeigten, wie kleine robotische Einheiten Lecks abdichteten, neue Schweißnähte arbeiteten oder auf molekularer Ebene den Schiffsstahl vernetzten.
Vor wenigen Minuten war Dai-Tora, der Herr der Tiger, an der Spitze seiner Gefolgsleute erst durch den Waffenkordon der RASHZANZ, und dann durch ein noch nicht repariertes Leck in das Schiff eingedrungen. Die Besten des Tiger-Clans hatten in begleitet, was an sich schon ein Novum darstellte. Juichiro Torah hatte nie Beistand von seinem Mit-Daimon verlangt. Der Clan hatte ihn aber selbst nach vierhundert Jahren nie als Oberhaupt abgewählt, noch hatte Kuzo das jemals verlangt. Die internen Verstrickungen der Dämonen waren Eikichi selbst heute noch, nach einhundert Jahren, ein Rätsel.
Und dann war da noch der unumstößliche Fakt, das mit Torahs Vorstoß in das Schiff noch nichts gewonnen war. Würden die Tiger einem Kampf mit Göttern gewachsen sein? Würden sie überhaupt mit ihnen kämpfen, oder würde der Magier vielleicht auf Verrat setzen? Sich mit den Göttern verbünden, um seine verhasste Feindin Kuzo zu vernichten? Der Preis der Vernichtung ihrer Daimon mochte ihm als Preis dabei angemessen erscheinen.
Dai-Kuzo-sama mochte ihm vertrauen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Punkt. Aber Eikichi konnte sich diesen Luxus nicht leisten, und koordinierte stattdessen die weltweiten Bemühungen, dieser Gefahr Herr zu werden, ohne die Erde zu vernichten.
"Direktor Otomo, der Präsident auf Leitung eins", meldete sein Adjutant.
Eikichi aktivierte den Kanal, ein Holofenster wechselte den Inhalt, und bildete schließlich Admiral Dean Richards ab. Es war ein wenig gewöhnungsbedürftig für den Executive Commander der UEMF, den alten Kampfgefährten weder in der UEMF-, noch der amerikanischen Navy-Uniform zu sehen. Aber der Anzug stand ihm wirklich gut.
"Eikichi", begann der vom Kongress einstimmig eingesetzte Übergangspräsident der USA, "ich habe die ADMIRAL NIEMITZ, die GEORGE WASHINGTON und die KITTY HAWK in Reichweite von Atlantis. Außerdem habe ich alles von Hawaii in Marsch gesetzt, was überhaupt eine Chance hat, Atlantis zu erreichen. Ich biete sechshundert Mechas aller Klassen dafür auf."
Eikichi nickte dankbar. "Wir können jede Hilfe gebrauchen, die wir kriegen können. Die Chinesen haben für die Verteidigung der Erde bereits ordentlich Federn lassen müssen. Es wird Zeit, sie zu unterstützen."
"Die XIANG ist ein zähes Schiff, und die Piloten der Mechas gehören zum Besten was China hat. Wir hätten kaum eine bessere Crew vor Ort haben können." Richards Blick verdüsterte sich. "Auch wenn sechzig Prozent Verluste eine andere Sprache sprechen. Aber das beweist nur, wie gefährlich unser Gegner ist. Wie gefährlich die Götter sind."
"Das sind sie in der Tat." Nachdenklich legte Eikichi beide Hände zusammen. "Und sie sind bei weitem noch nicht geschlagen."
Der Executive Commander der UEMF zögerte einen Moment. "Sie haben Helen."
Diese Eröffnung erschreckte den Admiral sichtlich. "Dann war das Auftauchen der RASHZANZ in diesen Tagen kein Zufall."
"Nein, es war kein Zufall. Gewiss kein Zufall. Wir hätten die RASHZANZ sicherlich im Orbit stellen können, wenn die Chinesen das Schiff nicht so schwer beschädigt hätten, um es zur Notlandung zu zwingen. Ich hatte dreißig Schiffe hier oben, die ich notfalls alle geopfert hätte."
"Dann sollten wir den Chinesen dankbar sein. Denn so hat die Menschheit statt dreißig kostbarer Schiffe ein paar Dutzend Mechas verloren. Was immer noch schlimm genug ist. Und dir bleibt es erspart, ausgerechnet deine eigene Frau töten zu müssen."
Eikichi lachte rau auf. "Noch." Leise fluchend barg er das Gesicht in seinen Händen. "Oh, verdammt, warum passiert das alles?"
"Sir, Eridia Arogad auf der drei!"
Eikichi nahm die Hände ab und schaltete den Kanal hinzu. "Mutter."
Eridia Lencis Arogad lächelte wohlwollend. "Eikichi, mein guter Junge. Wie ich höre läuft alles in den erwarteten Parametern."
"Helen hat sich dem Key unterworfen und ist an Bord der RASZHANZ. Das sind nicht ganz die Parameter, die ich erwartet habe", erwiderte Eikichi ernst.
"Aber die ich erwartet habe. Helen ist ein zähes Mädchen. Sie wird den Key unterwerfen. Etwas, was noch keinem Träger je zuvor gelungen ist. Sie wird es schaffen. Und sie wird zu ihrer Familie zurückkehren. Daran habe ich keine Zweifel."
"Du hast einen starken Glauben."
"Nein, das ist es nicht. Wäre Akira an ihrer Stelle, würdest du glauben, er könne den Key besiegen?"
"Sicherlich. Akira ist in jeder Beziehung etwas Besonderes, wenn ich das mal sagen darf."
"Siehst du. Und Helen ist seine Mutter. Beweisaufnahme beendet."
"Kapituliere lieber gleich, Eikichi. Eris Beweiskette ist schlüssig", merkte Richards an.
"Dean, mein guter alter Freund. Hast du es endlich geschafft, dich in dieses undankbare politische Amt treten zu lassen. Ich bedaure dich und gratuliere dir."
"Danke, Eri. Ich weiß selbst noch nicht so genau, welcher Teufel mich geritten hat, als ich auf Eikichis Idee einging. Aber ich habe vor, das Beste für mein Land und für die Erde heraus zu holen, so lange wie es dauert."
"Und genau das beweist, dass du dort, wo du gerade bist, am richtigen Platz sitzt, Dean." Eridia nickte zufrieden. "Ihr kennt die Gesamtsituation?"
"Die AURORA wird noch immer von Strafern gejagt, wir hatten einen Vernichter auf Stippvisite im Sonnensystem, der Aufstand der Logodoboro ist ungebrochen und das Kanto-System bedroht. Und noch immer gibt es im Kaiserreich der Iovar kleinere Konflikte zwischen Anhängern des alten Kaisers und der neuen Kaiserin", schloss Eikichi. "Habe ich etwas entscheidendes vergessen, abgesehen von der abgestürzten RASHZANZ und der reaktivierten AO?"
Eridia Arogad lächelte dünn. "Du hast die Flotte vergessen, die sich bei Alpha Centauri sammelt. Uns haben sich drei neue Fraktionen von Daina und Daima angeschlossen, mit insgesamt vierzig Schiffen aller Klassen. Die Legende von meinem Enkel springt mit Überlichtgeschwindigkeit von Stern zu Stern und motiviert die Intelligenzwesen. Sogar nichtmenschliche Spezies stehen mit uns oder unseren neuen Verbündeten in Verhandlungen und wollen sich an der Abwehr der Götter beteiligen."
"Dann wird das Sol-System bald zum Schauplatz des Endkampfes werden." Für einen Moment zögerte Eikichi. "Hoffen wir, dass Kitsune und die anderen Dai bei ihrer Mission Erfolg haben werden. Ansonsten werden noch eine ganze Reihe von Endkämpfen folgen. Und jeder könnte die Existenz der Menschheit ein für allemal beenden."
"Wir werden nicht scheitern", versprach Eridia ernst.
"Sir, Dai-Kuzo-sama auf der zwei!"
Eikichi schaltete die Herrin der Dämonen hinzu.
"Hallo, Eikichi. Eri-Schatz, ich grüße dich. Mr. President." Dai-Kuzo sah ernst in die Runde. "Die Götter haben uns überrascht. Sie haben eine Kryo-Einrichtung ausgerechnet auf Atlantis aufgebaut. Aus dieser strömen zur Zeit kampfbereite Götter hervor. Ihr Ziel ist die RASHZANZ. Es sind über tausend, und ihre Zahl steigt weiter. Dabei liegt ihre Kampfkraft durchaus bei dem eines Dai, und das ist es, was die Situation so gefährlich macht."
Kuzo ließ ihre Worte wirken. Unglaube antwortete ihr. "Eine Kryo-Einrichtung, die mindestens eintausend Götter aufnehmen konnte? Und Ihr habt sie in all den Jahrtausenden nie gefunden?", rief Eikichi überrascht.
"Wir haben ja nicht einmal geahnt, dass sie da ist", gab Kuzo etwas kleinlaut hinzu. "Die Bergregion wurde noch nie von uns genutzt, was... Im Nachhinein schon sehr merkwürdig ist. Aber mit dieser Verstärkung könnte die RASZHANZ entkommen und dem müssen wir entgegen arbeiten. Haben wir bereits die Fähigkeiten, die AURORA und ihre Begleitschiffe mit Hilfe der Systeme verbindenden Lokk-Linien bis ins Sol-System zu befördern?"
"Nein. AURORA und die Begleitflotte sind und bleiben noch mindestens drei Wochen von uns entfernt", erwiderte Eikichi. "Und falls du fragst, ob ich zustimmen würde, wenn Sphinx einen oder mehrere KI-Meister auf den Lokk-Linien zur Erde bringt - das Risiko ist zu groß. Wir dürfen gerade jetzt niemanden vom Kaliber Akiras verlieren."
"Ja, das wäre in der Tat meine nächste Frage gewesen. Bleibt mir nur noch eines: Ich bitte darum, die KI-Meister, die derzeit unter John Takei dienen, in die Abwehrbemühungen einzubinden. Außerdem ersuche ich Torum Acati und den Orden der naguadschen Grenzwächter um Unterstützung durch KI-Meister." Sie sah zu Eridia herüber. "Eri-Schatz, du bist in relativer Nähe."
"Gut. Ich werde die TAUMARA nehmen und zur Erde springen."
"Und ich werde Thomas informieren. Er wird sich ebenfalls einbringen", sagte Richards.
"Und so erreicht unser Ärger wieder einmal eine neue Stufe. Dabei ist Akira noch nicht mal zurück", schloss Eikichi säuerlich. Aber immerhin hatte er damit die Lacher auf seiner Seite.
***
"Entspann dich wieder", sagte Mother vorwurfsvoll. "Hast du schon mal davon gehört, das ein Hologramm einen lebenden Menschen angreifen konnte?"
"Du hast ein paar mehr Möglichkeiten als reine körperliche Angriffe. Wer sagt mir, dass du nicht gerade die Innenverteidigung der ADAMAS kaperst, um mich damit zu bekämpfen."
Mother wurde blass. "Was? Das traust du mir zu? Ich soll meinen niedlichen, süßen Akira absichtlich verletzten wollen?" Sie stürzte zu Boden, stützte sich schwer mit dem linken Arm ab, während sie mit der Rechten ihren Kopf stützte. Leises Schluchzen klang zu mir herüber. "Dass du mir das zutraust, Akira, das ist... Das ist... So unfair!"
Ich fühlte, wie mir ein Stich durchs Herz ging. Okay, sie war nur ein Hologramm, das Abbild des Selbstverständnisses eines Supercomputers, in dem ich - damals zusammen mit Sarah - eine kleine Ewigkeit gefangen gewesen war. Aber ich würde lügen, wenn ich behauptet hätte, Mother würde mich nicht nur gut kennen, sondern dieses Wissen auch gegen mich benutzen können. Sie hatte mich erwischt, richtig gut erwischt, wie ein Teil von mir, der sich nicht emotional manipulieren ließ, neidlos anerkennen musste.
"Ich habe nicht gesagt, dass du es gerade tust", wandte ich in schwacher Abwehr ein. "Aber ich frage mich schon, was du auf der ADAMAS tust. Und wie du herkommst. Und noch ein paar hundert andere Dinge."
Sie sah auf. "Was denn, was denn? Da überbrücke ich vierzig Lichtjahre durch Raum und Zeit, um dir nahe zu sein, und du freust dich nicht mal ein bisschen? Das habe ich nicht verdient, Akira."
"Hallo? Mother, soweit ich mich erinnere, waren wir das letzte Mal auf unterschiedlichen Seiten!", warf ich in einem Anflug nüchterner Logik ein.
"Ach das", meinte sie, lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Mach dir darum keine Sorgen. Michael und Juichiro haben einen Pakt geschlossen. Technisch gesehen sind wir gerade Verbündete."
"Michael hat was?"
"Es geht auch noch weiter", berichtete sie. "Im Moment kämpft Juichiro auf Atlantis Seite an Seite mit den anderen Dais gegen die RASZHANZ. Du siehst, auch hinter den Kulissen ist eine Menge geschehen, seit du weg bist."
Seit ich weg war. Das berührte etwas tief in mir. Etwas nicht so schönes, wenn ich ehrlich war. Zwar hatte ich die Zeit, die mein Bewusstsein in Laysan verbringen musste, nicht wirklich bereut, aber die Umstände waren bestenfalls ärgerlich zu nennen. Aus seinem Leib entführt, vom Körper über hunderte Lichtjahre getrennt, vor allem von seinen Liebsten getrennt... Die Spätfolgen mit meiner akuten Körpertrennung und den ganzen Reyan Maxus-Mist, der mir passiert war, hatten mit dieser ganz speziellen Entführung sicherlich einiges zu tun. Oder anders ausgedrückt: Wäre ich nie in Laysans Körper entführt worden, wäre mir die Reyan Maxus-Sache womöglich erspart geblieben. Was meinen dringenden Wunsch, das abtrünnige Haus Logodoboro mit Stumpf und Stiel auszurotten, irgendwie intensivierte. Noch so ein Ding. Würde Laysan verstehen, warum ich nicht mehr nach Hause kam? Zumindest nicht für die nächste Zeit, und danach vielleicht für immer?
"Hallo? Universum an Akira. Du grübelst ja schon wieder", tadelte Mother.
Ich schreckte hoch. Tatsächlich, ich war erneut in meine Gedankenwelt entkommen, regelrecht geflohen... Dabei hatte ich hier mit Mother die Realität direkt vor Augen, sofern man von einem Hologramm von Realität sprechen konnte.
"Wie hast du überlebt? Ich meine, wir haben den Supercomputer abgeschaltet. Er war isoliert, es gab keine Verbindung nach außen. Du kannst nicht... Ich meine, schön das du es überlebt hast, aber physikalisch gesehen ist es nicht möglich."
Mother lächelte fein. "Sagen wir einfach, ich hatte meine Möglichkeiten. Weißt du, ich bin etwas mehr als die Summe meiner Programmiersprache. Ich bin... Eher schon so etwas wie Chausiku Aris, die Herrin des Cores. Mehr die Summe jener, die in meinem Computer zusammengefasst waren." Ihre Augen schienen zu strahlen. "Und du warst immer ein wichtiger Bestandteil von mir, Akira. Ist es da nicht völlig normal, wenn ich mir wünsche, dich wieder zu sehen?"
"Ach, wie nett", erwiderte ich trocken. "Und wie siehst du mich gerade wieder?"
Ärgerlich blies Mother die Wangen auf. Aber sie ging darauf ein. "Die Standleitung zur Erde. Ich befinde mich im Moment im Core, dem zentralen Kontrollpunkt aller weltweiten Supercomputer, die, wie du mittlerweile weißt, eine Imitation des Paradies der Daina und Daima darstellen, und die über eine virtuelle Realität miteinander vernetzt sind. Von dort nehme ich direkten Zugriff zum Hauptkanal auf dem OLYMP, lasse mich zur AURORA abstrahlen, und von dort zu über Umleitung zur ADAMAS. Hier angekommen habe ich den Bordrechner überredet, ein Hologramm von mir zu erzeugen. Arhtur ist ein sehr einsichtiger Bursche, und normalen Argumenten mehr als zugänglich. Ein feines Stück Künstlicher Intelligenz, aber ich wünsche mir schon, er würde sich mal entscheiden, ob er sich männlich oder eher weiblich definiert. Mir hätten zwanzigtausend Jahre für die Entscheidung vollkommen ausgereicht", sagte sie in einem tadelnden Wortfall.
Beinahe erwartete ich, Arhturs künstliche Stimme zu hören, laut protestiertend. Aber die K.I. der ADAMAS respektierte meine Privatsphäre und mischte sich ohne meine Erlaubnis nicht ein. Eventuell hatte er auch die Überwachung dieser Sektion vollkommen eingestellt, um "seinen Piloten" nicht zu verärgern.
"Das ist Arhturs Problem, nicht deines, oder?", erwiderte ich mit einem dünnen Lächeln. "Was also treibt diesen immensen Wunsch an, mich wieder zu sehen, Mother?"
"Ich mache mir halt Sorgen um dich", sagte sie. "Sieh dich doch an. Was man dir im letzten Jahr alles angetan hat; was du erleiden musstest. Und auf wen du jetzt, da du im Exil bist, verzichten musst. Gut, du hast die Hoffnung darauf, dass deine drei Dai an Bord gute Pressoren abgeben werden und dir vielleicht Jahrhunderte zur Seite stehen können, um den Reyan Maxus in dir in dieser Zeit nur gezielt ausbrechen zu lassen. Du hast die Möglichkeit, eine Zeitlang ganz alleine die Kraft zu beherrschen, die Aufnahme von freier KI-Energie selbstständig zu unterbinden. Und das für einige Jahrzehnte, die für dich erfüllend sein können. Und du hast die Chance, in dieser Zeit nicht nur Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern auch wahrhaft Großes zu leisten. Denn seien wir mal ehrlich, du wurdest nicht geboren, um kleine Brötchen zu backen. Du bist eher der Großfabrikant."
"Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das ein Kompliment war", erwiderte ich mit hochgezogener Augenbraue.
Mother prustete leise lachend. "Weißt du, was dein Cousinchen Sakura gesagt hat, als man sie fragte, wie man dich in der Fremde, der unüberschaubaren Sternenwüste, finden sollte? Ihre Worte waren: Einfach den Explosionen folgen.
Und was hast du getan? Einen gewaltigen Aufstand ausgelöst, der das Sternenreich der Iovar komplett umgekrempelt hat. An Explosionen hat es nicht gemangelt, oder?"
"Zugegeben. Willst du damit vielleicht andeuten, dass ich der geborene Krieger bin? Dass ich Konflikte brauche wie andere die Luft zum Atmen?"
"Ich sage, dass du die Möglichkeit, dich mit anderen zu messen, niemals auslässt. Was ist mit Torum Acati? Ihr habt euch duelliert, auf Leben und Tod. Er, weil es seine Pflicht dem Reich gegenüber war, du, weil du Ai-chan und Joan retten wolltest. Aber dennoch ist dir aus ihm nicht nur ein starker Gegner erwachsen, sondern auch ein guter Freund. Ihr seid euch zu ähnlich, beinahe wie Brüder. Und du kennst viele deiner Art. Nein, du brauchst sicher nicht den Krieg, aber du misst dich gerne. Und du hast nur allzu gerne das Gefühl, gebraucht zu werden. Dabei ist es egal, in welcher Funktion das geschieht, welche Rolle du bekleidest. Du musst deinen Nutzen haben. Das ist dein ureigenster Reflex. Sonst wärst du niemals in Primus geklettert und hättest nie in den Kampf über der Tokio Bay eingegriffen."
Ich erschauderte bei dieser Erinnerung. Damals war ich mehr als nur naiv gewesen, zu glauben, ich könnte etwas bewirken. Den Mecha steuern. Oder nicht von der eigenen Seite abgeschossen werden. Aber als der Mecha vor mir gelandet war, als sich das Cockpit geöffnet hatte, um den toten Kronisier auszuspeien, da war etwas in mir zerbrochen. Da hatte ich gewusst, dass dies fortan meine Maschine sein würde. Und ich bin mit ihr in die Schlacht gezogen. Es war naiv zu erwarten, ich könnte ihn steuern. Doch ich als allererster war überrascht, als ich merkte, wie leicht es mir fiel, Primus zu bewegen, zu steuern, zu meinem verlängerten Arm, zu meinem zweiten Körper zu machen. "Ach das, ja. Henrys Geschenk."
"Nicht nur Henry William Taylors Geschenk, aber lassen wir das durchaus mal außen vor, Akira." Sie lächelte erneut, diesmal intensiver. "Ich bin aus zwei Gründen hier. Beziehungsweise lasse ich aus diesen zwei Gründen ein Live-Abbild von mir direkt vor deiner Nase entstehen. Der erste Grund ist, um dir ein wenig die Einsamkeit zu nehmen, unter der du leidest."
"Ich leide nicht unter...", begehrte ich auf, doch Mothers zwingender Blick ließ mich verstummen.
"Der zweite Grund ist, dass ich einen Weg gefunden habe, dich von dieser Reyan Maxus-Geschichte zu befreien."
"Was?"
"Ich kann dich von der Reyan Maxus-Geschichte befreien. Es gibt sogar zwei Wege, und du musst entscheiden ob du einen der Wege einschlagen willst. Oder beide ausschlägst, denn, das steht leider fest, die Erde wird einen Reyan Maxus dringend brauchen. Mit einem Götterschiff auf Atlantis, das die Aufgabe hat, die Welt zu zerstören. Mit einer Daimon, die von den Schiffen der Götter attackiert wird und deren menschliche Bewohner von den KI-Biestern, die freies KI sammeln, irgendwann einmal ausgesaugt werden... Wir brauchen dann Akira Otomo, und das am Besten in seiner kampfstärksten Form als Maxus."
"Was sind diese beiden Wege?", fragte ich ernst. Nicht, dass ich vorhatte, mich vor meiner Verantwortung in den kommenden Schlachten zu drücken. Aber ich wollte zumindest wissen, welche Auswege sich mir boten.
"Die erste Methode ist simpel. Du hättest selbst drauf kommen können." Mothers Lächeln verblasste. "Nimm die Gift an. Werde zum Teil Elwenfelt. Es wird funktionieren, so wie es bei Yohko funktionieren wird. Du wirst dann diese unheilvolle Fähigkeit, freies KI aufzunehmen, wieder verlieren. Höchstwahrscheinlich. Die Chancen stehen aber gut", schränkte sie ein.
"Was ist die zweite Methode?"
"Du verlierst auf ewig deine Fähigkeit, das KI zu kontrollieren. Du wirst keine KI-Klinge mehr erzeugen können, kein fokussiertes KI anderer KI-Meister wie den Slayern absorbieren und einsetzen können. Du wirst deinen Alterungsprozess nicht mehr steuern können. Und deine Kräfte und Fähigkeiten werden auf ein normales, ein menschliches Maß zurückgesteuert werden. Du wirst auch die Langlebigkeit der Naguad verlieren. Du wirst durch und durch ein ganz normaler Mensch mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung werden, Akira Otomo. Ich habe ein Medikament entwickelt, das auf einem Produkt der Naguad beruht. Du wirst zwei Jahre damit kuren müssen, und am Ende alle Fähigkeiten zur KI-Beherrschung einbüßen. Aber es gäbe ein Leben nach dem Reyan Maxus."
"Ein normaler Mensch...", echote ich.
Das brachte Mother zum Lachen. "Nun gut, vielleicht kein vollkommen normaler Mensch. Wir reden hier immerhin von dem Akira Otomo. Okay, das sind die beiden Optionen. Aber ich kann schon jetzt vorhersagen, dass du..."
"Danke, Mother, für die Möglichkeiten. Ich werde gut drüber nachdenken müssen. Aber im Moment sind meine Fähigkeiten als Reyan Maxus noch zu wertvoll im Kampf gegen die Götter. Vielleicht komme ich später darauf zurück. Vielleicht muss ich es dann sogar. Aber jetzt werde ich erst einmal trainieren, um mit ADAMAS eine Einheit zu werden, damit wir in der nächsten Schlacht gegen die Götter kein totes Kapital sind. Unser Sprung endet bald, und niemand kann versprechen, dass die Strafer unserer Flotte nicht auflauern."
"Dass du genau so etwas sagen wirst", seufzte Mother leise. Sie zuckte mit den Schultern. "Aber war soll's, das ist nun mal mein Akira. Ich habe es voraus gesehen."
Sie lächelte mit von der Seite an. "Soll ich dich unterstützen? Dieses Hologramm bindet nur einen Bruchteil meiner Rechenkapazität. Und ich bin recht erfahren in den Netzwerken, die du mit Arhtur betreiben willst. Ich kann dir mehr als ein paar Tricks zeigen."
"Hm", erwiderte ich. "Arhtur?"
"Keine Einwände, Meister Arogad."
"So, du hast also doch zugehört", stellte ich grimmig fest.
"Entschuldigt, Meister Arogad."
"Das war eine Feststellung, kein Tadel", erwiderte ich. "Also, wenn du nichts dagegen hast, dann nehme ich Mothers Hilfe an. Sie ist... eine alte Freundin."
"Natürlich, Meister Arogad." Irrte ich mich, oder klang da so etwas wie Belustigung in Arhturs Stimme auf?
"Also dann, Akira", rief Mother beschwingt und hakte sich rechts bei mir ein, "retten wir mal das Universum!"
Zwei Dinge waren für mich in diesem Moment sehr verwunderlich. Das Erste war der Enthusiasmus, den die künstliche Intelligenz aus einem Supercomputer der Kronosier für die Rettung der Welt aufbringen konnte, wenn man doch erwartete, dass sie dies eher für die Eroberung des Universums empfinden würde.
Das Zweite war die Tatsache, das ein Hologramm mich berühren konnte, sich warm und sanft anfühlte, und in der Lage war, mich hinter sich her zu ziehen. Na, das war ja schnell gegangen mit den Wahnvorstellungen, entstanden aus der Einsamkeit.
"Wundere dich nicht. Ich bin keine reine Projektion, sondern nutze freies KI von der AURORA, um mir eine dünne Hülle zu erschaffen. Gerade wenig genug KI, um von dir nicht als Appetizer angesehen und gefressen zu werden, du großer, böser Reyan Maxus."
"Ach so", murmelte ich. Allerdings, ohne es wirklich zu verstehen. Stattdessen ließ ich mich von Mother mitziehen. Die Zeit an Bord der ADAMAS schien nun wenigstens etwas interessanter zu werden, als ich erwartet hatte.


2.
Als Kitsune in den Bereich der harten Strahlung eintauchte, spürte sie für ein paar bange Sekunden die altbekannte Panik, als abermilliarden lichtschneller Partikelwellen der harten Gamma-Strahlung durch ihren Pseudokörper schossen und ihn auf submolekularer Ebene zum Schwingen brachten. Unbewusst stockte sie, bis sie die Schwingungen als normal empfunden hatte. Zugleich spürte sie, wie ihr KI-Körper mit der Selbstreparatur begann, was einen Teil ihrer Kraft kostete. Nicht viel, und sie hatte es erwartet, aber sie musste den Verlust mit einrechnen. Dabei hatte sie gegenüber einem Daina oder Daima Vorteile in der radioaktiven Strahlung. Ein normaler Mensch wurde ebenso von den Gamma-Wellen durchbohrt wie sie, die Strahlung hinterließ Hitze und beschädigte die Zellen auf ihren Wegen, was zu Erbschäden und letztendlich zum Tod führen würde; darum musste ein Dai sich keine Sorgen machen, weil er keine Zellen hatte, die beschädigt werden und anschließen absterben konnten. Dennoch, schön war es nicht. Ein Blick in die Gesichter ihrer Gefährten unter den Einsatzhelmen bewies, dass sie sich ähnlich fühlten, aber ebenso wie sie darüber hinweg gingen, umschalteten. Kitsune konzentrierte sich wieder auf die Fahrtrichtung des Materialtransporters, der sie nun in die Tiefen des Kerns brachte, in jenen Bereich, den sie zu erreichen gehofft hatten. Die Radioaktivität verstärkte sich immens. Sie war hart genug, um einen Daima oder Daina binnen weniger Sekunden bei lebendigem Leib zu braten. Kitsune fragte sich, ob maschinelle Logik bei der Bekämpfung der Götter wirklich der Grund für dieses Höllenloch sein konnte, oder ob es nicht doch wahrscheinlicher anzunehmen war, alle sechs Reaktoren hätten Strahlungslecks... Ja, klar. Seit wann neigte sie zu Wunschdenken?
Der Materialtransporter nahm einen natürlichen Schacht zwischen zwei Werften, in denen Vernichter in den unterschiedlichen Stadien der Demontage auf Kiel lagen. Roboter und Drohnen arbeiteten emsig an ihnen und umwuselten die mächtigen, vier Kilometer langen Schiffe wie Ameisen ihre Königin. Kein so unpassender Vergleich. Auf die Werften für die Vernichter folgten kleinere Werften für die Strafer und Sucher, und bevor die vier Dai sich versahen, hatten sie bereits dreißig Kilometer zurückgelegt.
Der Schacht öffnete sich ein wenig. Das heißt, eigentlich waren die sie umgebenden Werften und Fabriken nun weniger in ihre Richtung hin gebaut worden. So, so, der Schacht war also in Wirklichkeit nur eine absichtlich frei gelassene Baulücke von dreihundert Metern Durchmesser hier unten. Eine interessante Information, die nur durch maschinelle Logik erfolgt sein konnte.
Vierzig Kilometer. Livess sprang ab, um den ersten Reaktor zu erreichen, der ihrem Fluchtschiff am nächsten stand. Bei siebzig würde Celeen springen. Kitsune würde bis zum Zentrum mitfahren, Lertaka bis zum Computerkern eskortieren und dann den dritten und letzten Fusionsreaktor aufsuchen. In der festen Hoffnung, dort schnell genug wieder weg zu kommen, ohne im Höllenfeuer der Detonationen, die hoffentlich erfolgen würden, unterzugehen.
Sechzig Kilometer. Die Materialfähre reduzierte für ein paar Augenblicke die Geschwindigkeit, um einen Materialzug durch zu lassen, der einen Quertunnel passierte und einmal über ihre Fahrtroute hinweg schoss. Die Dimensionen dieses Zuges konnten es durchaus mit einer terranischen Fregatte aufnehmen. Seine Geschwindigkeit allerdings auch.
Siebzig Kilometer, Celeen nickte ein letztes Mal in ihrer beider Richtung, bevor auch sie absprang.
Lertaka und Kitsune tauschten einen langen Blick. Die Füchsin klopfte auf dem Blaster im Brustholster und griente den anderen Dai an. Mit einer Waffe, die künstliche Neuronen brutzeln konnte, war gegen einen Computer der Götter tatsächlich ein Kraut gewachsen.
Auch Lertaka hatte einen Neuroschocker erhalten und klopfte seinerseits grinsend auf die Waffe.
Achtzig Kilometer. Neunzig. Die Materialfähre reduzierte merklich und steuerte einen Verladebahnhof an. In die Greifwerkzeuge dieses Molochs wollten die beiden Dai nicht geraten, deshalb stießen auch sie sich ab und schwebten den Aufbauten entgegen. Durch die Geschwindigkeit, die ihnen die Materialfähre mitgegeben hatten, sausten sie wie menschliche Kanonenkugeln auf die Streben, Wände und Halterungen zu, und nur das große, Jahrtausende gewachsene Geschick verhinderte, dass sie sich selbst durch die Eigenmasse an einer Strebe in mehrere Dais verteilten. Auch so war der letztendliche Aufprall hart genug, aber diese Dai gehörten zu den besten Kriegern des bekannten Universums. Darüber hinaus waren sie Dai, und als Kitsunes Handgelenk beim Versuch, sich abzufangen, mit deutlichem Geräusch brach, brauchte sie nur wenige Sekunden, um es zu heilen. Aber der Energieverlust war schon sehr ärgerlich.

Seite an Seite drangen sie in den Komplex ein, suchten den nächsten Hohlweg, der sie tiefer in die Struktur bringen würde. Kitsune verglich den Weg mit ihrem Hologramm und winkte Lertaka weiter. Noch zwanzig Kilometer bis zum Zentrum. Lertaka stoppte. "Da stimmt etwas nicht", sagte er zu Kitsune, indem er seinen Helm auf ihren legte, damit die Vibrationen der Schallwellen in ihren Helm gelangen konnten. "Das Hologramm stimmt nicht mehr mit der Realität überein!" Er deutete in das Hologramm und dann zur Seite des Hohlweges. Gewiss, das waren die Strukturen, die sie zu sehen erwartet hatten. Aber warum gab es keinen Frachtverkehr in diese Sektion hinein und wieder heraus? Und wieso maß sie ein starkes Energiefeld an, ähnlich einem Schiffsschild?
Kitsune checkte die Missionszeit. Sie hatten ihr Primärziel noch nicht erreicht, aber sie lagen sehr gut in der Zeit. "Weiter zum Zentrum", befahl sie Lertaka. "Ich sehe mir das an und gehe dann direkt zum Reaktor."
Der andere Dai zögerte einen Augenblick. Dann nickte er bestätigend, stieß sich ab und schoss den Hohlweg tiefer hinab.
Kitsune schwebte indes in einer gemächlicheren Geschwindigkeit auf die andere Seite der Schachtwand zu. Gewiss, da waren Öffnungen für Warenverkehr. Aber sie konnte das starke Energiefeld spüren, auch ohne es zu sehen. Kurz entschlossen löste sie etwas Masse aus ihrem Kampfanzug und warf diese in Richtung Gangwand. Das Ergebnis war verblüffend. Sie hatte erwartet, das die paar Gramm Stahl und Plastik verbrennen würden, vergehen in der Feuerlohe der Energie. Stattdessen dehnte sich das Abbild der Wand, schlug kreisförmige Wellen von jenem Punkt, von dem die Materie aufgetroffen war, und verschluckte sie schließlich.
Okay, an dieser Stelle musste man Kitsune zugute halten, dass sie eine sehr neugierige Dai war. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, dieses Phänomen zu ignorieren, als beiläufig abzutun und sich um die Reaktoren zu kümmern. Das hätte sie näher ans Missionsziel, näher an Akira gebracht. Doch eine Kitsune musste nun mal tun, was eine Kitsune tun musste, auch wenn sie keinen ihrer Gefährten über ihre Absicht informieren konnte. Und ein Energiefeld, das feste Materie passieren ließ, war interessant genug.
Sie schwebte näher heran, bis sie fühlte, dass das Feld zum Greifen nahe vor ihr lag. Sie streckte die Hand aus, steckte den Zeigefinger hinein. Etwas, was sie schnell regenerieren konnte, wenn ein paar hunderttausend Volt nach ihr griffen, den Finger abschmorten und ihren Leib wie von einem Katapult abgeschossen durch die nächste Wand trieben. Doch nichts dergleichen geschah. Abgesehen davon, dass wieder dieser Welleneffekt eintrat, der sich von dort, wo ihr Finger eintauchte, langsam über die ganze Wand hinfort zog. Interessant. Sie streckte die ganze Hand hinein. Zwar konnte sie die Hand noch spüren, aber nicht mehr sehen, so als hätte man ihr das Körperteil abgeschnitten. Ein Geheimnis, ging es Kitsune durch den Kopf. Hier musste etwas ganz Besonderes verborgen sein, wenn dieser Ort so speziell geschützt war. Die Frage war nur: Nachgehen oder Aufgabe erfüllen? Die Vernunft behielt die Oberhand, die Mission klopfte an und meldete Vorrang, auch wenn sie danach nie wieder erfahren würde, welches Geheimnis sich hier verbarg. Mit einem Seufzer zog sie die Hand wieder hervor.
Das heißt, sie wollte die Hand hervor ziehen, aber es gelang ihr nicht. Irritiert zog sie stärker, aber es gab einen Widerstand. Kurz entschlossen wollte sie die Hand abtrennen und neu erschaffen, doch dafür war es zu spät, als ein Sog nach ihr tastete. Ein Sog, der sie vollends durch das Schirmfeld zog, und auf dieser Seite des Schachts nur ein paar hundert Wellenberge auf der Schirmoberfläche zurückließ, die davon kündeten, das hier einmal eine Dai existiert hatte.
Auf der anderen Seite griff gleißende, alles beherrschende Helligkeit nach Kitsune. Helligkeit, die sich steigerte, die sich so heiß anfühlte wie ein Laserstrahl. Für einen winzigen, bewussten Augenblick war sich Kitsune sicher, dass sie sterben musste.
***

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Ace Kaiser,
Angry Eagles

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