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Zum Ende der Seite springen Der Ronin
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Cattaneo
Major


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Überfall

Das Lager der Ronin schien zu schlafen. Seid zwei Tagen waren sie auf der Flucht. Kenda trieb seine Männer und Frauen unbarmherzig an – und wenn sie ihn auch verfluchen mochten, so wußten sie, daß sie von einem Feind verfolgt waren, der weit gnadenloser als ihr Kommandeur war. Ständig war ein erheblicher Teil der Soldaten und Techniker auf den Beinen, hielt Wache, versuchte, die Technik kampfbereit zu halten oder etwas zu essen aufzutreiben. Hunger und Müdigkeit machten sich langsam bemerkbar, vor allem, weil das schlechte Wetter die Situation zusätzlich verschlimmerte. Aber der Chu-sa hatte Vertrauen in seine Untergebenen. Nachdem sie ihre Situation erst einmal akzeptiert hatten, waren sie mit verbissenem Trotz daran gegangen, damit fertig zu werden. Der Umstand, daß von Anfang an den meisten klar gewesen war, daß es so enden konnte, erleichterte es ihnen etwas. Übermüdet, durchnäßt und hungrig waren sie dennoch wie ein Rudel abgemagerte Wölfe, bereit, sofort zuzuschlagen, wenn das Leittier sie rief.

Kenda hatte sich entschieden, seine Mechs im inneren Bereich des Lagers zu postieren. Das schränkte die Reichweite von Radar und anderen Sensoren zwar ein, doch zwischen den Büschen und Bäumen waren die Kampfmaschinen nur schlecht zu erkennen und damit für die feindlichen Waffen auch nicht so leicht zu treffen. Und wenn man es mit einem Gegner zu tun hatte, der grundsätzlich weiter schoß und vermutlich keine Probleme mit dem Nachschub hatte, ließ man sich besser nicht auf ein Langstreckenfeuergefecht ein. Aber die Mechs waren bereit, sofort auszurücken und den Gegner so lange aufzuhalten, bis der Rest des Lagers kampfbereit war. Zumindest hoffte er das. Bei der Stärke des Gegners – geschätzt ungefähr das Doppelte, was ihm noch zur Verfügung stand – gab es so etwas wie Sicherheit nicht.

Im Cockpit seiner Maschine rieb sich der Chu-sa die Augen. Er mußte bitter grinsen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, er sei eigentlich langsam zu alt für so etwas. Zu alt! Nun, er war immerhin schon Mitte Fünfzig, und irgendwann machte es sich bemerkbar, daß man kein junger Rekrut mehr war, unerfahren, aber strotzend von Gesundheit. Kenda fühlte sich nicht direkt alt – nicht mehr, seit ‚sein‘ Krieg begonnen und er die Last aus Resignation und Verbitterung abgeschüttelt hatte. Oder, zumindest nicht oft. Die alten Wunden erinnerten ihn an all die Schlachten, die er für das Kombinat geschlagen hatte. Er schüttelte leicht den Kopf. Mit Wunden aus diesem Krieg würde er wohl kaum gezwungen sein zu leben – denn es war wenig wahrscheinlich, daß er den Kampf noch lange würde fortsetzen können. Nur wenn Izawa Erfolg hatte, und der feindliche Kommandeur seinen Plan nicht durchschaute, hatten sie eine Chance. Der feindliche Kommandeur...

Kurz blickte er zum Sanitätszelt. Seitdem sie die Medikamente von ihren Feinden erhalten hatten, ging es den Verletzten besser. Einige Offiziere hatten dafür plädiert, das „Geschenk“ nicht anzunehmen. Kenda hatte dieses Ansinnen zurückgewiesen: „Wenn der Feind gewillt ist, seinem Handeln einen Anschein von Ehrenhaftigkeit zu geben – dann soll er doch! Ich glaube nicht, daß wir ihm die Dummheit seines Tuns aufzeigen können, indem wir die Medikamente zurückschicken. Es sind Söldner – und ich denke, sie versuchen so, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, um auch weiterhin für die Invasoren arbeiten zu können. Sie gaukeln sich vor, indem sie ‚ehrenhaft‘ handeln, würde ihr Handeln weniger verbrecherisch. Ich bezweifle, daß sie je begreifen werden, was sie wirklich tun.“ „Aber wenn wir annehmen erleichtern wir ihnen diesen Selbstbetrug!“ Er hatte genickt: „Aber seht es so: Wenn Banditen in ein Dorf kommen, die Männer erschlagen und die Frauen schänden, die Hütten brandschatzen – und dann ein paar Sack Reis zurücklassen, meint ihr, die Bauern werden nicht trotzdem den Reis essen, statt zu verhungern? Aber wenn es die Gerechtigkeit will, und die Verbrecher werden in ihre Hand gegeben, werden sie sie dennoch strafen! Ein Räuber, ein Mörder und ein Vergewaltiger bleibt was er ist, auch wenn er einmal eine edle Tat vollbracht haben wird. Und als solches wird man ihn richten!“
Also hatten sie die Medikamente angenommen. Der Chu-sa lächelte kalt. Mit etwas Glück dürfte seine „Antwort“ bereits eingetroffen sein. Er hatte den Angriff schon vorher angeordnet, aber er hätte ihn auch nicht zurückgerufen, wenn er gekonnt hätte – keiner von ihnen hätte es.

Mochte der Söldner sich doch an seinen Wahn von „Anständigkeit“ und „Ehre“ klammern. Für eine derartige Pervertierung dieser Begriffe war in Kendas Krieg kein Platz.

Er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Wenn sie nur noch ein bißchen durchhielten... Es wußte, daß Feindpanzer ihn beschatteten. Aber bisher waren die feindlichen Mechs noch nicht aufgetaucht. Noch bestand Hoffnung, daß der Gegner einfach abwartete, bis Hunger und Verschleiß ihm die Arbeit abnahmen.

Plötzlich fuhr er hoch. Was war das? Deutlich hörte er das Hämmern eines Maschinengewehrs, und dann den Alarmschrei: „Elementare!“ Mit einem Fluch setzte er seine Maschine in Bewegung. Seine Stimme halte wie Donner durch das Lager: „ALARM!“ Stampfend setzte sich der Koloß in Bewegung. Als er eintraf, verkündete schon eine donnernde Explosion das Ende ihres letzten Harassers – und des Elementars, der ihn zerstört hatte. Kenda konnte mehr als ein Dutzend der häßlichen Gestalten ausmachen, die, Dämonen aus alten Sagen gleich, scheinbar unverwundbar und unaufhaltsam vorrückten. Elementare waren tödliche Gegner, an Schlagkraft zumindest kurzzeitig einigen leichten Mechs fast ebenbürtig, und schwer zu treffen. Aber er hatte gelernt, mit ihnen fertig zu werden. Ohne sich um die leichten Treffer zu kümmern, die er kassierte, setzte er seine Waffen ein. Nicht die Raketen – die Gefahr, in dem Durcheinander auch eigene Leute zu treffen, war zu groß. Seine PPK schmolz einen Feind zu einem Klumpen Panzerung und Fleisch zusammen, die Impulslaser tasteten nach den Feinden. Gegen einen solchen Gegner hatten sie keine Chance. Während er noch kämpfte – sofort rann ihm der Schweiß in Strömen über den Körper, denn Kenda ignorierte die Hitzeentwicklung – wunderte er sich über die Taktik der Feinde. Ein Angriff ohne Mechs, Luftwaffe und Panzer? SO dumm konnten doch nicht einmal Claner sein.

In dem Augenblick sah er, wie ein Elementar mitten in einer Gruppe Kämpfer einfach explodierte. Und er begriff – sie kamen nicht nur um zu töten, sondern auch um zu sterben. Kenda brüllte einer Warnung, doch in dem Chaos ging sie unter. Er konnte nur schießen, und die Zahl der Feinde verringern, ehe diese ihre tödliche Last zünden konnten. Kenda fühlte keinen Respekt vor dem Feind – sondern fast eine grimmige Befriedigung. Wenn die Claner zu solchen Mitteln griffen, konnte dies nur eines heißen: sie nahmen ihn und seine Leute ernst.

Eine unförmige Gestalt schlug gegen sein Cockpit – ein feindlicher Soldat. Kenda kniff die Lippen zusammen. In solchen Augenblicken wünschte er sich, einen Mech mit Handaktivatoren gewählt zu haben. Aber wenn der Elementar glaubte, er könne ihn so einfach erledigen, sollte er sich täuschen. Blitzschnell ließ er seine Maschine von einer Seite zur anderen taumeln. Die Fliehkräfte erwiesen sich als zu groß, und der Elementar stürzte. Kenda erledigte ihn mit einem Tritt, doch die Explosion der Sprengladung ließ ihn taumeln. Mühsam fing er den Mech wieder. Dann erschütterte eine gewaltige Entladung die Luft. Der Fangeisen-Mech, der mit Kenda Wache gestanden hatte, war explodiert. Doch mit diesem letzten Schlag war der Angriff vorbei. Die Elementare waren gefallen – aber sie hatten einen hohen Preis gefordert.
24.01.2003 19:19 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
Cattaneo
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„Wie sieht es aus?“ fragte Kenda. Die anderen Offizieren tauschten zögerliche Blicke. Dann sprach Sakura: „Wir haben dreizehn Tote, zwölf Schwerverletzte und sechs Verletzte. Dazu ein paar Leute mit leichten Verwundungen.“ Er warf Nakamura einen Blick zu. Die Sho-sa starrte wütend geradeaus. Ihre leichten Wunden waren verarztet worden, aber sie bedachte den Elementar, der sie geschont hatte, nicht eben mit Segenswünschen. Nicht, daß ihr nichts am Leben lag. Aber der Wahn des Feindes, den Kampf als eine Art sportlicher Wettkampf zu sehen, ließ den Haß der Soldaten, die in diesem Krieg zu Recht einen Kampf um das Leben ihrer Heimat sahen, nur von neuem auflodern. Doch sie war nicht nur Kriegerin – sie war auch eine Offizierin, und eine gute dazu. Also riß sie sich zusammen: „Fangeisen Zwei ist ausgefallen, mitsamt dem Piloten. Keine Möglichkeit, da noch etwas zu retten. Wir haben für unseren Jenner keinen Piloten mehr, aber wir können einen unserer Reservisten einsetzen, die Sazumi uns beim letzten Mal mitgebracht hat. Die Schäden an den Mechs sind nicht bedrohlich, wir arbeiten daran, sie notdürftig zu flicken.“ Kenda nickte Hakon Ragnarsson zu: „Der Harasser und der Edgar sind hin, ebenfalls Totalverluste. Der Saladin wird nicht wieder fahren können, nicht bei unserer Ersatzteillage. Die MTW’s haben nur leichte Schäden.“ Der Chu-sa überlegte: „Kann er feuerbereit gemacht werden?“ „Wieso? Mitnehmen können wir ihn nicht, und der Gegner wird nicht so blöd sein, sich einem zurückgelassenen Panzer so sehr zu nähern.“ Kenda nickte: „Ja. Sehr richtig. Aber darum geht es mir auch nicht.“ Er schwieg einen Augenblick. Offenbar wollte er seine Worte mit Bedacht wählen: „Ich bin davon überzeugt, dieser Angriff ist der Auftakt für den entscheidenden Angriff. Nicht einmal die Clans würden so viele ihrer Leute opfern, wenn sie sich davon nichts weiter versprechen könnten, als uns etwas zu schwächen. Ich bin sicher, in diesem Augenblick sind die feindlichen Mechs bereits auf dem Marsch. Wenn der Feind bereit ist, so weit zu gehen, dann will er uns nicht aushungern – er will uns vernichten. Und das bald.“ Langsam musterte er jeden einzelnen, hielt ihre Blicke gefangen. Keiner senkte den Kopf – vermutlich hatten sie es wie er geahnt: „Wir werden uns darauf vorbereiten, ihnen einen Kampf zu liefern, den die wenigen Überlebenden NIE vergessen werden, und sollten sie auch hundert Jahre leben! Und selbst dann sollen sie mit Entsetzen und ungläubigem Staunen daran zurückdenken!“ Er wandte sich an Sakura: „Überprüfen Sie, welche Verwundeten kampffähig sind. Die anderen – stellen Sie sie vor die Wahl. Und geben Sie aus, was Sie an Mitteln haben, um die Müdigkeit zu bekämpfen. Bald werden wir alle schlafen können, aber bis dahin brauche ich jeden Mann und jede Frau!“ Der Arzt verneigte sich stumm. Er wußte, von welcher Wahl Kenda sprach. Der Chu-sa sprach nun zu Tanake: „Sehen Sie zu, daß der Saladin feuerbereit ist. Lassen Sie die Munition zu zwei Dritteln entfernen. Die Heckpanzerung wird demontiert, und entfernen Sie auch einzelne Panzerplatten an den anderen Seiten. Es soll so aussehen, als hätten wir den Panzer ausgeschlachtet. Zwei der MTW's verlieren ihre MG’s, lassen Sie diese in feste Stellungen geben – Marushige sagt Ihnen, wo! Versuchen Sie, ein paar Attrappen einzubauen, damit der Feind den Unterschied nicht bemerkt. Die Munition geht zur Hälfte an die beiden anderen MTW’s, falls die welche brauchen, und vom Rest noch einmal die Hälfte an die Feuerstellungen. Der Rest bleibt in den Maschinen. Und die Granaten des Saladin werden ebenfalls aufgeteilt – und in den beiden Transportern verstaut. Wenn es sich noch einrichten läßt, stellen Sie einen Mech und ein paar Leute ab, die den Mannschaftsraum mit Sand und Steinen füllen. Und tun Sie, was in Ihrer Macht steht, die beschädigten Mechs zu reparieren. Noch etwas: einige der Elementare hatten eventuell keine Möglichkeit, ihre Sprengladungen zu zünden. Bergen und sichern – dies gilt auch für die Munition in den Gefechtsrüstungen, und die Rüstungen selber. Schauen Sie, ob man daraus Panzerflicken für unsere Mechs improvisieren kann, oder für Infanteriestellungen. Die beiden anderen MTW’s – versuchen Sie, ob Sie auf denen ein paar Abschußschienen für Raketen anbringen können. Vier bis sechs sollten genügen.“ Der Techniker salutierte: „Hai, Tono!“ „Nakamura, Sie sorgen dafür, daß das Vorfeld ausgemessen wird. Schußentfernungen, Bodenbeschaffenheit und so weiter. Die Mechs sollen sich bereit machen!“ Dann war Marushige dran: „Ihre Leute sollen Infanteriestellungen ausheben. Die Mehrzahl so, daß sie erst feuern können, wenn der Feind im Lager steht. Bei unserer schwachen Bewaffnung mit Unterstützungswaffen lohnt es sich kaum, die Infanterie schon im Vorfeld einzusetzen. Aber die Mörser und Granatwerfer sollen indirekt Feuerunterstützung geben! Lassen Sie Beobachter in Stellung gehen. Und grabt euch in den Boden! Außerdem will ich, daß Sie den Leuten die Möglichkeit geben, sich schichtweise zu waschen.“ Er legte dem Offizier die Hand auf die Schulter: „Und lassen Sie das Höllenmahl zubereiten!“ Schweigend, aber gefaßt, salutierte der Infanterist. Das ‚Höllenmahl‘ war eine draconische Tradition. Wenn eine Truppe keine Aussicht mehr hatte, noch lange zu leben, wurde eine besonders gute Mahlzeit zubereitet. Auf einem wracken Landungsschiff, in einem U-Boot, das dem Tode geweiht war, in einer umzingelten Stellung – überall, wo der Untergang gewiß war, pflegte man diese Tradition. Es gab kein deutlicheres Zeichen für die Lage, als dieses. Als letzter kam Hakon Ragnarsson dran: „Sie ahnen sicher, wofür ich die beiden MTW’s brauche, bei denen die Waffen ausgebaut werden. Ja – diese Panzerfahrzeuge sind dazu gedacht, sich im direkten Angriff auf den Feind zu stürzen, und ihn mit in den Tod zu reißen. Es tut mir leid, daß es so weit kommen mußte. Machen Sie ihre verbliebenen Panzer und die Infanterie bereit. Die beiden anderen Transporter werden mit ihrer provisorischen Raketenbewaffnung – so viele Infernoraketen können wir entbehren – die feindlichen Panzer und Elementargruppen jagen. Was die Kamikazefahrzeuge angeht – fragen Sie, ob es Freiwillige gibt.“ Der Pirat schüttelte nur leicht den Kopf. Von seinen Panzern war so gut wie nichts mehr geblieben. Vielleicht mochte er sich fragen, ob er nicht den falschen Weg gewählt hatte. Doch dann sah er auf: „Für einen der MTW’s haben Sie Ihren Piloten.“ Der Chu-sa nickte. Dann verbeugte er sich vor seinem Untergebenen wie gegenüber einem vorgesetzten Offizier: „Ihr Opfer zeugt von großer Ehre – und von Ihrer Liebe zu Ihrem Land.“ Die Entscheidung war gefallen – nun galt es, die letzten Vorbereitungen zu treffen: „An die Arbeit!“
24.01.2003 19:20 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
Cattaneo
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Der Weg nach Yasukuni

Kenda warf einen Blick auf das Lager – der Ort, an dem sich das Schicksal seiner Männer und Frauen erfüllen würde. Die Ronin und ihre Verbündeten hatten sich in die Erde gegraben und provisorische Stellungen ausgehoben. Freilich – sie konnten nicht mehr darauf hoffen, dem Gegner erfolgreich Widerstand zu leisten. Geschwächt durch Verrat, einer Übermacht gegenübergestellt und ohne Nachschub, war ihr Ende gewiß. Die letzte Hoffnung auf Rettung hatte sich zerschlagen. Dennoch gab es keine Meuterei, keine Auflösungserscheinungen. Jene, die hier waren, hatten ihr Schicksal selbst gewählt, und waren bereit, bis zum bitteren Ende zu gehen. Er verspürte für einen Augenblick Trauer. So viel Tapferkeit, so viel Treue, so viel Liebe zur Heimat, zur Freiheit. Und all das würde hier enden. In den Staub getreten von den Kriegsmaschinen des Feindes, ermordet von Söldnern, die mit dem Geld des Landes gedungen waren, dem sie alle dienten. Was für ein Wahnsinn!

Und dennoch – wenn er jetzt darüber nachdachte, so fand er nicht einen Punkt, an dem er oder einer seiner Leute hätte mit gutem Gewissen umkehren können. Das Schicksal hatte ihren Tod beschlossen, und dagegen konnte man sich nicht auflehnen. Es würde nicht mehr allzu lange dauern. Er blickte auf den kleinen Haufen Papier vor sich. Fotos seiner Frau – eines von ihrer Hochzeit, und ein neueres. Bilder seiner Kinder und seiner Familie. Ein paar persönliche Notizen. Eine Strähne seines Haares. Langsam senkte er die Hand. Das Armeefeuerzeug flammte auf, gierig tastete das Feuer nach Nahrung. Rasch griffen die Flammen um sich. Gerne hätte er die Bilder herausgerissen, sie gerettet, aber er wußte, daß es dazu zu spät war. Sie mußten verbrennen, wie auch er verbrennen würde. Sein Blick folgte der dünnen Rauchfahne, die gen Himmel stieg. Es war bedauerlich, daß es ein Himmel ohne Sonne war – und doch ihm war es, als würden seine Augen die Wolken durchdringen und zu den Sternen reichen. Denselben Sternen, zu denen die Menschen aufblicken mochten, die er liebte, und die ihn liebten.
Rings um ihn stiegen andere Rauchsäulen zum wolkenverhangenen Himmel auf. Sie alle nahmen Abschied. Verbrannten, was ihre letzte Verbindung zum Leben war, zu den Menschen, für die sie in den Krieg gezogen waren. Briefe, Fotos, Bilder, Haare, Andenken. Sie schickten das voraus, was ihre Lieben verkörperte. Bald würden sie dem Rauch folgen.

Er stand auf. Sein Blick wanderte über die Hochebene, die ihr Grab werden würde. Er lächelte knapp. Nicht eben der Platz, eine Heldensage zu begründen. Die alten Samurai waren an Brücken und Engpässen gefallen, hatten sich in ihrer Burg oder in einer Höhle selbst entleibt. Aber andererseits – den Kamikaze war der unergündliche Ozean zur letzten Ruhestätte geworden, und dennoch hatte man ihrer immer gedacht.

Das letzte Mahl war bereitet – das Höllenmal. Der Chu-sa nickte leicht vor sich hin. Sie folgten der Tradition, die ihr Reich durch die Jahrhunderte begleitet hatte. Die es am Ende retten würde, auch wenn die augenblicklichen Herrscher ihr Erbe verraten hatten. Andere würden diesen Fehler wiedergutmachen.

„Tono?“ Die Stimme klang leise, respektvoll. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Dokter Sakura. Kenda wußte, der Arzt respektierte den Abschied des Kommandeurs von all dem, was ihn mit den Lebenden noch verband. Vermutlich hatte er schon eine Weile gewartet: „Was ist?“ „Die Verwundeten – sie haben gewählt. Vier Verletzte – alles Piraten – haben sich entschieden, es mit der Gefangenschaft zu versuchen.“ Der Chu-sa zeigte keine Empörung. Die Vier waren zu schwer verletzt, um noch zu kämpfen. Wenn sie es nicht über sich brachten, sich zu töten, dann war dies ihre Entscheidung. Als Piraten hatten sie gute Chancen, nicht ausgeliefert zu werden. „Und unsere?“ Der Arzt wirkte auf einmal alt, gebeugt – fast gebrochen: „Sechs haben ihre Entscheidung getroffen und werden aus dem Leben scheiden. Die fünf anderen – sie bitten Sie um die letzte Ehre.“ Kenda holte langsam Luft. Dann nickte er. Der Weg führte sie zum Sanitätszelt. Soldaten trugen die schwerverletzten Piraten hinaus. Man würde ihnen eine möglichst geschützte Stelle suchen. Der Chu-sa schritt die Reihe seiner Untergebenen ab. Es waren acht Männer und drei Frauen, alle schwer verletzt. Er kniete neben jedem nieder, umarmte die, die ihm gefolgt waren bis zum Schluß. Dann machte er eine knappe Geste. Sie alle wurden aufgerichtet, damit sie sitzen konnten. Vor dem Zelt verbrannten die kleinen Scheiterhaufen geliebter Erinnerungen. Kenda trat hinter den ersten Verletzten. Dann stach sich der erste Soldat den Dolch in den Bauch, führte den Schnitt aus. Der Chu-sa hob die Waffe – ein kurzes Fauchen, aus. Ein Menschenleben unwiederbringlich vernichtet. Vernichtet von jenen, die keine andere Wahl ließen als Unterwerfung als Sklave oder Kampf bis zum Tod. Er trat zum nächsten. Und zum nächsten.

Sie lagen in einer langen Reihe nebeneinander. Fünf hatten nicht mehr die Kraft gehabt, den Dolch zu führen. Seine Pistole hatte sie gerettet vor der Schande, dem verhaßten Feind in die Hände zu fallen. Elf Menschenleben, geopfert. Sie sollten nicht die letzten sein.

Kendas Stimme klang klar über das Plateau. Seine Soldaten lauschten ihm – bei der Arbeit, in ihren Stellungen. Schweigend.
„Soldaten und Offiziere! Brüder und Schwestern! Kameraden!
Ihr alle wißt, es war immer mein Traum, euch heimzuführen im Triumph. In eine Zukunft, in der wir nicht mehr in Angst leben müssen vor den Besatzern. In der wir nicht das Haupt vor ihnen und ihren Sklaven beugen, in der wir so leben können, wie es unsere Völker seit jeher taten. Eine Zukunft, in der unsere Familien sicher sind, und unsere Kinder nicht fürchten müssen, diesen opferreichen Krieg von uns zu erben. Dies war unser Traum, dafür kämpften wir.
Ihr alle wißt – es sollte nicht so sein! Als wir uns erhoben, als wir den Kampf aufnahmen, da trafen wir den Bären ins Mark. Nicht so sehr wegen dem Schaden, den wir anrichteten, auch wenn dieser groß war. Was sie entsetzte war, daß wir ihre großen Worte von einer friedlichen Koexistenz, von ihrer Allmacht, von der Unausweichlichkeit ihres Sieges und der Nutzlosigkeit jedes Widerstandes als Lügen entlarvten! Denn diese Lügen waren es, die allein ihren Sieg sichern konnten! Wenn die Menschen erst einmal merkten, daß sie nicht gezwungen sind, Sklaven zu sein, daß der Kampf eine Chance hat, dem Unterdrücker zumindest schwere Wunden zuzufügen – dann werden sie sich wieder und wieder erheben, bis die Ketten schließlich gesprengt werden! Davor fürchteten sich die Bären – und deshalb haßten sie uns! Und nicht nur sie – auch das Kombinat begann uns zu fürchten!
Denn wir – das kleine Häufchen Männer und Frauen, ärmlich bewaffnet, ein Nichts im Vergleich zu Clan Geisterbär – wir haben bewiesen, daß es nur blinde Machtgier und erbärmliche Feigheit sind, die unsere Landsleute der Tyrannei der Clans ausliefern! Daß Theodore Kurita in Wahrheit ein Verräter an seinem Auftrag ist, ein Mann, der es nicht wert ist, das Kombinat zu führen! Das der ganze ‚Friedenskurs‘ mit all seinen angeblich so guten Argumenten auf Täuschung und Betrug beruht! Dies konnten die Kombinatsregierung nicht hinnehmen! Sie hätten das Gesicht verloren, jede Autorität in Volk und Armee. Also verbündeten sie sich mit den Todfeinden ihres Volkes, mit den Clans! Mit denen, die ihre Bürger ermorden, versklaven und erniedrigen! Ja, das ist die Ehre des Hauses Kurita! Sie gaben Gold, und mit diesem Gold heuerten sie Söldner an. Und Clan Geisterbär war so entsetzt über die Gefahr, die er in uns sah, daß er SÖLDNER, in den Augen seiner Führer also Ungeziefer, Abschaum, Banditen, als Verbündete akzeptierte! Zu oft hatten die ‚unbesiegbaren Clanhelden‘ durch uns Schlappen einstecken müssen!

So schlossen sie den Bund. Ein Bund, geschmiedet aus Haß, Machtgier und Angst. Die Stunde, die unser größter Triumph war – als jene erkannten, eine wie tödliche Gefahr wir für sie darstellten – war auch der Augenblick, in dem unser Untergang besiegelt wurde. Wie die Kirschblüte, die dann fällt, wenn sie die Vollendung, die größte Schönheit erreicht hat, so war die Stunde des Sieges die Stunde der Niederlage. Wir werden fallen wie die Kirschblüten. Dennoch – wenn ich Niederlage sage, so heißt dies nicht, daß wir versagt haben. Die Blüte, die fällt, wird niemals die Frucht sehen, die aus ihrem Tod entspringt. Und wie dieser Baum blühte, ein einzelner Baum inmitten von Tod und Brand, werden aus seinen Früchten tausend neue Bäume hervorgehen. Der Weg, den wir gewiesen haben, werden andere beschreiten. Doch ohne uns, ohne unsere Bereitschaft zu fallen, wäre der Weg niemals beschritten worden.

Wir werden fallen – daran kann jetzt kein Zweifel mehr herrschen. Ich weiß nicht, was danach kommt. Aber gleichgültig, vor welchen Richter wir auch treten, an welche Götter wir auch glauben – ich weiß, daß kein einziger von uns sich vor dem Gericht fürchten muß. Und wenn wir nun zu unseren Ahnen gehen, so denke ich nicht, daß einer von euch sich in ihrer erlauchten Runde zu schämen braucht. Denn was wir vollbracht haben, ist Heldentat genug für mehr als ein Menschenleben! Ob uns Walhalla erwartet, oder ob wir uns am Schrein von Yasukuni treffen, ob wir an Gott oder Allah glauben – wir können stolz und mit erhobenem Haupte den Richtspruch erwarten! Wir hetzten den weißen Bären bis in seine Höhle, bis in seine Träume hinein. Wir haben den falschen Drachen nicht gefürchtet, und den Verrätern ins Gesicht gespien! Unsere Feinde werden uns verfluchen, unser Andenken mit Schmutz besudeln und versuchen, unseren Angehörigen Trauer zu verbieten. Aber wenn sie auch noch so mächtig und grausam sind – die Wahrheit können sie niemals besiegen! Mag man in zehn, in fünfzig Jahre uns auch verdammen, in hundert, in zweihundert Jahren wird die Wahrheit dennoch über die Lüge triumphieren. Und eines wird niemals geschehen – daß man uns vergessen wird! Wir, und unsere Taten, werden unsere Mörder niemals zur Ruhe kommen lassen! Bis ans Ende ihrer Tage werden sie bei dem Gedanken erbleichen, eines Tages Rechenschaft ablegen zu müssen! Das was wir weckten, werden sie niemals besiegen können!

Soldaten! Ihr seht die Fahnen, unter denen wir kämpfen werden! Heute fechten wir nicht nur für das Kombinat, oder für die Freie Republik Rasalhag – wir kämpfen für jeden Mann und jede Frau in der Freien Inneren Sphäre! Und wir kämpfen für die kommenden Generationen, auf daß diese sich ihrer Väter und Mütter nicht zu schämen brauchen, auf daß sie nicht fragen müssen: ‚Wieso habt ihr nicht gekämpft!‘ Damit sie leben können in einer Zeit, in der keines Claners Fuß, kein feiger Kollaborateur oder Verräter mit seiner Gegenwart unsere Planeten mehr besudelt!
Dafür sind wir angetreten! Dafür werden wir kämpfen bis zum Tod!

Ich kann euch nicht befehlen, jeden Gedanken an Kapitulation zu verbannen. Dies muß jeder für sich selbst entscheiden. Was mich betrifft, so will ich nicht wie ein Wurm zu den Füßen von Verbrechern kriechen, auf daß sie mich verschonen oder zertreten, ganz wie es ihnen beliebt! Sie haben keine Macht über mich, und ich werde mich niemals in ihre Gewalt fügen! Ich will, ich werde mein eigenes Ende selbst bestimmen. Aber wie immer ihr auch entscheidet – ihr sollt wissen, daß ich stolz auf euch bin. Auf euch alle. Vergebt mir, daß ich euch nicht zu einem besseren Ende führen konnte! In der Stunde des Todes werden wir gemeinsam fechten, wie wir lebten.
Ich danke euch!“
24.01.2003 19:20 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Dann verneigte Kenda sich tief vor seinen Soldaten. Sie alle wußten, das er die Wahrheit gesprochen hatte. Sie würden sie akzeptieren, und damit leben – damit leben und sterben. Leise begann der Chu-sa zu singen.
Die Männer und Frauen fielen ein, einer nach dem anderen. Einige sangen leise, manche mit einer Stimme, die schwer von Tränen war. Andere voll verzweifeltem Haß, voll Bitterkeit oder müder Resignation. Das Lied erhob sich über die Ebene und stieg gen Himmel, dem längst verflogenen Rauch nach. Es war mehr als tausend Jahre alt. Schon damals hatte es die Feinde der Sänger mit Furcht und abergläubischem Entsetzen erfüllt. Das Lied der Kamikaze. Die Stimmen der Todgeweihten vereinten sich zu einem Sturm: „... der blaue Himmel grüßt uns, und nennt uns tapfere Piloten...“

Die Soldaten aßen dort, wo sie gerade arbeiteten. Noch gab es einiges zu tun. Es wurde nicht gelacht – wie auch – und nur wenig gesprochen. Die meisten waren mit ihren Gedanken weit weg. Zu guter letzt wurde an jeden ein Schälchen Schnaps ausgegeben. Sie tranken schweigend. Es gab nicht wenige, die dieses Ritual bisher nicht gekannt hatten, und dennoch fühlten sie die Verbundenheit, die zwischen den Kämpfern entstand. Eine Verbundehit, die selbst der Tod nicht würde trennen können. Dann gingen sie wieder an die Arbeit.

Nakamura verneigte sich knapp vor ihrem Kommandeur: „Toni, es gibt da ein par Soldaten, die eine Bitte an euch hätten.“ Der Chu-sa zog eine Augenbraue hoch. Was konnte man jetzt noch erbitten? „Wer und was?“ Die junge Offizierin räusperte sich, schien selber unsicher: „Es geht um die Soldatin Yorika Furomoto und den Techniker Toraji Nakata aus unserer Einheit, sowie um Omura Konoike von der Ronininfanterie und Kristin Iversen von den Infanteristen der Piraten. Und sie wollen... sie wollen heiraten.“ Kenda riß die Augen auf: „Sie wollen WAS?“ Nakamura wechselte in einen fast verteidigenden Tonfall – immerhin hatte sie das Anliegen vor ihren Vorgesetzten gebracht: „Nun, sie meinen, dann könnten sie auf jeden Fall Seite an Seite in den Tod gehen. Jetzt, wo alle sterben müssen, kann man doch deutlich machen, daß man zusammengehört. Sie haben Beziehungen zwischen den Angehörigen der Truppe ja auch nie verboten. Und Sie als unser Kommandeur – ich meine, die glauben an Sie. Sie sind hier die höchste Autorität, also können Sie die Heirat auch schließen.“ Der Chu-sa schien einen Augenblick nachzudenken. Dann nickte er: „Bringen Sie sie zu mir.“

Von einer feierlichen Atmosphäre konnte man natürlich kaum sprechen. In einem der Zelte – sie waren jetzt geräumt worden, aber nicht abgebrochen, um vielleicht wenigstens einen Schuß im Falle eines Angriffes auf sich zu ziehen – waren ein paar Freunde der beiden „Paare“ zusammengekommen, dazu die Offiziere. Es gab natürlich keine Blumen, keine Musik, keine guten Wünsche. Bleich und ernst blickten die vier auf den Mann, der sie hierher geführt hatte. Der Chu-sa trug an seiner Uniform die Orden, die er in seiner langen Dienstzeit errungen hatte. Die zahlreichen Verwundetenabzeichen bewiesen, wie oft er sein Blut für seine Heimat vergossen hatte. Für die Heimat, die jetzt seinen Tod befohlen und seine Mörder gemietet hatte. Er wirkte entschlossen.

„Ich bin es nicht gewöhnt, in dieser Weise zu meinen Soldaten zu sprechen. Vielleicht kann ich nicht die rechten Worte finden. Aber mein Herz sagt mir, daß euer Entschluß“ er musterte schweigend die Paare, hielt den Blick eines jeden von den Vieren ein paar Atemzüge gefangen: „richtig ist, und ein Zeichen der Liebe, dem ich nur zu gerne meinen Segen gebe. Die Heirat ist normalerweise ein Bund fürs Leben. Menschen schwören, einander beizustehen, sich zu helfen und sich nicht im Stich zu lassen, bis zum Tode. Sie geben einander Kraft, und aus dieser Kraft entspringt ihre Stärke, und eine neue Zukunft. Indem sie Kinder aufziehen, geben sie etwas von sich weiter. Nur dadurch, durch diesen Bund, lebt ein Volk.“ Er straffte sich: „Wenn ihr jetzt vor mich tretet, in der Stunde, da der Tod gewiß scheint, so kann ich nur vage erahnen, wie stark eure Gefühle zueinander wirklich sind. Ihr wißt, daß, wenn ihr kämpft, ihr niemals das Glück erleben werdet, Kinder zu haben. Niemals werdet ihr sehen können, wie eure Kraft, eure Liebe weitergegeben wird, wie eure Nachkommen in jener Welt leben, die ihr ihnen hinterlassen habt. Ihr könnt nicht das Leben miteinander teilen, wie es bei einem Ehepaar seien sollte – sondern nur den Tod. Seid ihr dazu bereit? Ich frage dich, Yorika Furomoto, und dich, Toraji Nakata – ist es daß, was ihr wollt? Und ihr, Omura Konoike und Kristin Iversen, ist euch der Preis klar?“ Die vier waren, wenn möglich, noch bleicher geworden. Kenda wollte sie nicht belügen. Dann nickten sie, einer nach dem anderen. Der Kommandeur lächelte leicht: „So sei es! Einer solchen Liebe darf man den Segen nicht verweigern. Ich erkläre Yorika Furomoto und Toraji Nakata zu Mann und Frau! Ich erkläre die Ehe zwischen Omura Konoike und Kristin Iversen für gültig!“ Er wartete, bis die Paar einen Kuß getauscht hatten: „Ich kann euch kaum Trost bieten in dieser Stunde. Doch ich bin fest überzeugt, auch wenn ihr niemals eigene Kinder haben werdet, so wird euer Bund doch nicht vergebens sein. Eure Kinder werden jene sein, die euren Kampf fortsetzen! Jene, die an euch denken werden, als wärt ihr ihre leibhaftigen Eltern, und die wissen, daß ihr euer Leben für sie gewagt habt, ohne nach Blut und Namen zu fragen.“ Er verneigte sich: „Möget ihr nie getrennt werden, was immer auch geschieht!“

„Gegner schießt Nebelgranaten!“ Im ganzen Lager herrschte fast sofort Kampfbereitschaft. Doch schnell war klar, daß der Feind nicht angriff. Noch nicht. Dennoch – allen war klar, der letzte Angriff würde nicht lange auf sich warten lassen. Kenda ordnete erhöhte Bereitschaft an. Er ging von einem Angriff gegen Abend oder am nächsten Morgen aus, wollte aber nicht überrascht werden. Die ständige Anspannung sollte die Soldaten vermutlich zermürben. Aber die meisten hatten ein Stadium erreicht, in dem selbst die Angst gestorben war. Sie waren bereits tot, Tote, die Waffen bedienen und andere mit in ihr Grab reißen konnten. Im Lager der Ronin gab es keine Panik. Kein Jammern war zu hören – wer trauerte, tat dies allein. Noch viel weniger zeigten sich Auflösungserscheinungen. In ähnlichen Situationen hatten andere Streitkräfte auf verschiedene Arten reagiert. Von einem Zusammenbruch des Kampfwillens bis zu einem orgiastischen Sinnestaumel, um vom Leben möglichst viel mitzunehmen, reichten die Berichte. Hier war nichts davon. Eine zähe, fanatische Entschlossenheit und ein abgrundtiefer Haß auf den Feind – das war es, was ein Beobachter hätte feststellen können. Sie waren lange für diesen Tag vorbereitet und zu ihm hingeführt worden, obwohl sie es gar nicht wußten. Vermutlich wußte nicht einmal Kenda selber, daß er sie seit langem in dieser Richtung geführt hatte. Aber jetzt bewährte sich dies. Sie kämpften nicht mehr nur, um Rache für sich selbst zu nehmen, sie kämpften, weil der Kampf zu ihrem Daseinszweck geworden war – und um ein Beispiel für andere zu bieten. In der Stunde, wo der Tod von Kendas Einheit nahe schien, wurde bereits daran gearbeitet, den Kampf fortzuführen. Einen Mythos zu schaffen, einen Legende, tödlicher als eine Legion von Battlemechs. Wußte ihr Anführer dies? Ging er planmäßig vor? Oder handelte er aus einem vagen Gefühl heraus? Niemand würde es erfahren.
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Kenda wußte, ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Etwas gab es noch, daß er erledigen wollte. Er hatte es sich überlegt: „Nakamura. Ich hätte da noch etwas...“
Kurz darauf standen sie vor ihm. Die vier, die er eben noch getraut hatte. Die Augen der Männer und Frauen wirkten weit älter, als sie von den Jahren her waren. Schweigend musterte er sie, dann gab er sich einen Ruck.
„Sie werden sich fragen, warum ich Sie habe rufen lassen. Ich habe Sie vorhin nicht belogen. Einen Ausweg gibt es von hier nicht. Nicht für unsere Einheit.“ Er zögerte: „Aber ein paar Leute könnten es schaffen. Wir haben noch einiges an Vorräten – nicht alles ist verbraucht. Wir haben genügend Material, damit ein paar Leute sich durchschlagen können. Und wir wissen von Freunden in der Siedlung, die für einige wenige sorgen könnten.“ Yorkia Furomoto warf erst ihrem Mann, dann den beiden anderen einen kurzen Blick zu. Dann räusperte sie sich: „Wir wollen nicht auf Kosten unserer Kameraden verschont werden. Auch sie haben Menschen, die sie lieben. Auch sie haben verdient zu leben – und müssen sterben. Warum sollte bei uns eine Ausnahme gemacht werden?“ Der Chu-sa lächelte: „Gesprochen wie ein Samurai. Ich glaube Ihnen – Ihnen allen – daß sie so denken. Aber denken Sie nicht, es wäre eine romantische Laune von mir. Ich entlassen Sie nicht aus dem Dienst dessen, was nicht mit uns sterben wird – unser Kampf! Wenn ich Sie fortschicke, dann vor allem aus einem Grund. Sie müssen Sorge tragen, daß niemals unser Vermächtnis, unser letzter Kampf in Vergessenheit gerät! Niemals darf die Erinnerung an das, was hier geschah, verlöschen! Sie werden fortsetzen, was wir begonnen haben. Sollten Sie Kinder haben, so denken Sie daran, es sind die Kinder der Einheit.“ Er schloß für einen Atemzug müde die Augen. Als er sie wieder öffnete, schienen sie von innen beinahe zu brennen: „In euch lebt unsere Einheit weiter!“ Er atmete fast keuchend aus: „Das könnte schwerer werden, als hier zu sterben. Ich nehme Sie in die Pflicht, eine Pflicht, die keiner aufkündigen kann, und die niemals diesseits des Todes enden wird. Sind Sie bereit?“ Und einer nach dem anderen nickten sie.
„Gut. Sie werden Ihre Ausrüstung empfangen. Sobald das Lager gestürmt wird, lassen Sie sich vom Bach aus der Gefahrenzone tragen. Seien Sie vorsichtig, er ist kalt und reißend. Ich rechne mit einem Angriff in der Nacht oder im Zwielicht, auf jeden Fall im Schutz von Nebelgranaten. Das wird Sie schützen. Viel Glück.“ Er blickte ihnen hinterher. Tat er das Richtige? Er hoffte es. Alle konnte er nicht retten.
Er spürte, daß Nakamura bei ihm geblieben war: „Ja?“ Die junge Frau holte langsam Luft: „Bedeutet das – eine Änderung meiner Befehle?“ Er dachte einen Augenblick nach. War da Furcht in ihrer Stimme? Oder Hoffnung? Er schüttelte den Kopf: „Ihre Befehle bleiben in Kraft. Ich weiß nicht, ob die Vier es schaffen werden – also brauche ich auch Sie. Wir sind im Krieg, und ich kann und will mir ein Scheitern in dieser Hinsicht nicht leisten. Zuviel steht auf dem Spiel.“ Die Offizierin senkte den Kopf: „Ich verstehe.“ Sagte sie bitter: „Grämen Sie sich nicht.“ Meinte Kenda mit leiser Stimme: „Der einzige, der dies bedauern wird, wird der Feind sein. Ich brauche Sie, wie ich die anderen brauche. Es darf nicht so enden. Es darf NIEMALS enden. Verstehen Sie?“ Die junge Frau nahm reflexartig Haltung an: „Niemals.“

Die Stellungen waren ausgebaut und besetzt worden. Die Soldaten machten sich bereit, zu warten. Es gab keinen Zweifel mehr, worauf. Hakon Ragnarsson verabschiedete sich von seinen Kameraden. Sie mochten teilweise nicht ganz verstehen, was ihn zu seinem Entschluß getrieben hatte, aber sie respektierten es. Selbst als altgediente Krieger spürten sie ein Würgen in der Kehle. Abschied zu nehmen, ohne zu wissen ob man sich wiedersah, war schwer genug. In vollem Bewußtsein des Todes voneinander zu scheiden, nachdem man Jahrelang zusammen gekämpft und gelebt hatte, war fast unmöglich. Sie überspielten ihre Erschütterung mit ein paar rauen Scherzen über das, was sie nach dem Tode erwartete – die Hallen von Walhalla. Und irgendwie schafften sie es, Haltung zu bewahren.
Dann war es vorbei. Der Sho-sa nickte seinen Kameraden zu und ging zu dem Schweber, der sein Grab werden würde. Oder eher – sein Scheiterhaufen. Er mußte grinsen. Ein bitteres Lächeln, ohne Zweifel, aber ein Lächeln war es doch. Wie paßend das doch alles war! Er, Angehöriger eines Volkes mit langer Tradition als Piraten und Krieger, fand einen Tod, wie ihn sich auch seine Vorfahren gewünscht hätten. Er würde mit seinem letzten Gefährt gemeinsam verbrennen, wie ein König in den alten Tagen des Wikingersturms. Und die Flammen würden ihn nach Asgard tragen, wie die Sagas berichteten. Er stellte sich vor, wie er sich mit seinem Gefährt in der Runde der toten Helden ausnehmen würde, und unterdrückte ein schallendes Gelächter. Hinter ihm räusperte sich jemand. Er drehte sich um. Ihm gegenüberstand Sho-sa Nakamura. Die junge Frau schien von der Heiterkeit in seinem Gesicht überrascht – kein Wunder in dieser Stunde. Doch dann dämmerte Verständnis in ihren Augen. „Gibt es noch etwas?“ Sie nickte: „Ich habe hier etwas für Sie – Ihre Männer und Frauen werden es auch noch erhalten. Aber Sie sollten Ihres als Erster bekommen.“ Sie hielt ihm ein weißes Stirnband hin. Es zeigte die aufgehende Sonne, das Symbol der Einheit, die hier zum letzten Gefecht antrat. Schriftzeichen in der Schrift des Kombinats und der Freien Republik nannten den Namen des Trägers – seinen Namen. Er schwieg überrascht: „Ich weiß nicht – das erscheint mir nicht angemessen. Ich bin kein Soldat des Kombinats, kein Samurai. Meinen Sie nicht, da wird jemand gekränkt reagieren?“ Nakamura schüttelte leicht den Kopf. Ihre Stimme klang ernst und eindringlich: „An dieser Stelle, in dieser Stunde, sind Sie und Ihre Leute zehnmal, ja hundertmal mehr Samurai als die Feiglinge von der Genyosha oder die Verräter von den Klauen des Drachen! Nicht die Einheit oder das Blut machen den Krieger – es sind sein Herz und seine Taten. Und was das angeht, so sind Sie und die Ihren über allen Zweifel erhaben.“ Er lächelte: „Danke.“ Dann nahm er das Stirnband und legte es sich um: „Wie sagen Ihre Leute, Nakamura? Wir sehen uns in Yasukuni – oder in Walhalla, wenn Sie mögen!“ Für einen Augenblick war etwas wie Schmerz und Scham in den Augen der jungen Frau. Doch ehe er sich sicher seien konnte, war es schon wieder verschwunden. Sie verneigte sich: „Mögen Ihre Taten Ihnen den Lohn einbringen, der Ihnen gebührt!“ Dann drehte sie sich um und ging zu ihrem Mech. Auch sie machte sich bereit. Hakon aber kletterte in das Fahrzeug, das er gegen den Feind lenken würde. Nun gab es kein Zurück mehr.
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Das letzte Gefecht?

„Sie kommen!“ Niemand würde hinterher sagen können, wer den Alarm gegeben hatte. Die wenigen Überlebenden konnten sich nicht erinnern – und die weitaus meisten waren für immer verstummt. Doch sie handelten schnell und entschlossen. Ein letztes Mal bäumte das waidwunde Raubtier sich auf. Die Meute hatte es gehetzt und in die Enge getrieben. Doch noch konnte es um sich schlagen, Klauen und Fänge in das Fleisch der Jagdhunde graben, und noch im Tode Rache nehmen.

Kenda brachte seinen Mech in Feuerstellung. Neben sich wußte er seine Kameraden. Diesmal gab es kein Ausweichen mehr. Sein Mech war feuerbereit. Sorgfältig nahm er den Gegner ins Visier. Er hatte ein Leben lang im Dienste des Kombinats gekämpft, und in seinem Namen focht er auch jetzt – selbst wenn die Regierung seiner Heimat diese Hilfe ablehnte. Er hat einen Eid geschworen, und dem würde er gerecht werden. Er nahm den Mech des Verräters aufs Korn, die Maschine des Dieners der falschen Herrscher. Dann löste er die Waffen aus.

Nakamura bewegte sich schnell und gewandt. Sie wußte, was ihre Aufgabe war. Es mochte ihr nicht passen, aber sie war Soldatin, und Befehlen würde sie Folge leisten. Doch bis dahin konnte sie ihre Pflicht in wesentlich befriedigender Weise erfüllen. Die Mündungsklappen ihrer Raketenwerfer öffneten sich. In einem Orkan aus Feuer und Rauch senkte sich vielfache Vernichtung auf den Feind.

Am Ufer des Baches warteten fünf Gestalten. Sho-sa Marushige warf den vier anderen einen letzten Blick zu. Sie wirkten unförmig in ihren Anzügen. Er blickte auf die in Flammen gebadeten Mechs, die bereits im Gefecht standen. Dann wandte er sich an diejenigen, die den Befehl zum Überleben erhalten hatten – und es würden die letzten Worte sein, die sie von den Männern und Frauen auf dem Plateau hörten: „Viel Glück – und LOS!“ Sie ließen sich ins Wasser fallen. Die Strömung riß sie sofort mit, doch Schwimmkörper verhinderten ein Untergehen. Einer – ob Mann oder Frau war nicht zu erkennen – winkte ein letztes Lebewohl. Doch Marushige bemerkte das nicht mehr. Er hastete zu seinem Deckungsloch und griff zu seinem leistungsstarken Lasergewehr und überprüfte den Einweg-Raketenwerfer, der in der Stellung lag. Alle seine Sinne waren auf den Rand der Anhöhe gerichtet, wo bald der Feind erscheinen würde. Er war bereit.

Einer nach dem anderen brachen sie durch den Nebel, mehr als ein Dutzend stählerner Giganten. Gewichtsmäßig den Verteidigern weit überlegen, ausgeruht, aufmunitioniert und in bestem Zustand. Söldner, Clans und ein Kombinatsmech. Alle Feinde der Ronin vereint, um sie zu vernichten. Noch halb verdeckt von den Schwaden wirkten sie wie urtümliche Ungeheuer einer längst vergangenen Zeit, wie Drachen und Dämonen.
Die Feindmechs rückten vor, doch ein Sturm aus Stahl und Vernichtung schlug ihnen entgegen. Sie hatten die schützende Nebelwand verlassen, vermutlich in dem Glauben, leichtes Spiel zu haben. Ein Irrtum, der sie teuer zu stehen kommen würde. Fast schon zu Anfang fiel der Großtitan des Kamobinat-Verräters aus, geschüttelt von Einschlägen wie eine Ratte in den Fängen eines Terriers. Der Feind schlug zurück, und seine Waffen zerschmetterten den leichten Jenner. Doch während der Angreifer kämpfte, um zu überleben, waren Kendas Soldaten darüber hinaus. Sie kämpften nur noch, um zu töten, und das unausweichliche Schicksal konnte sie weder schrecken noch verwirren. So entstand keine Unruhe beim Tod ihres Gefährten. Sie schossen weiter, als wäre nichts geschehen. Der Chu-sa nahm den Fangeisen des Gegners aufs Korn. Er lächelte grimmig. Er selber hatte noch eine Maschine dieses Typs unter seinem Kommando, und in einem wilden Gefecht wie diesen wollte man Verwechslungen lieber vermeiden. Seine Salven ließen die leichtere Maschine zurücktaumeln – dann brach sie zusammen.

Nakamura feuerte währenddessen ihre Langstreckenraketen ab. Jetzt machte es sich bezahlt, daß Kenda strickte Sparsamkeit befohlen hatte. Der Feind hatte allerdings auch kaum versucht, die Ronin durch Geplänkel bei ihrer empfindlichsten Stelle, dem fehlenden Nachschub, zu packen. Das rächte sich jetzt. Sie bemerkte, daß sie von anderen Einheiten unter Feuer genommen wurde – Panzern, überwiegend schnellen Hoovereinheiten. Aber sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Mechs des Feindes. Hoover waren auf die Entfernung schwere Ziele, und die Mechs hatten die größere Schlagkraft.
Wie Menschen in einem Wintersturm, so wankten die Feinde im Beschuß. Hatten sie mit weniger Widerstand gerechnet? Vielleicht. Bestimmt nicht mit einer solchen verbitterten Gegenwehr. Nicht nur die Mechs feuerten – zwischen den Angreifern explodierten auch in unablässiger Folge Gewehr- und Mörsergranaten. Die Infanterie, die in ihren Stellungen darauf wartete, daß der Feind das Plateau betrat, gab Feuerunterstützung. Ein Tropfen auf den heißen Stein, doch jede Hilfe zählte. Und dann, wie die Flut, die ihren höchsten Punkt erreicht hat, stoppten die Feinde. Stoppten – und gingen zurück.

Der Chu-sa glaubte seinen Augen nicht zu trauen: der Gegner wich? Sollte er so schnell entmutigt worden sein? Sicher, bei den Söldlingen war dies kaum verwunderlich. Auch wenn sie tapfere Soldaten waren, nur wenige Söldner riskierten einen Vernichtungskampf wie diesen. Dafür konnte es einfach nicht genug Geld geben, keiner konnte so viel bezahlen, daß ein Söldner leichtfertig sein Leben riskierte gegen einen Feind, der Tod und Untergang nicht zu fürchten schien. Aber die Claner – das überraschte ihn. Doch dann machten die beiden schweren Garnisonsmaschinen kehrt, griffen an. Direkt in mörderisches Sperrfeuer hinein. Kenda wußte um die gewaltige Kampfkraft der Clanmechs, wußte, daß selbst diese Opferung ihn teuer zu stehen kommen konnte. Sie rückten immer näher, obwohl die Panzerung in Fetzen wegflog, und erste Treffer interne Systeme vernichteten. Es schien unmöglich, daß ein Mensch dies aushalten konnte, doch die Mechs stürzten nicht, sie blieben aufrecht – und erreichten ihr Ziel. Der Grizzly fiel als erster – doch seine Explosion nahm den Krabbe-Mech der Ronin mit. Dann war der Tresher an der Reihe. Die Clanmaschine schlug wild um sich. Die Ronin feuerten, was die Waffen hergaben. Kenda ignorierte schon lange die Hitzeentwicklung seines Kampfkolosses. Schließlich war auch dieser Feind am Boden, aber mit ihm starb auch der Fangeisen der Draconier. Kenda verspürte keine Bitterkeit. Ein Feind, der ebenso verbissen kämpfte, wie er selber, war nie leicht zu besiegen. Nicht, wenn er das Schlachtfeld wählte. Nicht, wenn er solche Waffen hatte. Dennoch – der Gegner erlitt hohe Verluste. Viel höhere, als er sich hätte träumen lassen, soviel war sicher.

Ob die Opferung geplant oder spontan erfolgt war, das würde Kenda nie erfahren. Doch die Claner hatten genug Feuer auf sich gezogen, genug Unordnung in die Schlachtreihe der Ronin gebracht, um den Söldnern ein zweite Chance zu geben. Die Feinde hatten den selbstmörderischen Angriff der Claner zu nutzen gewußt, um wieder vorzurücken. Erneut eröffneten sie das Feuer, nutzen ihre überlegene Zahl und Ausrüstung. Raketen hämmerten auf die Ronin ein. Eine Salve erfaßte den Scimitar, der bisher Salve auf Salve abgefeuert hatte, und dessen Raketen gute Dienste bei der Vernichtung der Clanmaschinen geleistet hatten. In einer gewaltigen Explosion zerfetzte es den Panzer. Kenda verzog seine Lippen zu einer Grimasse des Hasses. Das mußte ein Ende haben! Kaltblütig visierte er den Raketenmech – einen Schützen – an. Seine Clan-PPK hatten mit der Entfernung keine Probleme. Neben ihm feuerte Nakamura – durch Feindfeuer geschüttelt – eine gestaffelte Salve ab. Der Schütze erhielt einen Schlag, wie ein Mensch, der gegen eine Betonmauer rennt. Mühsam stabilisierte er sich – da traf ihn die zweite Salve. Die Einschläge marterten die Feindmaschine – dann gab Kenda ihr den Gnadenstoß. Der gellende Todesschrei, der über Funk zu hören war, war eine Befriedigung für die Ronin. Sie starben mit dem Wissen, andere voran gesandt zu haben. Doch so verbissen Kendas Soldaten auch kämpften – die Claner hatten die Bresche geschlagen, die der Gegner brauchte.

Der Feind war heran. An der Spitze, begierig zu töten, rückten die Clanmechs des Feindes vor. Die, die noch übrig waren. Doch in ihrem Verlangen wurden sie selber zum Opfer, blind vor Blutgier. Nakamura schloß sich dem Steppenwolf und dem Kurita-Kriegshammer an, welche die Madcat unter Feuer nahmen. Dieser Gegner war gefährlich, ein Symbol der Clan-Agressoren, und doch war er nicht unbesiegbar. Sie wußte, ewig würden ihre Raketen nicht mehr reichen. Aber bis dahin... Schwere Treffer schlugen bei der Clanmaschine ein. Die junge Offizierin lächelte kalt. Zeit, dem ein Ende zu machen. Doch da stellte sich ein Greif in den Weg – schütze mit seinem eigenen Leben den gestürzten Kameraden. Aber im Krieg galt mehr denn je die grausame Wahrheit: nur mit dem Tod kann man für das Leben bezahlen. Die leichtere Maschine wurde von unzähligen Treffern erschüttert. Wütend über die ihnen entgangene sichere Beute kannten die Ronin kein Pardon. Das Gegenfeuer der Angreifer schlug über den Draconiern zusammen, doch es war zu wenig, um den Greif zu retten. Nakamura mußte um die Herrschaft über ihren Mech kämpfen, doch sie behielt die Oberhand. Dann trommelten ihre Raketen auf Brust und Kopf des Feindes ein, zerfetzten die Panzerung. Die Schmerzensschreie des Piloten, der offenbar tödlich getroffen war, rührten sie nicht einen Augenblick. Um sie herum starben ihre Kameraden, und dieser Feind hatte nicht einmal die Gnade eines schnellen Todes verdient.

Der Kampf auf weitere Distanz war vorbei – jetzt gingen sich die Mechs direkt an. Mit hohen Verlusten hatten die Söldner ihren Vormarsch erkaufen müssen, doch jetzt konnten sie ihre Waffen richtig zur Geltung bringen.
Die Gegner standen nun im Nahkampf. Nur schwer war noch zu unterscheiden, wer auf welcher Seite stand – zumindest für einen unbeteiligten Beobachter. Rauch, Staub und Feuer nahm die Sicht, blendete selbst die hochentwickelten Sensoren. Die Infanterie feuerte aus nächster Entfernung, und fand nur zu oft ein grausames Ende. Marushige hatte es noch geschafft, den Raketenwerfer abzufeuern, dann zerschmetterte eine Rakete sein Deckungsloch. Ein versehentlicher Treffer vermutlich, gar nicht auf ihn gezielt – doch er genügte. Als sein zerschundener Leib auf die Erde aufschlug, war er schon tot. Er starb, anonym unter seinen Soldaten. Doch er hätte es auch nicht anders gewollt, wo sein Tod schon beschlossen war.

Kenda nahm den feindlichen Hunchback unter Feuer, neben sich der andere Kriegshammer. Der mittelschwere Mech war dem nicht gewachsen. Fast im Unterbewußtsein registrierte er, wie der erste der Selbstmordschweber Fahrt aufnahm.

Hakons Gesicht war ernst und angespannt. Jetzt war es also Realität geworden. Nun würde es sich entscheiden. Wünschte er sich den Tod? Nein, sicher nicht. Aber das Leben unter der Knute DIESES Herren war auch nichts, was lebenswert zu nennen war. Kenda hatte ihm gezeigt, wie man, wenn man ein ganzes Leben lang gekrochen war, sich aufrichten konnte. Und sei es auch nur für ein paar Augenblicke. Einmal den Feind, den übermächtigen, am Boden sehen, einmal ihm die Stiefel ins Gesicht treiben, wie er es seit jeher getan hatte! Das war es wert gewesen. Kaltblütig visierte er den feindlichen Madcat an. Und während seine Maschine für ihre letzte, tödliche Mission Fahrt aufnahm, wandte er die Augen keinen Augenblick von seinem Ziel ab.

Scham durchflutete Kenda, als er sah, wie der MTW in einer Feuerwolke verging. Was für eine Schande! Ein Pirat beschämte die Herren des Kombinats, all ihre Krieger und Helden, indem er nicht zögerte, wo sie feige zurückwichen! Wie tief war das Kombinat doch gesunken! Würde es an einigen wenigen wie seinen Leuten und ehemaligen Verbrechern – die zehnmal mehr Ehre zeigten als Theodore Kurita und seine Kriegsherren – liegen, diesen Kampf weiterzuführen? Würde nur diese Handvoll ihrer Verpflichtung treu bleiben? Er konnte es nicht glauben! Nein, sie mußten nur laut genug gerufen werden, dann würden sie sich erheben! Und ein für allemal den faulen Zauber hinwegfegen! Noch ein Söldnermech ging zu Boden, neben ihm die Madcat. Der Haß der Ronin hielt reichliche Ernte – und doch war es zu wenig, das Blatt zu wenden.
30.01.2003 14:22 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Die Übermacht des Feindes zeigte nun Wirkung. In den ersten Minuten des Kampfes hatten sie hohe Verluste erlitten, doch ihre überlegene Zahl und Ausrüstung sowie die größere Tonnage gaben schließlich den Ausschlag. Den Steppenwolf erwischte es als nächstes. Der Tod der Madcat hatte ihm nur eine Gnadenfrist verschafft. Als der Masakari eine Breitseite abfeuerte, gab es für den mittelschweren Mech kein Entrinnen. Dann schlug die Stunde des Kriegshammers. Die schwere Roninmaschine hatte das ganze Gefecht über erbittert gekämpft. Da sie überwiegend über Energiewaffen verfügte, brauchte sie sich auch angesichts ihrer guten Wärmeableitung wenig Sorgen um Munitionsverbrauch und Wärmeentwicklung zu machen. Aber selbst die schwere Panzerung dieses Mechs – schwerer als bei jedem Kriegshammer anderen Typs – genügte nicht gegen den feindlichen Beschuß. Der Thor des Feindes gab ihm den Gnadenstoß. Mit einem letzten Aufbäumen, einer letzten Salve der Geschütze brach der zerschmetterte Gigant wie ein gefällter Baum zusammen. Sie starben, einer nach dem anderen, doch noch immer kämpften sie. Der Hatamoto-chi verteidigte sich verbissen. Spreng- und Brandraketen schossen aus seinen Werfern, und er feuerte die PPK’s in einem unablässigen Dauerfeuer ab. Die Hitze in der Maschine mußte fürchterlich sein. Sein Ende kam schnell. Der feindliche Tomahawk überbrückte die Entfernung in einem einzigen Sprung. Sein Beil zerschmetterte das Cockpit – ein gnädiges Schicksal. Der Pilot hatte seinen Tod vermutlich nicht einmal kommen sehen. Kenda fühlte, wie eine eisige Kälte nach seinem Herz griff. Es war seine Maschine gewesen, bevor er den Beutemech übernommen hatte. Nun ging sie ihm in den Tod voraus. Wie eine Klinge, die zerspringt, wenn ihr Träger dem Untergang geweiht ist. Er war nie abergläubisch gewesen, aber dennoch fühlte er einen Augenblick eine eisige Beklommenheit. Dann spülte der Kampf sie hinweg – er durfte noch nicht aufgeben!

Nun kämpften nur noch die beiden Offiziere. Die Infanterie war zerschmettert, vernichtet in einer Flut der Vernichtung. Der Kampf der ‚Könige des Schlachtfeldes‘ war nichts für die wahren Helden, die nicht viel mehr als eine dünne Panzerjacke über ihrem lebenden Fleisch trugen. In dieser Hölle konnten sie nicht überleben. Dann ging auch Nakamura zu Boden – doch noch immer kämpfte sie.

Die junge Frau fluchte. Die feindlichen Panzer hatten das Gefecht mit den Mechs ausgenutzt und ihr schwer zu gesetzt. Wütend feuerte sie ein um das andere Mal auf sie, doch die schnellen Gegner waren kaum zu treffen. Sie wußte, daß es zu Ende ging. Einschlag auf Einschlag hämmerte auf sie ein. Wie eine Puppe wurde sie duchgeschüttelt. Wäre sie nicht angeschnallt gewesen hätte sie unvermeidlich den Tod gefunden. Eine letzte Salve traf. Eines nach dem anderen schalteten sich die Geräte ab. Sie hing in den Gurten, halb besinnungslos. Doch ihr Geist arbeitete immer noch aufmerksam und wach. Sie wartete, löste nicht sofort den Schleudersitz aus. Sie hatte einen Befehl, und den würde sie erfüllen, koste es, was es wolle. Dies aber wäre unmöglich, wenn sie sich den Feindpanzern als Zielscheibe präsentierte. Erst, als sie abdrehten, hieb sie auf den Sprengknopf, der das Cockpitglas explodieren ließ und sie aus der Maschine schleuderte. Sie schoß nach oben, über ihr entfaltete sich der Fallschirm. Als sie auf das Lager schaute, sah sie es. Sie hätte sich am liebsten abgewandt, aber sie wußte, das durfte sie nicht. Auch wenn es ihr mehr schmerzte als alles andere, was sie bisher erfahren hatte an Kummer und Leid. Also schaute sie zu – um davon künden zu können, damit es nie vergessen werde. Wie man es ihr befohlen hatte.

Die Piraten im Saladin hatten die Wahl gehabt. Sie hätten sich ergeben können – offenbar hielten die Feinde ihren bewegungslosen Panzer für ausgeschaltet. Aber die Vernichtung und den Tod aller ihrer Kameraden vor Augen war dies keine Alternative für sie. Als der feindliche Marodeur endlich günstig stand, betätigte der Richtschütze die Feuerkontrollen. Donnernd erwachte die überschwere Kanone ein letztes Mal zum Leben, hieb auf den Feind ein. Der Feindmech wankte, doch er fiel nicht. Dann drehte er sich in Richtung des Panzers.

Kenda war allein. Als letzter war der Saladin – eine wracke Maschine, die aber dennoch zielgenau geschossen hatte – vernichtet worden. Wie ein Rudel Haie im Freßrausch stürzten sich die Feindmechs auf ihn. Die, die noch übrig waren. Die Hälfte der Feinde waren selber vernichtet worden. Jetzt hatten sie Blut geschmeckt, und ihr Durst war noch nicht gestillt. In der Enge des Cockpits fühlte Kenda keine Hitze, und auch die Schläge, die seinen Mech erschütterten, nahm er nur am Rande war. Hatte er falsch gehandelt? Einen Fehler gemacht? Kam nun der Tag des Gerichts? Für einen Augenblick meinte er die Worte seines Vaters zu hören, und da wußte er, daß er richtig gehandelt hatte. Und fast war ihm, als hörte er leise die Stimme seiner Frau. Nicht ohne Trauer – und doch voll Stolz und ungebrochen von dem Leid, daß er ihr bereitet hatte. Er starb – er wußte, daß er starb. Doch in ihm war keine Trauer, keine Wut, und auch keine Angst. Er wußte nun, das andere sein Werk fortsetzen würden. Es war nicht vergeblich gewesen. Er hatte den Weg zum Sieg nicht bereiten können, noch viel weniger war er ihn bis zum Ende gegangen. Dies war eine eitle Hoffnung gewesen. Aber er hatte die Richtung gewiesen. Es blieb anderen überlassen, die Straße zu bauen, und schließlich zu beschreiten. Doch lag nicht auch Ruhm – ob er nun anerkannt wurde oder nicht – in der Arbeit, die Vorarbeit begonnen zu haben? Wenn keiner den ersten Spatenstich tat, würde manches Werk nie vollendet werden. Und diese Aufgabe hatte er erfüllt. Das einzige, was er fühlte, war ein wenig Bedauern, daß er nicht dabei sein würde. Er würde nicht an der Seite seiner Frau miterleben, wie das Werk seinen Fortgang nehmen würde. Niemals würde er sehen, was Nakamura, was seine Kinder dabei vollbringen würden. Aber auch das störte ihn jetzt wenig.
Und als die Dunkelheit ihn einhüllte, als er versank in der Schwärze des Todes, da lächelte Anatoli Kenda nur. Denn jenseits der Schatten, jenseits des Dunkels, wartete etwas auf ihn. Auch wenn er sterben mußte, in dieser Sekunde sah er ihn – den neuen Morgen.

Sein Körper wurde von einer Seite auf die andere geschleudert. Er schluckte Wasser und spie es wieder aus. Nur mühsam konnte er Luft holen. In seiner Kombination trieb er eher dahin, als daß er schwamm. Das war auch gar nicht geplant. Es war schnell klar gewesen, daß sie mit der nötigen Ausrüstung nicht würden schwimmen können. Nicht in einem Bach mit solch starker Strömung. Also hatte man sie mit Schwimmkörpern und einer möglichst isolierenden Kombination versehen, die die Soldaten vor Auskühlung schützen sollte. An Land gehen konnten sie so natürlich nicht. Zu dem Zweck verfügte jeder der vier über eine Enterhakenpistole. Die Stelle ihrer Landung – eine Bachbiegung – war geschickt gewählt, dort ließ die Strömung etwas nach. Er wartete, beobachtete des Ufer. Längst hatte er – trotz aller Bemühungen – die anderen aus dem Auge verloren. Er fragte wo seine Kameraden, vor allem aber, wo SIE war. Doch er konnte nicht mehr tun, als hoffen. Hinter ihm dröhnte der Lärm der Schlacht. Er wußte, er sollte dort sein – und doch gab es eine leise Stimme in ihm, die froh war, nicht zum Tode verurteilt zu sein. Die Scham brannte tiefer als die Kälte.

Er richtete die Enterhakenpistole aus. Der Ort der Landung war erreicht. Noch immer sah er keinen von den anderen. Sein Geschoß zischte los, grub sich in den Boden. In dem Geröll und niedrigen Buschwerk fanden die Klauen schnell halt. Dann begann er sich, ans Ufer zu ziehen. Omura Konoike kam nur langsam voran, Hand für Hand. Er spürte die Kälte, die in seine Glieder einsickerte. Ein Felsen hatte seine Kombination zerrissen, und der Gott des Baches schien nicht gewillt, sein Opfer gehen zu lassen. Es fiel ihm immer schwerer, voranzukommen. Die Strömung zerrte an ihm. Vor allem aber war es ein Gefühl der Resignation, das ihn lähmte. Immer noch war niemand zu sehen. Er fragte sich, ob es nicht eine höhere Bestimmung war, die ihre Flucht scheitern ließ. Der Tod war für alle beschlossen – und niemand konnte dem Schicksal entgehen. Schließlich kam er fast überhaupt nicht mehr voran. Seine Kräfte waren am Ende. Stück für Stück begann das Seil durch seine Finger zu gleiten – er nahm es mit einer müden Resignation wahr.

Doch in dem Augenblick, als der Griff der klammen Finger sich endgültig lösen wollte, wurde er gepackt. Es war ein fester Griff – kompromißlos und unnachgiebig. Der junge Draconier drehte sich halb zur Seite. Neben ihm kämpfte eine andere Gestalt in Kombination. Sie hielt ihn fest, während sie sich an ihrem eigenen Seil dem Ufer entgegenarbeitete. Omura biß die Zähne zusammen, dann ergriff auch er das Seil, und mobilisierte seine letzten Kräfte – Reserven, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß er sie besaß. Jetzt, wo er nicht mehr allein war, durfte er nicht aufgeben.

Sie erreichten das Ufer, halb gelähmt von der Kälte und der Anstrengung. Mühsam quälten sie sich die flache Böschung hoch, um oben zusammenzusacken. Omura richtete sich auf die Ellenbogen auf, und drehte sich zu seinem Retter um. Es war Kristin, seine Frau Kristin Iversen. Sie lächelte schwach, ihr Atem ging schwer, aber sie hatte immer noch die Kraft, ein paar Worte zu flüstern: „Er sagte doch – niemals getrennt werden, was auch immer geschieht!“ Omura lachte. Zweifelsohne auch eine Art, ein Eheversprechen aufzufassen. Sie schmiegte sich an ihn, und für einen Augenblick fanden sich ihre Lippen.

Doch dann machte sie sich von ihm los. Ihr Gesicht war auf einmal totenbleich, die Augen entsetzt aufgerissen. „Was ist?“ Er spürte die Angst in ihrer Stimme: „Hör doch!“ Er lauschte einen Augenblick: „Ich kann nichts hören.“ Sie nickte wie betäubt: „Eben. Es ist STILL.“ Und in diesem Moment begriff er. Kein Schuß, keine Explosion drang mehr an sein Ohr. Die Schlacht war vorüber, und während sie um ihr Leben gekämpft hatten, hatten ihre Kameraden den Kampf verloren. Er spürte nur einen bitteren Zorn auf das Schicksal, das ihnen so etwas antat. Vorsichtig setzte er das Sichtgerät auf, blickte sich um. Etwas weiter Flußabwärts blinkte in der zunehmenden Dunkelheit etwas – eine Infrarot-Signalgeber. Einmal, Zweimal. Dort warteten ihre Kameraden.

Es gab nicht viel zu beraten. Die vier wechselten rasch ihre Kleidung. Eine Rückkehr zum Lager, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen, stand außer Frage. Der Feind würde vermutlich klug genug sein, dort Posten aufzustellen, die Plünderer und Versprengte abfangen sollte. Selbst die Infanteriewaffen waren für Überlebende von großem Wert und diesen Fehler würde der Feind nicht machen. Es blieb nur der Marsch durch die Wildnis, in den einbrechenden Winter hinein. Vielleicht konnten sie irgendwo Zuflucht finden. Die Welt war nicht tot – es gab Pflanzen, die Brennholz liefern konnten, und Fische, die man fangen konnte. Doch ob sie ihr Ziel erreichen konnten – und ob sie dort sicher waren – war zweifelhaft. Sie leisteten keinen Schwur, Rache zu nehmen. Sie standen bereits unter Eid, einem Eid, den wenn überhaupt nur der Tod lösen konnte. Noch aus dem Grab heraus zog der Herr der Ronin die Fäden. Früher oder später würde sein Vermächtnis erfüllt werden, würde die kalte Hand scheinbar aus dem Totenreich heraus nach den Feinden greifen. Noch war es nicht soweit – doch der Tag würde kommen.

Wortlos schulterten sie ihre Lasten und machten sich auf den Weg. Die endlose Weiten der namenlosen Welt verschluckten die vier jungen Menschen, als hätte es sie nie gegeben. Die Dunkelheit der Nacht legte sich über menschenleeres Land, und über allem lag ein tödliches Schweigen.

Ende
30.01.2003 14:23 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Ein erfülltes Versprechen

Tinaca, acht Monate später

Die Kolonne rückte zügig vor. Links und rechts der Straße hatte man das Unterholz auf 100 Metern gerodet. Doch es war eine Sache, Brandschneisen anzulegen – sie auch sauber zu halten, eine andere. Schnell hatten Unkräuter und Gräser die Nische ausgefüllt, und jetzt wucherte es nur so auf der „freien Zone“. Dahinter begann der Wald, in kühle Nebel gehüllt, schweigend und unnahbar. Wer weiß, woran die Soldaten dachten? Dies war nicht ihre Gegend, nicht ihr Land. Sie kamen aus dem Norden, den gemäßigten Breiten. Mit dem feuchten Nebelwäldern konnten sie nicht viel anfangen. Selbst die Luft schmeckte fremdartig, die Stimmen der Vögel klangen anders, und die Nebel gemahnten an die trügerischen Moore ihrer Heimat. Die Sonne war kaum aufgegangen, und den fast aussichtslosen Kampf gegen den Nebel schien sie hier gewiß nicht schnell zu gewinnen. Die Waffen lagen feucht in den Händen, in kleinen Tropfen perlte die Flüssigkeit von den Helmen und den Flanken der Fahrzeuge.

Es war ein kleiner Konvoi, der hier über die Straße donnerte. Voran ein „Kröte“-Panzerspähwagen, dahinter ein Radschützenpanzer. Drei LKW’s folgten, offene Kastenkonstruktionen. In den beiden vorderen drängten sich die grau gekleideten Gestalten, ausgemergelt und abgerissen. Ihre Augen waren sehnsüchtig auf den Wald, auf das Grün am Wegesrand gerichtet. All dies war ihnen verwehrt, manchen schon seid vielen Jahren. Ein Spaziergang in Freiheit, ein Atemzug, ohne die unsichtbare Kette um die Brust zu spüren – lange entbehrter Luxus. Und wenig Hoffnung war, daß sie dieses Glück noch einmal erleben würden. Über 100 mochten es sein, Männer, Frauen und Kinder. Der dritte LKW transportierte einen Teil der Wachmannschaft, 14 Soldaten, die selbe Zahl verteilte sich auf die beiden Schützenpanzerwagen, von denen der zweite die Kolonne beschloß. Während die beiden Mannschaftstransportfahrzeuge ihre Maschinengewehre drohend von einer Seite auf die andere schwenkten, den Wald anvisierend, als sei er ein lebender Feind, den es zu schrecken gelte, war das MG des dritten LKW’s auf die beiden Fahrzeuge vor ihm gerichtet. Nur zu gut wußten die Insassen, daß die Soldaten keine Hemmung hatten, auf Flüchtlinge zu schießen, egal, wer den Sprung in die Freiheit versuchte. Und dennoch kam so etwas immer wieder vor – manchmal auch nur in dem Bestreben, durch eine Kugel ein schnelles Ende zu finden, die Füße auf heimatlicher Erde, und nicht im Staub des Sammellagers zu krepieren.

Die meisten der Soldaten hatten es sich so bequem wie möglich gemacht. Fahrten wie diese dauerten zumeist, sie waren unbequem und wenig ereignisreich. Andererseits waren sie auch erheblich weniger gefährlich ein Patrouillendienst in diesen Wäldern, wo unter jeder Wurzel eine Sprengladung lauern konnte, in jedem Baum ein Scharfschütze auf Opfer zu warten schien, jedes Gebüsch ein gut getarntes MG zu verbergen schien. Auch wenn die Anschläge der Guerilla selten waren, so schoß und sprengte sie mit bemerkenswerter Präzision, und es schien kaum möglich, ihrer Herr zu werden. Man darf bezweifeln, daß die Soldaten groß über Sinn, Zweck und Ethik ihres Tuns reflektierten. Sie hatten ihre Befehle, und wer sich freiwillig zu den Streitkräften des Kollaborationsregimes von Tinaca gemeldet hatte, der war bereit, noch ganz andere Dinge zu übersehen. Diese Menschen hier waren nicht ihr Volk, und dies erleichterte die Arbeit. Denn während die Soldaten überwiegend Europäer waren, handelte es sich bei den Gefangenen ausschließlich um Asiaten und Semiten. Und solche Unterschiede haben dergleichen Tun schon immer erleichtert.

Im Führungsfahrzeug, der „Kröte“ saß der Transportführer neben dem Funkgerät. Es war eng in dem Panzerspähwagen, aber andererseits war so das Funkgerät in Reichweite. Und es war sicherer als der Platz auf dem Lastkraftwagen, bequemer auch als die voll besetzten MTW’s. Auf dem LKW war ein Offizier ein leichtes Ziel für einen feindlichen Scharfschützen. Für die stellten 100, 200 oder auch 1000 Meter Abstand kein Hindernis dar. Da war das Spähfahrzeug doch wesentlich besser. Und seine Soldaten waren entsprechend instruiert, seine Gegenwart vor Ort unnötig. Außerdem bot der Platz noch andere Vorteile. Die „Kröte“ verfügte wie viele Transportfahrzeuge über eine Kochnische, und nach der bereits mehrstündigen Fahrt, die im Morgengrauen begonnen hatte, war eine Tasse Kaffee eine willkommene Abwechslung. Er nahm das Gefäß mit einem wortlosen Nicken entgegen. Ein Schluck des heißen Getränks vertrieb die Müdigkeit und die Gliederschmerzen. Müßig fragte er sich, ob sie wohl an ihrem Zielort einige Zeit Freigang bekommen würden. Das war sein letzter Gedanke.

Die Explosion war genau abgezirkelt. Sie erfolgte nicht eine Sekunde zu früh oder zu spät. Die Detonationsrichtung war exakt berechnet worden, und konzentrierte alle Wucht nach oben – gegen den dünn gepanzerten Boden des Panzerspähfahrzeuges. Die Sprengladung schleuderte das leichte Fahrzeug empor, schlitzte seine Unterseite auf und füllte den Innenraum mit Feuer und Tod. Vermutlich hatte keiner der Insassen Zeit zu begreifen, was vor sich ging. Die zerschmetterte Hülle kippte zur Seite, und der folgende Panzerspähwagen krachte mit voller Wucht gegen das Führungsfahrzeug, verkeilte sich, blieb stecken.

In diesem Augenblick löste sich die Faustrakete vom Waldrand, überbrückte die 100 Meter in weniger als einer Sekunde und hüllte den zweiten Schützenpanzerwagen in eine Wolke aus flüssigem Feuer. Der Fahrer riß im Schock das Fahrzeug herum, und schlitternd stellte sich der MTW quer. Dies alles war das Werk von vielleicht fünf, vielleicht sechs Sekunden. Den LKW’s war der Weg nach vorne und nach hinten gleichermaßen versperrt. Vor ihnen hatte die Mine die Straße aufgerissen, die beiden ineinander verkeilten Panzerfahrzeuge blockierten die Rollbahn endgültig. Der Rückweg aber wurde durch den brennenden Schützenpanzerwagen unpassierbar gemacht. Ein Versuch von der Straße abzuweichen hätte die Fahrzeuge unweigerlich in den Straßengraben geführt, und dort wären sie für die Schützen der Guerilla eine leichte Beute gewesen. So ungünstig die Lage auch war – sie mußten es hier ausfechten.

Schlagartig setzte das Feuer der Partisanen ein – kurze, gezielte Feuerstöße, während die Soldaten Dauerfeuer gaben. Der vordere Schützenpanzerwagen konnte seinen Turm noch drehen, und jetzt antworteten seine Waffen und die der Insassen, die die dafür vorgesehen Schießscharten besetzten. Das Fahrerhaus eines der Gefangenentransporter war gleich zu Beginn von einer Salve eines leichten Maschinengewehrs durchlöcherte worden, so daß die drei Insassen nicht die Zeit gefunden hatten, das Feuer zu erwidern. Aber bei den beiden anderen hatten die Soldaten fürs erste mehr Glück gehabt. Die leichten MG’s, die jeder LKW auf dem Dach des Führerhauses hatte, begannen zu hämmern, während die Soldaten aus dem Manschafts-LKW ausbootete und in Stellung ging. Für die Männer im hinteren Schützenpanzerwagen gab es kein Entrinnen. Die dünne Panzerung konnte dem Brandgel nicht widerstehen, und schnell fand der Tod seinen Weg in das Innere des Fahrzeugs. Die grauenerregenden Schreie, die über Funk gellten, gingen im Rauschen eines Störsenders unter – die Angreifer überließen nichts dem Zufall.

Plötzlich bemerkte der MG-Schütze des Manschafts.LKW’s, daß die Gefangenen offenbar die Gelegenheit nutzen wollten, zu fliehen – zumindest einige von ihnen. Mit einer flüssigen Bewegung riß er die Waffe herum und gab Dauerfeuer in die kreischenden und sich windenden Leiber, ob fliehend oder am Boden kauernd. Dann zerfetzten zwei Kugeln seinen Hinterkopf und Kehle, das Blut und die Hirnmasse spritzen über die Waffe und ins Wageninnere. Kugeln aus Kleinwaffen hämmerten gegen die nur dünn gepanzerten Wände.

Die Angreifer waren offenbar auf der linken Straßenseite massiert – kein Schuß kam von rechts. Die war auch logisch, denn ansonsten hätten sie riskiert, mit Fehlschüssen ihre eigenen Leute zu treffen. Offenbar bestand die Truppe nur aus einer Handvoll Infanteristen, zwei LMG’s und einem Raketenwerfer, aber sie waren meisterhaft postiert. Die wenigen gezielten Schüsse, die sie abgaben, gingen im Sperrfeuer der Soldaten unter, die in ihrer Angst und dem Schockzustand wahllos feuerten. So bemerkten sie gar nicht, daß das Feuer der Rebellen nachließ, die Schüsse nun grundsätzlich zu hoch lagen. In der Kakophonie der Waffen war einfach nicht feststellbar, wer gerade schoß. Als die Rebellen zum Todesstoß ansetzten, lebten von den Soldaten noch vielleicht anderthalb Dutzend.

Sie tauchten HINTER den Soldaten an der rechten Seite der Straße aus dem Gras auf, schweigend, todbringend. Vielleicht ein Dutzend Männer und Frauen in Tarnanzügen, die Gesichter geschwärzt. Einige hatten schallgedämpfte Waffen, aber die meisten begnügten sich mit einer Pistole und einem gekrümmten Dolch. In wenigen Sekunden überbrückten sie lautlos die letzten Meter. Einer der Soldaten fuhr herum, vielleicht durch eine Art Sechster Sinn gewarnt – zu spät! Seine Augen weiteten sich, doch ehe er schreien konnten, schlitzte ihm ein Dolch die Kehle auf. Röchelnd sackte er zur Seite, seine Waffe feuerte in einer letzten, sinnlosen Warnung. Ehe die Verteidiger reagieren konnten, waren die Partisanen schon über ihnen. Jetzt, da Heimlichkeit sinnlos geworden war, erhob sich der Schlachtruf der Guerilla: „Allah il Allah! AllahuAkhbar!“

Kaum einer der Soldaten schaffte es noch, seine Waffe gegen den Feind zu richten, der mitten unter ihnen war. Einer der Partisanen erreichte den MTW, riß die Heckluke auf und schleuderte eine Handgranate hinein. In dem engen Raum gab es keinen Schutz vor den Splittern. Keine halbe Minute, nachdem der erste Schlachtruf erklungen war, war alles vorüber.
20.02.2003 13:46 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Jetzt kamen auch ihre Verbündeten, die Schützen aus dem Wald links der Straße. Insgesamt waren es nicht mehr als vielleicht zwei Dutzend Guerillakämpfer. Aber sie wußten, was sie zu tun hatten. Mit wenigen Handgriffen wurden die Leichen durchsucht und im Straßengraben in einer Reihe angeordnet, jede erhielt einen Kehlschnitt. Einerseits „zur Kontrolle“, andererseits war dies das Markenzeichen der „Rif“ – so nannte sich die größte Guerillaorganisation von Tinaca. Waffen und andere Beute wurden auf den einen Gefangenentransporter aufgeladen, ebenso die verletzten Häftlinge. All dies ging fast wortlos vor sich, eine wenige Handzeichen und knappe Befehle genügten. Auch die befreiten Gefangenen waren überwiegend still. Viele von ihnen konnten wohl kaum fassen, was sich eben ereignet hatte. In den langen Monaten und Jahren der Haft waren ihnen ihre Wächter unbesiegbar und übermächtig erschienen – sie jetzt als leblose Bündel, achtlos in den Staub getreten zu sehen, so wie sie vorher mit den Häftlingen umgesprungen waren, war fast undenkbar. Insgesamt mochten anderthalb Dutzend Gefangene das Leben verloren haben, dazu gab es noch einmal halb so viele Schwerverwundete. Der LKW wurde im Schrittempo an der Barrikade vorbei gelenkt und machte sich auf den Weg, einem unbekannten Ziel entgegen. Mit sich nahm er auch die schweren Waffen der Guerilla. Auf einen kurzen Befehl hin wiesen die Partisanen den Gefangenen den Weg in das Unterholz. Sie hatten den Schutz des Waldes kaum erreicht, als hinter ihnen Detonationen aufbrüllten. Sprengladungen vernichteten die havarierten Fahrzeuge endgültig. Insgesamt mochte der Überfall zwanzig Minuten gedauert haben.

In auseinandergezogener Reihe huschten sie durch den Nebelwald. Wenn überhaupt etwas das Tempo verringerte, dann der schlechte Zustand der befreiten Gefangenen. Aber diese wußten, daß sie noch lange nicht in Sicherheit waren. Und noch einmal würde man sie nicht „nur“ inhaftieren, denn dafür war zuviel Blut geflossen. Deshalb taumelten sie durch das kalte Zwielicht unter den Bäumen, mobilisierten die letzten Reserven. Die Rebellen, auf die ganze Kolonne verteilt, bewegten sich schweigend und geschmeidig wie Katzen – offenbar waren sie lange Märsche gewohnt. Sie trieben die wankenden Gefangenen nicht an. Der Tod saß ihnen sowieso im Nacken, und wer dennoch nicht weiter gekonnt hätte, den hätten sie wohl kaum noch mehr motivieren können. Pausen wurden nur eingelegt, wenn in der Ferne das Heulen näherkommender Flugzeuge zu hören war, oder das Knattern von Rotoren. Dann verteilten sich Rebellen und Gefangene in kleinen Gruppen im Wald, schmiegten sich an den Boden und wagten kaum zu Atmen, während über ihnen der Feind kreiste. Aber in diesem Terrain – Bergland mit feuchten, dichten Wäldern, älter als des Menschen Schritt zu den Sternen – war es mit den Mitteln, die der Besatzungsmacht und ihren Lakaien zur Verfügung standen, schier unmöglich ein paar Menschen aufzustöbern. Vorausgesetzt, diese kannten das Gelände. So entgingen sie den Häschern.

Meile um Meile, Stunde um Stunde schleppten sie sich dahin. Auch wenn die Menschen jetzt zu begreifen begannen, daß sie frei waren – so frei es eben möglich war – so zwang Erschöpfung und Angst sie noch immer zum Schweigen. Vermutlich würde sich daran bis ans Ende ihres Lebens nicht viel ändern. Sie marschierten roboterhaft, hielten an, aufrecht gehalten von etwas Wasser und Rationsriegeln und angetrieben von der Gewißheit, keinen andere Möglichkeit zu haben. So bahnten sie sich ihren Weg durch den schweigenden Wald, der wohl mit Verachtung und Geringschätzung auf die ameisenhaften Geschöpfe blickte, die seine Ruhe störten und deren Gegenwart nicht mehr als ein Herzschlag seiner Geschichte währte. Acht ehemalige Häftlinge starben auf dem dreitägigen Marsch an Erschöpfung, davon drei Kinder und vier ältere Menschen. Die entkräfteten Körper, im Internierungslager ausgemergelt, von Krankheiten und Mißhandlungen geschwächt, ertrugen den Marsch nicht mehr. Die anderen aber, 70 an der Zahl, kamen durch.

Es war am Abend des dritten Tages, als sie ihr Ziel erreichten. Ihr Weg führte sie an einer Bergflanke entlang, verborgen unter dem Blätterdach. Der Pfad war ausgetrampelt, als hätten viele Füße ihn abgenutzt, aber nur einen Schritt breit. Die Gefangenen waren am Ende ihrer Kräfte, während die Guerilleros kein Zeichen von Müdigkeit zeigten. In den vergangenen Tagen hatten sich die Kontakte auf das Notwendigste beschränkt. Sie hatten sich umeinander gekümmert, aber es war immer noch eine Schranke zwischen den drahtigen Partisanen und den ausgemergelten Elendsgestalten, die sie eskortierten. Nur beim Gebet – zu den vorgeschriebenen Zeiten – hatten sich Guerilla und Häftlinge vermischt, denn vor Gott waren sie gleich. Aber die Kämpfer hatten auch wortlos hingenommen, daß die befreiten Japaner zu ihren Göttern beteten.

Doch nun schien eine Veränderung vor sich zu gehen. Die Bewegungen der Kämpfer wurden lebhafter, halblaute Gespräche kamen auf – und der Kommandeur griff diesmal nicht ein. Die hageren Gesichter zeigten erstmals echte Zeichen von Freude. Sie riefen sich und den Gefangenen Scherze zu, und ein paar stimmten sogar ein leises Lied an. Der Weg begann, sich in Serpentinen den Berg hinab zu schlängeln, zum Talboden hin. Die Bäume wurden höher, je näher man der Talsohle kam. Schließlich ragten sie auf wie die Masten riesiger Schiffe, dreißig, vierzig Meter hoch. Das Unterholz lichtete sich, denn in diesem feuchten Halbdunkel gedieh nicht viel. Nur dort, wo einer der Riesen gestürzt war, zermürbt von endlosen Jahren, Fäulnis und Schlingpflanzen, gab es Breschen im undurchdringlichen Blätterdach. Dort mochte tagsüber auch die Sonne den Boden erreichen.

Zwischen den Bäumen verteilt, für das ungeübte Auge kaum sichtbar, lagen Unterstände und Bunker. Sie schmiegten sich an das mächtige Wurzelwerk, an gestürzte Bäume, nutzen das Unterholz aus. Nichts davon war aus der Luft zu sehen – ganze Geschwader mochten über die Baumwipfel ziehen, ohne zu ahnen, was hier vor sich ging. Hier befand sich, was es in der offiziellen Sprache der Besatzer und ihrer Handlanger nicht gab – der Grundstock einer Armee, die bereit war, den Kampf aufzunehmen. Der Kommandeur der Rebellen drehte sich um und bedeutete den Gefangenen schweigend, sich um ihn zu formieren. Er lächelte – ein ungewohnter, fast unpassender Anblick auf dem hageren Gesicht. Seine Stimme war deutlich vernehmbar, und Stolz lag in seinen Worten : „Willkommen in Camp Anual!“

Die Gefangenen hatten Quartier in den Unterständen gefunden. Wie weitläufig die Anlage auch überirdisch erscheinen mochte, so war dies ein Nichts im Vergleich zu den verzweigten, engen Gängen unter der Erde, die zu Kammern und Magazinen führten. Ärzte der Rebellen kümmerten sich um die Häftlinge, und erstmals wieder eine reichliche warme Mahlzeit ausgeteilt. Dann ließ man sie zur Ruhe kommen.

In einer der Kammern lagen, eng beieinander, zwei junge Japaner. Die Frau war vielleicht um die Zwanzig, der Mann mochte ein oder zwei Jahre jünger sein, soweit man das beurteilen konnte. Die Ähnlichkeit der beiden legte nahe, daß sie miteinander verwandt waren. Die Gesichter waren von Erschöpfung und Entbehrung ausgezehrt, ebenso wie die Körper – aber ihre Jugend und gute Gesundheit hatte sie die Strapazen überstehen lassen. Sie unterhielten sich leise, um die anderen Gefangenen nicht zu stören. So hörten sie kaum, wie ein Partisan lautlos den Raum betrat – oder eher hinein kroch, denn die Verbindungsgänge waren teilweise sehr eng und schmal: „Izawa? Irgend jemand hier.“ Dieser Name ließ die beiden auffahren: „Hier. Wir.“ Der Soldat – ein Semit wie offenbar die meisten der Guerilleros – drehte sich zu ihnen: „Nanako und Saburo Izawa?“ Die beiden nickten. „Folgen Sie mir.“ Sie erhoben sich, und die junge Frau fragte: „Was ist.“ Der Soldat musterte die beiden nachdenklich: „Sie werden erwartet. Ich soll Sie zum Quartier von General Abd el Krim bringen.“ Sie folgten ihm.

Abd el Krim – der Name war mehr als nur eine Aneinanderreihung von Silben, die einen Menschen vom anderen unterschieden. Der Mann, der unter diesem Namen bekannt war, war nicht mit ihm geboren worden. Und dennoch – jetzt war er ein Mythos, eine fast legendäre Gestalt. Er hatte den Namen eines großen Partisanenführers seines Volkes angenommen, eines Mannes, der schon seit gut 1100 Jahren tot war. Und ihn mit Leben erfüllt, als wäre der echte Abd el Krim von den Toten auferstanden.
Es hatte begonnen mit einem halben Hundert Männer und Frauen, von denen nicht einmal jeder eine Waffe hatte – heute war auf seinen Kopf ein hoher Preis ausgesetzt, er war der ungekrönte König der Widerstandsgruppen von Tinaca und befehligte eine Streitmacht, die ihm bedingungslos ergeben war. Die Kollaborateure fürchteten ihn. Fürchteten ihn um so mehr, als sie kein greifbares Gesicht hatten, nur diesen Namen.

Im Quartier des Generals war außer ihm nur ein weiterer Mensch anwesend. Guerillaführer umgaben sich manchmal mit Wachen, doch Abd el Krim wußte, daß er sowieso verloren war, sollte ein Verräter jemals so weit kommen. Nicht, daß er damit rechnete. Die Clans waren meistens zu dumm, und die lokale Regierung hatte genug Probleme, nicht selbst infiltriert zu werden. Eine kleines Geste des Vertrauens kostete nichts und machte Eindruck. Er musterte seinen Besucher: „Dann sind wir uns also einig?“ „Ja, General. Wir erkennen Ihre Oberhoheit über Tinaca an. Wir werden unsere Operationen hier mit Ihnen abstimmen, und wir werden Ihnen helfen. Im Gegenzug werden Sie unsere Agenten unterstützen, und uns an Informationen liefern, was Sie auftreiben können. Wir liefern Ihnen Propagandamaterial, aber Sie entscheiden, was wo verteilt wird. Sie geben uns propagandataugliches Material, wie etwa die Aufnahmen von dem Angriff auf den Gefangenenkonvoi und Aufnahmen aus den Internierungslagern.“ Abd el Krim lächelte dünn: „Exakt. Und denken Sie daran – ich bin keine Marionette Ihrer Herrn. Wenn das Kombinat siegt, dann erwarte ich, daß unser Kampf honoriert wird. Natürlich kann kein Zweifel am Verbleib beim Kombinat sein. Aber wir wollen regionale Autonomie – besonders gegenüber den anderen Ethnien – und volle kulturelle Souveränität. Der Tod meiner Männer und Frauen muß belohnt werden, meinen Sie nicht.“ Der andere Mann seufzte: „Sie wissen, ich spreche nicht für Luthien, zumindest im Augenblick. Aber die, die ich repräsentiere sind mit ihren Konditionen einverstanden. Sie schätzen Mut und Kampf mehr als Versprechen und Apathie. Und sollte sich die Lage auf Luthien ändern – nun, in dem Fall werden sie allen ihren Einfluß geltend machen.“ „Der nicht gering ist, ich weiß. Also gut. Die Rif und die Schwarzen Samurai haben einen Vertrag.“ Der Draconier verneigte sich: „Hai, Tono!“ Die Verbeugung des Arabers war ebenso ehrerbietig – auch dies eine wohl berechnete Geste: „Ich achte Sie, und Ihren Kampf. Ich achte vor allem Ihren Lehrer, Sho-sa. Ich bedaure, daß Chu-sa Kenda nicht erleben darf, wie dieses Bündnis Wahrheit wird.“ Der andere schwieg. Die draconische Selbstdisziplin verbot das Zeigen von Gefühlen, aber ein guter Beobachter konnte spüren, was in ihm vorging.

„Nun denn, Sho-sa. Das Bündnis ist geschlossen. Wir werden sehen, wie es sich bewähren wird. Gemeinsam werden wir die Besatzer bluten lassen. Heute, morgen, in zehn Jahren – bis sie einsehen, daß es für sie hier keine Heimat gibt, außer die Umarmung des Grabes!“ Er neigte den Kopf: „Doch nun muß ich Sie verlassen. Sie werden sicher ein paar Minuten allein seien wollen – mit ihren Verwandten.“ Er reichte dem jüngeren Mann die Hand: „Auf unseren Pakt, Sho-sa Izawa – und auf den Tod unserer Feinde!“ Und Sho-sa Taroo Izawa, Überlebender von Kendas Ronin und Angehöriger des militärischen Arms desTerrornetzwerkes, daß der Chu-sa geschaffen hatte, ergriff die Hand seines Verbündeten. Der Pakt war unterzeichnet – und Blut würde ihn besiegeln. Das Blut der Besatzer und ihrer Lakaien. Bis das, wofür sie alle kämpften, wofür so viele gestorben waren, endlich Realität werden würde. Eines Tages.

Ende
20.02.2003 13:47 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Im Dunkel der Nacht

Wolcott, vier Wochen darauf

Der Attentäter bewegte sich völlig lautlos. Sein Nachtsichtgerät erlaubte es ihm, auch in völliger Dunkelheit sicher seinen Opfer zu finden, seine Kleidung ließ ihn völlig mit der Dunkelheit verschmelzen. Er war sich der Gegenwart seines Begleiters bewußt – eine zusätzliche Sicherheit, die aber nicht nötig seien dürfte. Leise öffnete er die Tür. Das Apartment bestand nur aus einem kleinen Raum. Er hörte hinter sich die Tür ins Schloß gleiten – die Angelegenheit sollte lautlos erledigt werden.

Die Gestalt de jungen Frau zeichnete sich unter der dünnen Decke deutlich ab. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, und ihre ruhigen, tiefen Atemzüge verrieten, daß sie schlief. Sie würde nie mehr erwachen. Der Attentäter gestattete sich ein dünnes Lächeln, als er die schwere Pistole auf dem kleinen Nachttisch bemerkte, direkt neben dem Kopf der Schlafenden. Sie würde keine Gelegenheit haben, sie zu benutzen. Dann zog er sein Schwert. Das Geräusch der aus der Scheide gleitenden Klinge war so gut wie unhörbar. ‚Ein perfekter Einsatz‘ dachte er.

Klinge ziehen, einen Schritt, einen zweiten – in diesem Augenblick wirbelte die Gestalt unter der Decke herum. Schemenhaft nahm er einen kleinen Gegenstand in ihrer Hand war, dann brannte sich gleißendes Licht in seine Augen. Er spürte noch einen Schlag ins Gesicht wie von einem Fausthieb – dann nichts mehr.

Tomiko rollte sich zur Seite ab, die linke Hand tastete, warf. Ihre nur halb geöffneten Augen schützten sie vor dem Blitz der Hold-Out Laserpistole, doch der zweite der Angreifer hatte weniger Glück. Seine Nachtsichtbrille war dafür gedacht, jeden Funken Licht zu verstärken, um selbst in fast völliger Finsternis ein klares Bild zu ergeben. Das wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie etwas auf ihn zuflog. Reflexartig schlug er mit seiner Klinge, die er in einer einzigen flüssigen Bewegung gezogen hatte, zu. Er schlitzte das Kissen auf, aber es hatte ihn kostbare Sekundenbruchteile gekostet. Und letzten Endes weit mehr als nur Sekunden. Der erste Schuß, abgegeben während sein Ziel sich beiseite hechtete, zerschmetterte sein Knie. Er schlug lang hin, dann zerfetzte der Strahl des Lasers seine Kehle.

Die junge Offzierin kniete am Boden, sicherte in Richtung Tür. Klirrend zerbarst hinter ihr das Fenster. Sie nahm eine Gestalt in schwarzer Kombination wahr, in der selben Kombination wie die beiden Angreifer. Eine schallgedämpfte Mpi, die sich auf ihr Gesicht richtete. Sie gab einen Schuß ab, aber die Gestalt wich zur Seite aus. Die Maschinenpistole nahm sie ins Visier. Ihr schoß durch den Kopf, daß sie versagt hatte.

In der selben Sekunde verkrampfte sich die Gestalt, die Mpi fiel herunter, nur noch gehalten am Schulterriemen. Der Kopf sackte nach vorne, bewegungslos. Tomiko stürzte in die relative Sicherheit der Wand – doch kein Angriff erfolgte. Sie spürte, wie ihr Puls raste. Doch sie wußte, viel Zeit blieb ihr nicht. Selbst hier, in einem der schlechten Viertel, würden die Ereignisse die Polizei auf den Plan rufen, früher oder später. Sie mußte verschwinden – auch, ehe die Freunde der Toten auf die Idee kamen, nach ihren Kameraden zu sehen.

Was ihr zwei Möglichkeiten ließ. Entweder über den Flur, von wo die beiden Angreifer im Zimmer gekommen waren. Oder die Fassade hoch, an der dritten Leiche vorbei. Riskant – aber sie wußte jetzt, daß dort draußen jemand war, der offenbar auf ihrer Seite stand. Auf dem Weg war es unwahrscheinlich, auf die zweite Linie der Angreifer zu stoßen. Sie schnappte sich mit fliegenden Händen eine Tasche, verstaute ihre Waffe wieder in der Achselhöhle und nahm die schwere Pistole auf. Sie zögerte kurz, dann fügte sie die Schalldämpferwaffe des Angreifers am Fenster hinzu. Er – oder besser sie, die Gestalt war zu zierlich für einen Mann – hing immer noch im Klettergeschirr. Eine feuchte Stelle am Hinterkopf verriet, daß ein gezielter Schuß die Todesursache war. Tomiko zögerte kurz – es war nicht eben angenehm, zu klettern, während draußen ein Scharfschütze auf der Jagd war. Aber wenn er sie hätte töten wollen, hätte er das sicher einfacher haben können. Sie befreite die Leiche aus dem Geschirr und machte sich auf den Weg nach oben – sich sehr wohl bewußt, daß spätestens eine Leiche in Kommandokombination, die mitten auf dem Bürgersteig landete, Alarm auslösen würde. Nicht, daß sich hier viele Bürger hin verirrten. Sie opferte eine Sekunde, um ihren Ahnen und den kami zu danken, daß sie sie bisher beschützt hatten, dann griff sie nach dem Seil und begann die Fassade empor zu klettern.

Dicht unter dem Dachfirst – natürlich ein Flachdach – zögerte sie. Sie konnte nicht wissen, wer oben wartete. Vermutlich kein Feind, denn der hätte alle Gelegenheit der Welt gehabt, sie zu erledigen. Aber dennoch...
Sie zog die leichte Pistole aus dem Achselholster und nahm sie in die linke Hand. Sie stemmte sich mit beiden Beinen gegen die Wand, dann gab sie sich einen Stoß und rollte über die Dachkante. Noch in Bewegung erfaßte sie das Geschehen auf dem Dach, auf einen Angriff vorbereitet – da packte eine stählerne Faust die Hand mit der Waffe. Blitzschnell warf sie sich zur Seite, trat aus und wurde mit einem Grunzen belohnt, sie hatte offenbar getroffen. Ihr Gegner wälzte sich über sie, aber sie riß an der Waffe, die er immer noch umklammert hielt, und schlug ihm mit dem Kolben in die Magengrube. Auf einmal war sie frei – und blickte genau in zwei schallgedämpfte Maschinenpistolen.

Es waren insgesamt sechs Menschen, die sie sehen konnte. Zwei, die auf sie angelegt hatten, einer direkt neben ihr und ein weiterer, der etwas abseits stand. Zwei weitere Gestalten lagen am Boden, das Gesicht nach unten. Sie regten sich nicht. Nakamura registrierte, daß sie erledigt war.

Der abseits stehende – offenbar ein Mann – lachte leise: „Gute Arbeit, Sho-sa.“ Er nickte leicht, als er sah, wie sie zusammenzuckte: „Oh ja, wir kennen Sie und Ihren Rang. Ebenso wie diese hier.“ Er deutete auf die reglosen Gestalten. „Sie fragen sich sicher, wer die sind, und wer WIR sind, und was wir mit Ihnen vorhaben. Habe ich recht.“ Nakamura nickte kaum wahrnehmbar. „Nun, wenn wir Sie töten wollten, wäre uns dies spätestens bei ihrer Kletternummer möglich gewesen. Was meinen Sie, wie die beiden hier gestorben sind? Ich nehme an, Sie wissen, daß hier ein Scharfschütze unterwegs ist. Oder mehr als einer.“ Die junge Offizierin verzog das Gesicht: „Wollen Sie mich beeindrucken, wie clever Sie alles eingerichtet haben? Ich nehme an, Sie haben nicht drei Menschen getötet, nur um mich zu beeindrucken.“ Das Grinsen des Sprechers klang in seiner Stimme mit: „Vier, um genau zu sein. Es war noch einer auf dem Flur. Wir hielten es für ratsam, Sie nicht im Zimmer anzusprechen, da Sie dies hätten mißverstehen können.“ Die Frau lächelte verächtlich: „Wenn ich nicht vor drei Tagen bemerkt hätte, daß die Bluthunde mir auf den Fersen sind, hätten Sie nur meine Leiche gefunden – und die beiden Angreifer, die jetzt tot in meinem Hotelzimmer liegen.“ Das Lachen ihres Gegenübers klang beinahe angenehm: „Was meinen Sie, WARUM Sie das überhaupt bemerkt haben. Agenten der ISA pflegen bei solchen Aufgaben nicht zu versagen. Sie wurden gewarnt. Von uns gewarnt.“ „Und wer sind Sie?“ fragte Nakamura, obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte: „Wissen Sie das nicht bereits? Wir sind die wahren Söhne des Kombinats, jene, die nicht ihre Pflicht verleugnen und verraten.“ Er maß die junge Frau mit den Augen: „Wir sind der Dolch in der Nacht, wir sind die eiserne Faust, die selbst der Koordinator fürchtet. Wir sind das Vermächtnis des Erbes unserer Heimat. Wir sind der Schwarze Drachen.“

Wenn es sie beeindruckte, so zeigte sie es nicht: „So. Und das soll ich Ihnen glauben. Wer sagt mir, daß die hier“ sie weiß auf die Toten: „nicht einfach angeheuerte Schläger waren, die sterben SOLLTEN, damit ich Ihnen vertraue? Und sage, was ich weiß? Ich bin mir bewußt, daß die ISA Interesse an mir hat – warum nicht ein paar Kriminelle dafür opfern.“ Der Mann nickte: „Sehr richtig. So könnte es auch sein. Aber Sie haben keine andere Wahl, als uns zu vertrauen. Wenn wir Ihnen nicht helfen, werden Sie nicht weit kommen. Jene“ ein weiterer Wink auf die Toten: „haben Freunde. Sie werden nicht erfreut sein. Kommen Sie mit uns – oder sterben Sie.“ „Und was, wenn ich den Tod vorziehen, um nicht zur Verräterin zu werden?“ Er lächelte: „Das werden Sie nicht. Ich weiß genug über Sie, um dies zu wissen. Denn Sie hoffen, daß Vermächtnis Ihrer toten Kameraden zu erfüllen. Dafür sind Sie bereit, fast jedes Risiko einzugehen.“ Sie versuchte, den Mann einzuschätzen, der jetzt direkt vor ihr stand. Sie war nicht so dumm, zu glauben, mit einem Blick Lüge und Hinterlist entlarven zu können. Wenn er ein Agent der ISA war – der verräterischen ISA, nicht der dem Kombinat loyalen Teile, die mit dem Schwarzen Drachen kooperierten – dann war er leicht im Stande, sie zu täuschen. Aber er hatte Recht. Sie hatte keine Wahl. Langsam ließ sie die Mpi von der Schulter gleiten und zog ihre schwere Pistole. Dann hielt sie die Waffen ihrem Gesprächspartner hin. Er lächelte: „Behalten Sie Ihre Waffen. Vielleicht brauchen Sie sie noch. Da Sie sich nun entschlossen haben, mir zu folgen – ob Sie mir vertrauen, müssen Sie selbst entscheiden, sollen Sie meinen Namen wissen. Ich bin – ich war – ISA-Chu-sa Saru Aoyama. Jetzt ein Geächteter, wie Sie, wie Ihr gefallener Vorgesetzter.“ Er hielt ihr die Hand hin, und nach einem kurzen Augenblick des Zögerns schlug sie ein. Es war eine undraconische Geste, aber sie paßte hier besser als die typische Verbeugung. Beide gaben ihre Hand in die des Gegenübers – ein Zeichen des Vertrauens: „Kommen Sie, Sho-sa. Ihre Reise hat erst begonnen.“

Am Morgen danach, ISA-Zentrale Wolcott

Toyonari Sakaguchi, Chef der ISA-Residentur von Wolcott, war alles andere als zufrieden. Er schrie nicht, er tobte nicht – aber sein Tonfall und der Blick seiner kalten Augen waren das Gegenstück zu einem hyterischen Wutanfall bei anderen Offizieren. Jene, die ihn kannten, wußten, daß er außer sich war. Seine Stimme klang eisig: „Sechs tote Agenten. Die Zielperson ist entwischt, und wir haben keinerlei Spur. Können Sie mir sagen, meine Herren, wie ich das Luthien begreiflich machen soll?“

Sakaguchi hatte die Befehle aus der Zentrale von Anfang an für suspekt gehalten. Er hatte die Zielperson – eine junge Frau, an der nichts bedeutsam zu sein schien, außer daß sie über die Schattenkanäle aus der Besatzungszone eingereist war – gehorsam observieren lassen, obwohl sich schnell gezeigt hatte, daß sie offenbar nichts Auffälliges tat. Luthien hatte ihm keine Begründung geliefert. Und ohne Begründung war vor ein paar Tagen der Befehl gekommen, die Zielperson zu eliminieren. Wobei äußerste Sorgfalt geraten wurde. Also hatte er zwei Teams los geschickt. Nicht eben Nekakami, aber ausgebildete Mitarbeiter. Jetzt waren sie tot, alle. Er würde die Verantwortung übernehmen müssen – als Kommandeur wäre ihm auch keine andere Möglichkeit geblieben, selbst wenn er es gewollt hätte: „Könnte jemand mir verraten, was da schiefgegangen ist?“ Einer seiner Untergebenen räusperte sich: „Die Zielperson schien äußerst mißtrauisch, gerade ab dem Zeitpunkt, ab dem die Vorbereitungen für die Operation liefen. Zwei der Agenten wurden offenbar mit einer leichten Laserpistole erschossen – drei andere starben durch Schüsse mit einem großkalibrigen Gewehr, der vierte durch zwei Pistolenkugeln. Schon die Tatsache, daß alle sechs tot sind legt nahe, daß die Zielperson Hilfe hatte. Vielleicht wurde sie gewarnt, auf jeden Fall müssen zumindest zwei oder drei Personen zu ihrer Unterstützung bereitgestanden haben. Überwachung des Telephons ergab keinen Hinweis. Da die Unbekannten Art und Zeit des Zugriffes kannten kann dies nur heißen...“ er schluckte, doch ehe er den Mut aufbrachte, zu sagen, WAS die bedeutete, fiel ihm Sakaguchi ins Wort: „Ich weiß. Das bedeutet, wir wurden verraten. Und das läßt nur eine Möglichkeit offen. Den Schwarzen Drachen.“ Er trommelte leise mit den Fingern auf den Tisch, während er seine Mitarbeiter musterte. Sie hielten seinem Blick stand, obwohl sie wußten, daß seine Worte auch die Möglichkeit einschlossen, daß ihr Vorgesetzter den Verräter unter ihnen vermutete. Aber wenn ein Angehöriger des Schwarzen Drachen anwesend war, dann würde er sich natürlich nicht durch so etwas simples wie Unsicherheit verraten. Ansonsten wäre die Organisation schon lange zerschlagen worden.

Der ISA-Offizier holte tief Luft: „Also gut. Ich will, daß JEDER, der Kenntnis über die Aktion hatte, überprüft wird! Und sagen Sie Luthien, die sollen dort ebenfalls JEDEN abklopfen, der etwas wußte. Und wenn es die letzte Bürokraft oder die geisha des Kanrei persönlich ist.“ Bei diesen Worten zuckten einige der Geheimdienstler zusammen – eine derartige Sprache konnte leicht zu ‚Problemen‘ führen. Aber Sakaguchi hatte sich nicht umsonst für den Dienst auf so einem wichtigen Planeten qualifiziert. Die Schlappe hier war ein Sonderfall, vermutlich war er deshalb so wütend. Und, weil Aktionen gegen den Drachen meist damit endeten, daß man nur einige Maschen des Netzes erwischte, nie einen ganzen Abschnitt, geschweige denn die ominöse Spinne im Zentrum, wenn es sie denn gab. „Und noch etwas. FINDEN SIE DIESE FRAU! Ich will ihren Kopf und den Kopf des Verräters für Luthien. Und ich WERDE ihn bekommen!“ Angesichts der tödlichen Wut in den Augen des Kommandeurs erbleichten auch die altgedienten Offiziere. Er nahm die Niederlage persönlich – SEINE Leute waren getötet, SEINE Abteilung blamiert worden. Wenn sie ihn auch nur Ansatzweise kannten, dann würde er auf Wolcott jeden Stein umdrehen.
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Die Saat der Rache

Zwei Wochen später

Die junge Frau hatte sich auf den ersten Blick unter Kontrolle. Sie saß ruhig da, keine Regung verriet ihre Anspannung. Und dennoch – ein so guter Beobachter wie ihr Gegenüber konnte die kaum sichtbaren Zeichen der Unsicherheit erkennen. Der alte Mann unterdrückte ein Lächeln und schenkte seinem Gast Tee nach. Sie nahm die Trinkschale auf und verneigte sich tief vor ihm. Er hatte ihr gesagt, im Augenblick seien sie nur zwei Soldaten, aber sie konnte nicht so weit über ihren Schatten springen, daß sie ihn nicht seines Ranges entsprechend behandelt hätte. Nun, er als älterer Soldat hatte auch Anrecht auf Respekt. Unauffällig musterte er ihr Gesicht, als sie kurz die Augen schloß. In dem hübschen Antlitz waren deutlich die Linien von Kummer und Bitterkeit, gegraben von Erlebnissen, an denen andere zerbrochen wären. Sie aber hielt sich aufrecht. Aus Stolz und um des Stolzes derer willen, die gefallen waren.

Als er sie ansprach, öffnete sie sofort die Augen, konzentrierte sich auf seine Worte, sein Gesicht: „Nun, Sho-sa, Sie haben also entschlossen, daß Sie uns vertrauen.“ „Hai, Tono!“ Ihre Stimme klang ruhig, respektvoll: „Chu-sa Anatoli Kenda hat nicht viel über seine Vergangenheit erzählt, aber von Ihnen sprach er immer mit dem höchsten Respekt. Ich weiß, daß er Euch vertraute, wie sollte ich da Mißtrauen hegen?“ Der alte Mann lächelte. Schon diese Worte sagten einiges über die junge Frau vor ihm aus. Wenn Anatoli ihr überhaupt etwas aus seiner Vergangenheit erzählt hatte, dann mußte er ihr nicht nur vertraut haben – er mußte sie auch in besonderer Weise akzeptiert und geschätzt haben. In Gedanken überschlug er das Alters seines toten Freundes und das der Offizierin. Ja, sie war etwa so alt wie Kendas Tochter. Es mochte sein, daß dies einer der Gründe war. Und er kannte Nakamuras Beurteilung. Kenda mochte in ihr eine Möglichkeit gesehen haben, sein geistiges Erbe weiterzugeben. Denn der Chu-sa – der alte Mann dachte an ihn immer mit diesem angenommenen Rang, auch wenn Anatoli nie so hoch offiziell aufgestiegen war, so hatte er doch mehr als das verdient – konnte nicht wissen, ob seine Kinder ihn lange überleben würden. Ob die ISA nicht die Blutlinie, die so frech der Allmacht des Koordinators und seinen törichten Befehlen getrotzt hatte, nicht zur Auslöschung verurteilen würde. Zu Zeiten Takashi Kuritas war dies mehr als einmal geschehen. Theodore hatte die Ermordung aller ‚Rächer‘ angeordnet – ein solcher Verbrecher würde vor nichts zurückschrecken.

„Das freut mich. Denn Sie wissen natürlich, daß wir Sie brauchen werden. Sie wissen, daß Sie den Schritt ins Dunkel schon vor langer Zeit getan haben. Für JENE sind Sie tot, oder schlimmer als das. Sie haben keine Hoffnung auf Rückkehr, keine Chance auf Gnade. Bei Gefangennahme erwartet man, daß Sie sich töten. Sie werden gegen Ihre eigenen Landsleute kämpfen müssen, Ihre Eltern werden sich von Ihnen abwenden, Ihr Andenken mit Fluch beladen. Sie sind nicht länger ein Samurai, Sie sind in den Augen JENER ein Ronin, und noch weniger. Sie müssen kämpfen, mit wenig Hoffnung auf Sieg in diesem Leben. Sie werden gejagt werden, sich verstecken müssen wie ein Tier auf der Flucht vor den Häschern, wie eine gewöhnliche Kriminelle. Das ist Ihnen klar.“ Sie nickte nicht – alle Entscheidungen waren schon vor langer Zeit gefällt worden. Ihre Verbindung mit dem alten Leben, dem Leben in den VSDK, war zerrissen. Sie war eine Rächerin, in einer noch unmittelbareren Bedeutung als früher. Sie erwiderte den Blick des alten Mannes ohne Furcht, ohne zu stocken sprach sie den rituellen Eid: „Ich diene, wo man mir zu dienen befielt. Ich kämpfe, wofür zu kämpfen meine Pflicht ist. Ich sterbe, wenn mein Tod meiner Heimat nutzt. Ich bin eine Waffe, bin Kralle, bin Zahn, bin Schuppe des Drachen. Ich diene, ich töte, ich schütze. Mein Blut dem Kombinat. Meine Leben meiner Heimat. Meine Seele den Göttern.“ Ihre Stimme war tonlos, von einer tödlichen Entschlossenheit.

In den Augen des alten Mannes leuchtete der Stolz: „Hai! Gut gesprochen, als wahre Tochter der Yamato-Rasse! Anatoli wäre stolz auf Sie – und ich hoffe, Ihre Eltern werden es auch sein.“ Er sah, wie sie leicht rot wurde. Nun, Lob von einen hohen Offizier war eben nichts alltägliches. „Wir werden Sie einsetzen, um Kämpfer für den Einsatz hinter den feindlichen Linien auszubilden. Um eine Waffe zu schaffen, die die Clans und ihre Lakaien trifft,ehe sie überhaupt merken, wie ihnen geschieht. Um auch in der Freien Inneren Sphäre den Sieg des Yamato-Geistes vorzubereiten. Es wird eine harte Arbeit, ohne öffentliche Anerkennung. Aber Sie sind dazu bereit.“ Dies war keine Frage. „Ich weiß, daß Sie viel durchgemacht haben. Sie haben schon mehr geleistet, als viele, die als Helden gerühmt werden. Mehr, als die meisten der edlen Samurai in Genyosha oder Schwertern des Lichtes. Aber ich muß noch mehr von Ihnen verlangen, denn es gibt nicht viele wie Sie. Sie sind einer der Zähne des Drachen.“

Er begegnete ihrem ruhigen Blick: „Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die von den Menschen zu den Sternen mitgenommen wurde. Sie stammte nicht aus unserem Volk, und doch verkörpert sie den Geist, dem wir uns verpflichtet fühlen. Es ist eine Legende, die schon alt war, als der erste Mensch seinen Heimatplaneten verließ – insgesamt über dreimal tausend Jahre. Sie stammt aus dem antiken Griechenland. Auch dort glaubten die Menschen an Drachen – wie unser Volk. Und sie erzählten sich, daß ein Drache, wenn er erschlagen wurde, dennoch ein Wesen voll tödlicher Macht blieb. Und wer die Zähne des Drachen aus seinem Schädel brach, und sie Samenkörnern gleich auf dem Felde verstreute, der wurde Zeuge, wie aus den Fängen der toten Kreatur eine Saat von gepanzerten und bewaffneten Kriegern erwuchs – zum Kampfe bereit, Grundstock eines neuen Reiches, erfüllt von der tödlichen Stärke des Drachen. SIE sind solch ein Drachenzahn! Ja, der Drache ist gefallen. Die Rächer sind zerschlagen, Chu-sa Kenda ist mit den seinen von uns gegangen. Die Toten bedecken die Erde, für deren Freiheit sie starben. Ihr Andenken ist von den falschen Herrschern mit Fluch belegt worden, und kein Weihrauch darf zu ihren Ehren verbrannt werden. Und dennoch – die Saat des Drachen wartet! Wartet auf den Tag, auf dem sie auf einem Feld ausgesät wird, das die Toten bereitet haben! Wartet darauf, daß eine Zeit der Ernte kommt – eine bittere Ernte für unsere Feinde, für die Besatzer und Verräter! Eine Ernte des Todes und des Blutes! Mögen sie sich in Sicherheit wähnen – die Saat ihres Untergangs ist bereit!“ Seine Augen bohrten sich in das Gesicht der jungen Frau: „Vergessen Sie das nie!“ „Hai!“ „Ich weiß, Sie werden Ihre Sache gut machen. Anatoli hat Ihnen zu Recht vertraut.“

Der alte Mann schob ihr drei Umschläge hin. Sie kannte sie. Vor vielen Monaten – eine Ewigkeit schien es her – hatte Anatoli ihr diese Umschläge gegeben, damit sie weitergeleitet werden an seine Familie. „Der vierte Brief war für mich. Ich habe bisher keine Möglichkeit gehabt, sie weiterzuleiten. Sie werden die Briefe überbringen – bei Ihnen weiß ich die Aufgabe in guten Händen. Ich täte es selber, aber unsere Grundregeln verbieten das. Übergeben Sie die Briefe und die Schwerter von Anatoli seiner Frau.“ Nakamura mußte schlucken. Der Frau ihres Vorgesetzten gegenüber zu treten ängstigte sie mehr, als eine aussichtslose Schlacht. Wie sollte sie ihr ins Gesicht sehen, da sie doch lebte, der Chu-sa aber gefallen war? Aber sie würde nie einen solchen Befehl verweigern. Sie verneigte sich nur, nahm die Briefe und die Schwerter, und ging.

Der alte Mann sah ihr traurig nach. Wie sie hatte er Anatoli Kenda auf seine Art und Weise geliebt. Sie hatte ihn als Vorgesetzten verehrt, geliebt wie einen Vater. Für ihn war der jüngere Offizier fast wie ein Sohn gewesen, zumal Anatolis echter Vater gefallen war. Auch er war ein enger Freund des alten Mannes gewesen. Warum mußte er bloß beide überleben? Miterleben, wie sie im Kampf gegen Feinde fielen, die doch nicht besiegt werden konnten wegen dem Verrat des Hauses Kurita, daß vor Davion wie den Clans kuschte wie ein serviler Sklave. Der alte Mann fühlte Ekel und Zorn. Er würde das Andenken bewahren – auch das Andenken an die junge Offizierin, die vielleicht nie mehr Frieden finden mochte. An die Frau Kendas, der man sogar verboten hatte, um ihren Mann zu trauern. An die Kinder, die ihres Vaters nicht gedenken durften. Es gab so vieles zu rächen! Auch wenn er tausend Jahre leben würde, wer wußte, ob das gereicht hätte, Vergeltung zu üben! Er biß die Zähne zusammen. So viel Zeit er noch hatte, er würde sie nutzen. Sho-sho Valdis Kevlavic hatte seinen eigenen Ängsten ins Gesicht geschaut und sie gemeistert – und er würde nicht aufgeben, so lange noch Atem in ihm war.

Ende

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Pesht, Anwesen der Familie Kenda

Hitomi Kenda überflog den Text. Ja, so schien es richtig zu sein, die Formulierung stimmte. Sie gestand sich selber ein, daß sie nicht wußte, wofür sie arbeitete. Ob ihr Werk jemals veröffentlicht werden würde, war zweifelhaft. Sie stand jetzt auf der Liste der „unzuverlässigen Elemente“, und im Kombinat wurde mit Argusaugen darüber gewacht, daß sie Bevölkerung nichts falsches las, sah oder dachte. Und in den Augen der Gralshüter war sie definitiv ungeeignet. Dennoch arbeitete sie verbissen weiter. Sie wußte warum – es war das einzige, was ihr blieb. Trauer um ihren Mann und um seine Kameraden hatten sie ihr verboten. Sie durfte nicht einmal eine Inschrift im Schrein der Familie ihres Mannes anbringen lassen. Dort waren die Namen aller Kendas verzeichnet – ihrem Gatten aber war diese Ehre verwehrt. Es war nicht so schlimm, auch wenn es schmerzte, daß er nicht dort lag, im Kreis seiner Angehörigen, die sich wie er aufgeopfert hatten im Dienst für das Kombinat. So mancher war in fremder Erde begraben worden. Aber das selbst sein Andenken verboten war, das war das Schlimmste. Als wäre er ein Verbrecher, ein Deserteur – und nicht ein Soldat, der immer nur das Wohl seiner Heimat im Auge behalten hatte. Aber der Koordinator und seine Diener verziehen keinen Angriff auf ihre selbstherrliche Autorität. Wer nicht in blindem Gehorsam diente, für den war kein Platz im öffentlichen Gedenken. Und wer sich gar auflehnte gegen den vorgegebenen Kurs, dessen Angehörigen war sogar die private Erinnerung versagt. Keine Gedenkfeier, kein Gebet, kein Weihrauch für Anatoli Kenda. Für ihn nicht und auch nicht für die Männer und Frauen, die er geführt hatte, und die er auch im Tode nicht im Stich gelassen hatte.

Manchmal fragte sich Hitomi, wieso sie und ihre Kinder nicht dem Blutgericht der ISA verfallen waren. Skrupel kannte weder der Geheimdienst noch seine Herren. Aber sie wußte, auch im Kombinat mußten gewisse Rücksichten gewahrt werden. Sie gehörte zu einer angesehenen Familie, ihre Kinder erst recht – die Sakais und die Kendas gehörten zum alten Kriegeradel. Und es gab nicht wenige hohe Offiziere, die zu Bedenken gaben, daß Anatoli Kenda keinen Eid gebrochen und keinen Verrat begangen hatte mit seinem Privatfeldzug. Er hatte seinen Abschied genommen, war nicht mehr Teil der VSDK gewesen. Und deshalb waren seine Taten allein seine Entscheidung gewesen, für die er voll und ganz verantwortlich war. Allein. Ebensowenig, wie das Kombinat Einspruch hätte erheben können, wenn er dabei ums Leben gekommen wäre, hätten die Bären des Recht gehabt, seine Taten dem Kombinat vorzuwerfen. Ein Ronin – und das war er geworden – war ein Krieger ohne Herr, und dieser verlor keine Ehre durch die Taten seines ehemaligen Untergebenen. Außerdem gab es nicht wenige, die heimlich mit seinen Taten sympathisieren mochten. Die Gerüchte und Nachrichten, die das Kombinat erreicht hatten, hatten gezeigt, daß er den Bären schmerzhafte Schläge versetzt hatte, und gerade nach dem letzten Krieg, der in einem schändlichen Vertragsfrieden geendet hatte, waren solche Nachrichten begierig aufgenommen worden. Deshalb – um im Grunde loyale Offiziere nicht zu verärgern – hatte man die Angehörigen Kendas verschont. Wenn man von Schonung sprechen konnte, wenn selbst das Tragen von Trauerkleidern verboten war.

Ihre Arbeit war ihr Ablenkung und Beschäftigung geworden. Früher hatte sie ihren Lebensinhalt darin gesehen – neben dem Leben für ihre Familie. Aber jetzt erschien ihr dies oft schal, farblos, verblaßt. Deutlicher als je zuvor spürte sie, wie sie ihren Mann vermißte. In ihrer Ehe war von ‚Liebe‘ selten die Rede gewesen. Sie hatten einander respektiert und geachtet. Erst jetzt, da sie ihn verloren hatte, für immer und unwiderruflich, wurde ihr mit letzter Deutlichkeit klar, wie nahe sie einander gestanden hatten. Es war nicht nur das, was jedes Ehepaar verband – Zärtlichkeit, ein Leben Seite an Seite, die Kinder, dazu all die kleinen Nichtigkeiten, die so viel bedeuten konnten – es war mehr gewesen. Er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, ihr Leben in weiten Bereichen selbst zu gestalten, nach ihren Wünschen. Sie waren Kameraden gewesen, die sich völlig aufeinander verlassen konnten. Alles, was sie an Freude und Trauer, Glück und Leid erlebt hatten, hatten sie geteilt und es so ertragen oder erst wirklich zu schätzen gewußt. Er hatte sich nie in ihre Arbeit gedrängt, sie nicht in die seine, aber ohne einander erschien dies auf einmal wertlos. Erst in ihrer Gemeinsamkeit hatte ihrem Leben das gegeben, was man Glück nennen mochte. Das war jetzt vorbei – für immer. Auf ewig zerstört.
Sollte sie ihm Vorwürfe machen, weil er seinen Entschluß gefaßt und verwirklicht hatte, den Entschluß, der ihm den Tod brachte? Nein, das wäre töricht gewesen. Was er war, was er für sie war, für ihre beiden Familien, das hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Er hatte sich keine andere Wahl GEWÜNSCHT, und sie wäre eine Närrin, hätte sie das getan. Es hatte für ihn keinen anderen Ausweg gegeben, es hatte keinen geben dürfen, oder er wäre nicht der Mann gewesen, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte.

Nein, sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Nur den – sie zu verlassen und dorthin zu gehen, wohin sie ihm nicht folgen konnte. Es wäre leicht gewesen, sehr leicht. Sie trug ihren Dolch stets bei sich, eine Pistole war griffbereit. Sie wußte beides zu gebrauchen – eine paar Handbewegungen, und sie wären wieder zusammen. Selbstmord war nichts Ehrenrühriges in der Kultur des Kombinats, sie brach damit kein religiöses Tabu, ihre Kinder konnten längst für sich selber sorgen. Ihre Familie würde es verstehen und sie nicht dafür verdammen. Sicher, den Dienern des Koordinatos mochte es mißfallen, denn die Tat wäre auch eine Anklage gegen sie gewesen. In der patriarchalischen Gesellschaft des Kombinats nichts so wirksam wie der Freitod eines Mannes und Kriegers, aber doch eine deutliche Geste. Was diese dachten, kümmerte sie schon gar nicht.

Es war etwas anderes, das sie zurückhielt. Ehre und Pflicht. Sie hatte ihrem Mann das Versprechen gegeben – nicht unbedingt wörtlich, aber doch sinngemäß – zu überleben. Er hatte ihr gesagt, es würde ihre Aufgabe sein, die Erinnerung wachzuhalten, die Worte zu finden, damit die Taten nie verblassen würden. Etwas, was er selber nicht vermocht hatte, worin sie aber geübt war. Und sie konnte, sie durfte sich dieser Pflicht nicht entziehen. DAS hätte ihn entehrt. Wie sollte sie dann jemals hoffen, wiederzugewinnen, was sie verloren hatte, wenn sie ihn so hinterging, ihn verriet? Dies war undenkbar. Also arbeitete sie – im Augenblick noch an dem Werk, das sie in Vorbereitung gehabt hatte, als er aufbrach. Und später, vielleicht, eine Geschichte der Kämpfe, an denen er teilgehabt hatte. Oder besser – jener Konflikt, in dessen Namen er schließlich gefallen war. Sie würde nicht zulassen, daß nur Lügen blieben. Vielleicht würde einmal eine Zeit kommen, in der die Wahrheit nicht mehr versteckt werden mußte. Dafür lebte sie.

Sie atmete tief durch, versuchte ihren Geist zu klären. Sie durfte sich nicht von ihrer Trauer überwältigen lassen! Er hatte besseres verdient! Tränen und Klagen waren kein würdiges Andenken an einen Gefallenen. Und so hatte sie nicht geweint, als die Nachricht kam, noch irgendwelche Zeichen von Schock gezeigt. In ihrem Innersten aber war etwas gestorben – jene verzweifelte Hoffnung, ihn jemals in diesem Leben noch einmal wiederzusehen. Sie hatte diese Hoffnung in sich getragen, auch wenn ihr Verstand ihr gesagt hatte, es sei nutzlos, von Dingen zu träumen, die niemals seien konnten. Aber sie hatte es nicht vermocht, ihrem Herz zu befehlen, sich mit dem scheinbar Unausweichlichen abzufinden. Nun war auch die letzte Hoffnung erloschen. Was ihr blieb war ihr Versprechen.

Behutsam hob sie ein Blatt Papier auf, das vor ihr lag. Sie studierte es schweigend. Die Nachricht des Söldnerführers, der die Ronin vernichtet hatte. Er hatte ihr vom Tode ihres Mannes geschrieben, wie Anatoli Kenda gefallen war, aufrecht bis zum Schluß. Sie wußte nicht, was er sich davon erhoffte. Vergebung? Einen Dank? Sie empfand nichts als Haß und Verachtung für ihn!
Wäre dies ein Brief eines Davionsoldaten gewesen, eines Steineroffiziers, sie hätte die Nahcricht anders aufgenommen. Wenn Anatoli in einem der üblichen Kriege gefallen wäre, Kämpfe zwischen dem Kombinat und seinen Nachbarn in der Inneren Sphäre. In diesem Fall wäre es eine ehrenvolle Geste gewesen. Nicht hier.

Hier war es nur der erbärmliche Versuch eines Verbrechers, seinen Untaten einen noblen Schein zu verleihen. Denn er hatte sich zum Handlanger der Clans erniedrigt, zu ihrem Bluthund. Spürte er denn nicht, daß er damit jenseits aller Ehre stand? Daß sein Brief nicht als blanker Hohn war? Als wäre er seinen Gegnern ebenbürtig, der Kampf nur ein Kräftemessen von Gleichrangigen. Was für ein Narr! Er diente jenen, die in die Innere Sphäre eingefallen waren, er diente jenen, die kampflos preisgaben, was der Feind widerrechtlich geraubt hatte. Dafür gab es weder Entschuldigung noch Vergebung. Sie haßte den Mann, obwohl sie nicht mehr als seinen Namen kannte. Nicht nur, weil er derjenige war, der ihren Gatten hatte töten lassen. Die Schuld dafür traf noch mehr die Geisterbären und die verräterische Führung des Kombinats, die das Blutgeld ausgesetzt hatten. Nein, was sie an ihm haßte war seine selbstgerechte Art, wie er sich als Krieger seinen Feinden ebenbürtig wähnte, wo er doch nur ein verachtungswürdiger Verräter war. Sie mußte sich beherrschen, um das Blatt nicht zu zerreißen. Solches Verhalten war der Frau eines Offiziers unwürdig. So legte sie es nur ruhig beiseite.

Eine andere Nachricht beschäftigte sie weit mehr. Heute morgen hatte sie einen Umschlag auf ihren Schreibtisch gefunden. Vermutlich wäre dies keinem anderen aufgefallen, bei dem Durcheinander, das typischerweise dort herrschte. Ihr selber aber war die Veränderung sofort ins Auge gestochen, was vermutlich genau so beabsichtigt war. Die Botschaft war unverfänglich – ein Gruß von Sho-sho Kevlavic. Er schlug ihr einen Theaterbesuch vor, damit sie auf andere Gedanken käme. Was ihr Herz aber in Aufruhr versetzte, waren einige wenige Worte, die im Text auftauchten. Sie wußte, daß der Sho-sho zu den engsten Freunden ihres Mannes gehört hatte. Und sie als einzige außer Kenda hatte erfahren, daß er um die Mission ihres Gatten wußte. Es gab einige Codewörter, und diese machten aus der Einladung eine zwingende Aufforderung. Überdies kam die sonderbare Art der Übermittlung hinzu. Der Offizier hatte ihre Gegenwart gemieden, auch, weil damit zu rechnen war, daß sie von der ISA überwacht wurde. Warum jetzt diese Botschaft? Auch wenn er kein persönliches Treffen vorschlug, so war jede Kontaktaufnahme riskant. Vielleicht eine Falle des Geheimdienstes? Nein, vermutlich nicht. Die würden wohl direkter vorgehen. Außerdem glaubte sie nicht, daß er so einfach ‚umzudrehen‘ war. Sie würde dem Vorschlag folgen.
05.03.2003 09:44 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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Zwei Tage später

Hitomi blickte sich aufmerksam um. Auf den ersten Blick war sie die Ruhe selbst, aber innerlich war sie angespannt wie ein Soldat beim Einmarsch in eine feindliche Stadt. Erwartungsgemäß war ihr Theaterbesuch anders verlaufen als sonst üblich. Sie war kurz vor Ende aus ihrer Loge – ein Privileg ihres Standes – gebeten worden. Über zahllose Umwege hatte man sie hierher gebracht. Kein Verfolger hätte sich unbemerkt an sie hängen können. Hierher, das war einer der zahllosen Spielclubs der Yakuza. Selbst wenn die ISA sie jetzt geschnappt hätte – sie hatte eine gute Tarngeschichte für ihre Anwesenheit. Glücksspiel war nicht eben eine standesgemäße Beschäftigung für eine frisch verwitwete Frau, deshalb war etwas Geheimhaltung durchaus erklärbar. Oder man konnte es so darstellen, daß sie hier jemanden treffen wollte... . Aber es war sowieso unwahrscheinlich, daß irgendwer dahinter kommen würde, daß sie hier war. Die ISA setzte eher darauf, daß man sie nicht wahrnahm, als daß sie ihr Versteckspiel aufgab.

Leise glitt die Tür auf. Eine junge Frau trat ein. Sie trug eine Uniform, die Abzeichen einer Sho-sa. Vielleicht Mitte Zwanzig. Sie wirkte unsicher, als wisse sie nicht recht, wie sie sich zu verhalten habe. Dann verneigte sie sich tief, als stünde sie vor einer Vorgesetzten. Überrascht erwiderte Hitomi den Gruß. Wer war diese Frau?

Die Offizierin blickte Kendas Frau ins Gesicht. Es schien ihr schwerzufallen, aber sie wandte ihre Augen nicht ab: „Ich grüße Sie. Ich komme im Auftrag eines Freundes.“ Hitomi nickte, Namen wurden hier selten genannt. Deshalb überraschte es sie, als die andere Frau hinzufügte: „Mein Name ist Tomiko Nakamura.“ Die Sho-sa zögerte einen Augenblick, dann schien sie sich gefaßt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck war fast bittend zu nennen.

„Ich spreche zu Ihnen auch im Namen Ihres Mannes. Ich gehörte zu seiner Einheit, habe unter seinem Kommando gedient. Ich war Zeugin seines Todes – und des Todes meiner Kameraden. Ich kann verstehen, wenn Sie jetzt schlecht von mir denken, weil ich hier vor Ihnen stehe, wo alle anderen gefallen sind. Sie mögen damit Recht haben. Aber ich habe nicht aus Egoismus oder Feigheit überlebt, sondern weil ich einen Befehl zu erfüllen hatte.“ Hitomi versuchte im Gesicht der jüngeren Frau zu lesen. Ihr Herz hatte sich bei ihren Worten verkrampft. Diese Frau hatte ihren Mann gesehen, bis zu seinem Tode unter seinem Kommando gedient. Sprach sie die Wahrheit? Oder wollte sie nur verschleiern, daß sie in letzter Sekunde das Leben über die Pflicht gestellt hatte. Andererseits – Hitomi kannte Sho-sho Kevlavic. Der alte Offizier war niemand, der schwache oder unwürdige Untergebene schätze. Eine Versagerin würde er nicht mit einem so gefährlichen Auftrag betrauen, denn damit gab er sich in ihre Hand. Wenn sie zur ISA gehen würde, wäre er zumindest in höchstem Maße verdächtig. Das hieß, zumindest er glaubte ihr. Also zwang sie sich zu einem Nicken. Ihre Stimme klang neutral: „Ich höre Sie.“

„Ich war Tai-i bei den Rächern. Als meine Einheit aufgerieben wurde, gelang es mir, einige Mechs und Soldaten vor der Vernichtung zu retten. Wir entkamen unseren Häschern – um den Kampf fortzuführen. Aber ich weiß nicht, was wir hätten erreichen können, wenn Euer Mann nicht gewesen wäre. Er begegnete uns auf einem Grenzplaneten, einer Welt der Verbrecher und Piraten. Er war dort auf der Suche nach Versprengten Ronin, nach käuflicher Unterstützung und nach Kontakten zu den örtlichen Widerstandsbewegungen. So schlossen wir eine Allianz – und damit wurden wir eine Macht.“ Die Sho-sa schien einen Augenblick anderswo zu sein, ein Leuchten war in ihren Augen. Dann kehrte sie in die Wirklichkeit zurück, das Licht in ihren Augen erlosch. Ihre Stimme klang bitter: „Wir haben den Kampf aufgenommen. Ihn fortgeführt, trotz feindlicher Übermacht und Verrat. Bis zum Ende. Vielleicht hat Euer Gatte dies schon kommen gesehen, denn er hatte mir befohlen, für diesem Fall zu überleben. So bin ich in Gefangenschaft gegangen. Sie ließen mich laufen – dann hängten sich die Häscher der ISA an meine Fersen. Ich fand Hilfe, und sie fanden den Tod. Nun bin ich – mit Hilfe eines Freundes von Kenda-san – hier, um seinen Befehl auszuführen. Damit die Namen jener, die ihre Leben für das Kombinat und für die Freie Republik Rasalhag gaben, niemals in Vergessenheit geraten mögen – ebensowenig wie die Namen ihrer Mörder. Er wollte, das etwas bliebe von seinem Kampf.“ Hitomi musterte die jüngere Frau: „Und dies ist Ihre Rolle, Sho-sa?“ Die Offizierin errötete: „Iie, natürlich nicht. Kenda-san hat noch andere Vorkehrungen getroffen, damit er seinen Feinden in Erinnerung bleibt. Als Fluch. Aber er hatte mir die Aufgabe übertragen, die Namen der Toten weiterzutragen an ihre Familien. Sie sollen wissen, daß ihre Angehörigen für eine gute Sache gestorben sind.“

Langsam nickte Hitomi Kenda. Das klang nach ihrem Mann. Mehr denn je wurde ihr klar, daß Anatoli den Tag seines Todes lange erwartet hatte. Vielleicht schon in dem Augenblick, als er von ihr Abschied nahm. Seit diesem Augenblick hatte er für die Zeit ‚danach‘ gearbeitet. Es erfüllte sie nicht mit Zorn – sondern mit Stolz, und einer tiefen, bitteren Trauer. Stolz, daß er gehandelt hatte, wie es ihm und ihr gelehrt worden war. Der Weg des Dienstes war der Weg des Todes, der Aufopferung. Er hatte dies bis zur letzten Konsequenz erfüllt. Trauer darüber, daß es notwendig gewesen war. Das er, und mit ihm so viele andere dieses Opfer hatten bringen müssen. Das keine andere Wahl geblieben war und am Ende der Tod im Feuer der feindlichen Geschütze als letzte und einzige Möglichkeit geblieben war. Wie hatte es nur dazu kommen können!

Sie glaubte der jungen Frau, die ihr gegenüberstand. Sie sah die Linien von Verbitterung und Müdigkeit in dem Gesicht der Offizierin. Nein, die Sho-sa log nicht. Sie hatte ihren Befehl erfüllt, würde dies weiterhin tun – so, wie es auch für Hitomi galt. Einen Augenblick fühlte sie fast einen Anflug von Eifersucht, daß eine andere Frau ihr Schicksal teilte. Denn Kenda hatte damit gezeigt, daß er Nakamura vertraute. So sehr, wie er sonst nur ihr vertraut hatte. Vielleicht ahnte die Offizierin das: „Euer Mann war für mich immer ein Vorbild. Daß ich jetzt vor Euch stehe und Euch dies sagen muß, erfüllt mich mit Trauer. Ich kannte ihn nur kurze Zeit, doch er war stets ein beispielhafter Kommandeur. Aber ich habe ihm mein Wort gegeben, und ich muß meinen Befehl erfüllen. Er hat selten über seine Familie gesprochen, doch ich weiß, daß sie ihm viel bedeutet hat. Fast ebensoviel wie seine Pflicht.“ Die Frau des gefallenen Roninführers zwang sich zu einem Lächeln. Nakamura traf keine Schuld. Wenn ihr Mann ihr vertraut hatte, wenn Sho-sho Kevlavic ihr jetzt vertraute, dann durfte sie ihr keine Vorwürfe machen.

Die junge Offizierin zog ein kleines Buch hervor: „Dies ist sein Tagebuch. Der Führer der Söldner hat es mir gegeben. Es war von Kenda verfaßt worden, um den Feind zu täuschen. Vieles darin ist wahr, anderes nicht. Es wird Euch vielleicht nützlich sein, wenn es darum geht, einmal die Geschichte unseres Kampfes und Todes zu schreiben. So wie sie wirklich war, nicht wie der augenblickliche Sieger sie darstellt. Ich habe dazu die andere Version des Geschehens verfaßt. Es mag vielleicht wie eine Aufwertung meiner Person klingen, doch ich kann Euch nur schwören, daß dies die Wahrheit ist. Vielleicht wird es einmal möglich sein, andere Zeugen zu befragen. Unser gemeinsamer Freund will Euch dabei helfen. Doch dies wird die Zukunft erweisen.“ Sie hob zwei in Tuch eingehüllte Gegenstände: „Die Schwerter des Chu-sa. Möge das künftige Haupt des Hauses Kenda sie tragen, ebenso ehrenvoll wie ihr letzter Besitzer.“ Hitomi nahm die Waffen schweigend entgegen. Sie waren für Kendas Sohn bestimmt. Sollte er fallen, würde seine Schwester die Klingen übernehmen. Sie selber hatte keine Anrecht auf die Schwerter, denn das Blut der Kendas floß nicht ihren Adern. Dennoch war es ein betäubendes, beklemmendes Gefühl, die alten Waffen in der Hand zu halten. Das war es also, was blieb. Nein, verbesserte sie sich. Das war es, was weitergegeben wurde. Wie der Kampf, wie die Pflicht. Weder Kampf noch Pflicht würden enden, wenn auch die Klingen zu Staub werden würden.
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Cattaneo
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„Hier sind noch drei Briefe. Zwei für Eure Kinder.“ Nakamura zögerte. Einen Augenblick war Mitleid in ihrer Miene, das sie schnell unterdrückte. Sie wußte, ob die Frau des Chu-sa dies nicht als Beleidigung ansehen würde: „Der Dritte ist für Euch.“ Sie übergab den Umschlag und trat ein paar Schritt zurück. Hitomis Hände zitterten nicht, als sie den Brief an sich nahm. Dies war sein letzter Gruß an sie. Ihre Finger fühlten sich klamm an, das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Blatt Papier entfaltete – anzusehen war ihr nichts.

An Hitomi Kenda

Ich weiß, wenn du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Mein Kampf, der auch der deine war, hat das letzte und höchste Opfer von mir gefordert. Ich hoffe, daß ich im Gefecht gefallen bin, und nicht von Mörderhand, aber wie auch immer mein Schicksal mich ereilt hat, ich werde bis zum letzten Atemzug meine Pflicht tun. Damit meine Eltern und du, meine Gattin, stolz auf mich seien können. Ich habe mich bemüht, unsere Kinder zu treuen Dienern des Kombinats zu erziehen, im Sinne des Yamato-Geistes. Ich werde diesen ehernen Grundsätzen, die mir selbst beigebracht worden und an die ich glaube, treu bleiben. Ich weiß, du verstehst das und wirst meine Entscheidung akzeptieren, auch wenn sie für dich mit Schmerz verbunden ist.
Dennoch, ich muß dich um Verzeihung bitten. Um Verzeihung dafür, daß ich dir solchen Kummer bereite. Es gab keine andere Möglichkeit, das weißt du, und dennoch wünschte ich, es müßte nicht sein. Wenn ich jetzt diese Zeilen schreibe, so empfinde ich keine Trauer um mich selbst, aber es schmerzt mich, daß ich dir dieses Leid zufügen mußte. Es schmerzt mich, daß ich dir nur mit diesen Zeilen für all das danken kann, was du für mich getan hast. Jetzt kann ich nur aus der Ferne Abschied von dir nehmen. Wenn ich an all die Jahre zurückdenke, die mir an deiner Seite vergönnt waren, so wird mir bewußt, wie viel Glück mir zuteil wurde. Du bist mir seit unserer Hochzeit eine treue Gefährtin gewesen. Ich glaube nicht, daß ich ohne dich solches oder ähnliches Glück erfahren hätte. Dir verdanke ich, daß es ein Zuhause für mich gab, in das ich nach den Kriegen zurückkehren konnte. Unsere Kinder sind vor allem dank dir zu stolzen Abkömmlingen der Yamato-Rasse geworden. Du hast sie geboren, sie großgezogen, während ich nur zu oft nicht an deiner Seite weilen konnte, weil ich meine Pflicht für unsere Heimat erfüllen mußte. Du aber hast dies klaglos ertragen. Kein Mann kann sich mehr von seiner Ehefrau erhoffen.
Ja, es ist auch diesmal die Pflicht, die mich von dir trennt. Die Pflicht, die dir befielt, weiter zu leben, eine andere Art des Kampfes zu führen, während ich gefallen bin. Ein Kampf, noch ermüdender und aufreibender als der meine – aber deshalb ein um so wichtigerer Kampf. Der Kampf gegen Lüge, Verrat, Vergessen. Verrat an meinen tapferen Gefährten, mehr aber noch an dem, was uns in den Kampf geführt hat. Die Lügen werden dein Gegner sein, und sie sind oft gefährlicher und langlebiger als jeder Battlemech. Aber ich bin überzeugt, du wirst diesen Kampf zu einem besseren Ende führen, als ich den meinen.
Sage unseren Kindern, sie können stolz auf ihren Vater sein! Auch wenn seiner nicht offiziell gedacht wird, so weiß ich, meine Seele hat Aufnahme gefunden im Schrein von Yasukuni. Und ich weiß, die deine wird es ebenfalls, eines Tages. Ich glaube fest daran, daß wir uns einmal wiedersehen werden. Ich liebe dich, in Ewigkeit.
Lebe wohl chian!

Anatoli Kenda


Hitomi schwieg. Ihre Augen huschten über die Zeilen. Sie spürte, wie etwas Kaltes ihre Wange berührte, zu ihrem Kinn glitt. Irritiert tastete sie danach. Es war eine Träne. Erst jetzt bemerkte sie, daß sie lautlos weinte. Sie versuchte, die Tränen zurückzuzwingen. Sie durfte keine Schwäche zeigen! Nicht vor dieser fremden Frau. Sie mußte sich verhalten, wie es der Frau eines Offiziers geziemte. Aber sie konnte nicht. Die Tränen liefen über ihre Wangen, unaufhaltsam. Sie hob die Augen, um sich der Verachtung zu stellen, die ihr von der Offizierin entgegen schlagen würde. Sollte sie es doch sehen! In diesem Augenblick sah sie, daß die Sho-sa selber weinte, halb vornübergebeugt. Dann trafen sich die Blicke der beiden Frauen. Behutsam trat die Jüngere vor und legte ihre Arme um die Frau ihres Vorgesetzten. Hitomi ließ es geschehen. Sie erwiderte die Geste. So weinten sie beide, weinten um den Toten, der ihnen so viel bedeutet hatte, den beide auf ihre Art geliebt hatten. Tomiko als Kommanduer, als leuchtendes Vorbild. Hitomi als Ehemann und Gefährte. Und in ihrer gemeinsamen Trauer fanden sie die Kraft, den Kampf fortzusetzen. Wie Kenda es gewollt hatte, wie sie es selber wollten.

Epilog

„Es fällt schwer, diese Geschichte zu erzählen. Es ist eine Geschichte des Todes und des Leides. Menschen sind gefallen, und noch immer ist ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren. Noch immer lebt das, wogegen sie kämpften und was sie tötete. Doch es ist eine Geschichte, die erzählt werden muß. Denn sie zeigt, daß Widerstand möglich ist, und daß selbst der Tod nicht die Macht hat, die Herzen der Kämpfer zu brechen, die ihre Heimat wahrhaft lieben. Es ist eine Geschichte, erzählt von jenen, die dabei gewesen sind, die jene kannten, die ihre Leben gegeben haben. Noch immer müssen sie sich verstecken, werden gehetzt wie Tiere. Doch während man sie jagt, sind sie selber auf der Jagd. Wenige begannen den Kampf – unzählige haben ihn seitdem fortgesetzt. Dieses Buch soll erzählen, wie alles begann. Auf daß es niemals vergessen werde und ewig in Erinnerung bleibe.“

Auszug von Seite 1 der Einleitung des Buches „Sie stellten den weißen Bären. Eine Geschichte des Widerstandes“, Datum der Erstveröffentlichung unklar, inoffiziell, Autor und Mitwirkende unbekannt

Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist - vielleicht - das Ende vom Anfang.
05.03.2003 09:46 Cattaneo ist offline E-Mail an Cattaneo senden Beiträge von Cattaneo suchen Nehmen Sie Cattaneo in Ihre Freundesliste auf
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