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Tyr Svenson Tyr Svenson ist männlich
Captain


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Themenstarter Thema begonnen von Tyr Svenson
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Dave fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Nein, schlimmer, er fühlte sich verraten und verkauft. Sich selbst, Blue, Steel, Max, einfach benutzt und liegen gelassen.
In einem Moment noch war er der Oberbefehlshaber der Sieger von Hawaii, im nächsten hingegen war er bereits der Verräter und Verbrecher von Texas, der den zukünftigen japanischen Verbündeten ausgeliefert werden sollte.
Himmel, Richard, wie hatte er so etwas nur tun können? Wie hatte er so etwas zu zulassen können?
Sein müder Blick ging über die NORTH STAR, die in der beginnenden Morgendämmerung so vertraut und doch unendlich fremd schimmerte. Seine Zigarre. Sein Schiff. So war es fast ein halbes Jahr gewesen. Sie hatte es sein sollen, die ihn zu seiner Rache getragen hätte.
War es wirklich schon über zwei Stunden her, dass die Infanterie der SHOOTIST ins Dragon&Sword gestürmt war, um ihn, Steel, Blue und das Dog Pack festzunehmen?
Die turbulenten Momente und die unglaubliche Rettung durch Norah Gallagher erschienen ihm immer noch wie ein Film.
Verdammt, war es wirklich erst ein paar Tage her, dass sie nach Hawaii gekommen waren? War es erst einen Monat her, als er zusammen mit Ted Anderson diese schmierige Sklavenburg hochgenommen hatte? War es wirklich noch kein halbes Jahr her, seit er von Corpus Christi aufgebrochen war?
Sein Blick ging über die Mannschaftsmitglieder der NORTH STAR, die ihn in das Lokal begleitet hatte. Allen war die lange Nacht und der Unmut anzumerken.
Captain Arguile war ebenfalls anwesend, trotzig und verbittert, weil ihm die sicher geglaubte Beute durch die Lappen gegangen war.
Oh, Dave konnte immer noch nicht glauben, dass er den Skipper der SHOOTIST für zuverlässiger gehalten hatte als den der LONGHORN. Was für ein Fehler. Was für ein verdammter Fehler.
Nun, zuverlässiger war er ja. Zuverlässiger für Texas.
Im Moment wurden sie von einer halben Hundertschaft Polizisten und den wenigen loyalen Marines aus Gallaghers Gefolge gedeckt. Aber dies war kein Zustand für die Ewigkeit.
„Blue, lass bitte alle antreten. Geordnet nach Aufgabenbereich, Führer vorweg.“
„Dafür muss ich wecken lassen.“
„Falls jemand in dieser Nacht schlafen konnte, hat er es nicht anders verdient, als aufgeschreckt zu werden“, erwiderte Dave Stone müde.
Sein Blick ging über die Anwesenden, als Jeff Daynes zur Zigarre ging. Er sah zu Max, die immer noch wütend war, zu Sam, die ihm immer verstohlene Blicke zuwarf. Zu Steel, dessen Gesicht eine einzige Maske geworden war.
Arguile sah missmutig zu Gallagher herüber, die sich den Luxus einer Zigarette am frühen Morgen gönnte. „Wie können Sie so etwas tun? Wie können Sie Ihre Befehle ignorieren? Wie können Sie Texas ignorieren?“
„Ruhig, Kleiner“, entgegnete die Großgewachsene Frau und wedelte ihr Sturmholz aus. „Wie kannst du deine Waffenbrüder so leichtfertig hintergehen?“
Arguile schnappte nach Luft. Kein Texaner vertrug es gut, Kleiner genannt zu werden.
„Meine Loyalität gehört Texas“, schloss er wütend.
„Das durften wir bereits sehen.“ Demonstrativ wandte sich die Frau um. „Alles klar, Boss?“
„Mir geht es den Umständen entsprechend, Norah. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Die erste Gefahr war abgewendet worden. Sie würden nicht sofort verhaftet und nach Japan verschifft werden.
Nun aber wartete die zweite, weitaus größere Gefahr. Die Verantwortung, die er für sein Schiff trug, für seine Crew und für die Zukunft all derer, die auf ihn vertraut hatten.

Es vergingen ein paar Minuten, bis sich die Mannschaften vor dem Schiff versammelt hatten.
Sie ordneten sich willig nach Aufgabenbereichen, und das mit beinahe militärischer Präzision.
„Sir, die Crew der NORTH STAR ist geschlossen angetreten“, meldete Jeff Daynes und hätte beinahe salutiert.
„Es ist gut.“ Dave Stone sah über die Männer und Frauen hinweg, sah zu den Polizisten, sah wieder zu seinen Leuten.
„Was ich jetzt sagen muss gehört zu den schwersten Dingen, die ich je tun musste.
Texas hat mich persönlich verraten.“
Aufgeregtes Raunen von denen erfolgte, die noch nicht durch die Gerüchteküche gehört hatten, was Arguile beinahe ausgeführt hätte.
„Texas sucht den Frieden und die Partnerschaft mit Japan. Um diese zukünftige Zusammenarbeit nicht zu gefährden, soll der Angriff auf den japanischen Flughafen Weißer Bär eins im Vorfeld geklärt und die Schuldigen der japanischen Gerichtsbarkeit übergeben werden. Captain Arguile hatte den Befehl, dies zu tun. Und die Schuldigen in diesem Fall sind ich selbst, Kapitän Daynes, Staffelführer Stahl und das Dog Pack. Ob weitere hinzugekommen wären, für Wartung, Material, unterstützende Dienste oder Kaffee kochen, konnte ich nicht erfahren.“
Sein Witz war dünn, sehr dünn. Aber hier und da huschte ein flüchtiges Lächeln über die Gesichter.
„Kurz und gut: Ich will mich nicht aburteilen lassen! Deshalb werde ich mir die NORTH schnappen! Ja, schnappen! Oder um es verständlich auszudrücken, ich klaue sie!
Aus diesem Grund, und mit sofortiger Wirkung ist die Mannschaft der NORTH STAR abgemustert. Sold, Prämien und Boni werden sofort aus der Schiffskasse von Kapitän Daynes ausbezahlt. Jeder Mann und jede Frau hat eine Stunde Zeit, den Seesack zu packen. Danach kann jeder Mann und jede Frau die Kapitäne der SHOOTIST und LONGHORN um eine Passage nach Texas bitten. Kamehameha der Dritte hat aber auch bereits angeboten, jedes Crewmitglied der NORTH, wenn es dies wünscht, für die Verteidigungsstreitkräfte von Hawaii anzuwerben.
Ich hoffe für alle, die sich dazu entscheiden, nach Texas zurückzukehren, dass ihre Zeit auf der NORTH kein Nachteil ist. Und ich hoffe für alle, die auf Hawaii bleiben wollen, dass sie hier ihr Glück finden. Für mich aber heißt es weiterziehen. Vielleicht, wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind wir Gegner. Ich erwarte dann keine Gnade und kein zögern und werde selbst auch beides nicht gewähren. Aber ich werde euch als stolze Verteidiger von Texas oder Hawaii respektieren, darauf habt Ihr mein Wort.“
Er sah zu Captain Gallagher herüber. „Norah, Sie sind ebenfalls entlassen. Ich denke, Captain Arguile wird mir zustimmen, dass Sie lediglich auf meinen Befehl gehandelt haben und dass Ihre Ehre als Offizierin unversehrt ist. Sie können wegtreten.“
Die Marine grinste schief, für ihre Begriffe ein bemerkenswerter Gefühlsausbruch der Freude.
Schön, dass sie sich freute, dass das Damoklesschwert des Landesverrats an ihr vorübergegangen war.
„Sie glauben doch wohl nicht“, klang nun die Stimme von Arguile auf, „dass ich Ihnen den Diebstahl der NORTH STAR durchgehen lassen werde? Ich werde Sie jagen, und sobald die NORTH die Gewässer von Hawaii verlassen hat, sehen wir uns wieder!“
„Es steht Ihnen frei, das zu tun“, schloss Dave ernst. „Allerdings können Sie dies erst über internationalen Gewässern tun. Ein Angriff über hawaiianischem Territorium wäre ein Bruch des Völkerrechts.“
„Etwas, was die Luftwaffe von Hawaii nicht zulassen wird“, mischte sich Mizunami ein. „Außerdem muss ich Sie darauf hinweisen, dass Hawaii der SHOOTIST und der LONGHORN für die nächsten vierundzwanzig Stunden die Starterlaubnis verweigert.“
Arguile sah von einem zum anderen, dann wandte er sich abrupt um und ging auf seinen wartenden Hoplit zu.
„Den wären wir los“, meinte Jeff grinsend. „Bist du fertig mit deiner Ansprache, Boss?“
„Was? Ja, bin ich. Lass bitte wegtreten und dann zahl allen ihren Anteil aus.“
„Verstanden.“
Während Blue sich um die Finanzen und das abmustern kümmerte, trat Dave vor die Gruppe Piloten, vor allem vor das Dog Pack und sah jeden einzelnen an. „Ab jetzt bin ich vogelfrei, kein Kaperer mehr, sondern ein Pirat. Ihr alle könnt mein zukünftiges Schicksal vermeiden, wenn Ihr hier auf Hawaii bleibt. Jeder einzelne Pilot wird sehr großzügig abgefunden werden, und ich bin sicher, dass die texanische Führung die Anklage gegen das Dog Pack in ein oder zwei Jahren fallen lassen wird, wenn das Geschehen um Weißer Bär eins in Vergessenheit geraten ist.
Von den Cat Pack-Piloten war nie die Rede, ich denke, jeder einzelne kann eine Passage auf den anderen beiden Zigarren erhalten. Ihr könnt wegtreten.“
Dave hatte kaum ausgesprochen, als Max schon vortrat und ihm auf die Schulter klopfte. „Blue und ich bleiben natürlich bei dir. Ist ja nichts Neues für uns, Piraten zu sein.“
Dave wollte seine kleine Schwester heftig schelten, sie anbrüllen, sie in Sicherheit wissen, aber letztendlich konnte er nur schlucken und wieder schlucken.
Bevor aber einer der anderen Piloten etwas sagen konnte, sagte der Commander: „Bevor Ihr anderen etwas Unüberlegtes sagt oder tut, nutzt die eine Stunde, die jedem zum ausräumen seines Eigentums gegeben wurde, bitte. Denkt in Ruhe darüber nach, was Ihr tun wollt. Ihr könnt wegtreten.“
Murrend gingen die anderen Piloten zur Zigarre, nur Happy und Steel blieben noch stehen.
Der Industrial musterte den Deutschen aufmerksam. „Die Zigarre nur mit dir und Max und Blue über den Ozean zu schaffen ist unmöglich.“
„Ich werde so schnell es geht neue Crewmember anwerben, Ernst. Das ist nichts, worum du dir Sorgen machen musst. Entscheide du dich nach dem größten Vorteil für dich. Ein Mann wie du kann Hawaii dazu benutzen, um irgendwo in der Welt unterzutauchen. Ich kann und will dich nicht unnötig an diese Zigarre binden.“ Dave lachte leise. „Ich habe noch eine Rache zu erfüllen. Damit hast du nichts mehr zu tun, jetzt, wo Texas dich als Verbrecher jagt. Du kannst wegtreten, Ernst.“
Happy rieb sich die Nase, was mit dem Verband etwas umständlich war. „Junge, Junge, in einem Punkt hat Steel aber Recht. Du hast ein paar wenige Leute, um die Zigarre zum Kontinent rüber zu schaffen.“ Er deutete auf seine Verbände. „Im Moment nütze ich wenig, aber du wirst mich sicher gebrauchen können. Später. Außerdem würde Rocket aus seinem Grab aufsteigen, wenn er hören würde, dass ich dich im Stich lasse.“
Der texanische Pilot trat vor und klopfte dem Commander auf die Schulter. „Durch dick und dünn, Thomas. Wie immer.“
Dave war gerührt. „Happy, du musst das nicht…“
„Du hast mir mein Leben gerettet. Wie oft? Ich habe nicht mitgezählt. Jetzt kann ich dir etwas wiedergeben. Etwas, was mehr wert ist als deinen Befehlen zu gehorchen. Lass mich das bitte für meinen besten Freund tun, Thomas.“
„Es… Es ist in Ordnung, Happy. Willkommen im Team der Verrückten.“
„Da bin ich doch sowieso zuhause“, erwiderte der Texaner grinsend und ging auf die NORTH zu.

Thomas David Marquardt alias David Stone atmete tief ein und wieder aus. Schließlich unterdrückte er die Tränen, so gut er konnte. Dick hatte ihn nicht vergessen! Dick hatte Gallagher vorgewarnt, deshalb war sie rechtzeitig mit loyalen Leuten da gewesen. Daran zweifelte Dave nicht eine Sekunde. Dick hatte… Dave schluckte hart. Nie in seinem Leben wäre es ihm leichter gefallen, diesen Mann Vater zu nennen.
„Sir?“, fragte ein dünnes Stimmchen vor ihm und der Commander sah auf.
Vor ihm stand Michelle Dubois, Callsign Papillon. Sie trug die einheimische Tracht aus Rock und bunter Bluse, hatte aber ihre Flugausrüstung über die Schulter drapiert. „Sir, ich melde mich hiermit zurück zum Dienst.“
Dave besah sich die junge Frau genauer. Da waren noch Spuren von leichten Verbrennungen Ersten und Zweiten Grades in ihrem Gesicht, im Volksmund Sonnenbrand genannt, aber die hübsche Frau aus Louisiana sah schon wieder reichlich gut aus.
„Papillon…Ich…“
„Es tut mir Leid!“, sagte sie fest, aber ihre Augen schimmerten feucht. „Es tut mir Leid! Ich… Ich wollte desertieren, ich wollte meine Kameraden in Stich lassen!“
„Langsam, Papillon, langsam! Was ist überhaupt passiert?“
Die junge Frau fing sich merklich. „Nachdem ich vor Oahu abgeschossen wurde, musste ich mich zwei oder drei Stunden über Wasser halten. Dann nahm mich ein hawaiianisches Fischerboot auf.“ Verstohlen sah sie zur Seite, wo ein kräftiger polynesischer Mann stand, der ein wahrhaft perfektes Jungengrinsen, strahlend weiße Zähne und eine Schulterpartie aufwies, für die manche Männer getötet hätten. Nebenbei sah der Mann strahlend gut aus.
„I-ich habe mich sofort in Andrew Kiko verliebt, Sir, und in der Hitze des Moments dachte ich, dass es das einfachste wäre, wenn ich als tot geführt werden würde. Ich dachte, wenn ich bei Andrew bleibe und nie wieder fliege, werde ich glücklich. Ich habe nicht eine Sekunde an die NORTH gedacht, an Steel und das Dog Pack. Und auch nicht an Sie, Sir.
Dann aber habe ich gesehen, wie angestrengt alle nach mir gesucht haben, selbst als die Schlacht schon im Gange war und lange danach.
Und da habe ich erkannt, dass ich mich wenigstens anständig abmelden muss.“
Die junge Frau schluckte heftig. „Aber das kann ich nun nicht mehr. Commander, hiermit melde ich mich zum Dienst zurück! Verlangen Sie nicht von mir, dass ich meine Partnerin Max in Stich lassen muss!“
Dave schnaubte ein Prusten hervor, was man mit viel Wohlwollen als einen misslungenen Lacher deuten konnte. Das waren eine Menge Informationen auf einmal. Aber sie erklärten einiges.
Sein Blick ging zu dem Mann herüber, der versuchte tapfer zu lächeln. Aber Dave erkannte die Zerrissenheit des Abschiedes in seinen Zügen. Und auch Papillon war bitter und versuchte nicht mehr hinüber zu sehen.
Verdammt, er konnte wirklich Piloten gebrauchen. Aber nicht zu jedem Preis.
„Papillon, du hast eine Stunde Zeit, deine Koje zu räumen und dir beim Zahlmeister die volle Prämie auszahlen zu lassen. Danach verlässt du meine Zigarre. Mit Deserteuren will ich nichts zu tun haben.“
„Aber Sir!“, rief sie erschrocken.
„Du kommst dann kurz zu mir. Ich stelle dir ein Empfehlungsschreiben für den König aus, und er wird dich in den Flugdienst übernehmen. Ich weiß, dass du damit das Niveau der hawaiianischen Luftwaffe anheben wirst. Erheblich anheben wirst.“
Dave musste lächeln. „Und jetzt sag deinem Andrew, dass du doch bleiben wirst.“
Der Commander hatte kaum ausgesprochen, da hatte sich Dubois bereits herumgeworfen. Sie lief auf den Polynesier zu, der sie mit offenen Armen erwartete. Sie sprang hinein und er hob sie vom Boden ab, lachte und drehte sich mit ihr im Kreis.
Nun, wenigstens eine Sache hatte Dave gerade gut gemacht.
23.08.2020 18:56 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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„Chef?“
Dave Stone sah, auf, als der große Marine ohne anzuklopfen eintrat. Nun, die offene Tür hatte es ihm natürlich leicht gemacht. „Was gibt es, Ted?“
Thaddeus Anderson räusperte sich vernehmlich. „Werde ich Sergeant, wenn ich bleibe?“
David Armstrong Stone zog die linke Augenbraue hoch, als er den Mann musterte. „Was, bitte?“
„Na, wenn ich Texas verrate und bei diesem Haufen Piraten bleibe, dann muss es sich doch für mich lohnen, oder? Außerdem kann ich die neuen Rekruten drillen, bis sie Blut und Wasser schwitzen. Also, werde ich Sarge, oder werde ich es nicht?“
„Eine kleine, niedliche Rothaarige in Sky Haven spielt nicht zufällig auch eine Rolle bei dieser Nachfrage?“, spöttelte Dave.
„Auch“, gab Thaddeus zu und grinste schief. „Aber ehrlich gesagt dachte ich mir, wenn ich einfach nur sage, dass ich auf der NORTH bleiben will, schmeißt du mich runter wie Papillon, Chef. Aber wenn ich meinen Nutzen hervor kehre, dann…“
Armstrong seufzte. „Lass dir deinen Anteil auszahlen, Ted.“
„Chef, ich würde sowieso wieder von Texas aus nach Sky…“
„Lass mich ausreden. Du lässt dir deinen Anteil auszahlen und dich anschließend neu anheuern lassen. Über den Rang eines Sergeants reden wir noch, okay?“
„Danke, Chef. Du bist der Beste.“
Johnny Katayama, der Steward, sah dem Marine nach, der beinahe ihn und das Tablett in seiner Hand umgeworfen hätte. „Das nenne ich gut motiviert. Hier, ein Abschiedsgruß vom Koch.“ Das Tablett wurde sanft auf dem Schreibtisch abgesetzt und Johnny begann, den heißen Kaffee einzuschenken. Diskret deutete der Japanoamerikaner auf die Donuts. „Zuckerguss.“
„Der Koch geht also auch“, sagte Dave mit einem seufzen.
„Ja. Was dagegen, wenn ich an Bord bleibe, Chef?“
„Himmel, Junge, was willst du auf einem Piratenschiff?“
„Eine rein praktische Überlegung. Bei Ihnen wird es nie langweilig, und wenn ich der erste in der Küche bin, müssen alle, die neu angeheuert werden, auf mich hören. Ich wollte schon immer ganz oben in der Hackordnung stehen.“
„Bist du für Machtphantasien nicht noch etwas jung?“
Johnny schmunzelte. „Max hat mir die ganzen Geschichten erzählt, Chef. Die mit Shannon und der MEMPHIS BELLE. Bisher bin ich auf einem guten Kaperer mitgefahren. In Zukunft werde ich auf einem sehr guten Piratenkahn mitfahren. Und wenn Max Recht hat, werde ich eine Menge Spaß haben.“ Der gebürtige Amerikaner zwinkerte seinem Vorgesetzten zu.
„Ohne einen zuverlässigen Steward würde ich wahrscheinlich auf Grundeis gehen, wenn Paladin Blake mal wieder vorbeischaut“, brummte Dave trocken.
„Danke, Chef!“ Hocherfreut rannte der junge Mann wieder aus dem Büro.
„Entschuldigung, aber ist dies das Audienzzimmer für den Empfang bei seiner Herrlichkeit, dem Kaiser?“, erklang eine spöttische Stimme an der Tür.
„Ich wusste es, ich hätte dich nicht in die Nähe von Kamehameha lassen sollen. So was bringt einen halben Kraut wie dich nur auf Ideen“, brummte Dave amüsiert und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich, Steel.“
„So lange wird es nicht dauern.“ Ernst Stahl trat ganz ein, runzelte die Stirn und sagte: „Ich habe mit dem Gedanken gespielt, hier abzumustern und dann zu verschwinden. Aber dann habe ich mich dran erinnert, dass das Commonwealth hier mehr Agenten verloren hat als die Japaner. Die sind eventuell noch da, und das könnte übel werden. Wenn du nichts dagegen hast, schiebe ich meine Entscheidung bis Sky Haven auf, ja?“
„Akzeptiert, Ernst. Und, danke.“
Der Industrial lächelte dünn. „Werde nicht sentimental, Dave. Meine Entscheidung hat nur praktische Beweggründe. Aber hör bitte auf, meine Staffelkameraden eigenmächtig zu entlassen, solange ich noch für das Dog Pack zuständig bin, ja?“
„Versprochen.“
Ernst nickte mit einem dünnen Lächeln und wandte sich wieder um. Dabei rannte er fast Blue um, der regelrecht in das Büro hineingerannt kam. „Dave, ich habe hier…Ah, Steel. Willst du gleich bleiben?“
„Worum geht es?“
Der Skipper der NORTH STAR breitete einen Packen Karten auf dem Schreibtisch aus. „Wir müssen uns über unser Ziel klar werden. Und vor allem müssen wir einen Kurs festlegen. Im Moment wird die Zigarre betankt, was uns eine Reichweite von viertausend Kilometern ermöglicht. Wo wollen wir also hin? Die LONGHORN und die SHOOTIST werden uns verfolgen, also wollen wir sie unterwegs abschütteln? Ich denke, zur Auswahl stehen für uns Seattle, Kanada, San Francisco, San Diego, Mexiko und Südamerika.“
„Kanada und Südamerika sind aber große Gebiete“, gab Steel spöttisch zu bedenken.
„Ich erwähne sie nur, weil uns dort jeder Hafen recht sein kann. Sie sind uns gegenüber neutral. Bisher, zumindest.“
„Ich denke, wir sollten unser nächstes Ziel erst benennen, wenn wir ein paar hundert Kilometer zwischen uns und Hawaii gebracht haben“, brummte Dave. „Immerhin gehen einige von Bord, und wenn die den falschen Leuten in die Hände fallen, dann werden wir erwartet. Aber lass die Karten hier, Blue, ich denke über unser Ziel nach. Einwände?“
„Nein, Chef, mach nur. Steel?“
„Ich werde mich hüten.“
Die beiden verabschiedeten sich und verließen das Büro wieder.
„SIR!“
Dave, der gerade interessiert die Karte der Westküste von Mexiko gesichtet hatte, fuhr erschrocken zusammen. „WAS DENN?“, blaffte er.
Lieutenant Winter stand in Hab Acht vor der Bürotür, neben ihm ein Seesack. „Sir, ich melde mich hiermit wieder an Bord zurück!“
„Zak, warum sind Sie nicht auf der LONGHORN?“
„Weil mein Zeppelin heute noch abfliegt, Sir.“
„Die LONGHORN ist Ihr Zeppelin, junger Mann.“
„Die NORTH STAR ist mein Zeppelin, Sir.“
Die beiden Männer maßen sich mit Blicken. „Wir sind ab jetzt Piraten, Zak.“
„Ein Mann sollte in seinem Leben einen Baum fällen, ein Haus abbrennen und eine Frau schwängern, Sir. Sieht so aus, als hätte ich mit Ihnen gute Chancen, das zu schaffen.“
„Spotten Sie nicht, Zak.“
„Natürlich, Sir. Entschuldigen Sie, Sir.“
„Sie werden eine lange Zeit nicht in Ihre Heimat zurückkehren können, das sollte Ihnen klar sein.“
„Mir ist vor allem klar, dass mein Commander mich jetzt braucht. Sir, ich werde Sie nie mehr so enttäuschen wie in Corpus Christi.“
Der Blick des Mannes war so entschlossen, dass es Dave schauderte. Zacharias Winter meinte es ernst, bitter ernst.
„Sie kennen ja Ihre Kabine, Zak.“
„Ja, Sir. Danke, Sir.“
„Es heißt Chef oder Commander. Haben Sie das in den beiden Wochen auf der LONGHORN etwa schon vergessen?“
„Natürlich nicht, Chef.“ Der Offizier salutierte steif und ging ab.
„Ganz schönes Gedränge bei dir, Dave“, murmelte Norah Gallagher, und rollte ihren Zigarillo im Mund von links nach rechts.
„Rauch nicht so ein Kraut, sonst will dich bald kein Mann mehr küssen“, tadelte Dave.
„Was denn, was denn? Bei meiner Persönlichkeit wagt es sowieso kein Mann, sich über Tabakgeschmack zu beschweren, wenn ich ihn küssen will.“ Sie grinste burschikos. „Hier, die Liste. Lieutenant Walsh hat das Kommando über die Abrücker übernommen. Ich habe ihn abbefohlen. Der Junge hat Frau und Kind Zuhause. Er wollte bleiben, aber ich bin mir nicht sicher, ob die da oben seiner Frau nicht was angetan hätten, wenn er Pirat wird. Die zwanzig Mann, die in Sky Haven an Bord gekommen sind, gehen fast geschlossen. Von den siebenunddreißig Mann, mit denen Walsh und ich an Bord gekommen sind, gehen, Walsh mitgerechnet, acht. Alle mit Familie. Der Rest bleibt.“
„Was ist mit dir? Hat dir der König keinen Job angeboten?“
„Doch, hat er. Aber im Moment ist der gute Harold zu sehr damit beschäftigt, um Dusk rumzuscharwenzeln. Du hattest Recht, der Junge ist bis über beide Ohren in sie verliebt. Aber sie hat ihm schon die Abfuhr seines Lebens erteilt.“
„Oh nein, sag mir nicht, dass…“
„Sie ist deine Flügelfrau. Ihr passt seit zwei Jahren aufeinander auf. Glaubst du, sie kann dich ruhigen Gewissens in die Gefahr ziehen lassen?“
„Aber ihre Familie in Texas! Was werden die sagen?“
„Was werden die sagen, wenn sie hören, wie gemein das Parlament uns ausgebootet hat?“
Dave seufzte. „Ich nehme an, das bedeutet, du bleibst auch, Norah?“
Die Marine schob den Zigarillo wieder auf die andere Seite. „Hast du daran gezweifelt, Dave? Hey, bei dir wird man reich!“
„Materialistin.“
„Schimpf mich nicht für das, was ich bin.“ Wieder grinste sie breit, und Dave fühlte sich davon angesteckt.
In diesem Moment kam Dusk hereingerauscht, stützte sich schwer auf dem Schreibtisch an und setzte ihren besten drohenden Blick auf. „Ich bleibe an Bord, hast du das verstanden? Und keiner deiner Psychotricks kann mich von dieser Entscheidung abbringen! Für jedes Argument von dir habe ich acht Gegenargumente! Also?“
„Du bleibst an Bord.“
„Ich habe dir doch schon gesagt, dass deine Psychotricks… Äh, was?“
„Es ist in Ordnung. Du bleibst an Bord.“
Überrascht sah Melissa The Dusk Vandersen um. Sie deutete auf Dave und zeigte Norah Gallagher ein völlig fassungsloses Gesicht.
„Ruhig, ruhig. Ich habe ihn für dich schon mal vorgekocht.“
„Ach so. Deshalb ging das so leicht. Und ich hatte mich schon auf einen stundenlangen Disput eingestellt. Na, egal, ich gehe dann mal meine Fury klar machen. Ich werde sie eventuell brauchen können.“
„Sagte es und war wieder rausgerauscht.“ Norah nickte dem Commander zu. „So, ich muss meine Leute verabschieden. Und ich muss dafür sorgen, dass sie mit einer Mordswut im Bauch nach Hause gehen, weil Texas uns so schmählich verraten hat. Eine kleine Ansprache sollte das tun. Ach, und was Thaddeus angeht, bitte befördere meine Leute nicht, ohne mich zu fragen.“
„Ich habe ihn nicht befördert. Ich habe gesagt, wir reden drüber.“
„So? Bei ihm klang das aber anders.“ Sie runzelte die Stirn und verließ das Büro wieder.
„Commander, ich brauche Ihre Unterschrift. Ich brauche Geld aus der Bordkasse, um die medizinischen Vorräte wieder aufzustocken.“
„Jetzt sagen Sie nicht, Sie wollen auch an Bord bleiben, Arthur?“
Der kanadisch-deutsche Arzt sah erstaunt drein. „Haben Sie dran gezweifelt? Sie haben mich im Voraus bezahlt. Außerdem habe ich da noch vier Patienten in Sky Haven, die ich bald wieder konsultieren muss. Also, kriege ich jetzt die Unterschrift?“
„Natürlich, Doc. Aber nehmen Sie sich nicht zuviel Zeit. Wir fliegen ab, sobald der Sprit gebunkert ist.“
„Ich fliege.“ Als der Arzt das Büro verließ, hätte er beinahe eine junge Japanerin umgerannt. Sie trug Blue Jeans und ein hoch geschlossenes weißes Hemd. Dazu ein süßes Lächeln, welches den Doc so sehr irritierte, dass er im vollen Lauf gegen die Korridorwand lief.
„Oh! Geht es Ihnen gut?“
„Alles in Ordnung, alles in Ordnung. Hören Sie, Miss, für dieses Lächeln brauchen Sie einen Waffenschein, wissen Sie das?“
„Man hat es mir von Zeit zu Zeit gesagt. Und es geht Ihnen wirklich gut?“
„Ich bin Arzt. Ich sollte es feststellen können, wenn es mir nicht gut geht. Arthur Mertens der Bordarzt.“
„Ich bin Kiki. Der Chef hat mich angestellt, um einen seiner Hoplits zu fliegen.“
„Kiki?“ Überraschung ging über sein Gesicht. „Aber natürlich, Kiki! Aus dem Dragon&Sword. Na, das ist aber eine Freude, Sie hier wiederzusehen! Hoplits fliegen Sie? Wollen Sie mich dann nicht gleich in die Stadt fliegen? Ich muss Vorräte einkaufen.“
„Schalte mal einen Gang runter, Arthur. Lass die Lady doch erstmal ankommen und auspacken“, tadelte Dave.
„Was? Ach…Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, Kiki. Aber wir werden uns zwangsläufig sehen, schätze ich.“
Der Doc verabschiedete sich und eine amüsiert dreinschauende Japanerin betrat das Büro. „Irgendwie niedlich.“
„Etwas naiv, aber er ist ein guter Arzt. Makiko, du kommst zur rechten Zeit. Ich glaube, ich werde bald jeden Mann gebrauchen können.“
„Das kann ich mir denken.“ Sie deutete auf die Kaffeekanne und die Donuts. „Darf ich?“
„Bedien dich.“
Während sie sich eine Tasse voll schenkte, sagte sie wie nebenbei: „Übrigens, Chef, haben Sie gewusst, dass Hawaii einer der größten Zuckerproduzenten der Welt ist?“
„Ich ahnte so was. Das ganze Zuckerrohr war doch etwas verdächtig.“
Kiki schmunzelte. „Nun, dieses Jahr wird der Export auf eine halbe Tonne verzichten müssen. Wissen Sie, was mit Flugbenzin passiert, das mit Zucker vermischt wird?“
Kurz dachte Dave an die alte Reaktion aus der Schule, in der Zucker und Schwefelsäure miteinander in Berührung kamen. „Kohlenstoff.“
„Und ein ruinierter Motor. Schade um den Zucker, aber die SHOOTIST wird wohl länger auf Hawaii bleiben als Captain Arguile geplant hat.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Mama hat ein paar Fäden gezogen.“
Dave prustete lachend. „Ich sollte mich mit einem Blumenstrauß revanchieren. Oder ist ihr was Süßes lieber, Makiko?“
Die Japanerin wollte antworten, aber in diesem Moment kam noch jemand in den Raum gerauscht. Als ihre Hände auf den Schreibtisch fielen, knallte es laut. „Zehn von meinen Technikern und neunzehn aus der Crew mustern ab. Und bevor du fragst, ich bleibe an Bord, und wenn dir das nicht gefällt, dann stell dich auf den Kopf!“
„Würde es was nützen?“
„Nein.“
„Dann verzichte ich darauf. Ach, darf ich dir vorstellen? Makiko dürftest du aus dem D&S kennen. Sie fliegt Hoplits.“
„Hoplits?“ Samantha Rogers musterte die junge Frau aufmerksam. Unterschiedliche Gefühle huschten über ihr Gesicht, aber letztendlich blieb ein Lächeln. „Dann unterstehen Sie mir. Sam Rogers. Chef der Mechaniker.“
„Der Chefmechaniker ist eine Frau?“, fragte Kiki verdutzt.
„Und das aus dem Mund eines weiblichen Hoplit-Piloten“, spottete Sam. Sie reichte der Asiatin die Hand, die ohne zu zögern zugriff. „Auf gute Zusammenarbeit, Makiko. Aber damit Sie es gleich wissen, den Chef gebe ich nicht her. Aber teilen können wir ihn uns.“
„Sam!“, rief Dave entrüstet und erheblich irritiert.
Die junge Frau zeigte dem Commander die Zunge. „War nur Spaß. Ich mache dann meinen Bereich klar und halte meinen Leuten noch ne schöne Rede. Dann sind sie hoffentlich so richtig sauer auf das Parlament, weil die uns so auflaufen ließen. Makiko, räumen Sie Ihre Sachen ein und kommen Sie dann in den Hangar. Wir sehen uns zusammen die Hoplits an und teilen Ihnen einen zu. Mir fehlen leider zwei Piloten ab heute. Sie kommen also mehr als gelegen.“
„Jawohl, Ma´am.“
„Aber trinken Sie in Ruhe aus. Hektik haben wir mehr als genug, wenn wir in der Luft sind.“
„Jawohl, Ma´am.“
Sams Platz wurde kurz darauf wieder von Steel eingenommen. „Entschuldige, dass ich dich im Diktat störe, Dave“, sagte der Industrial mit einem grinsenden Seitenblick zu Kiki, „aber ich habe hier die Pilotenliste. Cat Pack: Dusk wird bleiben Twofeather auch. Jerrard Ryan sowieso. Aber Gossip hat darum gebeten, abmustern zu dürfen. Ich habe zugestimmt.“
Dave nickte. „Einverstanden.“
„Hammer bleibt an Bord, ebenso Max. Papillon hast du ja schon ausgemustert, und Happy hat bereits laut und deutlich durch die Zigarre geschrieen, dass er an Bord bleibt. Tja, da hängen wir also mit einer Staffel rum. So sieht es um uns aus.“
„Besser als nix.“
„Optimist.“
„Du anscheinend auch, sonst wärst du nicht mehr an Bord, oder?“
Steel murmelte etwas Unverständliches, winkte in den Raum und ging.
„Ich gehe dann auch mal. Ich will meinen neuen Boss nicht gleich am ersten Tag unnötig warten lassen. Ach, Commander. Danke noch mal für diese Chance.“
„Gern geschehen.“ Dave sah Kiki nach und seufzte anschließend. „Das sollten alle gewesen sein.“
Summa summarum behielten sie ihre Fähigkeit, den Zeppelin zu fliegen und für ausreichend Patrouille-Maschinen zu sorgen. Blieb nur noch das Ziel. Nachdenklich beugte sich Armstrong über die Karten.

****
Es war ein mehr als informeller Abschied. Ein Teil der Leute, die von Bord gingen, würden auf der LONGHORN weiterreisen, ein Teil auf Hawaii bleiben und beim Rest wusste der Henker, welche Beweggründe sie hatten.
Kamehameha der Dritte hatte es sich am frühen Nachmittag nicht nehmen lassen, zusammen mit seinem Polizeichef zu erscheinen.
„Also, Armstrong. Machs gut und pass mir auf Dusk auf. Sie hat mir zwar einen Korb gegeben, aber sie hat auch nicht nein gesagt.“
„Freut mich zu hören, Harold. Ein deutsches Sprichwort sagt: Steter Tropfen…“
„…höhlt den Stein. Ich weiß. Komm ruhig mal wieder in mein schönes Königreich, wenn die Lage sich beruhigt hat oder wenn du deinen Leuten mal einen schönen Urlaub gönnen willst.“
„Ich komme drauf zurück, Harold.“
Dave sah zur Seite, wo etwas abseits Saburo Sakai stand und die Gruppe beobachtete. Er machte keinerlei Anstalten näher zu kommen, und so ließ Dave es bleiben, seinerseits dem Japaner entgegen zu gehen.
Er reichte Mizunami die Hand. „Es hat mich gefreut, mit Ihnen zu arbeiten, Mizunami-san.“
„Das Kompliment kann ich zurückgeben. Übrigens, was Kazuos Tod angeht, wir haben vielleicht eine Spur. Sie führt nicht zur Gewerkschaft. Aber die Ermittlungen können Monate dauern.“
„Viel Glück, Mizunami-san.“
„Das werden wir brauchen.“
Dave nickte beiden Männern noch einmal zu und sah, wie auf seinem Zeppelin die letzten Leinen gelöst wurden. Höchste Zeit für ihn, an Bord zu gehen. Er wandte sich Sakai zu und deutete eine Verbeugung an.
Der Japaner nickte als Antwort, dann wandte er sich ab und ging.
Auf der anderen Seite wurde gerade die VELVET klar gemacht. King und seine Black Guards würden dem Dirty Pack Geleit geben. Das würde hoffentlich jeden potentiellen Verfolger vorsichtiger machen. Aber irgendwie wusste Dave, dass die Crew der KAMIKAZE ihn nicht verfolgen würde. Noch nicht.

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Shoean Kazuo duckte sich instinktiv, als der Stein durch das Fenster krachte. Die Worte, die ihr auf der Zunge lagen hätten das Bild, das manche Westler von japanischen Frauen hatten, nachhaltig erschüttert.
Der Polizeileibwächter, den ihr Mizunami zur Verfügung gestellt hatte, fluchte hingegen lauthals. Der Sergeant war Europäer, nicht mehr jung, und wirkte recht kompetent. Insgeheim war Shoean doch froh über seine Anwesenheit.

Shoean glaubte zwar nicht, dass Hiroshi Shimada tatsächlich versuchen würde, sie zu ermorden. Aber andererseits hatte sie sich schon einmal in ihm getäuscht. Und auch wenn ihr im Augenblick ihre eigene Sicherheit ziemlich gleichgültig war, da war immer noch ihr Sohn. Zuerst hatte Mizunami ihr sogar zwei Bodyguards gegeben, aber da nichts geschehen war, war die Leibwache wieder reduziert worden. Allerdings hatte die Polizei zudem die Patrouillen in dem Viertel verstärkt. Shimada selber war wohl auf der Flucht, ständig in Bewegung. Er befand sich angeblich nicht einmal mehr auf Hawai’i.

Womit Shoean allerdings bestimmt nicht gerechnet hatte, war die kleine Gruppe Europäer, die vor ein paar Minuten aufgetaucht war. Die drei Männer waren recht ärmlich gekleidet. Deshalb passten sie nicht recht in diese Gegend. Allerdings war ihr Angriff dann doch recht überraschend erfolgt. Die Flüche, die die Steinwürfe begleiteten, waren allerdings keine Überraschung:
„VERDAMMTE SCHLITZAUGEN!!“
„SCHEISSVERRÄTER!“
„KOMMUNISTENSCHWEINE!!“
Offenbar warfen die Männer dem toten Fumio Kazuo die Waffenlieferung an die Gewerkschaft vor. Der Polizeisergeant zögerte, warf Shoean einen unsicheren Blick zu, während er an seiner Pistolentasche nestelte: „Ich habe telefonisch Bescheid gegeben. In ein paar Minuten ist ein Einsatzwagen da. Bis dahin…“
Shoean schürzte abfällig die Lippen. Natürlich, die Randalierer waren Weiße. Da war man gleich vorsichtiger. Aber vielleicht tat sie dem Mann auch Unrecht. Immerhin sollte er vor allem für ihren persönlichen Schutz sorgen. Und durch diese drei Rabauken fühlte sie sich nicht bedroht. Das einzige, was sie fühlte, war Wut. Aber es war eine dumpfe Wut, überschattet durch Trauer und Erschöpfung.
Die letzten Tage waren ein Albtraum gewesen, aus dem sie nicht erwachen konnte. Ihr Sohn Tarro, auch wenn er noch nicht richtig begreifen konnte, was seinem Vater geschehen war und warum er nicht mehr wiederkommen würde, fühlte offenbar irgendwie, was in ihr vorging. Seine Tränen und seine Verwirrung erhöhten die Last nur noch, die auf Shoeans Schultern ruhte. Und es gab niemanden, der ihr diese Last abnehmen konnte.

In einiger Entfernung erklang das unverkennbare Signal einer Polizeisirene. Die Unruhestifter gaben Fersengeld. ‚Erbärmliche Feiglinge. Was haben die wohl während der Schlacht gemacht?’

Wie von einem Tsunami, überraschend, aus dem Nichts auftauchend, war Shoeans gesamtes Leben umgegraben worden, waren die Veränderungen über sie hereingebrochen.
Die Unruhen, Shimadas Auftauchen, die Schlacht um Pearl City. Der Tod ihres Mannes. Nichts war mehr so, wie es gewesen war.
Es war eine arrangierte Ehe gewesen, bei der ihre Eltern die Entscheidung getroffen hatten. So war es nun einmal üblich, und damals, sie war noch nicht einmal achtzehn, war es ihr nicht in den Sinn gekommen, ‚Nein’ zu sagen. Der erfolgreiche Geschäftsmann Fumio Kazuo war nach Japan zurückgekehrt, um eine passende Partie zu finden, auch weil seine Position als Stellvertretender Vorsitzender der japanischen Gemeinde von Hawaii ein gewisses Maß an Repräsentanz verlangte. Was auch eine (natürlich japanische) Ehefrau beinhaltete. Sie war jung, hübsch, kam aus einer wohlhabenden, angesehenen Familie. Außerdem war sie intelligent. Und willenstärker als viele andere Japanerinnen, aber das hatte ihren Wert auf dem Heiratsmarkt nicht unbedingt gesteigert. Trotz dieser zwei kleinen Schönheitsfehler hatte sich Fumio Kazuo sich für sie entschieden. Shoean war ihrem neuen Ehemann nach Hawaii gefolgt. Und sie hatte gelernt, ihn zu schätzen. Und mehr als das.
Wie sehr er ein zentraler Teil ihres Lebens geworden war, hatte Shoean erst begriffen, als sie ihn verloren hatte. Er hatte ihr Freiheit gelassen, hatte sie nicht nur auf das Heim und ausgewählte Gesellschaftsereignisse beschränkt. Die gegenseitige Zuneigung war schrittweise gewachsen. Tarro hatte dazu natürlich viel beigetragen.

Was sollte nun werden? Die nächsten Verwandten ihres Mannes lebten in Japan, und das gleiche galt auch für ihre eigene Familie. In ein paar Tagen würden die Eltern von Fumio Kazuo eintreffen. Auch Shoeans Schwager hatte sich angekündigt. Sie sah dem Besuch mit gemischten Gefühlen entgegen. Mit Fumios Eltern war sie bisher recht gut zurechtgekommen. Allerdings waren sie der Meinung, dass Shoean etwas zu selbstständig und selbstbewusst war. Aber da sie aus einer guten Familie kam, und vor allem nach der Geburt ihres Enkelkindes, waren sie bereit gewesen, darüber hinwegzusehen. Ihr Schwager war hingegen eine andere Sache.
Fumio Kazuo hatte seinen Besitz seinem Sohn vermacht, abzüglich einer beachtlichen Summe, die direkt für sie bestimmt war. Das entsprach Shoeans Erwartungen. Was sie aber überraschte, war die Tatsache, dass Fumio Kazuo bis zur Volljährigkeit seines Sohnes SIE zur Verwalterin des Erbes bestimmt hatte. Etwaige Nettogewinne aus der Fortführung der Geschäfte sollten zur Hälfte ihr gehören. Eine solche Regelung war mehr als ungewöhnlich. Sie hatte gewusst, dass Fumio mit seinem Bruder nicht besonders gut klar kam, dennoch hatte sie erwartet, dass er zum Nachlassverwalter ernannt werden würde. Ohne Zweifel hatte Fumios Bruder das auch erwartet. Er würde nicht erfreut sein. In der traditionellen japanischen Vorstellung hatten Frauen nichts im Geschäftsleben zu suchen. Sah man vielleicht von den ‚Geschäften’ ab, die ‚Madame’ Yamamoto betrieb – und solche Frauen waren gesellschaftliche Parias.
Das Vertrauen, das ihr Mann in ihre Fähigkeiten setzte, rührte sie. Aber es machte ihr auch Angst. Natürlich hatte Fumio Kazuo fähige Berater und Geschäftsführer gehabt, und auf diese Männer würde sie zurückgreifen können, zurückgreifen MÜSSEN. Aber sie durfte nicht alle Entscheidungen Untergebenen überlassen. Sie musste die Fäden in der Hand behalten. Andernfalls würden Kompetenzstreitigkeiten, Unterschlagungen, und Intrigen wuchern. Auch wenn sie nicht allzu viel von Geschäften verstand, dass wusste sie auf jeden Fall. Es lag ganz einfach in der Natur der Menschen.
Die Geschäftsfreunde und –partner ihres Mannes in der japanischen Gemeinde hatte Fumio Kazuos Entscheidung offenbar auch überrascht. Aber sie hatten sich schnell darauf eingestellt. Die meisten hatten im Verlauf der obligatorischen Beileidsbesuche mehr oder weniger deutlich versprochen, ihr bei der Führung der Geschäfte zu helfen. Trotz ihrer Trauer war sie nicht so blind gewesen, um nicht zu begreifen, dass sie dennoch vorsichtig sein musste. Manche dieser Angebote mochten ehrlich gemeint sein. Aber nicht alle. Wahrscheinlich nicht einmal die meisten. Wer nicht den traditionellen japanischen Vorstellungen von der Rolle der Frau anhing, folgte möglicherweise vor allem den eigenen Interessen.

Dennoch war dankbar für die Arbeit gewesen, die die Entscheidung ihres Mannes für sie bedeutete. Das lenkte sie wenigstens ab. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich in Trauer versunken. Und in Hass. Hass auf Hiroshi Shimada. Doch da der Gewerkschaftsführer förmlich vom Erdboden verschluckt worden war, gab es kein Ventil für ihre Wut. Allerdings war die auch schon vorher von diesem Mann abgeprallt wie Pfeile von einem Stein. Egal was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, wie weit sie dabei die Grenzen der Höflichkeit überschritt, es hatte ihn immer nur amüsiert. Fast als fände er Gefallen an diesem Streit. Ein seltsames Verhalten für einen Japaner. Erst Recht für jemanden, der eine Kommandofunktion innehatte. Vor allem, wenn dieses ‚Kommando’ sich auf eine Bande rebellischer, gemeingefährlicher Halbkrimineller erstreckte. Aber in Shoeans Beleidigungen schien der Gewerkschaftsführer nur eine Herausforderung für seine Schlagfertigkeit zu sehen. Das hatte sie erst Recht verärgert. Und dann hatte er ihren Mann ermorden lassen.
Hatte er? Die Informationen, die Mizunami ihr zukommen ließ, waren widersprüchlich. Sie hatte ihm allerdings auch nicht alles gesagt, was Shimada ihr mitgeteilt hatte. Manche seiner Anspielungen hatte sie nicht verstanden, andere WOLLTE sie nicht verstehen. War Shimada…
Das führte zu nichts. Sie wollte nicht an ihn denken.

Methodisch hatte Shoean sich durch die Unterlagen gearbeitet, die sie sie in dem Arbeitraum und dem Geschäftssafe ihres Mannes gefunden hatte. Insgeheim dankte sie einmal mehr ihren Eltern, die ihr eine solide und umfassende Bildung hatten zukommen lassen. Andernfalls wäre sie wohl völlig überfordert gewesen. Von den geheimen Geschäften, die Shimada recht nebulös erwähnt hatte, hatte sie allerdings nichts finden können. Die Papiere hatten ihr auch nicht verraten, woher die Waffen kamen, wegen denen Shimada das erste Mal in ihrem Haus aufgetaucht war. Wäre das doch nie passiert. Mit seinem Erscheinen hatte das Verhängnis begonnen. Sie hätte es fühlen müssen, dass mit ihm der Tod über die Schwelle getreten war.

Die Sonne verschwand bereits hinter dem Horizont. Shoean hatte das Arbeitszimmer ihres ermordeten Mannes heute kaum verlassen, außer um nach ihrem Sohn zu sehen. Sie hatte keinen Hunger, und insgeheim graute ihr es nun davor, sich Schlafen zu legen. Auch wenn sie müde war, sie fürchtete diese Augenblicke, ob im Wachen oder Schlafen, wenn nichts mehr ihre Gedanken ablenken und beschäftigen konnte. Vielleicht sollte doch einmal auf den Rat ihres Hausarztes hören, und ein Schlafmittel nehmen. Allerdings halfen diese Mittel nicht gegen die Träume.
Langsam begannen die Buchstaben schon vor ihren übermüdeten Augen hin und her zu tanzen. Shoean schaltete die Schreibtischlampe aus. Es war Zeit, aufzuhören. Sie lehnte sich in dem Sessel zurück und schloss kurz die Augen.


Einige Stunden später

Sie erwachte jäh, übergangslos, mit einem schlechten Geschmack auf den Lippen und der verschwommenen Erinnerung an einen weiteren Albtraum. Der Schlaf hatte sie nicht erfrischt. Vielmehr fühlte sie sich zerschlagen, war in Schweiß gebadet. Sie unterdrückte einen leisen Seufzer, als sie sich aus dem Sessel erhob. So ging es nicht mehr weiter. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die jetzt noch wach war. Sie rieb sich die Augen, in der Müdigkeit und unvergossene Tränen brannten. Shoean stand auf, und trat kurz an das Fenster. Das jetzt wieder makellos und verschwenderisch funkelnde Lichtmeer Honolulus, das sich ihren Blicken darbot, konnte sie nicht ablenken oder trösten.

Shoean wusste selber nicht, was sie alarmiert hatte. Ein Geräusch? Eine aus den Augenwinkeln wahrgenommene Bewegung in dem dunklen Raum? Oder einfach ein instinktives Gefühl, das Wissen, nicht alleine zu sein in der Nacht. Jemand war im Zimmer. GANZ NAH. Einen Augenblick war sie wie erstarrt, während Angst und Adrenalin durch ihre Adern schossen. Einen Augenblick zu lange.
Noch ehe sie sich umdrehen oder schreien konnte, presste sich eine Hand auf ihren Mund, schnitt jeden Laut ab: „STILL!“ Die Stimme klang leise, drängend, befehlend.
Shoeans Reaktion überraschte den Angreifer. Sie trat mit aller Kraft nach Hinten. Ihr Fuß knallte gegen das Schienbein des Mannes, der zischend Luft holte. Sein Griff lockerte sich aber nicht, obwohl sich die junge Japanerin wie ein Fisch wand, und versuchte den Angreifer mit Fingernägeln, Ellbogen und Füßen zu treffen. Was ihr auch gelang, wie ein unterdrückter Fluch bewies. Sie erstarrte, denn jetzt erkannte sie die Stimme. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Der Angreifer lockerte den Griff etwas: „Na also. Hören Sie, ich will nur…“
Diesmal war er es, der überrascht wurde. Denn Shoean wirbelte blitzschnell herum und schlug ihm direkt ins Gesicht. Wut und Angst gaben ihrem Arm eine Kraft, die das Gesicht ihres Gegenübers zur Seite zucken, ihn ein wenig zurückweichen ließ. Sie versuchte die Chance zu nutzen, stürzte zur Tür, öffnete den Mund zu einem Schrei – mit einem blitzschnellen Sicheltritt trat der Mann ihr die Beine unter dem Körper weg. Der Sturz trieb ihr die Luft aus den Lungen und erstickte ihren Schrei. Im nächsten Augenblick war er über ihr, presste ihr wieder seine Hand auf den Mund, während er sie mit dem anderen Arm und seinem Körpergewicht auf den Boden presste. Gegen ihren Willen entrang sich ein Wimmern, und sie kniff die Augen zusammen. Wartete auf den ersten Schlag.
Aber nichts geschah. Auch wenn er sie weiter festhielt, der Angreifer rührte sich nicht. Verharrte reglos, wie eingefroren. Sein zischender, angespannter Atem schien das einzige Geräusch zu sein, das beinahe von dem Hämmern ihres eigenen Herzens übertönt wurde. Der Angreifer lauschte. Die Sekunden verkrochen langsam, quälend. Shoean wusste, in dieser Etage war sie alleine, und da das Haus aus Steinen bestand, und nicht etwa der japanischen oder amerikanischen Leichtbauweise entsprach, war es sehr unwahrscheinlich, dass jemand sie hören konnte, selbst wenn es ihr gelingen sollte, um Hilfe zu rufen.
Was wollte er? Wollte er sie töten? Nein, dann hätte er das bereits getan. Dann durchfuhr sie ein anderer Gedanke, und sie biss sich auf die Lippen, um einen erstickten Aufschrei zu unterdrücken. ‚NEIN!’ Ihr verzweifelter Versuch, seinen Griff abzuschütteln, zeigte nicht mehr Erfolg, als hätte sie versucht, eine Kette mit bloßen Händen zu zerbrechen. Noch einmal ließ er sich nicht überraschen.
„Das hat mir keine Freude gemacht.“ Überrascht glaubte Shoean in der leise flüsternden Stimme fast so etwas wie Zerknirschung herauszuhören. Das ergab keinen Sinn. Sie hatte Mühe, die nächsten Worte zu hören, obwohl sein Mund höchstens zehn Zentimeter von ihrem Ohr entfernd war: „…hätten gar nicht hier sein dürfen. Verstehen Sie? Ich will Ihnen nichts tun. Ich werde Sie jetzt loslassen. Aber Sie dürfen nicht schreien. SIE DÜRFEN NICHT SCHREIEN.“ Nur bei den letzten Worten war die Stimme schärfer geworden, und sie zuckte instinktiv zusammen angesichts der Kälte, die in dem Satz lag.

Plötzlich war das Gewicht, das auf ihr lastete, verschwunden, löste sich die Hand von ihrem Mund. Jäh, hektisch kam sie auf die Knie, rutschte zur Wand, fand trügerischen Schutz in einer Ecke des Zimmers. In ihrem Kopf und ihrem Herzen kämpften Panik, Angst, Wut – aber auch Verwunderung miteinander. Was wollte er von ihr?
Das Licht der Schreibtischlampe, die plötzlich wieder eingeschaltet wurde, ließ sie kurz die Augen schließen. Aber dann öffnete sie sie wieder. Shoean konzentrierte sich auf die Wut in ihrem Innersten, und richtete ihren Blick auf den Angreifer. Sie würde ihm nicht die Genugtuung geben, die Augen gesenkt zu halten.

Hiroshi Shimada sah nicht besonders gut aus. Sein ohnehin hageres Gesicht wirkte jetzt von Anspannung und Übermüdung regelrecht ausgezehrt. Auf seiner linken Wange bemerkte Shoean mit einer gewissen Genugtuung einen deutlich sichtbaren Handabdruck, der sich von der blassen Haut abhob. Die dunklen Augen Shimadas, in denen sonst ein stetiges, gefährliches Feuer zu brennen schien, flackerten jetzt unstet. Doch das Feuer war noch da – und konnte jeden Augenblick mit verheerender Wut auflodern. Aber aus welchen Energiereserven er auch immer schöpfte, sie schienen gefährlich zur Neige zu gehen.
Die einfache Arbeiterkleidung sah so aus, als hätte er in ihr geschlafen. Und das mehrere Tage hintereinander. Die Hand, die sich um den Griff einer Automatik gekrampft hatte, zitterte allerdings nicht. Doch als Hiroshi Shimada ihren Blick bemerkte, ließ er die Waffe schleunigst los.
„Sie hätten gar nicht hier sein dürfen.“
In Shoean loderte die Wut hoch. Wut vor allem darüber, dass sie einmal mehr mit Leib und Seele den Wünschen und dem Willen dieses Mannes ausgeliefert war. Er hatte ihr persönlich noch nichts getan – aber nur, weil ER es so wollte. Wenn er etwas anderes beschloss, sie hätte sich ihm kaum widersetzen können: „Das ist mein Haus, falls Sie das vergessen haben! SIE dürften eigentlich gar nicht hier sein!“
Shimadas Reaktion war in gewisser Weise typisch. Er knappes Lächeln spielte um seine Lippen, auch wenn es ein bitteres war: „Man muss nur wissen, wie man die Maulwürfe und Informanten füttert, dann singen sie schon die richtige Melodie bei der Polizei. Ich kann es mir kaum leisten, Hawai’i zu verlassen. Und in Ihr Haus hineinzukommen war relativ einfach. Wie beim Hütchenspiel. Man muss die Aufmerksamkeit nur auf die richtige Stelle lenken. Dann gewinnt man immer.“
Shoean begriff. Der Aufruhr vorhin war inszeniert worden, um das Hauspersonal und ihre etwaigen Leibwächter abzulenken. Im Schutz dieser Ablenkung musste Shimada auf das Grundstück gelangt sein. Vermutlich hatte er sich im Gartenhaus oder sogar im Keller verborgen. Sie traute ihm das zu: „Was wollen Sie?!“ Diese Frage hätte sie am liebsten sofort wieder zurückgenommen. In diesen unstet flackernden Augen glaubte sie etwas zu lesen, was ihr Angst machte. Was wollte er von ihr? Etwa…
„Ich habe Fumio Kazuo nicht getötet. Und ich habe seinen Tod auch nicht befohlen.“
Wenn es etwas gab, dass Shoean ihre Angst völlig vergessen lassen konnte, dann waren es diese Worte: „Ich glaube Ihnen nicht! Sind Sie nur hier gekommen, um mir Lügen zu erzählen?! Ich weiß genug von Ihnen! Sie sind ein Erpresser, ein Verbrecher – und ein Mörder!“
„Sie wissen gar nichts. Nicht über mich, und auch nicht über Ihren Mann.“
„Wie können Sie es wagen…“
„Fumio Kazuo arbeitete für den japanischen Militärgeheimdienst. Genauso wie ich.“ Hiroshi Shimada sah sie direkt an. Das Eingeständnis kam leicht über seine Lippen, fast als würde er so eine Last abwerfen können. Shoean aber trafen seine Worte wie ein Schlag. Nein, das konnte nicht sein. Oder doch? Ihr Ehemann hatte von Männern gesprochen, die über Shimada standen. Gefährlichen Männern, die auch Fumio Kazuo befehlen konnten. Und die Waffen? Kamen sie aus den verborgenen Lagern und Materialquellen des kaiserlichen Geheimdienstes? Vielleicht…Nein. Unmöglich: „Ich glaube Ihnen nicht! Er hätte so etwas niemals vor mir geheim gehalten!“
Hiroshi Shimada zuckte mit den Schultern: „Gerade vor Ihnen hat er es geheim gehalten. Er wollte seine Familie heraus halten aus diesen Geschäften. Und das war auch richtig so. Aber noch in der Nacht nach dem Eintreffen der Söldner war er bei einer Einsatzbesprechung. Wir haben das Vorgehen bei der Abwehr der Invasion koordiniert. Kazuo sollte die nötigen Waffen besorgen. Außerdem brauchten wir seine sozialen Kontakte. Ich sollte die Männer zur Verfügung stellen, um bewaffnete Banden oder Söldnern zu bekämpfen, die die ANZAC und ihre Verbündeten eventuell mobilisieren könnten. Und meine Männer sollten auch bei der Abwehr der Invasion helfen. Ich sollte sie dabei anführen. Wir beide erhielten unsere Befehle von dem Befehlshaber einer eigens wegen der Invasion entsandten Kommandoeinheit. Einem Ninja.“

Selbst die Tatsache, dass die gefürchteten Schattenkrieger Japans auf Hawai’i operieren sollten, konnte Shoean nicht so sehr erschüttern, wie Shimadas Behauptung, ihr Mann hätte sie derart hintergangen. Aber in dieser Nacht war er erst im Morgengrauen nach Hause gekommen. Er hatte nicht gesagt, wo er gewesen war. Und er hatte verstört gewirkt.
Sie musste sich zwingen, um Shimadas Worte zu verstehen. Der Schock war einfach zu groß.
„…natürlich nicht das erste Mal. Er wurde bereits angeworben, bevor er Sie geheiratet hat. Die Im- und Exportgeschäfte Ihres Mannes waren eine perfekte Tarnung für Geheimdienstoperationen. Hawaii ist für Japan von großer Wichtigkeit, und die japanische Gemeinde hat den nötigen Einfluss, um für diese Interessen das geeignete Werkzeug zu sein. Japan konnte es sich gar nicht leisten, Kazuo NICHT zu rekrutieren. Die Geschäfte ihres Mannes dienten der Geldwäsche, der Bezahlung und der Unterstützung von verdeckten Operationen.“
„Das kann nicht sein!“
„Aber es ist so. Leugnen hilft da nicht.“ Merkwürdigerweise klang Shimadas Stimme fast bedauernd.
„Lügen! Lügen! Wo sind die Beweise?! Ich habe die Papiere meines Mannes gelesen. Ich habe nichts gefunden, was zu ihren Behauptungen passt. Erwarten Sie etwa, dass ich IHNEN einfach so glaube?!“
Shimada schüttelte den Kopf: „Sie haben seine…offiziellen Papiere gelesen. Er war natürlich nicht so dumm, dieses Material unter seine normalen Geschäftsunterlagen zu mischen.“
„Und wo sind die Beweise?!“
„Was meinen Sie, warum ich hier bin? Vor allem, warum ich unbedingt in das Arbeitszimmer Ihres Mannes wollte?“ Jetzt begriff sie, was Shimada mit den Worten gemeint hatte, sie sollte eigentlich gar nicht hier sein. Er war davon ausgegangen, das Arbeitszimmer ungestört untersuchen zu können. Oder?
„Und warum sind Sie dann persönlich eingebrochen? Sie haben ja wohl genug Verbrecher unter Ihrem Kommando! Und für den Geheimdienst gilt dasselbe!“
Hiroshi Shimada, der bereits begonnen hatte, die Wände des Zimmers zu untersuchen, hielt inne: „Dafür gab es mehrere Gründe. Gewisse Aspekte meiner…Loyalität sind nun wirklich nichts, was bei den ‚Verbrechern unter meinem Kommando’ Allgemeingut werden sollte. Diesen Aspekt meiner Verbindung zu Kazuo geheim zu halten ist übrigens nicht nur in meinem Interesse und dem Japans. Sondern auch in Ihrem.“
Die Betonung, dass zwischen ihr und Shimada eine Interessenübereinstimmung bestand, reichte aus, um Shoeans Wut wieder auflodern zu lassen: „Ich pfeife auf das Interesse des Geheimdienstes!“
„Das ist nicht besonders klug. Es besteht schon eine ziemliche Verärgerung darüber, dass Sie Kazuos Waffendeal mit mir offen gelegt haben. Das könnte Interessen an den Geschäften ihres Mannes wecken. In Zukunft sollten Sie auf solche Enthüllungen besser verzichten.“
„Was sonst?! Was wollen Sie dann tun?! Steckt DAS hinter Ihren Behauptungen, Sie würden mir nichts tun?!“

Jetzt zeigte Shimada Nerven. Seine Stimme klang gepresst: „Es geht hier nicht um mich. Es geht um SIE und um ihren Sohn. Nein, von mir haben Sie nichts zu befürchten, auch wenn Sie mir das nicht glauben. Aber dem japanischen Geheimdienst kann ich nicht befehlen. Und ich kann Sie nicht beschützen, wenn Sie sich den Geheimdienst zum Feind machen.“
„Ich brauche Sie nicht! Schutz?! Meinen Sie denselben Schutz, den Sie meinem Mann gewährt haben?!“
„Ich sagte doch, ich habe Ihn nicht getötet!“
Ein paar Augenblicke sagte keiner der beiden etwas. Schweigend erwiderte Shoean den Blick des Gewerkschaftsführers. Keiner wollte als Erster nachgeben. Aber es war Shoean, die zuerst das Schweigen brach: „Sind Sie auch deswegen hier eingebrochen? Um mir Ihren ‚Schutz’ anzubieten?!“
In Hiroshi Shimadas Gesicht zuckte es. Dann, fast als wollte er etwas verbergen, wandte er sein Gesicht ab. Shoeans Nerven waren so angespannt, dass sie beinahe über die Absurdität der Lage gelacht hätte. Hiroshi Shimada war ein Verbrecher auf der Flucht. Er hatte in der Schlacht um Pearl City gekämpft. Er war in ihr Haus eingebrochen, und noch vor wenigen Minuten hatte Sie geglaubt, er hätte dies in der Absicht getan, sie zu töten oder zu vergewaltigen.
Aber jetzt wandte er sein Gesicht ab. Nicht, dass sie sich deswegen wesentlich sicherer fühlte.
„Hier sind die Papiere nicht.“
„Was für ein Pech für Sie.“
„Gibt es noch andere Räume, in denen er sich häufig alleine aufgehalten hat?“
„Sein Schlafzimmer…“ Sie hielt inne. Um Shimadas Lippen zuckte es. Sie funkelte ihn wütend an, rechnete halb mit einer Bemerkung über getrennte Schlafzimmer. Aber Shimadas Stimme blieb sachlich: „Wo ist das Schlafzimmer?“
Sie antwortete automatisch: „Den Gang hinunter, die zweite Tür…“
„Gehen wir. Und seien Sie leise. Glauben Sie mir, es ist das Beste, wenn Niemand sonst aufwacht.“ Trotz ihrer Wut wusste Shoean, dass Shimada auf eine gewisse Art und Weise Recht hatte. Ging es ihm wirklich nur um die Dokumente, dann war es das Beste, wenn er bekam, was er wollte, und wieder in der Nacht verschwand. Wenn es stimmte, was er behauptete, dann war Shimada nicht einmal die größte Gefahr für Shoean. Oder ihren Sohn. Der japanische Geheimdienst und vor allem seine Mordkommandos hatten einen Ruf, der Entsetzen und Furcht einflößte. Und das zu Recht. Wenn der Geheimdienst zu der Ansicht kam, dass Shoean eine Gefahr für Japans Interessen darstellte, dann wäre die Stunde ihres Todes nahe. Und ob Shimada nun log oder nicht – momentan gab es im ganzen Haus nur noch einen einzigen anderen Bewaffneten. Und nach Shoeans Meinung hatte der Polizeisergeant gegen Shimada keine Chance. Außerdem befand sich der Gewerkschaftsführer keinen halben Schritt hinter ihr. Sie hatte erlebt, wie schnell er sich bewegen konnte.
Doch als Shimada sie in das dunkle Zimmer schob, und sie hinter sich das leise Klicken des Schlüssels hörte, der im Schloss herumgedreht wurde, da erwachte in ihr erneut ein fürchterlicher Verdacht. Vor allem, wenn sie sich daran erinnerte, wie Shimada sie manchmal ansah. War das am Ende nur sein grausames Spiel, das er mit ihr spielte? Sie traute es Shimada zu. Würde er sie nun…
Aber als das Licht angeschaltet wurde, stellte sie erleichtert fest, dass Shimada sie gar nicht ansah, sondern die Wände des Raums zu mustern schien. Ihr Blick glitt zu dem Telefon, dass ihr Mann vor einiger Zeit auch in seinem Schlafzimmer hatte installieren lassen. Sie hatte ihn deswegen damals geneckt.
„Das können Sie sich sparen. Wir waren so frei, ein paar Drähte zu kappen.“ Sie warf Shimada einen wütenden Blick zu, der völlig ignoriert wurde. Das hätte sie sich denken können: „Und ich nehme an, ein paar Ihrer Kumpane haben sich im Garten versteckt?!“
„Nicht direkt im Garten. Aber ja, ein oder zwei meiner Jungs haben die Außensicherung übernommen. Ah. Hier ist es.“ Shoeans bissige Entgegnung blieb ihr in der Kehle stecken, als sie sah, wie Shimada eine japanische Seidenzeichnung von der Wand nahm und die dahinter liegende Tapete so leicht wie ein Papierblatt beiseite geschoben werden konnte. Zum Vorschein kam ein massiver Wandsafe mit Zahlenschloss. Shoeans Mann hatte diesen Safe ihr gegenüber niemals erwähnt.
Shimada drehte an dem Kombinationsschloss, doch die ersten beiden Öffnungsversuche schlugen offenbar fehl. Er runzelte kurz die Stirn: „Der Geburtstag Ihres Sohnes?“
„Warum sollte ich Ihnen das sagen?“
Shimada drehte sich kurz um, und sah sie ein paar Augenblicke an: „Sie wollen es auch wissen. Und ich werde hier nicht ohne die Dokumente verschwinden. Dazu sind sie zu wichtig.“ Seine Stimme war weder laut, noch drohend. Aber er hatte Recht, und die kalte Entschlossenheit in seinen Worten tat ein Übriges.
Sie sagte ihm, was er wissen wollte.
Das war die Lösung. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Shimadas Lippen, als die Safetür lautlos aufschwang. Er griff nach den Dokumenten, die im Inneren des Safes ruhten, drehte sich um, und hielt Shoean einen Aktenordner hin. Sie streckte die Hand aus. Und zögerte: „Wenn ich das lese, was bedeutet das für die Zukunft?“ Und verfluchte sich selber im Stillen, weil sie damit Shimada zugestand, dass er die Wahrheit gesagt haben mochte. Und das noch, bevor sie die Dokumente gelesen hatte.
Shimada hätte wohl beinahe wieder gelächelt: „Natürlich will der Geheimdienst, dass die Geschäfte weitergehen. Und da Sie zum Nachlassverwalter bestimmt wurden…“
„Sie wollen mich ANWERBEN?!“ Ob dieser Unverfrorenheit wurde Shoeans Stimme kurz lauter.
Shimada schüttelte kurz den Kopf: „Nicht ich. Der Geheimdienst will es.“
„Halten Sie mich nicht für dumm! NIEMALS hätte der japanische Geheimdienst ausgerechnet SIE für diesen Auftrag bestimmt!“
„Nein. Da haben Sie Recht. Tatsächlich…habe ich keinen direkten Auftrag, diese Papiere zu besorgen.“
Sie verzog abfällig den Mund: „Soviel zu ihrer Loyalität und Treue!“
„Der Geheimdienst spielt sein eigenes Spiel. Und ich will nicht nur eine Schachfigur sein.“
Erst jetzt begann Shoean das ganze Ausmaß des Schattenspiels zu begreifen, welches Shimada andeutete. Er behauptete, für den japanischen Geheimdienst zu arbeiten. Und das gleiche sagte er von ihrem Mann. Aber gleichzeitig traute er dem Geheimdienst nicht völlig, und hoffte vermutlich, mit Hilfe der Dokumente seine eigene Position und Chancen abschätzen und vielleicht verbessern zu können. Und indem er sie ‚anwarb’ wollte er vielleicht zusätzlich seine Nützlichkeit beweisen. Falls die Dokumente überhaupt das beinhalteten, was er behauptete: „Geben Sie schon her.“
Jetzt war es Shimada, der zögerte: „Wenn Sie das lesen…Dann können Sie vielleicht nicht mehr zurück.“
Ihre Augen funkelten verachtungsvoll: „Es ist zu spät, mir hier Gewissenbisse vorzuspielen. Viel zu spät! Sie hätten niemals dieses Haus betreten dürfen! Geben Sie her. Ich will endlich die WAHRHEIT wissen!“

Die nächsten anderthalb Stunden stießen einmal mehr um, was Shoean Kazuo für die Wahrheit gehalten hatte. Shimada blieb die meiste Zeit stumm, und dafür war sie ihm fast dankbar. Vor ihren übermüdeten, fassungslosen Augen entrollte sich ein regelrechtes Netzwerk von Geschäften, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte. Sie fühlte sich verraten.

Auf eine gewisse Art und Weise waren die Geschäfte und Transaktionen, an denen ihr Mann beteiligt gewesen war, nicht weniger düster und fragwürdig, wie Menschen- oder Drogenhandel. Wenn das herausgekommen wäre, wäre Fumio Kazuo eine langjährige Haftstrafe sicher gewesen. Und in anderen Ländern hätte man ihn wahrscheinlich hingerichtet.
Es ging nicht nur um Geld, Informationen und Material für japanische Agenten. Umfangreiche Lieferungen waren offenbar auch über das Unternehmen ihres Manns an projapanische oder antiwestliche Organisationen, Parteien, Zeitungen und sogar Aufständische geflossen. Allein die Lieferungen die in die Philippinen gegangen waren schienen ausreichend, einen Putsch zu beginnen. Auch Shimadas Gewerkschaften hatten mehrmals Waffen und Geld erhalten. Daher kannte ihr Mann also den Gewerkschaftschef. Über die Firma ihres Mannes waren sogar Schiffe und Flugzeuge für verdeckte Operationen beschafft worden. Zwar war Fumio Kazuo oft nur am Rande beteiligt gewesen – aber in den zwölf Jahren seiner ‚Kooperation’ waren immense Summen durch seine Hände gegangen, die er im Auftrag des japanischen Geheimdienstes umgeleitet, weitergegeben oder investiert hatte. Und sie hatte das alles nicht gewusst. Diese Seite ihres Mannes war ihr bis zum heutigen Tage verborgen geblieben. Und ausgerechnet Shimada hatte ihr die Augen geöffnet. Ausgerechnet Shimada…

Kurz schloss sie die Augen. Das Gefühl der Verlorenheit, des Verrats und der Fassungslosigkeit war fast überwältigend. Aber sie durfte keine Schwäche zeigen. Nicht vor Shimada.
„Wer hat meinen Mann getötet?“ Ihre Stimme klang rau, erstickt. Es fiel ihr schwer, es zuzugeben. Aber Hiroshi Shimada hatte offenbar die Wahrheit gesagt, als er über die Agententätigkeit ihres Mannes gesprochen hatte.
Shimadas Stimme klang müde: „Das weiß ich nicht. Es gibt verdammt noch mal zu viele Möglichkeiten. Wenn der MI6 ihm auf die Spur gekommen ist, oder jemand aus den Kreisen, die eine Besetzung der Insel befürworten, hätte das für ein Attentat ausreichen können. Schon wegen der Waffenlieferungen…“ Er stockte, räusperte sich, und fuhr fort: „Hawaiis Abwehrdienst…Nein. Ich glaube nicht, dass die ihm auf die Schliche gekommen sind. Außerdem fehlt Mizunami die nötige Rücksichtslosigkeit. Ich meine, der Mann könnte sicherlich einen Mord befehlen. Aber die Konsequenzen, wenn ausgerechnet DIESER Mordbefehl heraus käme, wären zu riskant für ihn und für den König.“ Wieder zögerte er, und wählte seine nächsten Worte vorsichtig, behutsam, wie die Schritte eines Mannes, der sich durch ein nebelverhangenes Moor tastete. Seine Augen blieben auf Shoeans Gesicht gerichtet: „Und auch wenn seine Tätigkeit für den Geheimdienst nicht der Grund war, gibt es immer noch genug Kandidaten. Konkurrenten, die eine günstige Gelegenheit nutzen wollten...“
„Jetzt erzählen Sie Unsinn! Das glauben Sie vielleicht als ehemaliger Kommunist. Aber in Geschäftskreisen bringt man sich doch nicht gegenseitig um!“
Shimada sah sie nur direkt an. Aber er sparte sich eine Antwort. Die nächsten Worte kamen nur unwillig: „Und natürlich besteht die Möglichkeit, dass man ihn wegen seinen Verbindungen mit der Gewerkschaft getötet hat. Die Waffenlieferungen können aufgeflogen sein, und manche Männer müssen nicht einmal für einen Sieg der ANZAC gewesen sein, um darin ein todeswürdiges Verbrechen zu sehen.“ Shimada nannte keine Namen, aber sie wusste, dass er Recht hatte.
„Und es ist auch möglich, dass der Tod Ihres Mannes nur ein…Mittel zum Zweck war. Um die japanische Gesellschaft einzuschüchtern oder aufzubringen. Oder um den König dazu zu veranlassen, gegen die Gewerkschaften vorzugehen.“
„Und damit wären wir wieder bei Ihnen, Shimada! Das ist es doch – mein Mann ist vielleicht nur deswegen tot, weil er mit IHNEN zu tun hatte. Oder weil jemand SIE aus dem Weg wollte. Was war Fumio? Nur das einfachere Ziel?!“ Shimada wollte etwas erwidern, aber Shoean ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie versuchte auch, die Stimmen zum Verstummen zu bringen, die in ihrem Kopf miteinander stritten. Das gelang ihr allerdings nicht: „Oder gab es einen ganz anderen Grund für den Mord? In den letzten Tagen war Fumio nicht mehr derselbe. Ihr verfluchtes Schattenspiel muss ihn innerlich aufgefressen haben. Was ist, wenn er aussteigen wollte?! Wenn er genug hatte?! Was hätte der Geheimdienst dann mit ihm gemacht?!“
Shimada schüttelte den Kopf. Aber die Geste wirkte irgendwie…halbherzig: „Davon, dass er abspringen wollte, hat er nichts gesagt. Außerdem, selbst wenn, der japanische Geheimdienst hätte doch nicht ausgerechnet mir diesen Mord in die Schuhe geschoben. Das ergäbe keinen Sinn.“
„Das sagen Sie! Aber warum soll ich Ihnen vertrauen?“
„Weil ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe!“
„Wie mutig, wie ehrlich von Ihnen! Was kann ich schon tun, wenn sie mir Ihre Wahrheit erzählen?! Sie bedrohen meinen Mann, meinen Sohn! Sie können es sich erlauben, mir das aufzutischen, was Sie für die Wahrheit deklarieren! Sie haben die Waffe in der Hand!“
Eine jähe Bewegung Shimadas ließ sie innehalten. Im nächsten Augenblick hatte er die Pistole in der Hand, die bisher in seiner Jackentasche gesteckt hatte. Aber er richtete den Lauf nicht auf sie. Stattdessen ließ er den Munitionsclip aus der Waffe gleiten, und zeigte ihn Shoean. Der Patronenstreifen war voll. Mit schnellen, geübten Bewegungen lud er die Waffe wieder, entsicherte sie, und legte die Waffe auf den Schlafzimmertisch. Trat ein, zwei Schritte zurück. All das war so schnell geschehen, dass sie gar nicht hatte reagieren können, und bei seinen nächsten Worten zuckte sie beinahe wieder zusammen. Seine Stimme klang ausdruckslos: „Also gut. Nehmen Sie die Pistole. Sie sehen doch, sie ist geladen, und sie ist entsichert.“
Dann hielt sie die Waffe tatsächlich in der Hand. Immer noch schien Shimadas Stimme bar jeder Emotion: „Jetzt haben Sie die Waffe. Nun, wenn Sie wirklich glauben, dass ich die Schuld trage am Tod ihres Mannes…drücken Sie ab.“ Seine Augen blieben unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet, als würde er dort etwas suchen.
Shoean konnte sich nicht rühren. Was sollte sie tun? Was wollte er beweisen? „Sind Sie wahnsinnig?“
Er gab keine Antwort. Kurz schien in seinem Gesicht ein Muskel zu zucken, aber ansonsten blieb er völlig reglos. Sollte sie ihn erschießen? Konnte Sie das überhaupt...:„Und was wird der Geheimdienst tun, wenn ich Sie erschieße? Vertrauen Sie auf diesen Schutz?“
Hiroshi Shimada zuckte mit den Schultern. Die bemüht ausdruckslose Stimme schien kurz zu zittern. Welche Gefühle schwangen darin mit? Furcht? Zynismus? Oder noch etwas ganz anderes? „So wichtig bin ich dem Geheimdienst nicht. Wenn Sie mich töten…Wird Ihnen gar nichts geschehen. Solange die Geschäfte Ihres Mannes weiterlaufen, ist mein Tod ein nur unbedeutendes Ärgernis. Ein Toter kann keine Geheimnisse mehr verraten“ Ein verzerrtes, freudloses Lächeln spielte um Shimadas Lippen: „Und im Augenblick hätte ich doch wohl keinen Grund, sie ausgerechnet in diesem Punkt zu belügen.“
Sie antwortete nicht. Schweigend standen sie sich gegenüber, der Mann neben dem Fenster, hoch aufgerichtet, mit zusammengepressten Lippen und verschränkten Armen. Er schloss die Augen nicht, sein Blick blieb fest und unverwandt auf das Gesicht der jungen Frau vor ihm gerichtet. Sie hielt weiter die Waffe auf ihn gerichtet. Aber sie zitterte so sehr, dass sie die Pistole mit beiden Händen halten musste. Die Waffe schien von Sekunde zu Sekunde schwerer zu werden. Die Gefühle, Gedanken und Emotionen, die in ihrem Herzen miteinander rangen, konnte sie nicht einmal selber deuten. Nur eines wusste sie mit absoluter Sicherheit. Wenn Sie schießen wollte, dann musste sie es jetzt tun. Sofort.

Der leise Klang, als Shoean die Waffe wieder auf den Tisch legte, erschien in dem Raum unnatürlich laut. Wie auch ihre Stimme, auch wenn es fast nur ein Flüstern war: „Warum haben Sie das getan?“
„Weil ich Ihnen etwas beweisen wollte. Und weil ich…weil ich etwas wissen musste.“
Sie glaubte zu begreifen, was Shimada meinte. Er hatte ihr beweisen wollen, dass er letztendlich bereit war, sein Leben in ihre Hände zu legen. Dass er sich ihrem…Urteil unterwarf. Aber warum?
Und er hatte wissen wollen, ob sie ihn für schuldig hielt. Ob sie fähig war, ihn zu töten. Er hatte es so sehr wissen wollen, dass er bereit war, dafür sein Leben zu riskieren. Aber warum er willens gewesen war, dieses Risiko einzugehen, das wusste sie nicht. Oder? Nein, das bildete sie sich nur ein. Das wäre wirklich verrückt gewesen.
„Das war das letzte Mal, dass Sie unangekündigt hier auftauchen, verstanden?!“
„Das kann ich nicht versprechen. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich Ihnen niemals etwas tun werde. Oder Ihrem Sohn. Das wollte ich nie. Und ich werde auch nicht zulassen, dass jemand anderes es tut.“
„Sie meinen, außer dem japanischen Geheimdienst?“
„Ich meine NIEMAND.“ Und paradoxerweise schien er diese Worte ernst zu meinen. Die Antwort, die ihr auf den Lippen lag, blieb unausgesprochen: „Ich will die Mörder meines Mannes.“
Shimada verzog den Mund: „Das ist nicht so einfach. Es gibt zu viele Männer und Dienste, die diesen Mord befohlen haben können. Die Täter waren vermutlich Profis. Und Profis sind schwer aufzuspüren, hinterlassen kaum Spuren. Wahrscheinlich haben sie Hawai’i längst verlassen. Vielleicht sind sie schon längst in Übersee. Und die Polizei…“
Shoeans Stimme klang abfällig: „Ich gebe nicht viel auf Mizunamis Blauröcke. Und im Gegensatz zur Polizei sind Sie und ihre Freunde ja bestens vertraut mit den Schattenkanälen von Hawaii. Ich will schließlich nicht, dass Sie persönlich auf die Jagd gehen. Aber Sie haben doch wohl genug Spitzel und Zuträger, um ein paar Totschläger aufzuspüren. Und wenn nicht Sie, dann gibt es ja immer noch den Geheimdienst.“
„Das waren nicht nur Totschläger. Und ich kann wohl kaum japanischen Agenten befehlen, was sie zu tun haben. So weit reicht meine Macht auch nicht.“
„Oh, die Agenten werden Ihnen schon helfen. Wenn Sie ihnen den richtigen Grund liefern.“
Shimada grinste kurz, und ausnahmsweise war es ein offenes Lächeln, dass sogar seine Augen berührte: „Sie haben das Herz eines Samurai. Sie wollen…“
„Habe ich eine andere Wahl? Ja, sie können dem Geheimdienst mitteilen, dass ich ja sage. Aber nur zu meinen eigenen Bedingungen. Und nicht umsonst. Wie gesagt, ich will die Mörder. Lebend. Keiner soll auf die Idee kommen, ein paar Leichen abzuliefern, mit irgendeiner passenden Geschichte.“
„Sie verlangen viel.“
„Das war erst der Anfang. Außerdem schulden Sie und der Geheimdienst mir das. Und Sie schulden es meinem Mann.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann. Was wollen Sie noch?“
„Wenn ich mich bereit erkläre, für den Geheimdienst weiter Geld und Waffen zu verschieben, dann gilt das nur für mich. Nicht für meinen Sohn. Sie werden ihn in Ruhe lassen. Der Geheimdienst wird ihn in Ruhe lassen. Sie haben meinen Mann in ihre Klauen bekommen. Und mir bleibt wohl auch nichts anderes übrig. Aber niemals Tarro. Sagen Sie das Ihren Herren.“
Bei dieser Bezeichnung verzog Shimada die Lippen. Er hatte auch seinen Stolz. Ganz bestimmt sah er sich nicht als bloßen ‚Diener’ des japanischen Geheimdienstes. Seine Stimme klang brüsk: „Ich habe mein Wort gegeben. Und ich werde Ihre Bedingungen weitergeben. Im Übrigen…“, etwas von seinem alten Sarkasmus kehrte zurück, „…bis Ihr Sohn alt genug ist, die Geschäfte zu übernehmen, ist Hawaii entweder längst in der Hand Japans. Oder der nächste Große Krieg hat begonnen. Und ich bin dann wahrscheinlich tot.“ Letzteres klang eher wie eine nüchterne Feststellung.
„Wir werden sehen.“ Insgeheim fürchtete Shoean, dass Shimada zumindest mit seiner ersten Prognose Recht behalten würde. Und was seine letzte Voraussage betraf… Das war keine bloße Pose gewesen, mit der er sie hatte beeindrucken wollen. Aber diese Aussicht bereitete ihr irgendwie kein Vergnügen. Sie verdrängte den seltsamen Gedanken: „Und nun zum letzten Punkt. Da Sie sich schon so gut mit den Geschäften meines Mannes auskennen und andauernd hier auftauchen…schlage ich vor, dass Sie mit mir zusammenarbeiten.“
„Was?“ Das traf Shimada offenbar unerwartet. Shoean empfand eine gewisse Befriedigung in der Tatsache, auch einmal Shimada überraschen zu können: „Ich verlange nicht, dass Sie die Mitglieder ihrer Gewerkschaft für einen Hungerlohn für mich arbeiten lassen. Aber ich will Probleme ohne Streiks oder dergleichen lösen. Außerdem…“, Sie lächelte freudlos, „…können ihre Leute mir helfen, die Übersicht zu behalten. Ich will wissen, wenn irgendjemand in die eigene Tasche wirtschaftet oder mit der Konkurrenz anbandelt.“
„Da lässt sich sicherlich einiges tun…“
„Und außerdem können Ihre Leute mich über die Konkurrenz informieren. Ich weiß, dass sie keine Leute in den Führungsetagen haben…“
„Abgesehen von einigen Briefträgern, Putzfrauen und ein oder zwei Sekretärinnen und Schreibern.“ konterte Shimada trocken, aber auch amüsiert.
„Um so besser. Mein Mann hat mir seine Geschäfte anvertraut. MIR. Ich werde sein Vertrauen nicht enttäuschen. Und wenn ich schon für den Geheimdienst arbeiten muss, dann will ich mir wenigstens einbilden können, dass ich etwas davon habe.“
„Und was ist mit Loyalität?“
„Der Geheimdienst, die Streitkräfte, das Kaiserhaus – für sie ist Hawaii doch nur eine Beute, ein Vorposten. Menschen zählen nichts. ‚Das Leben wiegt leicht wie eine Feder’ – war es nicht so? Ich glaube nicht, dass Fumio Kazuo ein Hawaii unter japanischer Herrschaft wollte. Das war nicht sein Traum. Und ganz gewiss ist es nicht meiner. Ich glaube nicht einmal, dass das Ihr Traum ist.“
In Hiroshi Shimadas Gesicht arbeitete es. Seine Stimme klang rau: „Meine Träume…Mein Traum ist...“ Dann brach er jäh ab, und wandte den Kopf zur Seite. Allerdings nicht schnell genug. Shoean Kazuo fühlte, wie sie knallrot wurde. Das war doch nicht möglich!

Im nächsten Augenblick schnitt ein gellender Pfiff durch ihre Gedanken, gefolgt von zwei, drei peitschenden Schüssen. Mit einem unterdrückten Fluch war Shimada sofort am Fenster: „Muss eine Patrouille…Verdammte Idioten!“ Mit zwei Schritten war er bei der Tischlampe, löschte sie, hastete wieder zum Fenster, stieß es auf.
All das war so schnell passiert, dass Shoean keine Zeit fand, zu reagieren. Außerdem waren ihre Gedanken immer mit dem beschäftigt, was sie in Shimadas Gesicht gelesen hatte. Das war etwas völlig anderes als…: „Shimada!“
Aber der Gewerkschaftsführer hielt nicht inne, schien fast erleichtert, jetzt verschwinden zu müssen. Noch während er das letzte der Dokumente unter seine Jacke stopfte, war er schon halb aus dem Fenster. Seine Stimme klang hastig: „Ich werde Ihre Bedingungen weitergeben. Ich werde mein Wort halten. Ich werde es halten. Ich…“ Er zögerte. Aber anstatt das zu sagen, was ihm offenbar auf der Zunge brannte, ließ er sich einfach aus dem Fenster gleiten. Als Shoean das Fenster erreichte, war Hiroshi Shimada einmal mehr in der Nacht untergetaucht. Spurlos. Dennoch blieb sie noch eine lange Zeit am Fenster stehen, und starrte in die Dunkelheit. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, weshalb.

*****

Hiroshi Shimada duckte sich in eine Seitengasse und lauschte angespannt. Nein, niemand verfolgte ihn. Offenbar war eine Jeep-Patrouille der Polizei auf einen seiner Wachposten gestoßen, und eine der beiden Seiten hatte überreagiert. Wie auch immer, er musste verschwinden, bevor noch mehr Greifer auftauchten. Zwar schien die Polizei ihn eher halbherzig zu verfolgen. Aber nachdem er im Vertrauen auf freies Geleit beinahe in ein Feuergefecht geraten war, war Shimada noch weniger als ohnehin bereit, auch nur einen Funken von Vertrauen in Mizunami, die Polizei, oder den König zu setzen.

Das alles war anders verlaufen, als er es geplant hatte. Ob besser oder schlechter, das blieb noch abzuwarten. Er gestand es sich selber nur ungern ein, aber er war überrascht worden. Und er hatte mehr preisgegeben, als er wollte.
Aber er würde zu seinem Wort stehen. Egal was es kosten mochte. Er musste. Und dann…
‚Idiot.’ Er sollte inzwischen eigentlich gelernt haben, sich nicht mehr selber zu belügen oder Illusionen zu machen. Das war genauso gefährlich, wie zu große Selbstsicherheit. Dennoch…
Zumindest in einer Hinsicht machte er sich keine Illusionen. Die Mörder von Fumio Kazuo aufzuspüren würde schwierig, vielleicht sogar unmöglich sein. Und selbst wenn es gelang, die Hintermänner würden wahrscheinlich unentdeckt bleiben. Entweder die Attentäter wussten nicht, wer ihnen den Auftrag gegeben hatte, oder – wenn sie Agenten oder dergleichen gewesen waren – sie würden dichthalten, oder hatten bereits das Land verlassen. Aber schon, um sich selber zu rehabilitieren, würde er tun, was immer möglich, um die Mörder zu finden. Um sich vor allem vor Shoean zu rehabilitieren. Wenn er dem Geheimdienst ihr Ultimatum unterbreitete, auf die richtige Art und Weise, würde dieser sich vielleicht tatsächlich aktiv an der Suche beteiligen. Und wenn ihm das gelang…
‚Dummkopf.’ Er fing schon wieder an. Dabei hätten die Ereignisse der letzten Zeit ihn wenigstens ein bisschen weiser machen müssen.

Makiko war fort. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, wollte das auch gar nicht. Wenn er etwas verstand, dann ihren Wunsch, irgendwo neu anzufangen. Ohne dabei irgendjemandem zu Dank verpflichtet zu sein. Und dass er in ihr etwas zu sehen geglaubt hatte, was sie nicht war, was sie ihm niemals versprochen oder vorgespielt hatte, war einzig und alleine seine Schuld. Und jetzt sah es so aus, als würde er denselben Fehler noch einmal machen.
Oder vielleicht doch nicht? Gab es Hoffnung? Für ihn, und für…
Erst einmal musste er wieder untertauchen. Solange er zur Fahndung ausgeschrieben war, war er noch mehr zum Abschuss freigegeben, als sonst. Ihn jetzt zu töten würde zumindest in der Öffentlichkeit weniger Aufsehen erregen, war fast schon legal. Und er konnte natürlich auch nicht die Möglichkeit ausschließen, dass einige seiner Untergebenen diese Chance nutzen wollten, relativ gefahrlos an seine Stelle zu treten. Diese Möglichkeit bestand. DARUM sollte er sich Sorgen machen, nicht darum, was die Witwe eines Geschäftmanns und Halbagenten von ihm hielt. Das Leben war keine Seifenoper. Und dennoch…
29.08.2020 06:27 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Tokio, Oberkommando der Kaiserlichen Marine

„…und das ist der Stand der Dinge. Wir haben Verluste erlitten, aber verglichen mit dem erzielten Resultat sind sie unbedeutend. Alle eingesetzten Luftschiffe und Marineeinheiten werden zurückkehren. I-3 ist schwer, aber reparabel beschädigt. Die Verluste unserer Marinestaffeln lagen unter dem Erwarteten. Vizeadmiral Kodas Kampfgruppe hatte weder Gefechtsberührung noch Sichtkontakt mit dem Gegner.“
„Und was haben wir gewonnen?“ Admiral Yamamotos Stimme war ausdruckslos. Niemand bemerkte seine Erleichterung. Mit der Entsendung des Feuerkopfs Koda war er ein Risiko eingegangen. Das Risiko eines bewaffneten Konfliktes, der sich zu einem Krieg ausweiten könnte, zu dem Japan noch nicht bereit war. Jedenfalls nicht ohne entsprechende Vorbereitung.
„Unsere Kampfflieger haben sich exzellent bewährt. Sie fügten dem Feind hohe Verluste zu. Sollte das Commonwealth Zweifel daran gehegt haben, dass unsere Piloten den ihren mehr als gewachsen sind, so dürften diese ausgeräumt sein. Unsere Agenten melden zudem, dass I-3 eine feindliche Fregatte, die NORFOLK, versenkt hat.“
Yamamoto lächelte knapp: „Das ist gut zu hören, aber Sie wissen doch, dass solche unbedeutenden Verluste schnell ersetzt werden. Was ist mit I-5? Zumindest unser Geheimdienst misst dieser Operation mehr Bedeutung zu, als der Vernichtung einer veralteten Fregatte.“
„I-5 ist auf dem Rückmarsch. Durch Kurzsignal wurden wir über das Gelingen der Operation informiert. Ansonsten hält das Boot wie befohlen strikte Funkstille.“
„Ausgezeichnet. Nun, das wird auch unsere Verbündeten freuen. Zumindest dieses Ziel hat die Operation erfüllt.“
Admiral Nagumo schaltete sich ein. Seine Stimme klang ungehalten: „Da Sie schon unsere ‚Verbündeten’ erwähnen…Wann, meinen Sie, hätten die es für angebracht gehalten, uns darüber zu informieren, dass es diese verdammten texanischen Kaperer waren, die unseren Stützpunkt auf den Aleuten angegriffen haben? Zumal sie einen Agenten in der Mannschaft hatten!“
Admiral Yamamoto nahm den Vorwurf durchaus ernst: „Vermutlich wäre es ihnen durchaus nicht unrecht gewesen, wenn wir gegenüber Russland zu einer härteren Politik übergegangen wären. Außerdem…sie wussten vermutlich sehr genau, wie wir auf eine derartige Information reagiert hätten. Hätten wir die Information vor dem Angriff erhalten, dann hätten wir Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Hätten wir sie nach dem Überfall erhalten, dann wäre ein Vergeltungsschlag mehr als wahrscheinlich gewesen. Und all das hätte diesen deutschen Agenten gefährdet. Berlin misst dem Mann und seiner Aufgabe offenbar eine hohe Bedeutung bei.“
„Hoffentlich nicht mehr! Denn wenn die Deutschen glauben, dass wir weiterhin stillhalten, dann haben sie sich geirrt!“
„Im gewissen Sinne können wir Ishida dankbar sein. Es wäre sehr unklug gewesen, sofort gegen die NORTH STAR loszuschlagen. Das hätte sowohl auf Hawaii wie auch weltweit ein denkbar ungünstiges Signal gesetzt. Wir können es uns erlauben, kurzzeitig Gnade vor Gerechtigkeit ergehen zu lassen.“
„Wollen Sie wirklich, dass irgendwelche Piraten glauben, der japanischen Marine auf der Nase herumtanzen zu können?!“
„Natürlich nicht. Ich sagte kurzzeitig. Diese…Schonzeit endet früh genug. Entsprechende Anweisungen werden umgehend an sämtliche Militäreinheiten gehen. Und an unsere Verbündeten. Von nun an gilt dieses Zeppelin als vogelfrei. Hawaii und selbst die Deutschen, die an ihren Agenten denken müssen, können wohl kaum etwas dagegen sagen. Vor allem, wenn wir inzwischen durchsickern lassen, welches Doppelspiel die Mannschaft der NORTH STAR glaubte spielen zu können. Die Weltöffentlichkeit und die Medien werden die Helden der Stunde schnell vergessen. Russland wird so eventuell etwas…beruhigt.
Ein paar Wochen, und es interessiert keinen mehr, welches Schicksal die Piraten erleiden. Sie kennen die westliche Presse. Sie ist oberflächlich und hat ein allzu kurzes Gedächtnis. Gleichzeitig kommen wir den Deutschen doch ein Stück entgegen. Wir setzen noch nicht den Geheimdienst auf die NORTH STAR an. Wir setzen kein Kopfgeld auf die Offiziere aus. Noch nicht. Das sollte ihrem Agenten genügend Zeit geben, sich abzusetzen.“
„Sie kommen den Deutschen ziemlich weit entgegen.“
„Nun, dass sind sie uns ja auch an anderer Stelle. Außerdem dürften sie ihren Agenten ohnehin bald abziehen. Wir haben das, was sie wollten – den Nitrobooster. In ein paar Tagen können die Deutschen zusammen mit unseren Experten an die Auswertung der technischen Einzelheiten gehen. Und ich glaube nicht, dass das Deutsche Reich dann noch einen Agenten auf einem Renegattenzeppelin braucht.“
„Und was halten Sie von dieser Wetterfahnen-Diplomatie der Texaner? Zuerst versuchen ihre Kaperer, auf jeden Fall wohl auf höheren Befehl, uns in einen Krieg zu verwickeln, und im nächsten Augenblick bietet sich Texas an wie eine alternde geisha.“ Solche farbigen Vergleiche waren normalerweise nicht Nagumos Art. Aber er war wohl immer noch verärgert.
„Sie haben das Gefühl, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Ich glaube, diese widersprüchliche Politik ist Zeichen für Differenzen innerhalb der politischen und militärischen Führungsclique Texas. Oder aber, sie haben ganz einfach Angst vor der eigenen Courage bekommen.“
„Und wir lassen ihnen das durchgehen.“ Das war keine Frage. Admiral Yamamoto nickte knapp: „Wir haben keine andere Wahl. Auch wenn mir das nicht gefällt. Den Samurai zu töten, aber den Daimyo zu verschonen, ist weder befriedigend, noch besonders ehrenvoll. Für keine Seite. Aber was weiß Texas schon von Ehre. Und wir haben zuallererst der Pflicht zu folgen. Texas als Verbündeter ist viel wert. Ganz abgesehen von dem politischen Prestigegewinn für uns, Texas besitzt Öl. Viel Öl. Öl, das wir brauchen. Natürlich muss unsere Stellung und unser Einfluss dort noch ausgebaut werden. Aber jetzt haben wir sozusagen einen Fuß in der Tür. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir so schnell die…nötigen Rahmenbedingungen schaffen müssen, dass Texas nicht in absehbarer Zeit ganz einfach noch einmal die Seiten wechselt.“ Dagegen gab es keinen Widerspruch, auch wenn viele der Admiräle Texas Verhalten ebenfalls als mehr als fragwürdig einschätzten. Aber was konnte man von gajin anderes erwarten?
„Zusammen mit unserer gesicherten Position in Kalifornien und unseren Stellungen auf den Aleuten kann uns das die Reichweite, Schlagkraft und Manövrierfähigkeit geben, so ziemlich jede amerikanische Diadochenmacht militärisch unter Druck zu setzen. Vor allem natürlich, wenn wir noch auf die zumindest passive oder politische Unterstützung jener Staaten rechnen können, die von unseren deutschen Verbündeten abhängig sind.“
„Falls die nicht schon wieder ihr eigenes Spiel spielen!“ Nagumo war nicht bereit, das Doppelspiel der Deutschen so schnell zu vergessen, welches er offenbar für nur ein Weniges besser hielt, als Texas Wetterfahnen-Diplomatie.
Mit seinem Einwurf hatte er natürlich Recht. Aber dagegen konnte man erst einmal nichts machen. Natürlich verfolgten die Deutschen eigene Ziele, die nicht unbedingt deckungsgleich mit denen Japans waren. Umgedreht war es selbstverständlich genauso, ungeachtet aller behaupteten und beschworenen Bündnistreue.

Konteradmiral Motoki, verantwortlich für die Marine-Nachrichtenabteilung, ergriff wieder das Wort. Das tat er nur relativ selten unaufgefordert ohne gewichtigen Grund. Manche Offiziere in der Admiralität spöttelten, er sei gegenüber seinen Landsleuten genauso verschlossen, wie gegenüber dem Feind: „Wir sollten auch nicht aus dem Auge verlieren, inwieweit sich unsere Position auf Hawaii verändert hat. Unser Nachrichtennetz hat dort gewisse Verluste gehabt. Diese werden natürlich im gewissen Sinne kompensiert durch das gestärkte Ansehen Japans. Wir sollten dies nutzen, um eine zweigleisige Politik zu verfolgen. Die infolge der Invasion aufgetretenen Schäden sind beachtlich. Es ist zudem abzusehen, dass Commonwealth-Unternehmen in nächster Zeit mit gewissen Vorbehalten umgehen werden müssen. Oder aber selber ihre Aktivitäten etwas einschränken. Nicht einmal in der westlichen Gesellschaft ist es möglich, nach einer derart gewaltsamen Aktion einfach wieder zum Tagesgeschäft überzugehen. Auch die einheimischen Geschäftsleute und Honoratioren australischer und britischer Herkunft sind wahrscheinlich gezwungen, in der nächsten Zeit etwas kürzer zu treten.
Dies sollten wir ausnutzen. Die japanische Gemeinde muss sich beim Aufbau umfassend engagieren. Dabei sollte Profit nur zweitrangig sein. Zur Not kann Japan die entsprechenden Aufwendungen kompensieren. Wir haben zumindest im wirtschaftlichen Sektor die durch den Ausfall eines wichtigen Kontaktagenten verursachte Lücke wieder füllen können. Unser ökonomisch-politisches Netzwerk auf Hawai’i dürfte bald wieder voll operationsfähig sein.“ Trotz dieser anscheinend guten Nachricht wirkte Motoki ein wenig schmallippig bei den letzten Worten. Zum Glück fragte keiner genauer nach. Motoki war nicht ganz zufrieden mit der Situation, wie sie sich nach Fumio Kazuos Tod entwickelt hatte. Das war das Risiko, wenn man mit ‚Freiberuflichen’ und Männern wie Shimada arbeiten musste. Er hätte es lieber gesehen, wenn der Geheimdienst wenigstens in den höheren Kreisen der japanischen Gemeinde die Zügel fester in der Hand gehalten hätte. Aber was geschehen war, war geschehen. Und seine Vorgesetzten wollten vor allem ERGEBNISSE.
Motoki fuhr fort: „Die Admiralität kann sicherlich unserer Regierung…entsprechende Anregungen nahe bringen, die wirtschaftliche Durchdringung Hawaiis zu forcieren – in der Gestalt von Aufbauhilfe zum Beispiel.“ Das war eine typisch japanische Untertreibung. Während nämlich die Streitkräfte durchaus in der Lage waren, Außenpolitik ohne die Regierung zu betreiben – zum Beispiel einen Krieg anzufangen – war die zivile Regierung ängstlich darauf bedacht, es sich mit Armee und Marine nicht zu verderben. Nur die traditionelle Rivalität zwischen den Teilstreitkräften gab der Regierung etwas Spielraum.
„…dabei können wir auch das neue, ‚freundschaftlichere’ Verhältnis zu Texas nutzen. Statt einen Wirtschaftskrieg zu beginnen sollten wir auf Kooperation setzen. Letzten Endes haben wir ohnehin die kürzeren und sichereren Transportwege, und das größere wirtschaftliche und finanzielle Potential.
Gleichzeitig aber sollten wir die günstige Situation und unsere wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten nutzen, um unsere geheimdienstliche Aufstellung zu verbessern. Erlittene Verluste müssen ersetzt werden. Hawaiis Streitkräfte werden nicht nur ihre Gefechtsverluste ersetzen wollen, sondern wahrscheinlich auch ein Aufrüstungsprogramm anregen. Wir könnten auch in diesem Bereich…Unterstützung und Hilfe anbieten. Wir können Waffen, Ausrüstung, Flugzeuge und vielleicht sogar ein paar unserer alten U-Boote vom Typ L-3, KT und L-4, sowie Zerstörer der Minekaze-, Kamikaze-, Wakatake- oder Mutsuki-Klasse zu günstigen Konditionen anbieten. So können wir unseren Einfluss bei den Streitkräften und der Administration von Hawaii ausbauen.“
„Wir sollten ihnen bloß nicht zuviel liefern. Eines Tages könnten sich diese Waffen gegen uns kehren…“
Yamamoto winkte ab: „Seien wir realistisch. Selbst wenn Hawaii sich ein halbes Dutzend U-Boote und Zerstörer zulegen sollte, mehrere Staffeln Kampfflieger, und leichte bis mittelschwere Küstenartillerie wäre es dennoch kein echter Gegner für eine komplette Einsatzflotte der kaiserlichen Marine. Ich spreche jetzt von etlichen modernen Zerstörerflotillen, Kreuzerdivisionen, Schlachtschiffen, Flugzeugträgern und Flotten-U-Booten. Und natürlich einem entsprechenden Luftschiffkontingent. Es fehlt Hawaii an der unbedingt notwendigen Armee um eine ECHTE Invasion abzuwehren. Ihre Polizei ist kein Ersatz für reguläre Truppen. Ihre Streitmacht kann selbst aufgerüstet aus eigener Kraft höchstens eine halbherzige Invasion der ANZAC stoppen. Aber nicht uns. Nicht die japanische Marine. Und wenn wir unseren politischen Einfluss stärken können…wenn Texas jetzt ein Bündnis mit uns anstrebt…Dann brauchen wir vielleicht nicht einmal eine Invasionsstreitmacht, sollten wir danach streben, einen direkten Einfluss auf Hawaii zu etablieren. Zumal Kampf bis zur letzten Patrone wohl kaum die Art der Hawaiianer ist.“
„Sie haben gut gekämpft.“
„Vergessen Sie nicht, ein Gutteil der Verteidiger gehören eher zu Kräften, auf die…wir mehr Einfluss haben als Kamehamea.“
„Solange dieser Kommunist das Kommando hat. Solange er nicht gestellt oder ‚auf der Flucht erschossen’ wird. Und er auf uns hört. Das sind ziemlich viele ‚Wenn’. Außerdem könnten sich solche Verbündeten am Ende als kontraproduktiv erweisen. Der Mann hat das Talent, das Establishment zu brüskieren, scheint es.“
Yamamoto blickte zu Motoki, der die Antwort übernahm: „Nach allem was wir wissen, ist der Mann weitestgehend loyal, wenn auch aus seinen eigenen Beweggründen und zu seinen Konditionen. Im Augenblick ist es einfach angebracht, ihm diese Freiheit zu lassen. Soll er doch sein eigenes Spiel spielen. Solange es unseren Interessen dient. Wir wollen keine Marionette. Jedenfalls momentan nicht. Eine solche könnte niemals die Arbeiterschaft und die Landarbeiter dermaßen mobilisieren. In mancher Hinsicht ist er sogar zuverlässiger, als die etablierte japanische Gesellschaft. Er braucht uns nämlich. Jetzt erst Recht. Und wenn wir ihm helfen, dann schuldet er uns noch mehr. Außerdem will er uns, will der japanischen Gesellschaft – und wohl auch sich selber etwas beweisen. Das macht ihn berechenbar.
Selbst wenn er sich zu einem späteren Zeitpunkt als schwierig erweisen sollte – dann hätten wir immer noch die Möglichkeit, ihn…auszuschalten.“
„Wenn der Mann so fähig ist, wie Sie in ihrem Bericht behaupten, Motoki – dann weiß er das.“
Konteradmiral Motoki grinste kurz: „Aber natürlich weiß er das. Dennoch wird er weitermachen. Sogar jetzt, da er ein Gejagter ist. Das entspricht nun mal seinem Ehrenkodex. Egal welcher Ideologie er angehangen hat, vor allem ist er Japaner.“
Bei dieser Bemerkung schnaubte Admiral Yamamoto kurz. Persönlich teilte er nicht immer den Glauben an diese spezielle japanische Volkseele. Jedenfalls traute er solchen Annahmen dort nicht, wo viel auf dem Spiel stand. Aber andererseits, so wichtig war diese Angelegenheit nun wieder auch nicht. Wichtig vielleicht für den Geheimdienst, aber weniger für die Admiralität.
Wenn der Mann tatsächlich derart instrumentalisiert werden konnt, gut. Wenn er auf der Strecke blieb oder gar aus dem Weg geräumt werden musste – auch gut. Er schaltete sich wieder in das Gespräch ein, bevor es sich zu sehr in Nebensächlichkeiten verlief: „Ich denke, Konteradmiral Motoki hat Recht mit seiner Einschätzung der militärischen Potentiale Hawaiis und den Vorteilen engerer Kooperation auf diesem Sektor. Eine solche Kooperation im Verteidigungs- und Rüstungssektor wäre natürlich drauf angelegt, Hawaii langfristig an uns zu binden. Die Militärlieferungen würden letztlich UNSEREM Zeitplan folgen, und natürlich würden derartige Kooperationsverträge verlangen, dass Hawaii nicht hinter unserem Rücken Geschäfte ähnlicher Größenordnungen mit anderen Staaten macht. Außerdem würde es alleine JAHRE dauern, die nötigen Mannschaften zu schulen und auszubilden. Über Schulungs- und Ausbildungsoffiziere und –lehrgänge könnten wir zudem auf die hawaiianischen Streitkräfte beeinflussend einwirken, Agenten und Sympathisanten rekrutieren. Wir sollten auf jeden Fall die Optionen einer derartigen Einflussnahme ausloten. Zumindest, um einen Alternativplan zu haben, der uns die Kooperation Hawaiis sichert.“
Admiral Nagumo blickte auf. In den letzten Worten Yamamotos hatte ein bestimmter Unterton gelegen, den er zu kennen glaubte: „Alternativplan wozu?“
Der Oberbefehlshaber der japanischen Marine lächelte spröde und gleichzeitig raubtierhaft: „Wir haben diese Krise gemeistert. Aber hauptsächlich auch, weil wir ganz einfach Glück hatten. Noch einmal können wir uns so ein Spiel nicht leisten. Es wäre den ANZAC beinahe gelungen, uns zu überraschen. Das ist inakzeptabel.
Wir können dem Commonwealth fast dankbar sein, dass es uns die Verwundbarkeit unserer Position und die strategischen Schwachpunkte im pazifischen Raum aufgezeigt hat. Wenn wir nicht diese Risikofaktoren ausschalten oder sichern, so wird das jemand anderes tun. Das Commonwealth, Frankreich, vielleicht sogar Russland.“
„Und diese Risikofaktoren sind...?“
„Die ehemaligen Kolonien. Hawaii, Guam, Midway.
Und natürlich die Besitzungen derjenigen Staaten, die nicht in der Lage sind, ihre Kolonien gegen einen entschlossenen Angriff zu schützen. Die isoliert sind, keine Verbündeten haben.“
Nagumo nickte langsam: „Die Philippinen.“
„Auch wenn es diesem Generalissimo Franco endlich gelingen sollte, die Republikaner alle zu massakrieren, sein Land ist ein Trümmerhaufen. Ein Leichenhaus – und ein Gefängnis. Die spanische Armee ist kein echter Gegner für uns. Eine moderne Marine oder Luftwaffe mit Offensivpotential gibt es praktisch überhaupt nicht. Die Kolonialtruppen auf den Philippinen sind relativ schwach, und von geringer Qualität. Weite Gebiete sind sowieso de facto in den Händen von Banditen und Rebellen.“
„Sie vergessen, dass Franco immerhin die Unterstützung Deutschlands und Italiens genießt.“
„Sie meinen, ohne die Legion Condor und die CTV wäre dieser ‚Retter Spaniens’ längst wieder nach Marokko gejagt worden? Die Deutschen und Italiener lassen sich ihre Hilfe gut bezahlen. Sie können ihre Waffen testen, und ihre Soldaten im Kampfeinsatz ausbilden. Aber sie werden auf keinen Fall Spanien zu Hilfe eilen, wenn wir gegen die Philippinen aktiv werden. Das hätte für sie nicht den geringsten Vorteil. Sie würden für eine unwillige Marionette und einen selbstverliebten Diktator ohne Format eine verbündete Großmacht – mit einer ECHTEN Marine, einer ECHTEN Luftflotte, und einer schlagkräftigen Armee verprellen. Das werden sie nicht tun. Vergessen Sie nicht, dieser Feldmarschall Göring hat sogar der Republik veraltete Waffen geliefert – gegen Devisen. DAS ist die Verbundenheit des Dritten Reiches zu Francospanien.
Ich will, dass entsprechende Invasionspläne ausgearbeitet werden. Wir können uns nicht für immer darauf verlassen, dass unsere Versorgung mit Rohstoffen und Reis weiter gewährleistet sein wird. Wir brauchen eigene Rohstoffquellen. Und wir brauchen eine gesicherte Flanke, eine Position, von der wir aus JEDER territorialen Ambition des Commonwealth Paroli bieten können. All das können wir erringen, wenn wir uns die Philippinen sichern.“
„Das wäre die Expansion nach Süden.“
„Ganz richtig. Die Absage an die unselige Russland-Fixierung einiger unserer Armeeführer. Aber es wäre eine vorerst begrenzte Expansion. Es wäre noch nicht der große Krieg. Kein direkter Angriff auf eine der europäischen Großmächte. Spanien ist isoliert, das Militärregime wird im Allgemeinen als Marionette Deutschlands und Italiens angesehen. Zudem hat diese ganze Hawaiiexpedition der ANZAC die Verwundbarkeit der ‚verlorenen Kolonien’ und auch solcher Besitzungen wie den Philippinen deutlich gemacht. Unsere Armee, die Regierung und auch der Kaiser müssen diese Tatsache ganz einfach akzeptieren. Wir könnten eine derartige Expansion allerdings auch als eine ‚Flankensicherung’ des Chinafeldzugs darstellen. Das könnte die Armee beruhigen, vor allem da eine Besetzung der ehemaligen US-Kolonien und der Philippinen nur den Einsatz überschaubarer Bodentruppen verlangen würde. Ein einziges Korps wäre mehr als genug – primär Marineinfanterie.“
„Glauben Sie wirklich, Sie könnten die Armee dazu überreden?“
„Leichter jedenfalls, als zu einer Besetzung von Indochina, Burma und Malaysia. Auf jeden Fall will ich, dass wir wenigstens über ausgearbeitete Pläne für eine derartige Operation verfügen. Und auch über Pläne für flankierende und absichernde Operationen unserer Hochseeflotte. Wir dürfen uns nicht noch einmal überrumpeln lassen. Und wenn das bedeuten sollte, dass wir dem Gegner zuvorkommen müssen – dann wird es so geschehen.“

******

Auch Richard Sorge zog Bilanz. Die Kehrtwende der Texaner hatte ihn überrascht. Andererseits, was konnte man von einer imperialistischen Macht erwarten? ‚Typisch Amerikaner. Entweder sie gehen einem an die Kehle, oder sie liegen dir zu Füssen.’
Er war sich noch nicht ganz sicher, was dieses politische Manöver für ihn und für seine Arbeit bedeuten konnte. Einerseits war es natürlich möglich, dass ein derartiger politischer Erfolg, verbunden mit dem militärisch/geheimdienstlichen ‚Sieg’ auf Hawaii, die Kräfte in der japanischen Führung stärkte, die die Expansion nach Süden bevorzugten.
Andererseits mochte die neue Position Japans im amerikanischen Raum und die sichere Zugangsmöglichkeit zum texanischen Öl in Japan die Begehrlichkeit nach Alaska und seinen Bodenschätzen wecken. Immerhin standen japanische Truppen bereits auf den Aleuten. Mit Hollywood und Texas als befreundeten Regionalmächten und den Industrials als mit Nazideutschland assoziiert, war eine Invasion Alaskas durchaus eine Option, für die Japan sich entscheiden konnte. Die Verbündeten würden gewährleisten, dass keine andere amerikanische Regionalmacht sich einmischte.

Aber es blieb ihm momentan nichts anderes übrig, als Augen und Ohren aufzuhalten, und jede Veränderung, jedes Gerücht und jedes Anzeichen für eine politisch/ militärische Richtungsänderung weiterzumelden.
In anderer Hinsicht hingegen war seine Reise ein voller Erfolg gewesen. Sowohl in den Augen der Japaner, wie auch in den Augen der deutschen Botschaft und der Abwehr hatte er Prestige und Vertrauen gewonnen. Das war ein Kapital, mit dem er arbeiten würde. Es war sehr wahrscheinlich, dass er dem GRU ziemlich bald die ersten Untersuchungsergebnisse des texanischen Jägers zuspielen konnte. Er hatte Informationen gewinnen können über das japanische und das deutsche Geheimdienstnetz auf Hawaii, über Hawaii selber, und über die Leistungsfähigkeit der texanischen, der australischen und japanischen Streitkräfte.
Lange bevor diese Information öffentlich gemacht würde, konnte er Moskau über die ‚Charmeoffensive’ Texas gegenüber Tokio berichten. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Und er hatte dies gut getan.
Selbstverständlich würde er auch seine Arbeit als Reporter tun, und der „Frankfurter Allgemeinen“ einige Artikel zukommen lassen, die seiner Reputation nur nützen konnten. Die erste Staffel aktueller ‚Frontberichte’ war bereits unterwegs. Natürlich hatte er die Rolle der japanischen ‚Helfer’ gebührend herausgestrichen. Aber es war ihm auch eine heimliche Freude gewesen, vom heldenhaften Abwehrkampf der Arbeitermilizen zu berichten. Zumindest gegenüber den kolonialen Attitüden des Commonwealth brauchte ein deutscher Reporter keine Zurückhaltung zu üben. Kritik entsprach durchaus dem Interesse der Faschisten. Entgegen dem, was er noch auf Hawaii gesagt hatte, würde er die Rolle, die der deutsche Agent in seiner Funktion als Pilot gespielt hatte, doch nicht allzu sehr herausstreichen. Die Abwehr wäre sicherlich nicht sehr erbaut über eine derartige Popularität ihres Einsatzagenten. Ohnehin fragte sich Richard Sorge, wie dieser Mann dazu gekommen war, derartige – auch überflüssige – Risiken einzugehen. Doch dann erinnerte er sich an das Bild, dass Eugen Ott von dem Mann und seiner Karriere gezeichnet hatte. Und er erinnerte sich auch an den Eindruck, den er selber von Ernst von Stahlheim gewonnen hatte. Wie Marquardt war der Mann ein Abenteurer. Ein Mann, der die Gefahr entweder suchte, oder inzwischen ziemlich gleichgültig ihr gegenüber geworden war. Das machte unter anderem den Nutzen dieses Mannes für die Abwehr aus. Vielleicht gab es bessere Spione. Aber für die Aufgabe, die man Ernst von Stahlheim gestellt hatte, war er perfekt geeignet. Die Abwehr hatte eine kluge Wahl getroffen. Und paradoxerweise würde gerade die GRU davon profitieren. Wenn das keine Ironie war.

Trotzdem sah Richard Sorge mit Skepsis in die Zukunft. Die Zeichen der Zeit, sie standen auf Sturm. Und insgeheim glaubte er zu wissen, dass es letztlich egal war, wo die Faschisten und Imperialisten ihren nächsten Krieg beginnen würden. Am Ende würde dieser Krieg wieder die ganze Welt erfassen, auch die Sowjetunion. Er konnte diesen Tag vielleicht hinauszögern. Verhindern konnte er ihn nicht.
29.08.2020 06:29 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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„Gentlemen, ich will Ihnen nichts verheimlichen. Unsere Lage ist kritisch angespitzt und außerdem extrem nervig.“
„Nervig?“, warf Steel ein.
„Nervig“, bestätigte Dave Stone. „Hier ist unser Dilemma. Nachdem Japan erfahren hat, wer ihren Flughafen auf den Aleuten angegriffen hat wird es nicht mehr allzu lange dauern bis die Russen kapieren, wer tatkräftig dabei geholfen hat, ihren kostbaren Goldtransport halb in den Pazifik zu schicken. Und dann ist da immer noch die ANZAC, der wir nachhaltig in die Suppe gespuckt haben. Ach ja, und dann sind da noch diverse deutsche Agenten, die mich töten wollen und spätestens jetzt wieder auf meiner Spur sind. Ohne den Rückhalt einer ganzen Nation im Nacken dürfte es schwer werden, dem auf Dauer auszuweichen.
Ach, und dann ist da noch unsere Heimat, die uns für einen politischen Vorteil verraten und verkauft hat.“
„Du willst uns also sagen, die ganze Welt ist gegen uns?“, brummte Blue.
„Die Spanier noch nicht“, warf Max ein.
„Nein, die kannst du problemlos einrechnen, immerhin haben wir diesen mexikanischen Überfall auf die NORTH blutig scheitern lassen. Zumindest die Santa Ana Lanciers sollten nicht besonders gut auf uns zu sprechen sein.“
Dave sah in die Runde. „Im Klartext, Herrschaften, wir haben im Moment weniger Freunde als die Red Skull Legion. Eigentlich nur einen, und das ist Geld. Geld, das wir nur in Sky Haven ungestört ausgeben können, jenen Ort, an dem alle Nationen, die uns im Nacken sitzen, uns auch wirklich weh tun können, wenn sie wollen.“
„Na toll“, brummte Zacharias Winter. „Ich wollte schon immer mal gegen die ganze Welt kämpfen. Scheint so, als wäre das meine Chance.“
„Scheint so, Zak“, erwiderte Dave belustigt. „Nathan Zachary soll einmal zu seinen Leuten gesagt haben: Ich bin sicher, sie werden uns alle eines Tages für Piraterie aufknüpfen, aber bis dahin wollen wir in Freiheit und Luxus schwelgen.
Ich habe vor, diesen Rat zu befolgen. Wenn schon die ganze Welt gegen uns ist, dann können wir tun und lassen was wir wollen, um den Luxus zu erleben, der unsere Mühen belohnen wird. Wir sind jetzt Piraten, und Piraten sind nicht wählerisch, Gentlemen.“
„Entschuldige wenn ich das aufbringe, Boss, aber selbst nachdem ich von meiner Heimat verraten und verkauft worden bin habe ich ein leichtes Problem damit, Zeppeline aus meiner Heimat anzugreifen und Air Ranger zu Boden zu schicken“, warf Hammer ein.
„Amerika ist groß. Ich habe nicht vor mich mehr als unbedingt nötig mit Texas anzulegen, keine Sorge. Aber ich will, dass Ihr eines begreift. Nachschub und neue Leute kriegen wir ab sofort nur noch in Sky Haven. Das letzte Mal hatten wir Glück und bekamen gute Leute. Aber das wird nicht immer so sein. Eines Tages vielleicht werden wir darauf angewiesen sein, Abschaum aufzunehmen, nur damit wir fliegen können. Und die werden unseren Schnitt erheblich versauen. Vielleicht werden wir eines Tages ein so schlimmer Sauhaufen, dass die Skulls dagegen wirken wie eine Pfadfindertruppe. Deshalb, Gentlemen, erneuere ich mein Angebot. Jedermann kann jederzeit, wann immer wir nach Sky Haven kommen, abmustern. Ich kann es ihr oder ihm nicht verübeln.“
„Bist du fertig mit der Predigt?“, fragte Dusk mit ineinander verschränkten Armen.
„Ja.“
„Gut, Chef, dann lass mal hören, was du weiterhin geplant hast.“
„Wir werden uns in einer Stunde von der BLACK VELVET trennen. King und seine Guards fliegen nach Hawaii zurück. Sobald sie außer Sichtweite sind, ändern wir unseren Kurs auf Südost. Unser Ziel heißt La Paz, ein verschlafenes mexikanisches Nest auf der Halbinsel von Niederkalifornien. Das Air Center in La Paz ist weit vom Schuss und für ein paar Greenbucks bereit, selbst ein paar Gringos tanken zu lassen. Allzu viel dürfen wir von denen nicht erwarten, vielleicht ein paar tausend Gallonen Flugbenzin, etwas Munition und ein Dutzend Tacos. Ach, und trinkt um Himmels Willen kein Wasser in Mexiko. Es wimmelt darin von Kolikbakterien.“
„Was, abgesehen von Montezumas Rache, hat Mexiko noch für uns zu bieten?“, meldete sich Rainmaker zu Wort.
„Nun, La Paz ist ein ideales Sprungbrett für uns, um tiefer ins Land zu kommen. Wir werden danach Chihuahua anfliegen. Das dortige Air Center ist nicht nur gut besucht sondern auch stark frequentiert. Gringos und Mexikaner kommen dort zusammen und tauschen Neuigkeiten aus. Vor allem Grenzflieger treffen sich dort gerne. Im Klartext, dort werden wir alles erfahren was wir wissen wollen, wenn wir nach Sky Haven durchbrechen.“
„Was ist mit der Route direkt über Pazifica oder Hollywood?“, warf Happy ein.
„Hollywood fällt aus. Dort sitzen die Japaner bereits. Über Pacifica zu gehen wäre eine Idee gewesen, aber dann müssen wir am Peoples Collective vorbei, und die dürften für den Angriff auf ihre roten Brüder nicht gerade freundlich gestimmt sein. Mit vollen zwei Staffeln wäre das kein Problem, aber so verzichte ich darauf, Whittaker zu Boden zu schicken.“
Leises Gelächter antwortete ihm.
„Nein, die Route über Mexiko ist in Ordnung. Von Norden verbietet sich wegen den Industrials von selbst und ich habe keine Lust über Osten zu kommen, auch wenn wir mit den Franzosen – oh Wunder – noch keinen Streit haben.
Wenn alles glatt geht, sind wir in zehn Tagen in Sky Haven. Und in zwanzig Tagen wieder abmarschbereit.“
„Abmarschbereit wohin?“, fragte Steel und legte damit den Finger auf die Wunde.
„Das ist doch offensichtlich“, sagte Rook und wirkte sehr entschlossen. „Wir holen uns jetzt die LEVIATHAN, oder, Chef?“
Dave verzog seine Miene zu einem wilden grinsen. „Falls wir es schaffen, unsere Staffeln aufzufüllen. Falls wir es schaffen die Position der LEVIATHAN zu bestimmen. Falls wir es schaffen sie zu erreichen. Ja. Dann holen wir uns die LEVIATHAN. Endlich.“

***


Eine Woche war es nun her, dass die NORTH STAR, begleitet von der BLACK VELVET von Oahu gestartet war.
Fünf Stunden war es her, dass die SHOOTIST ihr gefolgt war. Die Schäden an zwei Motoren waren gravierend gewesen. Eine Zuckerspritze überlebte eben kein Verbrennungsmotor wirklich gut.
Und drei Tage war es her, dass die LONGHORN aufgebrochen war. Allerdings hatte sie Kurs auf die Heimat genommen, da sie offiziell keinen Befehl dafür hatten, die Piratenzigarre zu verfolgen.
Kamehameha der Dritte lächelte bei dieser Ausrede, denn eine Ausrede war es.
Dave hatte den Zeppelin gestohlen, und Kapitän Studd hätte diesen Diebstahl von texanischem Eigentum durchaus persönlich nehmen können. Dass er es nicht tat, warf ein bezeichnendes Licht auf den Mann.
„Majestät.“
„Was gibt es zu berichten, Mizunami-san?“
Der hagere Polizeichef von Hawaii legte einen Stapel Akten auf den Schreibtisch. „Wir ermitteln in drei Richtungen. Eine führt direkt in die japanische Gemeinde. Es hat mich viel Mühe gekostet, sie frei zu kratzen, deshalb sehe ich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie real sein kann. Die zweite führt zu einem ausländischen Geheimdienst. Ob Japan, United Kingdom oder ein anderer Verein ist noch nicht sicher. Die zweite führt zu europäischen Investoren. Sie liegen mit den japanischen Investoren im Streit. Der Tod des Anführers der japanischen Gemeinde und die Verfolgung des wichtigsten Gewerkschaftsmanns müssen ihnen geradezu in die Hände spielen. Meine Erfolg versprechenste Spur, Majestät.“
„Und was denken Sie, Takeru?“
„Wenn Sie mich fragen, ich weiß es nicht. Ich finde nur immer mehr Dreck, je weiter ich wühle. Dass Fumio mit dem japanischen Geheimdienst kooperiert wussten wir schon länger. Aber die Verbindungen zu Shimada lassen die Vermutung zu, dass…Nun, es ist noch nicht spruchreif. Aber Shimada war es mit Sicherheit nicht. Das sagt mir mein Instinkt und das sagen die Indizien. Mir macht nur eines Sorgen. Die Attentäter waren Asiaten und verdammte Profis. Das sollte die Zahl der Auftraggeber einschränken. Einen Killer mit Schlitzaugen kriegt man an jeder Ecke. Aber einen Fachmann, der einen komplexen Auftrag ausführen kann, der so mir nichts, dir nichts verschwinden kann, der ist selten und teuer. Und er wird noch teurer, wenn er für solch ein Unternehmen eingesetzt wird, weil seine Augen so schön ins Konzept passen.“
Die beiden Männer wechselten einen langen Blick. „In Ordnung, Takeru. Sagen Sie die Fahndung nach Shimada ab. Warten wir ein wenig wer sich als erster beschwert, vielleicht hilft es bei den Ermittlungen. Wollen Sie es Shoean sagen?“
„Ich werde es ihr sagen, sobald ich Fumios Mörder an den Eiern vor ihre Füße schleifen kann, Majestät.“
„Aber, aber, was für eine blumige Sprache, mein lieber Mizunami-san. Haben Sie zuviel Zeit mit den Texanern verbracht?“
Der Polizeichef grinste, antwortete aber nicht. Es war wohl auch nicht nötig.
Der König deutete auf den Aktenstapel. „Das ist…?“
„Auswertungen aus dem ANZAC-Angriff. Und einige weiterführende Analysen von einigen Spezialisten. Wir haben bereits einen Namen für die Operation. Die Analytiker nennen sie „Strandparty“. Ich glaube, daran können Sie sehen, Majestät, welchen Stellenwert sie dieser Operation einräumen.“
„Ich stimme dem zu. Hätte uns eine Invasion von der Größenordnung von Gallipolli getroffen, wäre Honolulu noch am gleichen Tag erobert worden. Und es hätte uns zehntausende Tote gekostet, die ANZAC wieder ins Meer zu jagen. Falls wir es überhaupt geschafft haben.“
Mizunami nickte. „Die Analytiker gehen auf diesen Fakt ein. Im Anhang sind verschiedene Szenarien aufgeführt. Aufstellung einer eigenen Armee, einer eigenen Flotte, einer starken Luftwaffe, Vergrößerung der Polizei, es sind ein paar interessante Dinge dabei. Ich persönlich weiß nicht so recht, ob wir das wirklich tun sollten. Je mehr Geld wir in eine Armee oder in eine Luftwaffe pumpen, desto mehr fehlt uns im Staatshaushalt. Letztendlich besteht eine Armee aus Dienstleistern, und Dienstleister produzieren nicht.“
„Aber wir können einer Invasion wie neulich auch nicht Tür und Tor öffnen, indem wir gar nichts tun.“ Kamehameha lehnte sich nachdenklich zurück. „Oder laut und deutlich schreien: Hey, der erste der kommt kriegt ganz Hawaii. So schnell könnten wir gar nicht gucken, wie die Inseln hier ein zweites Sky Haven werden würden.“
„Das habe ich auch nicht gesagt. Aber wir sollten nicht ernsthaft versuchen, einer Großangelegten Invasion Widerstand entgegen zu bringen.
Ein kluger Mann hat mal gesagt, wenn Japan niest ertrinkt Hawaii. Ich denke, das sagt alles.“
„Aber wie begegnen wir einer so großen Invasion? Takeru, ich würde unseren Leuten schon gerne maximale Freiheit erhalten, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und die Freiheit, das Parlament selbst zu wählen. Ich meine, diese acht Inseln sind gut so wie sie sind. Lassen wir die ethnischen Spannungen einfach mal beiseite. Ich möchte weder diese Freiheit verlieren noch als der König in die Geschichte eingehen, der die acht Inseln von Hawaii verloren hat.“
„In dem Punkt können wir beruhigt sein, denke ich. Wir haben im Moment nur drei Großmächte zu fürchten. Russland, Japan und das Commonwealth. Die Franzosen sitzen zwar in Indochina, die Deutschen in Indonesien und die Holländer gleich nebenan, aber erstens sind sie nur mit kleinen Flotten vertreten, und zweitens haben Holländer und Deutsche genug mit islamischen Aufständen in ihren Hoheitsgebieten zu tun.
Was die anderen drei angeht, nun, greift Russland an, rufen wir Japan zu Hilfe. Greift die ANZAC wieder an, rufen wir Russland zu Hilfe. Greift Japan an, rufen wir Russland und das Commonwealth zu Hilfe. Keine der drei Fraktionen kann es sich leisten, die Fahne der anderen beiden über diesem Palast wehen zu sehen. Und keiner kann es sich wirklich leisten, diese Inseln auf Dauer gegen den Willen der Bevölkerung zu halten.“ Mizunami zuckte die Schultern. „Und wenn sie die Inseln mit dem Willen der Bevölkerung besetzen heißt das nur, dass wir beide einen miesen Job gemacht haben. Dann haben wir es nicht besser verdient.“
„Sehr tröstlich von Ihnen, Takeru“, spottete der König. „Also müssen wir uns mit allen drei gut stellen.“
„Nein, das wäre ein Fehler, denke ich. Die Russen, vor allem die Roten haben die schlechte Angewohnheit, nicht wieder herzugeben was sie einmal haben. Nicht umsonst ist der große Sowjet, also die Generalversammlung aller Kommunisten dieser Welt, immer noch in Moskau, um ihren Führungsanspruch zu unterstreichen. Nein, sollten wir wirklich einmal in die Verlegenheit kommen, russische Hilfe zu brauchen sollten wir hoffen, dass sich die anderen Seiten derart verausgaben, dass es uns ein Leichtes ist, die Russen wieder rauszukomplimentieren.
Worauf wir uns konzentrieren sollten sind die Japaner und die ANZAC. Erstere werden nun vieles dafür tun, um ihren Einfluss auf uns auszubauen.
Und Letztere haben einiges wieder gut zu machen. Es dürfte ein Leichtes sein, daraus etwas, ah, mehr zu machen. So haben beide einen Fuß in unserer Tür. Und wenn wir Glück haben, treten sie sich nur gegenseitig auf die Füße.“
„Das ist aber nur der Idealfall“, mahnte Kamehameha.
„Natürlich.“
„Wie lange werden wir das wohl durchhalten, Takeru?“
„Nur bis zum nächsten Großen Krieg. Wenn es überall in der Welt knallt, dann auch bei uns. Verdammt, ich wusste, ich hätte noch nicht renovieren sollen.“
„Ihre Witze waren auch schon mal besser“, tadelte Kamehameha. „Die Versicherungen betonen doch immer wieder, dass Tapeten nur versichert sind, wenn regelmäßig alle zwei Jahre neu tapeziert wird.“
„Ihre Witze aber auch, Majestät“, erwiderte der japanische Polizeichef.
Die beiden Männer lachten. „Ich lasse Tee kommen. Wollen wir das Dossier zusammen durchgehen, Mizunami-san?“
„Ich habe mir extra Zeit dafür genommen, Majestät.“
„Dafür, oder für die faulen Witze?“
„Beides“, erwiderte der Japaner todernst.

***

Zehn Tage später klopfte es an der Tür von General Alexander Godley. „Herein.“
Die Tür öffnete sich, und ein Marine-Offizier trat ein. „Ah, Jim, kommen Sie, kommen Sie. Nehmen Sie Platz.“
Der alte Mann erhob sich und schenkte aus der Bar im Wandschrank zwei Whiskys ein. Den ersten stellte er zu James Conrad Fadden, den zweiten auf seinen Platz. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, fragte er: „Also, abgesehen davon was in den Akten steht, wie war Hawaii?“
„Nun, Sir, die Japaner waren eine echte Überraschung. Aber auch die Texaner waren weit besser als erwartet. Vor allem hätte ich nicht erwartet, dass ihr Anführer den Stab der Infanterie fast im Alleingang hochnimmt.“
„Gut so. Hat uns einen kräftigen Blutzoll erspart.“
„Er war auch so kräftig genug, Sir“, erwiderte Fadden ärgerlich, nahm sein Glas und tat einen kräftigen Schluck.
„Was kann denn der arme Whisky dafür, dass Sie sich ärgern, mein lieber Jim? Trinken Sie langsam und mit Bedacht.“
„Ja, Sir“, erwiderte Fadden und leerte sein Glas. „Eines nagt an mir, Sir. Die Japaner und die Texaner…Wie haben sie von unseren Plänen erfahren? Ich meine, ja, die Japaner werden unsere Schiffsbewegungen überwachen und eins und eins zusammenzählen können. Ihre Marine ist stark und gefährlich. Ich denke, das haben sie erst wieder bewiesen. Aber wie passen die verdammten Texaner da rein?“
„Ich habe ihnen Bescheid gesagt“, erwiderte Godley, stand auf und schenkte nach.
„Sie haben was?“
„Auf diese Weise hatten Ihre Piloten Gelegenheit, gegen den neuen Nitro-Booster der Texaner zu kämpfen, oder? Ein Dutzend gleich lautender Berichte wird London vielleicht davon überzeugen, dass sich eine Geheimdienstoperation lohnen könnte.“
„Dafür? Wissen Sie, was die Texaner mit uns gemacht haben? Was sie mit der Infanterie gemacht haben? Alleine dieser Luftangriff war…Sir!“
„Fassen Sie sich wieder, Jim. Sie hatten mehr als genügend Zeit, um sich auf die Verteidiger einzustellen. Sie haben gesehen wo Sie rein laufen. Dennoch haben Sie nicht abgebrochen und auch Commodore Scott hat nicht abgebrochen.“
„Sir, reicht das wirklich als Grund? Um gegen Nitrobooster und Japaner zu kämpfen?“
„Junge, was wir hier drin sprechen, sollte auch hier drin bleiben. Ist Ihnen das klar?“
„Ja, Sir, aber das waren unsere Jungs, die da draußen auf Oahu gestorben sind, unsere Jungs!“
„Und im nächsten Krieg werden noch viel mehr von ihnen sterben, wenn Ihre Piloten, Hicks´ Infanteristen und Scotts Seeleute nicht weitergeben, was sie gelernt haben!“ Wuchtig schlug der General mit beiden Handflächen auf den Tisch. „Seien wir ehrlich, das war nur ein besseres Geplänkel! Aber es war unsere erste ernstzunehmende Schlacht seit dem Großen Krieg, und wir haben eine Schlacht bitter gebraucht! Jetzt müssen wir die Erfahrung der Männer nutzen, die auf Oahu gekämpft haben und so viele grüne Jungs wie möglich vorbereiten auf das was kommen wird! Denken Sie wirklich, denken sie ernsthaft, uns ging es um Hawaii? Soldaten sind immer nur Spielbälle der Politik. Münzen, die mal bedacht ausgegeben werden und dann mit vollen Händen davon geworfen. Um ihre Chancen zu verbessern müssen wir ihnen so viel Wissen mitgeben wie wir können. Es sind viele gute Jungs da draußen gestorben. Aber wenn Sie und ich unsere Jobs gut machen, wird deren Tod verhindern, dass die ANZAC jemals wieder in ein Fiasko wie Gallipolli gerät. Hoffentlich.“
„Ich wusste, dass es nur ein Versuch war. Aber ich wusste nicht, dass wir uns unsere Gegner ausgesucht haben“, gestand James Fadden.
„Nicht ganz“, gestand Godley. „Wir hatten gehofft, auch gegen die Russen antreten zu können. Aber anscheinend wollten sie einem potentiellen Verbündeten nicht auf die Füße treten. Noch nicht.“
„Aber das kann sich ändern?“, riet Fadden.
„Alles kann sich ändern. Jederzeit und immer dann, wenn man es nicht gebrauchen kann.“ Godley schenkte sich und Fadden nach. „Und wir müssen für alles bereit sein. Und es ist unsere Pflicht, unsere Leute so gut es geht zu trainieren. Beginnen wir damit, Ihre Staffeln aufzulösen und diversen Flugschulen zu zu teilen.“
Fadden nickte schwer. „Ich verstehe, Sir.“
„Gut. Dann wird der Stuhl, auf dem ich sitze, irgendwann mal Ihnen gehören, Jim.“
29.08.2020 06:31 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Sky Haven

Im Nachhinein wusste sie nicht einmal selber genau, was sie geweckt hatte. Kein Geräusch jedenfalls, eher eine unbestimmte, und dennoch drängende Ahnung von Gefahr. Andere Menschen hätten so ein Gefühl vielleicht abgetan, sich umgedreht und versucht weiterzuschlafen.
Aber Elisabeth O’Conner hatte gelernt, auf ihre Ahnungen und Instinkte zu hören – andernfalls wäre sie inzwischen bereits tot, oder in einer Situation, in der sie sich wünschen würde, es zu sein. Denn sie lebte in Sky Haven, einer Stadt, die man des Teufels Planschbecken nannte - und war zudem Agentin der deutschen Abwehr.

Lautlos rollte sie sich vom Bett, während ihre Hand unter das Kopfkissen glitt und mit einer kompakten, aber durchschlagskräftigen Pistole wieder zum Vorschein kam. Unten war alles still. Was auch immer sie alarmiert hatte, es war nicht im Haus – noch nicht.
Elisabett machte nicht mehr Geräusche als ein Geist, als sie zum Fenster huschte. Dicht daneben presste sie ihren Körper eng an die Wand, schob sich dann vorsichtig, Zentimeterweise nach vorne, spähte hinaus. Im Zimmer selbst war es dunkler als draußen. Niemand würde sie sehen können.
Auf den ersten Blick schien die Straße ziemlich ruhig. Natürlich waren immer noch ein paar Nachtschwärmer unterwegs. Immerhin war dies Sky Haven, eine Stadt die niemals schlief. Auch nicht um drei Uhr Nachts.
Aber die vier Männer, die gerade um die Ecke bogen, waren ganz bestimmt keine Nachtschwärmer. Trotz ihres abgerissenen Aussehens, den unrasierten und in ihrer Brutalität fast stumpfsinnig wirkenden Gesichtern, sie bewegten sich mit einer Zielsicherheit und Kampfbereitschaft, die Elisabeth alarmierte. Die Männer hielten genau auf ihr Haus zu. Schlimmer noch – einer von ihnen gestikulierte verstohlen nach Vorne.
Dafür gab es nur zwei nahe liegende Erklärungen. Entweder, ein paar Gesinnungsgenossen dieser Todschläger hatten sich bereits um ihr Haus postiert. Oder sie rückten von einer anderen Seite im toten Winkel vor.
Wie auch immer, das Ergebnis blieb das gleiche. Es war soweit. Endlich war die Situation eingetreten, die sie am meisten fürchtete. Sie war aufgeflogen. Aber wer hatte die Angreifer geschickt? Sky Haven besaß natürlich keinen eigenen Geheimdienst. Den meisten Piraten wäre es egal gewesen, für wen Elisabeth arbeitete. Allerdings sahen diese Typen nicht wie Agenten irgendeines amerikanischen Geheimdienstes aus. Eher wie angeheuerte Schläger. Aber so etwas war nicht unbedingt unüblich, auch die Abwehr hatte sich schon öfters solcher Elemente bedient. Oder…
Aber wer auch immer dahinter steckte, Elisabeth blieb nicht mehr viel Zeit. Sie musste handeln.

*******

Markus ‚Weasel’ Patrick hätte am liebsten laut geflucht, verkniff es sich aber gerade noch. Typisch, diese Arschlöcher brauchten immer eine Extraeinladung! Das kam davon, wenn man Leute zusammen schmiss und auf einen Auftrag ansetzte, die sich nicht kannten. Er und seine Jungs waren längst in Stellung, aber diese vier großkotzigen Ex-Grabenkrieger ließen sich offenbar Zeit. Eigentlich hätten er und seine drei Jungs, Pitbull, Trash und Killer, die Sache auch alleine durchziehen können. Aber nein, sein Auftraggeber wollte unbedingt, dass diese Saftknaben mitmachten. Dabei war das Ziel nur eine dämliche Schieberschlampe und ihr indianischer Leibwächter oder Deckhengst.
Er wusste auch nicht genau, warum sie sich diese Nutte schnappen sollten, aber es war ihm auch egal. Er wurde nicht fürs Fragen bezahlt. Kurz huschte ein Grinsen über sein Gesicht. Die Frau sah ziemlich gut aus. Mit der würden sie noch Spaß haben. Solange sie noch am Leben war, wenn er sie ablieferte…

Die Ex-Soldaten hatten inzwischen fast die Straße überquert. Gleich konnte es losgehen…
Im nächsten Augenblick zersprang splitternd irgendwo eine Scheibe – und dann peitschten in schneller Reihenfolge drei, vier Schüsse durch die Luft.
Ein Söldner stolperte, stürzte und stand nicht wieder auf. Einer seiner Kameraden schrie unterdrückt, fast tierhaft auf und ging in die Knie, kam wieder hoch – zwei weitere Schüsse trafen ihn in Brust und Bauch. Nur die letzten beiden Männer des Quartetts hatten Glück, warfen sich bei der Hauswand in Deckung.

Weasel hatte sich instinktiv zu Boden geworfen, gleichzeitig seine Waffe hochgerissen. Aber er sah kein Ziel, auf das er schießen konnte. Hier an der Häuserwand war er zwar selber in Deckung, konnte aber auch nicht den Schützen ins Visier nehmen, der aus dem Gebäude feuerte. Verdammt!
Einer der überlebenden Söldner hatte im Rennen die Tommygun hervor gerissen, die er unter seinem Mantel verborgen hatte. Mit einem wütenden Schrei eröffnete er das Feuer, schickte eine lange Salve über das obere Stockwerk des Hauses.
Im nächsten Augenblick war Weasel bei ihm und schlug die Waffe beiseite, verbrannte sich dabei die Hand an dem heißen Metall des Laufes: „LEBEND, DU IDIOT! WIR BRAUCHEN SIE LEBEND!“ Dann drehte er sich zu seinen Jungs, die beim Beginn der Schießerei ebenfalls in Deckung gegangen waren. „SCHLAGT DIE VERDAMMTE TÜR EIN!!“
Endlich kam Bewegung in die Sache. Pitbull und Killer hasteten geduckt zur Tür. In weiser Voraussicht hatte Weasel dafür gesorgt, dass sie Einbruchswerkzeug mitgenommen hatten.
Inzwischen hatte sich die Straße gelehrt. Keiner wollte mit der Sache etwas zu tun haben.
Allerdings stießen Pitbull und Killer sofort wieder auf Schwierigkeiten. Die Tür erwies sich als weitaus massiver, als erwartet. So kamen sie nicht weiter.
„ACH SCHEISSE!“ Das dauerte alles viel zu lange! „NEHMT DIE FENSTER!“ Zwar waren die Fensterläden ebenfalls recht stabil, aber damit wurden die Brecheisen schnell fertig. Pitbull schleuderte einen heraus gebrochenen Laden beiseite, wollte ins Gebäude entern – das ohrenbetäubende Donnern einer Pumpgun empfing ihn. Die Schrotladung traf den Mann mitten in Kopf, Hals und Oberkörper, schleuderte ihn zurück. Von seinem Gesicht war nur noch eine blutige, zerfetzte Masse übrig.
Weasel schrie auf, brüllte wie ein wütender Stier. Wut und Hass überschwemmten jeden Rest von rationalem Denken: „VERDAMMTE SCHLAMPE!!“ Das sollte sie ihm büssen! Mit zwei, drei geduckten Schritten war er bei Pitbull. Hakte die Handgranate los, die der Tote am Gürtel trug. Zog den Sicherheitsstift, schleuderte die Granate durch das offene Fenster.
Die Explosion ließ die anderen Fenster nach außen explodieren: „LOS! LOS! LOS!“ Weasel riss seine Mpi hoch, streckte den Lauf seiner Waffe durch die Fensteröffnung und leerte sein Magazin in den Raum. Seine Leute taten es ihm gleich. Diesen Feuersturm konnte niemand überleben. Es war ihnen momentan herzlich gleichgültig, ob sie die Nutte lebendig zu fassen bekamen oder nicht.
Weasel rammte ein neues Magazin in die Waffe, dann war er auf den Beinen, warf sich mit einem gutturalen Brüllen durch das Fenster nach Drinnen. Einige Sekunden später folgten die anderen Männer seines Kommandos.
Aber diesmal eröffnete niemand das Feuer auf sie. Der Raum war ein einziges Chaos, unter ihren Stiefeln knirschten Glas und Trümmerstücke.
Dann fanden sie den Schützen. Es war ein Mann, vermutlich der Leibwächter der Schieberin. Der Indianer war tot. Schon die Handgranatenexplosion musste ihn schwer verwundet haben, dann war er von den Waffen der Angreifer regelrecht zersiebt worden. Immer noch hielt er in den erstarrten Händen die Pumpgun.
Wütend trat Weasel dem Toten ins Gesicht – einmal, zweimal: „WO IST DIE VERDAMMTE SCHLAMPE?! LOS, DURCHSUCHT DAS HAUS! ICH WILL SIE FINDEN!!“
Fieberhaft begannen die Männer zu suchen, zertrümmerten die Einrichtung, stürzten die Möbel um. Aber die Schieberin konnten sie nicht finden. Jetzt erst, zu spät, wurde Weasel klar, wie es abgelaufen sein musste. Die verdammte Rothaut hatte sich im Erdgeschoss verschanzt und Weasels Trupp aufgehalten, um der Schieberschlampe die Flucht zu ermöglichen. Vermutlich war sie einfach aus dem Fenster geklettert. Warum war er nicht gleich darauf gekommen?! So verschwendeten sie nur ihre Zeit!
Ein überraschter Ausruf von Oben riss ihn aus seinen Gedanken: „Chef! Da stimmt `was nicht auf dem Boden! Da muss ein Geheimraum sein!“
Weasel hastete auf den Dachboden. War die Schlampe vielleicht doch noch im Haus? Hatte sie gehofft, in ihrem Rattenversteck die Sache einfach auszusitzen? Nun, in dem Fall hatte sie sich verschätzt. Und Weasel freute sich darauf, ihr diesen Fehler persönlich klar zu machen.
Oben fand er Killer und einen der Söldner. Der Dachboden bot nur wenig Platz, Weasel musste halb auf der Treppe stehen bleiben. Während der Söldner seine und Killers Maschinenpistole hielt, drosch Killer mit seinem Brecheisen auf eine Holzwand ein, in der sich tatsächlich bereits Risse zeigten. Er lachte keuchend, abgehackt bei jedem Schlag: „Dachte…stimmt was nicht…mit der Größe des Raums! Viel zu wenig Platz hier! Diese Nutte!“ Dann durchbrach das Brecheisen die Wand, drang in einen Hohlraum.
Killer drehte sich noch einmal zu Weasel um: „Sag mal, Boss, da ich das hier schon gefunden habe – darf ich die Schlampe als erste rann nehmen? Ohne mich…“
Weasel grinste kurz. Killer hatte sich eine Belohnung verdient: „Solange du uns was übrig lässt…“
Wie auf dieses Stichwort warf sich Killer mit voller Wucht gegen die Geheimtür, die daraufhin in tausend Stücke zersplitterte. In dem engen Dachraum war der Lärm ohrenbetäubend, und keiner der drei Männer hörte das leise Klicken, mit dem der Zündmechanismus der Sprengladung aktiviert wurde, mit dem Elisabeth den Funk- und Chiffrierraum gesichert hatte.
Die Wirkung des Spreng- und Brandsatzes war auf dem engen Raum mörderisch. Weder Killer noch der Söldner hatten auch nur den Hauch einer Chance. Ihr einziges Glück war, dass sie, von Splittern zerfetzt, es nicht mehr bewusst wahrnehmen konnten, als der weiße Phosphor der Brandladung über ihre Körper spritzte und sie in Brand setzte.
Weasel rettete der Umstand, dass er noch halb auf der Treppe stand. Außerdem schirmten ihn die Leiber der anderen ab. Instinktiv hatte er sich fallen lassen, als die Explosionswelle über ihn hinwegrollte. Während er die Treppe hinunterpolterte spürte er ein grauenhaftes Brennen, als würden sich glühende Nadeln in seine Kopfhaut bohren – überall dort, wo winzige Phosphorspritzer seine Haut berührt hatten. Schreiend und heulend vor Schmerz wälzte er sich auf dem Boden, grub sich die Fingernägel in die eigene Haut.
Über ihm griff das Feuer schnell auf das trockene Holz des Dachstuhls über. Genau dafür war die Sprengladung ja auch konzipiert worden. Sie sollte denjenigen, der sich unerlaubt Zugang zu der Geheimkammer verschaffen wollte, töten oder schwer verwunden und gleichzeitig jeden definitiven Beweis für Elisabeth O’Conners Spionagetätigkeit, ihre Codetabellen und alles belastende Material vernichten.
Die überlebenden Männer des Angriffstrupp mussten zusehen, dass sie sich in Sicherheit brachten. Weasel selber schaffte es nur mit knapper Mühe. Hinter ihm griff das Feuer auch auf die unteren Stockwerke über.

******

Elisabeth warf keinen Blick zurück. Schon die Tatsache, dass sie solange gewartet hatte, verstieß eigentlich gegen die Regeln der Vernunft und Konspiration. Sie hätte sich sofort absetzen sollen. Aber sie hatte es nicht getan. Doch nun gab es keinen Zweifel mehr. Joe, seid mehr als fünf Jahren ihr Leibwächter, musste tot sein. Wütend blinzelte Elisabeth die Tränen weg, die ihr in die Augen zu steigen drohten. Agenten weinten nicht.
Sie hatte den schweigsamen Indianer nicht geliebt, diese Ebene hatte die Beziehung nie erreicht. Aber sie hatte ihn gemocht, hatte ihm vertraut. Und das zählte viel in ihrem Beruf.
Aber jetzt konnte sie nichts mehr für ihn tun.
Joe hatte sein Leben geopfert, um sie zu retten. Sie würde dieses Opfer nicht vergessen, und es würdigen, indem sie am Leben blieb. Und irgendwann würde sie den Mördern die Rechnung präsentieren können.



******

Etwas später

Die drei Überlebenden des Angriffstrupps bildeten einen lockeren Halbkreis. Die anderen beiden waren nur zu gerne bereit gewesen, Weasel das Reden zu überlassen. Momentan, mit blutigem Gesicht, verbundenem Kopf und derangierten Kleidern, bot er keinen besonders stattlichen Anblick, was durch seine leicht zusammen gekrümmte Haltung noch verstärkt wurde. Nach dem Sturz von der Treppe kam es ihm vor, als würde jeder einzelne Knochen seines Körpers schmerzen. Dazu kamen die Brandwunden. Aber das war nicht das Schlimmste.

„ACHT Mann sind nicht in der Lage, eine Nutte und eine Rothaut zu ficken?! Hat euch Waschlappen jemand ins Gehirn geschissen, oder habt ihr euch vor dem Einsatz dumm vögeln lassen?! Die Leiche von dem Indio nützt uns einen Dreck! Wir brauchen die Schlampe! Aber ihr lasst euch massakrieren, zündet das verdammte Haus an, und lasst sie auch noch entkommen! Man sollte euch Versager kastrieren und die wimmernden Reste an den eigenen Eingeweiden aufhängen!“
Das waren keine leeren Worte, das wussten Weasel und seine Männer. Ihr Auftraggeber, Piet ‚Dutch’ van Gelder war früher selber Pirat gewesen, hatte sogar zu Jeromes gefürchteter Bande gehört. Diese Vergangenheit legte den Grundstock für seinen Ruf, als er in den Waffen- und Menschenhandel einstieg. Daneben betätigte er sich auch gerne als ‚Problemlöser’. Mord, Schuldeneintreibung, Entführung – er war nicht wählerisch. Dutch war kein ‚Boss’ in Sky Haven, machte aber die geringe Zahl seiner Leute durch Skrupellosigkeit und Brutalität wett. Normalerweise verzichtete er allerdings darauf, sich in den Vordergrund zu stellen. Dank guter Kontakte zu einigen Söldnern und Schlägerbanden in der Piratenstadt griff er bei Einsätzen gelegentlich auch auf ‚Außenstehende’ zurück. Wie in diesem Fall. Und ‚Dutch’ konnte bei Inkompetenz ausgesprochen widerlich reagieren. Es hieß zum Beispiel, er hätte einen Hitman, der ihn enttäuschte, bei lebendigem Leibe langsam in ein Säurefass versenken lassen – der Tod des Mannes sollte Stunden gedauert haben.
„Aber Boss…woher hätten wir denn wissen sollen, dass die Nutte auf ihrem verdammten Dachboden `ne Höllenmaschine gebunkert hat? Das konnte doch keiner ahnen. Wer hätte denn gedacht…“
„Ja und vielleicht ist die Schlampe auch noch Jungfrau! Ich bezahle euch Versager nicht fürs Denken! Ich bezahle euch dafür, dass ihr mir diese Nutte bringt!“
„Aber Boss…“
„Schnauze! Hört gefälligst zu! Und hör auf zu jammern, oder ich lass dich schächten wie ein verdammtes Schwein! Wir müssen die Nutte finden! Tausend Greenbacks, wer mir die Hure lebendig bringt, fünfhundert für ihren Kopf! Aber gefunden werden muss sie! Stellt die verdammte Stadt auf den Kopf, durchsucht jede beschissene Absteige, jeden Müllhaufen! Findet sie! Macht Druck, verdammt noch mal! Sie darf gar nicht erst auf die Idee kommen, sich an ein Funkgerät zu hängen. Wenn sie die Scheißer von der NORTH STAR warnen kann…Dann sucht ihr Arschlöcher euch am besten irgendwo ein hübsches Loch und jagt euch `ne Kugel durch den Kopf! Findet Sie – und ihr dürft weiterleben!“

Nach diesen Worten drehte sich Piet ‚Dutch’ Gelder brüsk um und starrte auf die rauchenden Überreste des Hauses. Auch wenn er das niemals zugegeben hätte, die Heftigkeit des Widerstandes und noch mehr diese Sprengfalle auf dem Dachgeschoss hatten auch ihn überrascht. An dieser rothaarigen Schlampe war offenbar mehr dran, als er gedacht hatte. Er hatte sich eigentlich nur für sie interessiert, weil einer der Staffelführer der NORTH STAR sie angeblich regelmäßig flachgelegt hatte.
Dutch hatte gehofft, mit dieser Schieberin eine Informationsquelle und vielleicht auch ein Druckmittel in die Hände zu bekommen. Jerome hätte eine solche Zuarbeit sicher nicht schlecht honoriert.
Doch der Zugriff war ein Desaster gewesen. Aber ab jetzt würde er diese Nutte nicht noch einmal unterschätzen. Er würde sie finden. Und wenn er sie erst mal hatte, dann würde er alles aus ihr herausholen, was sie wusste. ALLES. Er würde das genießen. Und sie würde ihn dann anflehen, sie zu erschießen. Sie würde vergeblich um diese Gnade fliehen. Und wer auch immer von ihrem Schicksal hören würde, der würde begreifen, dass sich niemand, NIEMAND, mit Jerome, mit seiner Bande – oder mit Piet van Gelder anlegen durfte.
29.08.2020 06:32 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Niederkalifornien. Eine endlose, schmale Landzunge ohne jede strategische Bedeutung. Keine großen Überseehäfen, keine besondere Schifffahrt oder Fischereiindustrie. Ein verschlafener Flecken Erde, selbst für Mexiko.
Dieser und tausend andere Gedanken gingen Dave durch den Kopf, während die NORTH STAR mit Hilfe der erstaunlich aktiven Bodencrew auf dem Air Center von La Paz festmachte.
War dieser Flecken Erde unwichtig genug? Nun, das würde sich zeigen.
„Rook, komm mit.“
Der ehemalige BAS-Flieger nickte und schloss sich seinem Skipper an.
Als der Zeppelin festgemacht hatte und das große Hangartor geöffnet war, schritt Dave direkt auf das einzige Gebäude zu. Wartungsanlagen oder Hallen für Zeppeline suchte man vergebens. Es war schon ein Wunder, dass sie auf acht Anlegebäume getroffen waren.
Während sie auf das Verwaltungsgebäude zuschritten – oder auf die Bar oder auf beides – steckte der Commander den Arbeitern, die das Flugschiff mit den Leinen gesichert hatten, ein paar Greenbucks zu. Ein wenig Schmiermittel förderte die Hilfsbereitschaft.
Im Gebäude selbst erwartete sie eine laute, lärmende Bar, in der die ersten sogar schon um diese Uhrzeit besoffen waren. Piloten, Geschäftsleute oder solche die so taten als wären sie es, Bandidos und wer sich sonst immer um diese Tagesstunde einen Tequila hinter die Binde kippte, hatten sich hier versammelt. Zwischen den Tischen flitzten die Bedienungen umher. Einige Dirnen saßen neben besonders zahlungskräftigen Kunden oder gleich auf deren Schoß.
Als die beiden Gringos eintraten, wurde es für einen Moment wirklich still. Sie waren im Fokus des allgemeinen Interesses.
Dave ließ sich nicht von dieser Situation einschüchtern. Wer jemals auf dem Empfang eines deutschen Generals gewesen war, der wusste wie man mit forschem Auftreten die eigene Unsicherheit überspielte.
„Komm, Jerry.“
„J-ja, Chef.“
Sie traten durch die eisige Stille bis an den Tresen heran.
Der Wirt rauchte eine dicke Havanna-Zigarre, die er eigentlich mehr kaute. Durch den Qualm sah er die beiden an. „Was darf es sein, Gringos?“
Sein Akzent war stark, aber sein englisch gut zu verstehen. „Milch“, erwiderte Dave Stone.
Wenn es im Raum noch stiller werden konnte, dann in diesem Moment. Selbst die letzten Geräusche verebbten. Selbst im eisigen Weltall konnte es nicht stiller sein.
„Milch?“, vergewisserte sich der Barkeeper.
„Hast du keine Milch, guter Mann?“
„Dies ist eine Bar! Natürlich habe ich keine Milch!“
„Dann gib mir eine Flasche Tequila. Aber bitte etwas Anständiges, und nicht dieses Zeug, dass du normalerweise ausschenkst.“ Dave griff in seine abgetragene Fliegerjacke und zog ein paar Greenbucks hervor. „Heute noch, wenn es geht.“
Der Wirt drehte den Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen. „Hast mich fast gehabt, Gringo“, erwiderte er, griff hinter sich und stellte eine unbeschriftete Glasflasche und zwei saubere Gläser auf den Tresen.
Dave zog den Korken der Flasche mit den Zähnen heraus und schenkte die Gläser für sich und Jerry halb voll. Er unterband die Versuchung, misstrauisch daran zu schnüffeln. Ein Glas mussten er und Rook auf jeden Fall trinken, wenn sie in dieser Versammlung von Testosteronbomben nicht das Gesicht verlieren wollten.
„Wohl bekommts“, sagte er, stieß mit dem anderen Piloten an und stürzte das Glas in einem Zug herunter. Rook war vorsichtiger und nahm nur einen Schluck, den er gleich mit einem Hustenanfall kommentierte.
Wohlmeinend spöttisches Gelächter klang von einigen Tischen herüber.
Dave konnte für ein paar Sekunden weder atmen noch sprechen, aber das kaschierte er mit stoischer Gelassenheit. Danach schenkte er sich nach und füllte Ryans Glas bis zum Rand. „Damit du nicht zu weit zurückbleibst, Rook.“
„Boss“, erwiderte der ehemalige BASler, „dieses Zeug ist…“
Interessiert beugte sich der Wirt vor. Auch einige der Gäste an den Tischen spitzten die Ohren.
„…grauenvoll…“, bemerkte Jerrard Ryan kleinlaut.
Dies löste weiteres wohlmeinendes Gelächter aus. Auch Dave lachte dazu und stürzte sein zweites Glas. Diesmal ging es besser, er hatte nicht mal Atemnot.
„Der Junge sollte wohl doch besser Milch trinken. Frag mal die Senoritas, ob sie dir nicht die Brust geben können“, rief jemand aus dem Hintergrund.
Ryan wurde rot, als er das hörte. Wütend griff er nach dem Glas, starrte es ein paar Sekunden an und trank dann in gierigen Schlucken das ganze Glas leer.
Als er es mit einem weiteren Hustenanfall absetzte, hatten die beiden Piloten der NORTH STAR gewonnen. Nun gehörte der Laden ihnen. Mehr oder weniger.
„Was führt euch zwei Gringos mit der großen Zigarre ausgerechnet nach La Paz?“, fragte der Wirt und drehte den Stummel mehrfach im Mundwinkel.
„Nachschub“, erwiderte Dave schlicht. „Aber das muss ich mit dem Hafenmeister besprechen.“
„Ich bin der Hafenmeister.“
„Oh, gut. Ich brauche Flugbenzin, Munition, Raketen, Nahrung und ein paar Flaschen von dem Gesöff, dass du mir gerade angedreht hast.“
Der Mexikaner beäugte die beiden Piloten genauer. „Ihr kommt wohl gerade aus einem Gefecht, oder?“
„Etwas Ähnliches. Es war ein weiter Flug.“ Dave schenkte sich noch einmal etwas nach, diesmal nur einen Finger breit. Rook klopfte er auf die Finger, als der störrische Pilot ebenfalls zur Flasche greifen wollte. „Hast du hier Farbe? Ich muss einiges umlackieren lassen.“
„Ihr habt den Zeppelin gestohlen, oder?“, schlussfolgerte der Barmann messerscharf. „Und jetzt wollt ihr ihn tarnen.“
„Ja, wir haben ihn gestohlen“, erwiderte Dave grinsend. „Aber von tarnen kann keine Rede sein. Im Gegenteil, ich will ihn etwas rausputzen. Dazu brauche ich die Farbe.“
„Du musst ein mutiger Mann sein, Gringo, wenn du deinen Feinden zeigst, wo sie dich finden können. Oder ein großer Idiot. Was ist es, Gringo?“
„Etwas von beidem, schätze ich. Kommen wir ins Geschäft?“
„Männer und Material. Dazu den Nachschub. La Paz ist nicht billig. Dafür verstehen wir es hier, die Klappe zu halten.“
„Ich weiß das zu schätzen. Und ich bin für meine Großzügigkeit bekannt.“
„Interessant. Wie heißt denn deine Zigarre? Fürs Hafenregister.“
„NORTH STAR.“
Der Wirt zog ein großes abgewetztes Buch hervor und schlug die aktuelle Seite auf. „NORTH STAR. Eigner?“
„David Stone.“
„David Stone, aha. Die Liegegebühr beträgt pro Tag zwanzig Greenbucks. Alle anderen Dinge werden verhandelt. Wie lange willst du hier vor Anker gehen, David Stone?“
„Schreib mich für eine Woche ein.“
„Eines noch, David Stone. Wir schätzen es überhaupt nicht, wenn das Air Center beschädigt wird. Du kannst hier meinetwegen kämpfen wenn du verfolgt wirst. Aber sieh zu, dass meine Bar heile bleibt. Ich schieße eher auf deine Zigarre als auf deine Feinde, hast du das verstanden?“
„Ist in Ordnung.“ Dave stürzte den Rest seines Tequilas und verkorkte die Flasche wieder. Dann schob er dem Wirt hundertvierzig Dollar für die Woche Liegezeit zu. „Ich lasse dir eine Liste mit meinen Anforderungen zukommen.“ Er griff nach der Flasche und nach Rooks Arm. „Ich bin in meiner Zigarre, falls mich jemand sucht.“
„Hey, Gringo!“, rief jemand aus der Menge. „Bist du der Dave Stone? Der von Hawaii?“
Armstrong grinste. Spätestens jetzt hatten sie gewonnen. „Ja, der bin ich.“

***

Drei Stunden später wankten die beiden Piloten nach Hause. Ryan hatte mächtig Schlagseite, und auch Dave begann schon alles doppelt zu sehen. Zuerst hatte er einen ausgegeben, dann hatten er und Rook einen Tequila nach dem anderen spendiert bekommen. Dazu hatten sie erzählen müssen, was sie auf Hawaii erlebt hatten. Vor allem Ryan war sehr schnell aufgetaut und hatte farbig und in grandiosen Bildern von der Schlacht berichtet – genau so wie es die Mexikaner wollten.
Bevor der junge Pilot auf den Tisch kotzen konnte, hatte Dave sie wieder losgeeist.
„Ich nehme an, du hattest Erfolg?“, fragte Steel mit verschränkten Armen. Er grinste die beiden stockbesoffenen Männer an.
„Kannst den Abflug abblasen. Hier sind wir erstmal sicher“, erwiderte Armstrong. „Ruf mal den Doc für den Kleinen. Ich glaube, der hatte einen zuviel.“
Steel besah sich den glasigen Blick des jungen Piloten. „Wenigstens hast du aufgehört, bevor er sich tot gesoffen hat. Ich regele das schon. Komm schon, du BAS-Wunderpilot. Wir gehen jetzt aufs Scheißhaus, und dann lernst du eine alte Luftwaffentradition kennen. Sie nennt sich Finger in den Hals. Du kommst klar, Boss?“
„Verdammter Tequila“, brummte Armstrong statt einer Antwort.
„Ich lasse dir Kaffee bringen. Oder willst du dich bei unserer Tradition anschließen?“
„Ich glaube, ich höre einfach auf mit dem Zeug.“ „Ha, ha, der war gut.“

Erschöpft lehnte sich Dave gegen die Innenwand des Hangars. Verdammte Männlichkeitsrituale. Verdammter Schnaps. Verdammte Mexikaner.
„Soll ich dir einen Kaffee holen, Dave?“
„Der wird nicht helfen. Ich sollte mich wohl besser Steel und der Luftwaffentradition anschließen, Sam.“
Die blonde Frau aus Texas sah den großen Mann amüsiert an. „Ach, du meinst Finger in den Hals? Weißt du, wie du danach stinkst?“
„Ich schwitze, ich war in einer überfüllten Bar mit vierzig Männern und mein Atem stinkt wie ein schlechtes Fass Rum. Kann man das noch steigern?“
„Ich hol dir deinen Kaffee“, sagte sie stattdessen. „Und danach legst du dich hin.“
„Sag Blue, er soll die Listen fertig machen und dem Hafenmeister schicken“, rief Dave ihr nach.
„Ja, ja.“
Dave überlegte einen Moment, dann verließ er den Hangar wieder. Er betrachtete die Außenhülle und nickte zufrieden. Ja, seine Idee würde sich wunderbar machen. Das Sternbild des kleinen Bären auf dem vorderen Drittel, mit eindrucksvollen fünfstrahligen Sternen und dicken, goldenen Verbindungslinien sowie einem gehighlighten Nordstern würde prächtig aussehen. Sicher, es war arrogant, aber er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. Und wenn ganz Texas hinter ihm her war, es war egal. Ab hier würde er sich durchsetzen.
„Hier, dein Kaffee“, sagte Sam amüsiert und drückte ihm den heißen Becher in die Hand.
„Ich kann es genau vor mir sehen. Das Sternzeichen, dazu der klangvolle Name in extra großen Lettern auf Mitte und hinterem Drittel. Es wird wundervoll aussehen.“
„Und angreifende Piloten werden die Sterne als Zielscheibe missbrauchen. Ich sollte zusehen, dass wir die Sterne ordentlich panzern“, erwiderte die Technikerin säuerlich.
„Alles hat irgendwie einen Nachteil.“
Sie griff nach Daves Hand und drückte sie fest. „Aber du hast Recht, Chef. Es wird wundervoll aussehen.“
„Danke.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und merkte kaum, dass er sich halb verbrühte. Was wohl Cat nun von ihm halten würde? Immerhin hatte er jetzt auch eine texanische Zigarre geklaut…
Wahrscheinlich auf die Schulter klopfen und fragen: „Warum nicht gleich so?“
Dave grinste.
„Chef, der Kaffee hat gerade noch gekocht.“
„Ich weiß“, erwiderte er und nahm noch einen Schluck.
29.08.2020 06:33 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Die Stimmung an Bord der NORTH STAR war nicht die Beste. Die erlittenen Verluste drückten auf die SMoral. Und als ob das nicht genug wäre, nun waren sie zudem auch noch für vogelfrei erklärt worden. Auch wenn es im Kapergewerbe sehr skrupellos zuging, manche Dinge gehörten sich einfach nicht. Jemanden erst in ein Kamikazeunternehmen zu hetzen (oder sogar mehr als einmal) und ihn dann eiskalt zu verkaufen, das entsprach ganz einfach nicht dem ungeschriebenen Ehrenkodex. Und auch wenn selbiger nicht gerade in Stein gehauen war, Texas trampelte auf eine Art und Weise darauf herum, die das tolerierbare Maß bei weitem überschritt. Sogar unter Piraten. Wenn das erst einmal die Runde machte, dann würden die Texaner bald feststellen müssen, dass es für sie sehr schwer werden würde, Kaperer anzuheuern, oder mit solchen zu verhandeln. Keiner wollte ein Messer zwischen die Rippen.

Natürlich, alle die jetzt noch an Bord der NORTH STAR waren, hatten sich aus mehr oder weniger freien Stücken entschlossen, alle noch bestehenden Brücken hinter sich zu verbrennen. Aber das bedeutete nicht, dass sie unbedingt glücklich mit ihrer Entscheidung waren. Dass Texas sie fallengelassen hatte wie eine heiße Kartoffel, war schon schlimm genug. Aber damit nicht genug, Japan würde bestimmt nicht vergessen, dass es die Männer und Frauen der NORTH STAR gewesen waren, die versucht hatten, Japan in einen Krieg mit Sowjetrussland zu verwickeln. Wenn die Soldaten des Tennos etwas hassten, dann war es der Versuch, manipuliert, hintergangen, und für dumm verkauft zu werden. Vor allem von solchen ‚Nobodys’ wie ein paar Kaperern. An den Händen der Vogelfreien klebte japanisches Blut. Ishida und Sakai mochten aus einer Anwandlung von ‚fair play’ und wegen ihrem komplizierten Gefühl von Ehre und Schuld der NORTH STAR die Flucht erlaubt haben. Aber das war eine einmalige Geste gewesen, dem gemeinsamen Kampf gegen die ANZAC geschuldet. Bei der nächsten Begegnung würden die Waffen sprechen. Jeder Mann, jede Frau an Bord trug nun eine unsichtbare Zielmarkierung auf dem Körper. Japan vergaß nicht und vergab niemals. Der ‚bushido’ verlangte von einem Samurai Mut, Ehrenhaftigkeit, Loyalität, Opferbereitschaft und Todesverachtung. Gnade aber war keine Tugend, die von einem japanischen Krieger erwartet wurde.

Es war klar, warum Blue bei Armstrong geblieben war. Genauso war es mit Max, mit Sam, und mit einigen anderen. Bei Einigen war es hingegen weniger klar, warum sie sich nicht abgesetzt hatten. Steel gehörte zu dieser Kategorie. Natürlich, er war Staffelkommandeur. Aber selbst diejenigen, die ihn nicht besonders mochten, und das waren nicht wenige, mussten zugeben, dass er auch anderswo einen entsprechenden Posten hätte bekommen können. Und auch wenn er normalerweise ganz gut mit dem Commander klar kam, das Verhältnis war nicht unbedingt herzlich zu nennen. Steel machte sich eigentlich nie mit jemandem an Bord gemein, blieb immer für sich. Und aus welchen Gründen er sich auch immer entschlossen hatte, an Bord der NORTH STAR zu bleiben –Loyalität gehörte wohl nicht dazu.

Die wahren Gründe für Steels Verweilen kannte an Bord wohl nur eine einzige Person – Kiki. Jedenfalls vermutete Steel das, da er sich keinerlei Illusionen darüber machte, welche Aufgaben die junge Japanerin im ‚Sword and Dragon’ wahrscheinlich neben ihrer ‚offiziellen Arbeit’ wahrgenommen hatte. Aber da er das nur vermutete, sich aber nicht sicher sein konnte, hielt er sorgfältig Abstand, soweit das an Bord eines Zeppelins möglich war.
Hatte der japanische Geheimdienst Marquardt diese ‚Venusfalle’ auf den Hals gehetzt? Oder verfolgte Kiki ihre eigenen Ziele? Jedenfalls zog die junge Japanerin zuviel Aufmerksamkeit auf sich, um ihr unauffällig auf den Zahn zu fühlen. Außerdem, wenn er sich täuschte, dann konnte ein gescheiterter Kontaktversuch verlangen, dass er sie töten musste. Wenn sie seine Tarnung gefährdete…
Und so etwas war nichts, was Steel gerne getan hätte. Insgeheim verabscheute er Gewalt gegen Frauen. Das war eine Schwäche in seinem Gewerbe, in dem das Geschlecht wenig über das Gefahrenpotential eines Gegners aussagte. Aber wie dem auch sei, es war besser, sie den ersten Schritt machen zu lassen, selber aber vorerst in der Deckung zu bleiben. Falls sie zu so einem Schritt autorisiert war, dann würde sie aktiv werden. War sie es nicht, oder wusste sie tatsächlich nichts über von Stahlheims Identität und Auftraggeber, dann vergab er sich nichts.

Der abrupte Richtungswechsel der texanischen Führung hatte auch Ernst von Stahlheim überrascht. Was die Abwehr von dieser neuen Situation halten mochte, konnte er nur vermuten. Seine Anweisungen waren eigentlich sehr eindeutig. Nach dem Treffen mit Sorge sollte erst wieder in Sky Haven direkt Kontakt mit der Abwehr aufnehmen. Es war ihm bis dahin strikt untersagt, Meldungen abzusetzen. Der Grund dafür lag auf der Hand – nach einer derart riskanten Aktion wie ‚Operation Accolon’ entsprach es den Regeln der Konspiration, erst einmal den Ball flach zu halten, sich sozusagen tot zu stellen. Es war nur vernünftig, die nächste Zeit jedwede fragwürdige Aktivität zu vermeiden, und dafür die Augen nach irgendwelchen Anzeichen von Misstrauen oder Verdacht offen zu halten.
Aber diese Regeln waren wohl kaum für so eine Situation entworfen worden. Von einem ‚anerkannten Kaperer’ war er zum Stellvertreter eines Vogelfreien mutiert, der es sich de facto mit zwei Großmächten verscherzt hatte, und hinter dem auch noch andere Fraktionen hinterher waren. Die Maschine mit dem Nitro-Booster war in Sicherheit. Und über die reichlich überambitionierten Pläne von Texas würde er jetzt wohl auch nichts mehr erfahren. Dafür war er jetzt definitiv auf der falschen Seite. Das Vernünftigste wäre gewesen, wenn er sich so bald wie möglich absetzte. Aber natürlich waren Vernunft und gesunder Menschenverstand nur zweitrangig. An erster Stelle kamen die Befehle der Abwehr. So sollte es jedenfalls sein. Aber solange er Funkstille hielt, war er aufs Raten angewiesen. Was sollte er etwa tun, wenn ein japanisches Zeppelin auf Abfangkurs auftauchte? Überlaufen, sich absetzen, kapitulieren – oder kämpfen?

Es waren diese und ähnliche Überlegungen gewesen, die ihn zu etwas veranlasst hatten, was eigentlich strikt verboten war. Er hatte gegen einen eindeutigen Befehl verstoßen, mit der fragwürdigen Entschuldigung, dass die Ereignisse diesen Befehl überholt hatten. Er hatte einen Funkspruch an Elisabeth abgesetzt. Bevor er Sky Haven verlassen hatte, hatte sie ihm, reichlich kurz angebunden, einen Zeitpunkt genannt, an dem sie üblicherweise auf Empfang war. Sie waren nicht gerade im Einvernehmen voneinander geschieden.
Und jetzt schwieg die Abwehrstation Sky Haven, antwortete ganz einfach nicht auf seine Funksprüche. Beim ersten Mal war er verärgert gewesen, aber nicht überrascht. Pünktliche Sende- und Empfangzeiten waren in der Theorie gut und schön, im realen Leben allerdings hatte wohl jeder Agent schon mal mit technischen und atmosphärischen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, oder hatte den gesetzten Termin einmal nicht einhalten können.
Als bei seinem zweiten Funkspruch Sky Haven immer noch schwieg, war Ernst von Stahlheim unruhig geworden. Elisabeth galt als disziplinierte Funkerin und verlässliche Agentin. Auch wenn sie im Streit auseinander gegangen waren, sie war Profi genug, um ihre Gefühle aus der Funkerei herauszuhalten. Also blieb Sky Haven nicht einfach nur stumm, weil Elisabeth nicht mit ihm reden wollte.
Als dann auch der dritte Funkspruch unbeantwortet im Äther verhallte, da hatte eine kalte, lähmende Furcht nach Ernst von Stahlheims Herzen gegriffen. Drei Funksprüche nicht zu beantworten – das konnte kein Zufall sein. Das verhieß nichts Gutes.
Was konnte nur geschehen sein? Unglücklicherweise gab es da allzu viele Möglichkeiten. In Sky Haven operierten die Geheimdienste sämtlicher Diadochenstaaten der alten USA. Auch die Briten, Franzosen, Mexikaner und angeblich sogar Russen waren zumindest zeitweilig präsent. Und paradoxerweise waren das die ‚zivilisiertesten’ Bedrohungen – zumindest die meisten westlichen Geheimdienste folgten ansatzweise gewissen Spielregeln.

Aber Sky Haven galt nicht umsonst als ‚des Teufels Planschbecken’. Es war ein mörderisches Pflaster, besonders für eine junge Frau. Sogar, wenn diese junge Frau zur deutschen Abwehr gehörte. Allein die Vorstellung, was Elisabeth in der Zwischenzeit alles hatte zustoßen können, raubte Ernst von Stahlheim den Schlaf. Und er konnte nichts tun, musste warten – warten. Die Art und Weise, wie er und Elisabeth sich getrennt hatten, belastete ihn zusätzlich. Mehr, als es eigentlich sein sollte. Es war nicht gut, wenn man erlaubte, dass persönliche Gefühle das eigene Handeln beeinflussten. Das galt besonders für das Geheimdienstgewerbe. Natürlich wusste Ernst von Stahlheim das. Hätte er bloß auch entsprechend gehandelt…
Es war ihm zunehmend schwer gefallen, seine Tarnung aufrecht zu halten. Ernst von Stahlheim hatte gespürt, wie wieder und wieder in der Maske Risse aufgetaucht waren, die zu tragen er gezwungen war. Doch wenn es etwas gab, was er sich nicht erlauben konnte, dann war es das Auffliegen seiner Tarnidentität. Momentan war die Stimmung an Bord ohnehin angespannt – er wollte nicht auf die harte Tour erfahren, welches Schicksal einen Abwehragenten erwartete, der praktisch jede Aktion der NORTH STAR verraten und sogar eine der kostbaren Nitro-Booster-Maschinen hatte verschwinden lassen.
Er half Elisabeth bestimmt nicht, wenn er dafür sorgte, dass man ihn ohne Fallschirm aus dem Zeppelin warf. Zum Glück hatten die meisten an Bord genug eigene Probleme, um die sie sich Gedanken machen mussten. Wenn jemand doch etwas von der Anspannung bemerkt haben mochte, die Steel die Ruhe raubte, so schoben er oder sie es vermutlich auf die allgemein beschissene Lage.
Und Ernst von Stahlheim blieb nichts, als die Stunden und Kilometer zu zählen, die ihn noch von Sky Haven trennten. Er konnte nicht einmal beten, denn er glaubte an keinen Gott.
29.08.2020 06:35 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Es war der zweite Tag und früher Morgen, als Ernst Stahl auf das Landefeld von La Paz hinaustrat. Die Arbeiten waren schon im Gange, und auch wenn die Crew der NORTH STAR dezimiert war – die Disziplin war es nicht. Die Marines hatten ihre Posten aufgestellt, die Techniker werkelten an den Maschinen und eine ausgewählte Truppe pinselte eifrig auf der Außenhülle herum.
Steel gesellte sich zum Commander, der mit leuchtenden Augen zum Zeppelin hoch sah.
„Was meinst du“, fragte Dave unvermittelt, „sollten wir Dog Pack-Logo und Cat Pack-Logo je auf eine Seite der Zigarre anbringen?“
Steel besah sich den Zeppelin genauer. „Und wo soll es bitte hin? Der Schriftzug NORTH STAR in dieser Hollywood-Schriftart nimmt ja schon zwei Drittel ein. Der Rest geht für die riesigen goldenen Sterne des Sternzeichens des kleinen Bären drauf. Ist übrigens gut geworden. Aber darf ich dich über die tatsächliche Leuchtkraft der einzelnen Sterne aufklären?“
Dave verzog seine Miene säuerlich. Der Industrial hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich weiß ja. Das ist typisch amerikanisch. Hauptsache es sieht gut aus. Mit deutscher Gründlichkeit kommt man hier anscheinend nicht weit.“
„Wenn wir uns schon mit der halben Welt anlegen, dann wird die deutsche Gründlichkeit noch nützlich genug sein. Im Moment aber brauchen wir amerikanischen Glamour.“
Er winkte einen der Marines heran, der mit einem tragbaren Funkgerät wartete.
Steel hob interessiert die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
„Okay, el Toro, zieh jetzt über das Landefeld hinweg und geh in eine enge Kehre nach rechts.“
In diesem Moment rauschte eine Defender über das Landefeld, legte sich auf die rechte Seite und zog eine enge Kehre. „Gut, gut, jetzt einen Fokker-Hüpfer.“
Gehorsam baute der Flieger Höhe auf, und ging dann erst in den Sturzflug, nur um danach die Maschine abzufangen und steil hoch zu ziehen. Ein gängiges Manöver, um ein Flugzeug zweimal angreifen zu können, und eines von Stones Lieblingsmanövern.
„Oh, das ist schlecht! Zwei Angreifer von neun Uhr!“ Die Defender reagierte sofort, brach nach links aus und nach unten weg. Danach zog der Pilot einen Immelmann, also einer halben Rolle, bei der er aber auf dem Höhepunkt des Steigflugs das Flugzeug wieder auf den Bauch rollte. Mit diesem Manöver hätte er eventuellen Angreifern im Nacken gesessen.
Steel quittierte es mit einem Stirnrunzeln.
„Barrel-Rolle.“ Die Defender drehte, während sie strikt Kurs hielt, um die eigene Längsachse. Dabei büßte sie etwas Höhe ein, aber es war nichts Weltbewegendes.
„Trudeln.“ Sofort sackte die Defender ab. Es wirkte wie ein unkontrollierter Absturz, aber der Pilot fing die Maschine zweihundert Meter tiefer problemlos ab. Auch dies war eines von Dave Stones Lieblingsmanövern. Sehr gewagt, sehr gefährlich und sehr leicht auszunutzen. Zum Glück schienen die meisten Piloten Amerikas es nicht zu kennen, ein Grund dafür, dass Armstrong noch immer lebte.
„Retournment!“ Die Defender setzte zu einem Steigflug an, ohne aber einen Looping auszuführen. Stattdessen drehte sie auf dem höchsten Punkt der Steigung, an dem ihre Geschwindigkeit am langsamsten war, scharf über den linken Flügel und schoss in die Gegenrichtung davon.
Armstrong wechselte einen amüsierten Blick mit Steel, der nun auch noch die Stirn runzelte.
„BLITZ! BLITZ! BLITZ!“ Für mehrere bange Sekunden hielt die Defender die gleiche Höhe und die gleiche Richtung bei. Nach einem Angriff mit Blitzraketen, wenn der Pilot geblendet wurde, war dies die beste Möglichkeit, um nicht den Boden zu knutschen.
Man sagte zwar, ein guter Pilot spürte mit dem Arsch, ob er stieg oder fiel, aber Armstrong verließ sich doch lieber auf die gute alte Disziplin. Menschen neigten dazu, zu schnell in Panik zu verfallen.
„Okay, el Toro. Nun noch ein Looping, und dann landen.“
Wieder zögerte der Flieger nicht eine Sekunde und setzte zu einem großen, ausufernden Looping an, den Armstrong mit Wohlwollen beobachtete.
„Also“, sagte Steel, der sich nicht mehr zurückhalten konnte, „was hat das zu bedeuten?“
„Das, mein lieber Staffelführer“, erwiderte Armstrong grinsend, „ist dein neuer Mann für das Dog Pack. Er bringt sogar sein eigenes Flugzeug mit. Damit hättest du drei aktive Piloten. Vier, sobald wir dir eine Mühle aufgetrieben haben.“
„Es macht dir Spaß, darauf herum zu reiten, dass ich meinen Vogel im Pazifik versenkt habe, oder?“
„Ich habe meine Fury auch verloren. Und ich habe den Vogel wirklich geliebt. Vor allem den netten Nitro-Booster“, erwiderte Dave säuerlich.
„Schon gut, schon gut. Ohne Flügel zu sein macht mich vielleicht etwas streitsüchtig. Also, was hat es mit diesem el Toro auf sich?“
„El Toro, oder auch Juanito Maria Garcia y Morales kam heute Morgen in unseren Hangar spaziert und wollte den Boss sprechen. Zufällig war ich gerade mit meinem Frühstück fertig, also ließ ich den jungen Mann bitten. Darauf folgte eine Konversation, die fast in Tränen der Rührung erstickten. El Toro hat mir erzählt, welche Mühe es ihm gemacht hatte, die NORTH STAR zu finden, aber er hatte sich gedacht, dass wir über Mexiko nach Amerika zurückkehren würden und auf La Paz gesetzt. Und nun ist er hier und fliegt für uns.“
„Chef, manchmal glaube ich, du bist etwas naiv. Was ist mit dem Burschen? Hat er tiefblaue Augen und ein Jungengrinsen, oder warum holst du jemanden an Bord der ein Spion, ein Saboteur, oder noch schlimmer, ein Attentäter sein könnte? Und erzähl mir nichts davon, dass du gerne gefährlich lebst.“
„Er hat mir eine nette Geschichte erzählt. Angeblich ist sein Vater ein alter Rivale von einem gewissen Kapitän Gomez, der eine gewisse Zigarre namens SANTISSIMA TRINIDAT befehligt. Er sagte mir, Papa el Toro war hoch erfreut, dass der Angriff der Santa Ana Lanciers auf meine NORTH so spektakulär gescheitert war, und dass die beiden unsere weitere Karriere mit Interesse verfolgt hätten. Als wir dann auf Hawaii verraten und verkauft wurden, hat es El Toro Junior nicht mehr gehalten. Er hat seinen Job bei einer mexikanischen Luftsicherheitsfirma hingeschmissen und ist auf blauen Dunst zu uns gekommen, um uns zu unterstützen.“
„Und den Scheiß kaufst du ihm ab? Ist el Toro wenigstens eine Frau, damit ich sagen kann, deine Hormone gehen mit dir durch? Dave, wie gutgläubig seid ihr Krauts eigentlich?“
„Du hast den Jungen fliegen gesehen. Er ist gut. Besser als die meisten. Und wir brauchen Piloten und Maschinen. Vor allem Maschinen. Gerade jetzt, auf halbem Weg nach Sky Haven, können wir nicht wählerisch sein.“
„Du weißt, welchen unermesslichen Schaden ein Verräter in der Crew anrichten kann? Vor allem wenn er ein Pilot ist? Weißt du welches Risiko du eingehst? Dave, verdammt, warum bist du so unvernünftig?“
Die beiden Piloten maßen sich mit Blicken – Steel wütend und herausfordernd, Armstrong gelassen und doch ernst.
„Weil ich keine andere Wahl habe, verdammt. Dieser Junge ist das Beste, was mir bisher unter gekommen ist und ich habe wirklich mit dem Gedanken gespielt, noch ein paar Piloten mit Maschinen in La Paz zu rekrutieren.“
Mühsam öffnete und schloss Steel die Hände. „Du gibst ihn dem Dog Pack?“
„Ja. Tu mit ihm was du willst.“
„Und wenn ich ablehne?“
„Dann schmeiße ich ihn wieder raus. Mein Staffelchef ist mir wichtiger als ein unbekannter Pilot.“
Steel wollte erleichtert etwas sagen, aber Dave hob die Rechte. „NACHDEM du ihn auf Herz und Nieren geprüft und dein Misstrauen abgebaut hast, okay? Das ist ein Befehl, Steel.“
Missmutig sah Ernst Stahl zu der landenden Defender herüber. „Defender, pah. Gibt es nichts Größeres mit mehr Feuerkraft? Ich teile ihn erst mal Max als Flügelmann zu. Und ich hoffe, du hast uns da kein faules Ei ins Nest geholt.“
Armstrong taxierte den Industrial mit einem nachdenklichen Blick. „Du machst das schon, Ernst. Ich habe volles Vertrauen in dich.“
„Du musst mir keinen Honig um den Bart schmieren“, brummte Steel.
„Ich sage es dir jetzt, ich habe es dir gesagt und ich werde es dir noch tausendmal sagen, Ernst. Du bist mein bester Pilot. Du führst eine meiner Staffeln an. Und du hast mein Vertrauen.“
Der Industrial schnaubte und sah zu dem ausrollenden Flieger herüber, der von ein paar Technikern der NORTH empfangen wurde. „Ich sehe ihn mir mal an.“
Als Steel ein paar Schritte gegangen war, fing ihn Armstrongs Stimme ein. „Steel!“
„Was? Ich gebe ihm ja eine Chance!“
„Ich will etwas anderes von dir. Egal wie lange du planst auf der NORTH zu bleiben, hilf mir bitte zumindest, Jerome aus diesem Universum zu tilgen. Sieh das als Bitte eines Freundes an.“
Der Industrial schnaubte etwas Unverständliches und ging weiter. Danach klangen ein paar unschöne, aber gut hörbare Wörter auf, die Dave ein Lächeln abtrotzten.
Noch zwei, drei Tage, die sie brauchten, um die Zigarre auf Vordermann zu bringen und die ihnen vielleicht einen weiteren Fan bescherten, der für die NORTH fliegen wollte – sie waren gerade populär – dann ging es direkt nach Chihuahua. Dort würden sie ein, zwei Neuigkeiten erlauschen oder kaufen, und danach ging es direkt nach Sky Haven. Ein bis zweihundert Greenbucks würde ihnen eine sichere Passage über Arixo einbringen. Das Doppelte vielleicht sogar den Schutz der Luftmiliz des Anazasi-Staates. Falls die Texaner, ihre ehemaligen Kameraden, die Gelegenheit nutzen wollten, um die untreue Zigarre zu Boden zu schicken.
„Chef, du hast Besuch.“
Dave wandte sich halb um. „Noch ein Pilot, Thaddeus?“
Der frisch beförderte Marine grinste schief. „Nicht ganz so nützlich, aber auch ganz nett. Air Action Weekly.“ Der Marine winkte einem Posten zu, der daraufhin eine junge Frau passieren ließ. „Brauchst du Begleitschutz, Chef?“
„Ich denke, eine einzelne Frau im leichten Sommerkleid kriege ich in den Griff. Air Action Weekly hast du gesagt? Und sie will zu mir?“
„Anscheinend sind wir berühmt“, kommentierte der Texaner.
„Wir werden sehen.“

***

Air Action Weekly – Exklusiv in dieser Ausgabe!
Die NORTH STAR und ihr Commander, David Armstrong Stone in Bildern und im Interview!
Lesen Sie alles über den misslungenen Shannon-Raub in Corpus Christi!
Erfahren Sie alle Details über die fünf sowjetischen Frachtzigarren, die der NORTH STAR zum Opfer fielen!
Einmalig und weltexklusiv: Fakten und Karten über den Präzisionsangriff auf den japanischen Aleuten-Flughafen!
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Nur hier und nur in dieser Ausgabe!
Einst ein Zögling des charmanten Gentleman-Piraten Cat Shannon zeigt der Commander der NORTH STAR, aus welchem Holz er wirklich gestrickt ist!
Ebenfalls weltexklusiv: Stones Flucht aus Deutschland, sein langer Weg nach Amerika und alle Details über seine Karriere in der Luftwaffe!
Air Action Weekly, immer am Rhythmus der Motoren!


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29.08.2020 06:37 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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NORTH STAR, einige Kilometer von Sky Haven entfernt

Auch wenn Ernst von Stahlheim sich wie gerädert fühlte, er konnte keinen Schlaf finden. Er hatte versucht, seine Sorgen und Befürchtungen mit Arbeit zu ersticken. Es hatte nicht funktioniert. Insgeheim bedauerte er es fast, dass der Flug nach Sky Haven so überraschend problem- und ereignislos verlaufen war. Zwar sehnte er sich natürlich nicht nach einem Kampf mit einem japanischen Militärzeppelin. Aber ein kleines Gerangel mit einem Möchtegernpiraten oder Kopfgeldjäger hätte ihn vielleicht auf andere Gedanken gebracht. Aber in den letzten Tage war der Luftraum um die NORTH STAR geradezu verdächtig leer gewesen.

In ein paar Stunden würde er Gewissheit haben. Gewissheit darüber, was er tun sollte, jetzt da die NORTH STAR und ihre Mannschaft zu Vogelfreien erklärt worden waren. Gewissheit darüber, warum Elisabeth O’Conner nicht auf seine Funksprüche geantwortet hatte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht dauern auf und ab zu laufen. Aber dazu war die Kabine sowieso nicht groß genug, und außerdem könnte sich vielleicht jemand über die Geräusche wundern. Und das letzte, was er momentan gebrauchen konnte, war unnötige Aufmerksamkeit. Er musste überlegt handeln, kalt wie Eis. Aber es gelang ihm einfach nicht, die nötige innere Ruhe zu finden.

’’’’’’’’’’’’’
Sky Haven

Sie war todmüde. Die letzten Tage waren die Hölle gewesen. Ständig unterwegs, hatte sie sich zwischen dem Abschaum und dem Strandgut verborgen, der in Sky Haven dahinvegetierte. Zwei-, dreimal war sie beinahe gestellt worden. Zwei Männer hatte sie in den letzten Tagen töten müssen, und ihre Gesichter sofort wieder vergessen. Aber sie wusste, die Jagd näherte sich dem Ende. Die Meute kam immer näher.
Das Perverse war, sie wusste nicht einmal mit absoluter Sicherheit, WER sie jagte. Wer dirigierte die Hunde, die auf ihrer Fährte waren? Sie war eigentlich nicht wichtig genug für eine derart ausgedehnte Jagd. Jedenfalls für die amerikanischen Geheimdienste, die nun einmal in der Abwehr bisher noch nicht die Hauptbedrohung sahen. Sie waren halt nicht besonders klug. Die verschiedenen europäischen Geheimdienste waren da zwar realistischer, aber eigentlich war eine solche Hatz – und solche Jäger – untypisch für europäische Dienste. Elisabeth war sich ziemlich sicher, die für Sky Haven verantwortlichen Agenten Frankreichs und des Commonwealth zu kennen. Keiner dieser Männer würde ausgerechnet DIESEN Abschaum loshetzen. Und für GRU und NKWD gab es eigentlich keinen Grund, ausgerechnet in Sky Haven aktiv zu werden. Die sowjetischen Geheimdienste waren in Sky Haven kaum präsent und setzten sicherlich andere Prioritäten.

Wie sie es auch drehte und wendete – es blieb nur eine Möglichkeit. Wenn sie nicht wegen ihrer Abwehrtätigkeit zum Ziel geworden war, dann musste der Grund für diese Jagd in ihrem Umfeld liegen. Und diese Gedanken liefen bei zwei Namen zusammen. Oberst Ernst von Stahlheim. Und Ex-Leutnant David Marquardt. Angesichts der brisanten Aktivitäten und verdeckten Operationen in die der Deserteur und auch der deutsche Agent in den letzten Monaten verwickelt worden waren, gab es genügend Gründe, warum jemand alles über die beiden herausfinden, oder sich ein Druckmittel sichern wollte. Dazu musste der Entsprechende allerdings über die Verbindung zwischen Elisabeth und von Stahlheim Bescheid wissen. Es war auch der Gedanke an diese Verbindung, der die Agentin von dem Versuch abhielt, sich an Bord eines Zeppelins zu schmuggeln, und Sky Haven ganz einfach zu verlassen. Als Einsatzagentin für diese Stadt war sie ‚verbrannt’. Aber sie wollte nicht, dass Ernst von Stahlheim in eine Falle lief. Und wenn sie richtig lag, bei der Vermutung, die ihr von Tag zu Tag wahrscheinlicher erschien, dann musste sie ihn auf jeden Fall warnen. Ihn und diesen nutzlosen Verräter, an den er sich dummerweise gehängt hatte. Denn wenn Jerome von der LEVIATHAN hinter der Jagd steckte, dann würde er buchstäblich über Leichen gehen, um sein Ziel zu erreichen.

Ihr Informationsnetz hatte in den letzten Tagen einige schwere Verluste hinnehmen müssen. Aber immerhin hatte sie mitbekommen, dass die ANZAC-Invasion abgewehrt, und die NORTH STAR auf dem Rückmarsch war. Sie kannte das Ziel des Zeppelins und auch seine erwartete Ankunftszeit. Nicht, dass Marquardt momentan viele andere Optionen gehabt hätte. Sie wusste nicht, wie der Deserteur es geschafft hatte, sich derart in die Nesseln zu setzen, aber überrascht war sie nicht. Der Mann schien ein Talent dafür zu haben. Und von Stahlheims Talent war es offenbar, immer mit in den Schlamassel zu geraten. Falls er noch am Leben war. Auch wenn sie ihn für einen besseren Kämpfer hielt, als es die anderen Männer und Frauen an Bord der NORTH STAR waren, das war kein allzu sicherer Schutz. Die Sorge, was mit ‚Parsifal’ passiert war, war ein weiterer Grund, warum sie immer noch hier aushielt, statt zu versuchen, sich abzusetzen. Und da war natürlich auch die Befürchtung, dass ihre Verfolger die Flughäfen unter Beobachtung hielten. Außerdem traute sie den Kapitänen, deren Zigarren momentan starteten, nicht über den Weg. Genauer gesagt traute sie ihnen allesamt zu, dass sie sie für eine Handvoll Dollars an ihre Verfolger ausliefern würden. Wenn wenigstens Cat Shannon hier gewesen wäre – trotz seiner zahlreichen Fehler und Schwächen stand der Mann zu seinem Wort und fühlte sich zudem seinem Ruf als ‚edler Pirat’ verpflichtet. Aber so war die NORTH STAR immer noch ihre beste Chance. Und das bedeutete, sie musste ihr Versteck verlassen. Und wieder einmal alles auf eine Karte setzen. Das Spiel, das sie zu beherrschen glaubte, in den letzten Tagen hatte es sich in ein russisches Roulett verwandelt. Wenn sie diesmal verlor, würde sie wahrscheinlich sterben – und ihr Tod würde weder schnell noch schmerzlos sein.

Den Kopf gesenkt, eingehüllt in Kleider, die sie sonst als Lumpen bezeichnet hätte, machte sich Elisabeth O’Conner auf den Weg. Vorsichtig, verstohlen, wie ein Schatten, huschte sie durch die engen, meist unbeleuchteten Gassen der Piratenstadt.

***********

Auch Markus ‚Weasel’ Patrick war bereits auf den Beinen. Er hatte in den letzten Tagen ohnehin kaum Zeit zum Schlafen gefunden. Die Ergebnislosigkeit seiner Jagd zehrte an seinen Nerven. Immerhin ging es auch um seinen eigenen Kopf. Seine Frustration und seine Angst waren immer weiter gewachsen, und damit auch sein Hass auf diese verdammte Schlampe, die sich weigerte, sich fangen zu lassen. Mehrmals war sie ihnen nur um Haaresbreite entkommen, und er hatte drei weitere Männer bei der Jagd auf sie verloren – mindestens einen von denen hatte die Nutte offenbar eigenhändig abgeknallt. Weasels Auftraggeber wurden langsam wirklich ungeduldig, und seine eigenen Leute begannen sich zu fragen, wer die Frau tatsächlich war. Derartige Fragen konnte und wollte Weasel nicht beantworten. Und er konnte es doch nicht zulassen, dass eine dämliche Matratze ihn zum Narren hielt!

In ein paar Stunden würde die NORTH STAR landen. Das war seine letzte Chance. Aber wenigstens wusste er jetzt, wo und wann er die Schlampe finden konnte. Sie war alleine, sie war erschöpft, und man war ihr dicht auf den Fersen. Sie müsste, sie WÜRDE zur NORTH STAR fliehen.

Weasel musterte die Männer, die er für diese Aufgabe zusammengetrommelt hatte. Ein halbes Dutzend war es noch nach den Verlusten der letzten Tage, auf die er sich glaubte voll verlassen zu können. Der Rest der Jäger war bereits in Position, aber er bezweifelte insgeheim, dass die ausreichen würden. Deshalb würde er ein Risiko eingehen. Seine Auftraggeber wünschten kein Aufsehen, deshalb wäre ihnen Weasels Plan wahrscheinlich nicht recht gewesen. Aber sie wollten auch unbedingt diese Hure haben. Wenn er Erfolg hatte, würden sie das Risiko gutheißen, das Weasel eingegangen war. Erfolg rechtfertigte ALLES. Die Handvoll Männer musste reichen. Mehr würden sowieso auffallen. Wenn er sie richtig postierte, dann konnten sie die Schlampe rechtzeitig abfangen. Allerdings würde er seine Leute dazu relativ nahe am Zeppelin postieren müssen. Sie mussten schnell zuschlagen, und ebenso schnell wieder verschwinden. Aber es konnte klappen. Es musste klappen.
„Denkt dran, wenn möglich will ich die Nutte LEBENDIG. Aber wenn es sein muss, dann tötet ihr sie lieber, als dass sie entkommt. Habt ihr verstanden?!“
Zustimmendes Gemurmel ertönte. Die meisten der Männer waren ebenfalls übermüdet, sie waren frustriert, und nach Tagen der vergeblichen Suche mangelte es ihnen etwas an Enthusiasmus. Aber Weasel kannte sie. Wenn sie diese Schieberin doch erwischten…dann würde die Stimmung umschlagen. Das Gesicht des Söldners verzog sich zu einem grausamen Grinsen. Dann würde die Schlampe für die letzten Tage bezahlen.
Vermutlich glaubte sie, dass sie bald in Sicherheit sein würde. Aber sie würde erkennen müssen, dass ihre schlimmsten Albträume an diesem Tag wahr werden würden.

****************

Etwa zur gleichen Zeit

Der Mann ließ sich Zeit. Jede seiner Bewegungen war ihm wohl vertraut, hundertfach geübt. Der alte, verfallende Zeppelinhangar war menschenleer – kaum ein Kapitän wollte für die recht beachtlichen Liegegebühren seine Zigarre ausgerechnet in dieser halben Ruine unterbringen. Auf einem normalen Flugplatz wäre dieses Gebäude längst abgerissen oder durch ein neues ersetzt worden. Aber nicht in Sky Haven. Hier diente der alte Hangar als provisorische Lagerhalle für unverderbliche, billige Güter.
Das Gewirr aus Stützstreben dicht unter der Decke bot dem Mann optimalen Sichtschutz. Selbst wenn jemand hierher kommen würde, vom Boden aus war der Mann unmöglich zu sehen.
Zwar boten die schmalen Dachluken nur einen sehr begrenzten Ausblick, aber das reichte ihm völlig. Er wusste, wohin er seinen Blick richten musste. Er hatte seine Quellen.

Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, während der die Waffe überprüfte. Das Gewehr war in tadellosem Zustand, wie auch das dazugehörige, leistungsfähige Zielfernrohr. Behutsam zog der Mann ein Stoffpäckchen aus der Tasche und öffnete es. Auf dem hellen Leinen lag ein halbes Dutzend Patronen, jede einzelne sorgfältige von Hand gearbeitet. Das war eine seiner wenigen Laster – er arbeitete ungern mit Pfusch. Es waren Dumdumgeschosse, jede einzelne Patrone in der Lage, einen angreifenden Grizzly zu stoppen. Mit einer fast sinnlich wirkenden Behutsamkeit und Sorgfalt schob der Mann die Patronen in das Magazin. Dann streckte er sich auf der dünnen Decke aus, die er mitgebracht hatte, und richtete seine Aufmerksamkeit nach Draußen. Noch war die Sonne nicht hinter dem Horizont aufgetaucht, aber es versprach ein schöner Tag zu werden. Kurz huschte so etwas wie ein Lächeln über die Züge des Mannes. Geduldig und lautlos wartete der Scharfschütze auf seine Beute.

***

Die gigantischen Propeller der NORTH STAR drehten dich jetzt fast nur noch im Zeitlupentempo. Fünfzehn Meter trennten das Zeppelin noch vom Boden, dann waren zehn. Die Bodenmannschaft arbeitete verbissen an den Haltetauen. Der leichte Wind machte ihre Arbeit nicht einfacher. Langsam sank das Zeppelin zu Boden, und wurde gleichzeitig in Richtung Luftschiffhangar geschleppt.
Ein Teil der NORTH-Mannschaft schlief, erschöpft von der Arbeit. Immerhin waren auch einige Mitglieder der technischen Crew ausgestiegen, und die Verbliebenen mussten die Lücken füllen. Andere standen auf ihren Posten an den Maschinen. Zwei Maschinen flogen Begleitschutz. Wer Freizeit hatte, und nicht schlief, der bereitete sich auf den Landgang vor, oder stand auf der Brücke oder an einem der Fenster der ‚Galerie’, und verfolgte die Landung.
Ernst von Stahlheim wusste, dass der Commander auf der Brücke war, aber momentan war ihm nicht nach Marquardts Gesellschaft zumute. Geduckt stand er an einer der Einstiegsluken. Von Stahlheim hatte die Tür aufgestoßen, ließ sich den böigen Wind ins Gesicht wehen, und blickte hinab auf die Männer an den Haltetauen. Allerdings nahm er sie höchstens unbewusst wahr. Wäre er etwas wachsamer gewesen, dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass das Bodenpersonal diesmal teilweise erstaunlich schwerfällig bei der Arbeit war…

*****

‚Wo bleibt die verdammte Nutte!’ Weasel schwitzte. Er hatte es mit Geld und Drohungen geschafft, seine Leute bei dem Bodenpersonal des Flughafens unterzubringen.
Alle seine Männer waren in Position, bewaffnet mit Pistolen und Dolchen. Zwei Jeeps standen neben dem Hangar bereit, um ihnen einen schnellen Rückzug zu ermöglichen.
Jetzt musste nur noch die rothaarige Schlampe auftauchen. Weasel hatte darauf gehofft, dass sie schon früher hier aufkreuzen würde. Die NORTH würde gleich gelandet sein. Nun ja, eigentlich hatte er gehofft, dass bereits seine Außensicherung die Frau abfangen würde. Aber in dem Fall hätte man ihm längst Bescheid gegeben. Wenn sie auch diesmal nicht in die Falle ging, wenn die NORTH landete – dann würden sie sich absetzen müssen. Und er konnte sich dann gleich selber erschießen. Das wäre schmerzloser, als das Schicksal, welches ihn als Versager erwartete.
Weasel sah den hoch gewachsenen Mann in der Bordluke stehen, und automatisch senkte er seinen Kopf. Hektisch sah er sich um. Wo war bloß die Nutte?! Noch fünf Meter.

*******

Der Scharfschütze, der die Landung durch einen leistungsfähigen Zeiss-Feldstecher verfolgte, lächelte schmal. Seine Stimme war ein Flüstern, nur ein Hauch: „Nur ruhig. Wir sind doch alle da.“ Er ließ seinen Blick etwas schweifen, und sein Lächeln vertiefte sich: „Ja. Jetzt sind wir alle da.“ Dann legte er das Fernrohr beiseite, griff nach der Waffe. Hob sie in einer fließenden Bewegung zur Schulter. Zielte.

*******

Elisabeth O’Conner wäre bei einer scharf gefahrenen Kurve beinahe auf die Rollbahn gefallen. Mit letzter Kraft krallte sie ihre zitternden, verkrampften, blutverschmierten Hände um das Metallgestänge, das ihr nur fragwürdigen Halt bot. Und betete darum, dass niemanden die zusammen gekrümmte Gestalt auffiel, die sich auf dem Wassertankwagen verborgen hatte.
Auf das Flughafengelände zu kommen, war schwieriger gewesen, als erwartet. Bei jedem Eingang hatte sie mindestens zwei Männer bemerkt, die mehr oder wenig auffällig jeden unter die Lupe nahmen, der auf das Gelände wollte. Die Männer waren gut bewaffnet. Und auch wenn es ihnen an Professionalität mangeln mochte, sie waren wachsam, und sie waren gefährlich. Unmöglich, an ihnen unauffällig vorbei zu kommen. Zu allem Überfluss patrouillierten noch wenigstens zwei Zwei-Mann-Trupps an dem rostigen Stacheldrahtzaun, der den Flughafen begrenzte. Etwa zwanzig Mann mussten da aufgeboten worden sein. Und Elisabeth wusste, wen sie suchten.

Aber sie hatte es dennoch geschafft, sich beim Überwinden des Zauns allerdings Hände und Arme zerschnitten. Dann hatte sie bewusst einen Umweg gewählt. Anstatt zu dem Landeplatz der NORTH zu laufen, hatte sie sich für ein anderes Vorgehen entschieden. Sie fürchtete, dass ihre Verfolger an erhöhten Stellen Spähposten oder gar Scharfschützen aufgestellt hatten. Vielleicht überschätzte sie ihre Jäger damit. Vielleicht aber auch nicht. Sie wollte dieses Risiko nicht eingehen, nicht gerade jetzt, so dicht vor dem Ziel.
Da sie wusste, dass das einzige Luftschiff, welches bis heute Mittag in Sky Haven landen würde, die NORTH war, war es für sie relativ einfach gewesen, einen Alternativplan zu entwickeln. Während die Treibstofftanks der landenden Zeppeline üblicherweise erst kurz vor dem Start betankt wurden, wurden die Ballastwassertanks in der Regel sofort aufgefüllt.
Es war nicht einfach, aber auch nicht unmöglich gewesen, sich auf den großen Tankwagen zu schmuggeln. Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass der Fahrer den Wagen, der immerhin das Gewicht eines mittleren Kampfpanzers hatte, wie einen Jeep steuerte. Aber nur noch wenige Augenblicke, und sie hatte es geschafft. Sie würde in Sicherheit sein. Das Zeppelin schwebte nur noch wenige Meter über dem Boden, gehalten von den etwa zwanzig Männern des Bodenpersonals. Der Fahrer des Tanklastwagens legte eine Vollbremsung hin, die Elisabeth beinahe noch im letzten Augenblick heruntergeschleudert hätte. Aber dann schaffte sie es doch, sich festzuhalten. Als der Wagen hielt, sprang sie aus eigener Kraft herunter. Sie hatte es geschafft.
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie die hoch gewachsene Gestalt sah, die in der Luke stand. Das war fast zu gut, um wahr zu sein.

********

Auch Weasel konnte sein Glück nicht glauben. Er hatte schon alles verloren gegeben, als er sah, dass sich sein Schicksal doch noch zum Guten wendete. Er ließ das schwere Halteseil los. Stieß dem Arbeiter neben ihm, der ihn wütend anblaffte, was zur Hölle er vorhätte, die Faust in den Magen. Und begann zu rennen: „DA IST SIE! SCHNAPPT SIE EUCH!!“
Diesmal würde sie nicht entkommen. Schon hatte der erste von Weasels Männern sie erreicht.

******

Der Angriff traf Elisabeth überraschend. Ein brutaler Schlug schleuderte sie zur Seite, ließ sie zu Boden gehen. Roh packte eine Hand ihr Haar, zerrte sie hoch. Sie hörte eine gutturale Stimme, voller Hass und Triumph: „ICH HAB’ DIE NUTTE!!“
Jetzt endlich griffen ihre Selbstverteidigungsreflexe. Blitzschnell, ohne nachzudenken, stieß sie die linke Hand über ihre rechte Schulter, bohrte ihrem Gegner die ausgestreckten Finger in die Augen. Der Mann schrie dumpf auf. Sie kam frei, noch im Drehen zog sie ihre Pistole. Und schoss. Beide Treffer erwischten den Mann in der Brust, schleuderten ihn zu Boden. Hinter sich hörte eine gellende, sich überschlagende Stimme: „SCHNAPPT EUCH ENDLICH DIE VERDAMMTE SCHLAMPE, IHR BASTARDE!!“
Sie wirbelte wieder herum, die Pistole immer noch im Anschlag, drückte ab.
Ein metallisches Klicken war das einzige Resultat. Das Magazin war leer.

*****

Ernst von Stahlheim hatte die Gestalt gesehen, die von dem Wasserwagen herunter sprang. Aber er erkannte sie erst, als da unten die Hölle losbrach. Als einer der Männer der Bodencrew die Gestalt angriff, und im gelblichen Licht der Landescheinwerfer lange rote Haare aufblitzten.
Er sah, wie der Mann starb, der Elisabeth angegriffen hatte. Sah, wie zwischen den Mitgliedern der Bodencrew ein halbes Dutzend Männer auf einmal Dolche, Todschläger, oder Pistolen zogen, und Elisabeth einkreisten. Sah, wie die unbeteiligten Mitglieder des Bodenpersonals flüchteten, und Deckung suchten. Fühlte, wie der jetzt von Keinem mehr gehaltene Zeppelin vom Wind gepackt und zur Seite gedrückt wurde, sich immer weiter von dem Kampf entfernte.
‚Nein.’ „NEIN!!“
Es waren mehr als fünf Meter bis zum Boden. Aber das war jetzt unwichtig. Jedes Zögern hätte den Zeppelin nur noch weiter abgetrieben. Mit einem wütenden Schrei stieß sich Ernst von Stahlheim von der Luke ab, und sprang.

Einem der Kopfgeldjäger, der sich wie seine Kameraden völlig auf die endlich zum Greifen nahe scheinende Beute konzentrierte, blieb keine Zeit zu reagieren. Außerdem hatte er nicht mit einem Angriff aus DIESER Richtung gerechnet. Unter dem plötzlichen, knochenbrechenden Aufprall ging der Mann wie ein nasser Sack zu Boden. Gleichzeitig schoss eine Schmerzwelle durch Ernst von Stahlheims Körper, während er das dumpfe Knacken hörte, mit dem sein linker Unterschenkelknochen brach.
Mit einem unterdrückten Aufschrei riss er seine Waffe heraus, und eröffnete das Feuer, halb gestützt auf den Leib des bewusstlosen Kopfgeldjägers.

*****

Die kurzen Salven der Automatikpistole erwischten einen von Weasels Männern der sich eben nach dem neuen Angreifer hatte umdrehen wollen. Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut sah Weasel, wie sich sein toller Plan in Makulatur verwandelte. Zwei seiner Leute waren tot, einer ausgeknockt. Die anderen hatten offensichtlich die Übersicht verloren, feuerten wahllos in die Runde, trafen dabei die fliehenden Männer der Haltecrew, und ihren eigenen Kameraden, hinter dem sich das Arschloch auf den Boden geworfen hatte, das vor ein paar Sekunden wie ein beschissener Leinwandheld aus dem Zeppelin gesprungen war.
Und jetzt gabelten auch noch die Scheinwerfer der NORTH die Kämpfenden ein, und blendeten sie. Schreiend vor Wut riss Weasel seine Reservewaffe heraus und eröffnete beidhändig das Feuer auf die Scheinwerfer. Ein, dann zwei der Flutlichter verloschen.

Dann antwortete die NORTH. Ein schweres Maschinengewehr eröffnete das Feuer. Die Garbe peitschte über den Beton der Landebahn, ließ Splitter aufspritzen, zerschnitt mit fast verächtlicher Leichtigkeit einen der fliehenden Männer der Bodenpersonals und einen von Weasels Jungs. Weasel selber rettete sich nur dadurch, dass er sich hinwarf und zur Seite rollte. Aber sofort war er wieder auf den Beinen, sprintete los.
Noch ehe Weasel die Rothaarige erreicht hatte, sah er, wie der Mann, der sie gepackt hatte, plötzlich zuckte, als hätte er einen Stromschlag erhalten, und seine Lederjacke am Rücken von mehreren Einschüssen zerfetzt wurden. Der Mann stürzte, und begrub dabei die Frau halb unter sich. Mit einem fast tierhaften Heulen warf sich Weasel vorwärts.
Der letzte von Weasels Männern hatte sich indessen zur Flucht gewandt. Er kam keine fünf Schritte, dann erfasste ihn die nächste Salve des Maschinengewehrs. Nicht einmal seine Mutter hätte ihn danach noch wieder erkannt.

*******

Plötzlich herrschte Stille. Das Feuergefecht verstummte. Vermutlich versuchte der Maschinengewehrschütze, erst einmal festzustellen, wer da Unten Freund und wer Feind war. Langsam, schwerfällig kam Weasel auf die Beine. Die Rothaarige zerrte er dabei grob mit sich, benutzte sie als Schutzschild, den Lauf seiner Pistole gegen ihren Hals gepresst. Weasels Atem ging keuchend, seine Stimme war nur noch ein heiseres Fauchen: „Verdammte…Nutte! Das wirst du…wirst du büssen! Hörst du mich?! Du wirst es büssen!“
„LASS SIE LOS!“ Das war der hoch gewachsene Pirat, der sich schwerfällig halb erhoben hatte, eine Automatikpistole im Anschlag.
Weasel lachte schrill auf: „Du kannst mir gar nichts! Los, schieß doch! Schieß! VERSUCH ES!“ Rückwärts schob er sich in die Richtung, wo er die Jeeps wusste. Die Frau zerrte er mit sich.
Der Pirat schoss nicht. Das kantige Gesicht verzerrte sich, seine raue Stimme überschlug sich beinahe: „Du kommst nicht weit. Lass Sie los! Ich lasse dich gehen...“
Weasel ignorierte ihn. Der Mann würde nicht schießen. Er würde nicht schießen.
„ELISABETH !“
Weasel lachte jäh auf: „Los, sag deinem Hengst auf Wiedersehen!“ Der Andere konnte nicht schießen! Die Rothaarige versperrte ihm die Schusslinie. Auf diese Entfernung, mehr als zwanzig Meter, war es unmöglich mit einer Automatikpistole hinreichend präzise zu schießen.
Ein irres Lächeln verzerrte Weasels Lippen. Er hatte gewonnen. Wieder musste er lachen, lachen, bis sein Körper durchgeschüttelt wurde. Aber die Pistole presste er weiter an den Hals der Rothaarigen: „Kein Happy End für dich, du Hure! Verdammte Nutte! Deinetwegen sind fast ein Dutzend meiner Jungs tot!“, fauchte er, „Aber wir werden noch Spaß mit dir haben! Du wirst für eine verdammte Kompanie die Beine spreizen dürfen! Und danach …“

Die Stimme Weasels brach mitten im Satz ab, wurde übertönt von einem dumpfen, klatschenden Schlag, als würde man eine Melone mit einem Beil spalten. Ein brutaler Hieb schleuderte Elisabeths Kopf zur Seite, und vor ihren Augen schien eine rote Welle zu explodieren. Sie sank in die Knie, schlug die Hände vor das Gesicht. Hustete, als sie eine salzige Flüssigkeit auf ihren Lippen und in ihrem Mund schmeckte.
Als sie die Augen öffnete, und auf ihre Hände starrte, sah sie Blut. Überall Blut – auf ihren Händen, ihren Armen. Blut rann ihr übers Gesicht, in die Augen, tränkte ihre Kleider. Hatte der Kopfgeldjäger geschossen? Aber warum spürte sie dann keinen Schmerz? Warum konnte sie dann überhaupt noch etwas wahrnehmen?
Und dann sah sie ihren Gegner. Der Mann lag halb auf der Seite, eine Wunde von der Größe einer Dollarmünze an seinem Hinterkopf. Sein Gesicht aber… Er hatte praktisch keines mehr. Der Vorderschädel schien förmlich explodiert zu sein. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse waren im Umkreis von fast zwei Schritten über den Boden verschmiert.

Sie musste sich mit ihren Händen abstützen, um nicht lang hinzuschlagen. Dann, schlagartig, verkrampfte sich ihr Körper, und sie übergab sich hustend.
Plötzlich fühlte sie Hände, die sie ergriffen, zurückzogen. Aber diesmal waren sie zwar fest, aber gleichzeitig auch behutsam, zärtlich – und vertraut.
Dann, sie wusste nicht einmal warum, schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte sie unterdrückt, als Joe gestorben war. Und sie hatte nicht die Nerven verloren, als man sie gehetzt hatte wie Jagdwild, als jede Stunde den Tod bringen konnte. Doch jetzt war es, als wäre eine Wunde aufgebrochen. Bloß dass statt Blut Tränen und Trauer aus ihr herausströmten. Aber Ernst von Stahlheim hielt sie weiter fest, wiegte sie vorsichtig, während die blutverschmierte Frau in seinen Armen schluchzte. Sie verstand nicht die Worte, die er ihr ins Ohr murmelte, aber sie verstand ihren Ton, und die Gefühle, die in ihnen lagen. Und sie konnte nicht aufhören zu weinen.

In diesem Augenblick erreichten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne das Flugfeld, wanderten über die reglosen, verkrümmten Körper am Boden, und über die zwei Lebenden, die sich aneinander klammerten, als hinge ihr Leben davon ab.

********

Der Scharfschütze ließ die Waffe sinken. Selbst diese Bewegung zeugte von jahrelanger Übung und war von einer bedrohlich wirkenden Präzision.
Er wusste, manche seiner ‚Kollegen’ beschrieben das Gefühl, das sie beim Töten empfanden, als einen fast sexuellen Rausch. Er teilte diese Empfindungen nicht, und er verachtete diese Männer insgeheim. Er tötete nicht für ein Lustgefühl. Das wäre ihm irgendwie…schmutzig vorgekommen. Erbärmlich.
Dennoch lächelte der Mungo. Es war das zufriedene Lächeln eines Mannes, der eine gestellte Aufgabe zu seiner vollsten Zufriedenheit erfüllt hatte.
05.09.2020 21:44 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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„Sie haben einen meiner Männer getötet! Das kann ich nicht durchgehen lassen! Was gedenken Sie für die arme Witwe zu tun, Commander Stone?“
„Ich gedenke, ihr das Schmiergeld zukommen zu lassen, das Sie bekommen haben, damit diese Horde Straßenschläger so dicht auf meine Zigarre aufrücken konnte! Und seien Sie froh, dass es nur einer war! Immerhin haben Sie hier einen Überfall auf meinen Zeppelin begünstigt! Wissen Sie, was in Sky Haven los sein wird, wenn diese Geschichte die Runde macht?“ Wütend stierte Dave Stone den Mann vor sich nieder. Sein Gegenüber, der Hafenmeister, ein stämmiger, stiernackiger Ire, schnaubte schließlich wütend und sah weg. „Wir werden es runter spielen. Solange mich keiner fragt, werde ich nichts erzählen. Samuel hat keinen Anhang und keine Verwandten, soweit ich weiß. Ich werde ihm ein anständiges Begräbnis bezahlen, und die Sache bleibt unter uns.“
„Das ist ja wohl das Mindeste. Eigentlich sollte ich in einen Vogel steigen und Ihre Hafenmeisterei für Zielübungen benutzen.“
Der Hafenmeister, nun vollkommen in der Defensive, lächelte verlegen und hob abwehrend die Hände. „Na, na, nun wollen wir mal nicht übertreiben. Sehen Sie, ich lege noch eine Woche Liegegebühren drauf, lasse das Blut vom Beton waschen und Schwamm drüber. Was sagen Sie?“
„Ich sage, dass ich meine eigenen Wachen aufstellen werde, solange ich hier bin. Aber einverstanden. Wenn Sie nichts erzählen, werde ich auch die Klappe halten. Und falls der Bürgermeister fragt, werde ich die ganze Geschichte herunter spielen.“
Johnny kam wie auf Befehl um die Ecke, auf der Rechten ein Tablett mit einer Flasche und zwei Gläsern. Das Label markierte die Flasche als Scotch, aber das würde einen Iren nicht unbedingt umbringen. Der Japaner schenkte die Gläser voll und reichte das Tablett erst einmal seinem Commander, dann dem Iren.
Die beiden Männer nahmen die Gläser auf, prosteten sich zu und tranken einen kräftigen Schluck.
„Gutes Zeug“, brummte der Ire anerkennend.
Dave hustete verstohlen. Diese Torfigen waren einfach nicht nach seinem Geschmack. „So? Nehmen Sie die Flasche ruhig mit, Sir. Der hier war noch nie so meine Sorte.“
„Wirklich? Na, bevor ich mich schlagen lasse…“ Der Hafenmeister trank das Glas aus, und ergriff die Flasche am Hals. „Acht Jahre alt. Sie sind ein großzügiger Mann, Commander.“
„Nennen wir es ein kleines Geschenk zum Neuanfang.“
Damit war der Friede wiederhergestellt und ein einigermaßen zufriedener Hafenmeister verließ die Zigarre wieder.

Danach ging Dave Armstrong Stone direkt in die Messe, dem einzigen Raum an Bord, neben dem Hangar, der groß genug für sein geplantes Unternehmen war: Die Fehlersuche.
Die Verantwortlichen hatten sich bereits versammelt und erwarteten die Ankunft ihres Chefs je nach Temperament stoisch oder mit nervösen Blicken.
„ACHTUNG!“ Auf den militärischen Ruf der Türwache sprangen einige auf, ein paar salutierten, aber wirklich jeder sah zur Tür, als Dave Stone eintrat. „Weitermachen.“
Er sah über die Männer und Frauen an den Tischen hinweg, schnappte sich einen Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. „Also meine Jungs und Mädels, was ist schief gelaufen? Warum konnten diese Wixer uns so überraschen?“
„Ähem. Wenn ich darauf antworten darf, Dave.“
„Nur zu, Norah. Deine Leute, dein Anschiss. Dein Fehler.“
Norah Gallagher zog eine Augenbraue hoch, fuhr aber unbeeindruckt fort. „Ich möchte die wichtigste Tatsache als erstes feststellen. Alle MG-Gondeln waren voll besetzt. Dafür danke, Blue.“
Jeff Daines, Kapitän der NORTH, nickte bestätigend.
„Aber was noch wichtiger ist, Chef, Steel hat ein wenig unverantwortlich gehandelt.“
Der Deutsche, der mit seinem Gipsbein auf einem Zweitstuhl in einer Ecke saß, zeigte durch keinerlei Reaktion, was er dachte oder fühlte.
„Normalerweise lassen wir das Hangarluk geschlossen, bis wir entweder gelandet sind oder ein paar Mann mit geladenen Waffen dahinter postiert haben. Als wir landeten und die Bodencrew bereits die Seile ergriffen hatte, da hat Steel das Hangarluk aufgemacht. Das war ein harscher Sicherheitsbruch, denn wären die Schläger hinter der Zigarre her gewesen hätten sie es in den Hangar und wer weiß wohin geschafft. Ich wusste nichts davon und habe dementsprechend meine Leute auch noch nicht los geschickt.“
„Was du aber zweifellos nach dem Touchdown gemacht hättest.“
„Natürlich. Ist schließlich mein Job. Aber andererseits war es auch gut, denn auf diese Weise konnte Steel sehen, dass die junge Dame in Bedrängnis war und konnte ihr zu Hilfe eilen. Wenngleich auf Kosten seiner Knochen. Als dann auch noch die Seitengondel eingriff war die Sache schnell entschieden.“
„Fazit, Norah?“
„Ich hätte meine Leute früher in den Hangar schicken sollen. Mein Fehler. Die MG-Gondel hat alles richtig gemacht, und das sogar verteufelt gut. Und Steel hat sich was gebrochen, bei seinem ritterlichen Versuch, Miss O´Conner beizustehen. Nun, der Erfolg gibt ihm Recht. Aber hätte die Attacke der Zigarre gegolten, dann wäre Steel als einer der ersten gestorben.“ Sie sah den Industrial ärgerlich an. „Wenn Sie also in Zukunft solche Späße unterlassen würden, auch wenn Sie vor Sehnsucht sterben, bitte.“
Leises, spöttisches Gelächter erklang und ließ Steel das erste Mal, seit Dave ihn kannte, rot werden. Die hübsche Frau neben ihm drückte dabei seine Hand, und selbst ein Blinder konnte sehen, was in den beiden vorging.
„Gut, gut. Es ist ja niemandem was passiert, zumindest keinem der es nicht verdient hat“, spottete Dave und hatte das Gelächter auf seiner Seite. „Aber wir müssen aus diesem Fehler lernen. Und vor allem, Leute: Dies ist Sky Haven! Wir haben hier nicht mehr Freunde als in Texas. Wir sind hier nicht die reichste Bande und wir sind auch nicht die Fortune Hunters. Aus Sympathie kommt uns hier niemand zu Hilfe. Also seid in Zukunft wachsamer. Ich würde gerne auf jemanden sauer sein. Wer bietet sich freiwillig als Opfer an?“
Sofort zeigten diverse Finger auf den Industrial, der verlegen die Hand hob.
„Okay. Damit sind wir bei dir angelangt, Ernst. Erzähl es mir, und lass nichts aus.“
„Vielleicht, wenn Sie erlauben, Commander, sollte ich anfangen“, sagte die junge Frau selbstbewusst. „Wie Sie sicherlich schon wissen, bin ich…eine lokale Geschäftsfrau.“
Das erheiterte die Gemüter, und diesmal lachten die Leute für sie.
„Ich handle mit Waffen, Munition, besonderer Ausrüstung und ab und an auch mit Informationen. Wenn man in dieser Stadt mit offenen Ohren herumgeht und die richtigen Leute kennt, dann kriegt man einiges zu hören, was man an anderer Stelle für ein paar Greenbucks verkaufen kann.“ Sie sah Steel an und seufzte. „Wie die meisten von ihnen wissen, sind Ernst und ich…Etwas mehr als Geschäftspartner. Vielleicht nicht sehr viel mehr, aber Sie wissen ja, wie diese Stadt ist, Commander. Jedenfalls sind wir loyal.“ Zueinander, hatte sie sicherlich hinzufügen wollen, aber bei diesen Worten hatte sie sich nicht getraut, Ernst Stahl in die Augen zu schauen. Erst als dieser aufmunternd ihre Hand drückte und nickte, sah sie herüber, lächelte und nickte selbst. „Wissen Sie, Ernst hat mich beauftragt, um über meine Kontakte ein wenig Informationen über die LEVIATHAN zu sammeln. Er wollte Sie damit überraschen, sobald die Hawaii-Sache beendet ist.“ Sie sah zu Boden, und für einen Moment schien es, als würde die Frau zusammenbrechen.
Max war so schnell an ihrer Seite und hatte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter gelegt, dass es schon fast an Zauberei grenzte.
Liz O´Conner lächelte die junge Frau dankbar an, seufzte tief und fuhr fort. „Ich habe wohl etwas tief gebohrt und an den falschen Ecken gefragt. Die Leute, die mich überfallen haben, die meinen Geschäftspartner getötet haben, die mein Haus angesteckt haben, die mich fast die ganze Woche quer durch die Stadt gehetzt haben, müssen in mir wirklich einen Wert gesehen haben. Irgendetwas, was…“
Als die junge Frau betreten schwieg, ergänzte Armstrong: „Sie denken, Sie wurden wegen Ihrer Schnüffelei Jerome betreffend aufs Korn genommen?“
„Es ist meine einzige Aktivität der letzten Wochen, die außerhalb meiner normalen Geschäfte lag.“ Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. „Eine andere Erklärung habe ich nicht.“
„Vielleicht weiß man aber von Ihrer…Loyalität meinem Staffelführer gegenüber und wollte Sie als Druckmittel und als Informationsquelle gegen uns benutzen“, warf Blue ein. Er hob kurz die Hände. „Was aber voraussetzt, dass irgendjemand Jerome gesteckt hat, dass wir bald hinter ihm her sind. Das bedeutet, irgendjemand muss uns ihm gegenüber so interessant gemacht haben, dass er sogar bereit ist, seine Leute in einer tagelangen Jagd durch die Stadt zu riskieren, die von abertausenden Menschen bemerkt worden sein musste. Ein Gedanke, den wir nicht abtun sollten, Chef.“
„Mach mir hier keine Angst. Wenn dieser Bastard uns bereits auf dem Kieker hat und dafür sogar eine Aktion lostritt, dann hält er uns zumindest für wichtiger als alles, was sonst hinter diesem Bastard her ist. Ist nicht sehr wahrscheinlich, aber ich werde einen Teufel tun und das ignorieren.“ Dave sah zur Seite. „Ted, schick sofort ein paar Mann zum Lafleure. Und eine andere Gruppe soll im Krankenhaus Position beziehen wo Stick und Klutz und unsere beiden Gäste behandelt werden.“
Der breitschultrige Marine stieß sich von der Wand ab und ging hinaus.
„Miss O´Conner, wie wahrscheinlich finden Sie es, dass Sie als Geisel gegen meinen Staffelführer herhalten sollten?“
„Nun, diese Schweinepriester haben bis zuletzt versucht, mich lebend in die Finger zu kriegen. Sie haben alles riskiert und ein halbes Dutzend Tote in Kauf genommen, nur damit ich noch reden kann. Sie hatten allerdings nicht vor, mich unversehrt zu lassen.“ Die letzten Worte hatte sie fast mit erstickter Stimme ausgesprochen, aber ein kräftiger Druck von Steels Hand ließ sie wieder etwas aufsehen.
„Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Arsch es auf uns direkt abgesehen hat. Angriff ist die beste Verteidigung. Hat der doch glatt was von seiner Ausbildung bei der Fremdenlegion behalten.“
Armstrong sah ermahnend zu Blue herüber. „Dann will ich mal zusammenfassen. Miss O´Conner ist Jerome oder einigen seiner Leute aufgefallen. Entweder weil sie ein paar Informationen erhalten hat, die sie nie hätte erhalten dürfen, oder weil sie sehr loyal zu Ernst ist. Die Männer, die sie in die Hand kriegen wollten, haben einiges dafür riskiert, sogar eine tagelange Menschenjagd, die letztendlich unter der NORTH beinahe noch erfolgreich gewesen wäre, wenn nicht Ernst aus fünf Meter Höhe aus dem Zeppelin gesprungen wäre, sich den Unterschenkel gebrochen hätte, aber Miss O´Conner erfolgreich aus dem Dilemma raus geschossen hat. Bei dem, was unsere MG übrig gelassen hat, natürlich.
Und als Ergebnis hat mein Dog Pack für ein Vierteljahr keinen Anführer.“
„Anderthalb Monate“, warf Steel schwach ein. „Bis dahin bin ich wieder wie neu. Fliegen kann ich schon wieder in einem. Ist ein glatter Bruch, meinte der Doc.“
„Ein schwacher Trost. Miss O´Conner, haben Sie denn etwas erfahren, was wichtig in unserem Kampf gegen die LEVIATHAN sein könnte?“
„Ich…Habe einiges zusammengetragen, aber ein Großteil der Informationen ist mit meinem Haus verbrannt. Mein Informantennetz wurde auch teilweise ausgeschaltet, sodass ich nicht ohne weiteres wieder an diese Informationen komme. Was davon relevant ist und was nicht hätte ich erst nach Sichtung aller Daten sagen können.“
„Gut. Miss O´Conner, bitte gehen Sie nachher mit Kapitän Daines mit. Er wird alle Daten, die Sie noch im Kopf haben, stenographieren und mit Ihnen zusammen auswerten.“
Dave sah die junge Frau ernst an. „Aber das ist noch nicht alles. So wie ich das sehe, haben Sie Ihr Haus, Ihren Geschäftspartner und einen Großteil all dessen verloren, was Ihnen gehört. Es würde mich nicht wundern, wenn das was Sie auf dem Leib getragen haben ein Großteil Ihres weltlichen Besitzes darstellt. Bei einer überstürzten Flucht räumt man eher selten den Tresor leer. Gibt es einen Tresor? Lohnt es sich, wenn ich Ihnen ein paar meiner Leute mitgebe und Sie nachsehen?“
Betreten sah sie zu Boden. „Nein, Sir. Ich denke nicht, dass…“
„Und zudem wissen Sie nicht einmal wohin, wenn ich nicht irre. Sie haben alles auf eine Karte gesetzt, um Ernst und mich zu warnen. Ihr persönlicher Mut ist beeindruckend und Ihre Raffinesse ist es auch. Was halten Sie von einem Job?“
„Was?“ Überrascht sah sie auf.
„Sehen Sie, ich kann Ihnen eine Arbeit auf meiner Zigarre geben, die bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde. Ich habe keine verdammte Buchhaltung. Sie als… Kauffrau sollten das in den Griff kriegen können. Außerdem können Sie Ernst dann jeden Tag sehen. Was sagen Sie?“
„Das kommt jetzt etwas plötzlich…“
„Nicht, dass Sie eine andere Wahl haben, denn wenn Sie alleine aus dieser Zigarre rauskommen, sind Sie sofort wieder im Fadenkreuz dieser Bastarde, oder?“
Sie sah zu Boden.
„Das fasse ich als ja auf. Willkommen beim Dirty Pack, Miss O´Conner. Kapitän Daines wird Sie in Ihren neuen Arbeitsbereich einführen, sobald die Fakten über die LEVIATHAN analysiert sind.
Das wäre dann alles, Herrschaften. Die Ausgänge sind nicht gestrichen, aber ich will hier niemals weniger als zehn Mann zugleich von der Zigarre verschwinden sehen, habt Ihr verstanden? Die Abteilungsleiter stellen die Gruppen zusammen. Nehmt genügend Waffen und Munition mit. Weggetreten.“
Nach und nach verließen die Männer und Frauen die Messe, bis nur noch Dave und Ernst übrig blieben.
„Ich hoffe, du hast nichts gegen dieses Arrangement. Aber sie kann sich wahrscheinlich wirklich nicht da draußen alleine blicken lassen. Hm, ich werde Dusk bitten, ihr ein paar Sachen zu geben. Sie kann nicht dauernd in diesen verdreckten Lumpen herumlaufen.“
Ernst schien amüsiert, regelrecht heiter zu sein. Es erschien beinahe wie die Euphorie nach einem gewonnenen Kampf. „Du tust wohl alles, damit ich noch länger auf der NORTH bleibe, oder?“
Dave reichte ihm die Hand und zog den großen Mann vom Stuhl, bis dieser sich seine Krücken geschnappt hatte und sicher stand. „Ich habe es dir schon oft gesagt. Du bist mein bester Mann. Es würde mir überhaupt nichts ausmachen, mit dir bis an mein Lebensende zu fliegen, alter Junge.“
„Na, na, erzähl das mal besser nicht der kleinen Sam. Die wird ja sonst noch eifersüchtig“, tadelte Steel und hob gespielt drohend eine Krücke.
Armstrong klopfte dem Industrial so hart auf die Schulter, dass dieser beinahe gestolpert wäre. „Keine Sorge, ich verfalle dir schon nicht. Und jetzt geh Blue und deinem Schatz helfen. Dein rasiermesserscharfer Verstand wird den beiden mehr als willkommen sein. Ich für meinen Teil muss unbedingt noch mal den Artikel in der Air Action Weekly lesen, die ich in Chihuahua gekauft habe.“
„War ja klar“, brummte Steel. „DU wirst ja auch erwähnt.“
Dave lachte, bis der Industrial die Messe verlassen hatte. Dann setzte er sich wieder, griff in seine abgewetzte Fliegerjacke und zog einen versiegelten Brief hervor, der ihm per Kurier zugestellt worden war. Nach einigen Minuten der Lektüre las er ihn noch mal, dann noch mal und schließlich knüllte er ihn zusammen. Danach entfaltete und glättete er ihn wieder und las ihn erneut. „Du elender Bastard…“, brummte er, aber ein Lächeln umspielte seine Züge.
05.09.2020 21:45 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Als die fünf betont unauffällig agierenden Auffälligen das FORD´s betraten, wusste Cat Shannon was passiert war. Sein Gast war eingetroffen.
Es dauerte auch nicht lange, bis er eintrat: Groß, breitschultrig, ein ewiges Jungengrinsen auf den Zügen und dazu so verteufelt gut aussehend, dass man ihn sich einfach nur schnappen wollte, um seinen Kopf mit der nächsten Wand vertraut zu machen. Mehrfach.
„Hey, Cat!“, rief David Stone und winkte Shannon zu.
Der seufzte enttäuscht. Vor zwei Jahren noch hätte dieser Mann ihn mit Sir angeredet. Und heute war er auf einer Stufe mit seinem alten Lehrmeister? Nicht, dass Cat das nicht erwartet hätte, aber sie wurden ja so schnell erwachsen. „Hallo, Kleiner. Spaß gehabt bei Ananas und Zuckerrohr?“
„Mehr als genügend.“ Der Junge lächelte ihn burschikos an, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch im Séparée, dass Cat in Beschlag genommen hatte.
Seine eigenen Leute und Daves schwer bewaffnete Jungs postierten sich unauffällig davor. Ein Wunder, dass sie einander akzeptierten und nicht versuchten sich gegenseitig abzudrängen. Oder gegenseitig über den Haufen ballerten.
Armstrong, wie sein Pilotenname war, hob eine Hand und winkte eine Bedienung herbei. Die junge Dame, äußerst geschockt über diesen Auftritt, kam in etwa genauso freudig näher wie eine Jungfrau, die Genghis Khans Schlafzimmer aufräumen sollte.
„Hier, meine Beste“, sagte Armstrong und drückte ihr ein paar Greenbucks in die Hand. „Eine Flasche vom schönen Kanadischen für mich und Cat. Der Rest ist für dich.“
Nun, das musste Cat dem Burschen wirklich lassen. Er war nicht nur recht großzügig – eine Eigenschaft, zu der sich Shannon als alter Ire nie wirklich hatte durchringen können – er verpackte es auch noch in einem freundlichen Grinsen, was vielleicht sogar Nathan Zachary für ihn eingenommen hätte.
Als die Bedienung mit der frisch geöffneten Flasche zurückkam, lächelte sie sogar für Armstrong – und ein paar Sekunden später wollte sie sogar sein Autogramm.
Nun, die Welt lernte schnell und sie vergaß schnell. Den Helden von Hawaii würde sie nicht ganz so schnell, aber mindestens ebenso endgültig vergessen.

Dave füllte die zwei Gläser bis knapp unter die Kante und prostete Cat zu. Der ergriff sein Glas, prostete ebenfalls und nahm einen tiefen Zug. Das erfüllte ihn mit einer diebischen Freude. Er wusste, dass Dave harten Schnaps nicht gerade liebte. Aber indem er vorlegte, musste der Kraut folgen. Nicht, dass er den Burschen nicht vom tiefsten Grund seines Herzens liebte. Aber es gab immer noch einen Unterschied zwischen Lehrmeister und Schüler.
Wider erwarten hustete Dave nicht, als er den Drink leerte. Ein Umstand, der Shannon doch etwas ärgerte. „Also“, fragte Cat und schenkte aus der grünen Glasflasche für sie beide nach, „was kann ich für dich tun, und warum muss ich dafür in diesen abgewrackten Laden kommen? Wir hätten auch auf meiner Zigarre sprechen können. Oder auf dem Schrotthaufen, den du fliegen lässt, mit welcher Magie auch immer.“
Dave verzog verärgert die Miene. Aber Cat kannte ihn. Über solche Sticheleien war Armstrong erhaben. Das gehörte nur zum Spiel.
„Hier redet es sich besser, dachte ich.“
Der große Kraut atmete sichtba aus, grinste schief und legte verlegen eine Hand hinter den Kopf. „Ich habe mir gerade die ganze Welt zu Feind gemacht, Cat. Nein, warte, nicht die ganze Welt. Die Franzosen noch nicht, aber ansonsten ist wohl jede große Nation hinter mir her.“
„Hm. Lass mich nachdenken. Aus Deutschland bist du geflohen, weil dich die Nazis kalt machen wollten.“
„Die Geheime Staatspolizei. Das ist ein Unterschied.“
„Du bist ein wenig zurückgeblieben, was, Armstrong? Dein liebes Deutschland ist eine Diktatur. Also tut der Geheimdienst das, was der Diktator will. Wer ist der Diktator? Der liebe Onkel Adolf und seine Nationalsozialistische Partei Deutschlands.“ Cat grinste selbstgefällig. Oh ja, er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Immerhin ging es hier um den Unterschied zwischen einem Mann, der Rat suchte und einem Mann, der ihn geben sollte.
Dave sah ihn ein wenig irritiert an, aber dann schien es klick zu machen. Für einen Augenblick bildete sich Cat ein, das klicken sogar gehört zu haben.
„Dann hast du es mit den Russen aufgenommen, indem du ihre heiß geliebten Frachtflieger in Alaska hochgenommen hast. Stück für Stück. Den Goldtransporter werden sie dir übrigens noch weniger vergeben, mein Junge.“
„Der ist nur halb im Bach gelandet.“
Cat grinste schief. „So wie ich die Kommis kenne sollte er nicht mal Lackschäden abbekommen. Du aber hast ihnen mitten in die offene Hangarluke reingerotzt, dass die neue Inneneinrichtung rot und weiß ist – Blut und Knochensplitter.“
Eigentlich wollte Cat aufstehen, dem jungen Burschen für diesen Stunt, mit dem er die Infanterie freigeschossen hatte, kräftig auf die Schulter klopfen und der ganzen Welt lauthals verkünden: Leute, das ist mein alter Flügelmann! Ich wusste, aus dem wird mal ein verdammt guter Pilot.“ Aber das konnte er ja schlecht, solange Dave angewinselt kam, sobald die Eier kniffen.
„Zugegeben.“
„Und dann dieser Stunt mit den Japanern. Was wollten die texanischen Kuhficker damit eigentlich erreichen? Japan ist weder stark genug auf den Aleuten vertreten noch in der Lage, den Stunt von Null Vier zu wiederholen. Die Grenzkonflikte verschärfen oder nur mal ausprobieren wie man mit den Großen spielt?“
„Letzteres, nehme ich an“, brummte Dave und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Glas.
Cat tat es ihm gleich und trank sogar ein wenig mehr. Immer einen Schritt voraus bleiben, das war das Geheimnis zwischen Lehrer und Schüler.
„Und schließlich und endlich hast du die ANZAC verprügelt. Damit sind die Tommis auf dich aufmerksam geworden. Schätze, du hältst dich besser ne Zeitlang raus aus dem Commonwealth und Empire. Aber in Irland würden sie dich lieben.“
„Tja“, erwiderte Dave und lächelte verlegen.
„Stimmt, mein Junge. Bis auf die Spanier, die nun wirklich nicht genug zählen, um für sie eine Runde Buntfeuer abzulatzen, hast du dir wirklich alle zum Feind gemacht. Bis auf die Froschfresser. Aber das kommt sicher auch noch. Was hast du als nächstes vor? Dixie überfallen?“
„Übertreibst du nicht etwas? Es ist nicht mein Lebensziel, der ganzen Welt den Krieg zu erklären“, brummte Dave frustriert und leerte sein Glas.
Cat tat es ihm nach und schenkte neu ein. Dann winkte er der Bedienung. „Noch mal ne Flasche von dem guten Zeug. Die alte hat wohl ein Loch.“
Als die Bedienung kam, zog Cat zwanzig Greenbucks hervor und stopfte sie der verdutzten Bedienung frech in den Ausschnit. „Stimmt so, Spatz. Das setze ich als Lehrgeld wieder ab.“
Für einen Moment schwankte die langbeinige Frau zwischen Entsetzen und Geldgier – Geldgier gewann. Mit einem wirklich süßen Danke wandte sie sich ab.
„Du machst einen verdammten Fehler, Armstrong. Aber es wundert mich nicht, dass du das nicht siehst. So bist du eben. Ein verteufelter strahlender Ritter. Nein, noch schlimmer. Ein normaler strahlender Ritter tötet den Drachen und rettet die Prinzessin. Du aber versuchst vorher mit dem Drachen einen Kompromiss auszuhandeln.“
Deprimiert sah der Deutsche zu Boden. „Der musste nun wirklich nicht sein. Ich habe doch oft genug getötet, oder?“
„Du kannst fliegen. Und es war mir eine Freude zu hören wie du diesen Drecksbunker ausgehoben hast, in dem sie Sklaven gehalten haben.“ Cat schüttelte sich. Solche Neuigkeiten machten immer schnell die Runde. Er persönlich hielt überhaupt nichts von Sklaverei. Als Ire wusste er die Freiheit des Einzelnen viel zu sehr zu schätzen, als dass er auch nur im Traum daran gedacht hätte, mit einem Gegner etwas anderes zu tun als ihn fachgerecht in der Luft zu zerreißen. Sklaverei wünschte er nicht einmal einem Tommi, verdammt. „Aber, mein guter Junge, es ist schon ein Unterschied zwischen dem was du tust und dem was ich tue. Du erinnerst dich, was ich befohlen habe, nachdem wir O´Malley und seine Dreckfresser erledigt haben.“
„Keine Gnade für den Koch.“
„Richtig. Wenn man in einer ordentlichen Blutfehde jemanden überleben lässt, dann wendet sich das irgendwann gegen einen selbst. Sogar ein verdammter Hilfskoch kann irgendwann mit einer Zigarre wiederkommen und dir Schwierigkeiten machen, nur weil er den gleichen Namen wir der Chef hat und zufällig in ner wilden Partynacht vor zwanzig Jahren als Abfallprodukt entstanden ist. Dass sein alter Herr ihn nicht beachtet hat ist ihm egal, er wird trotzdem Rache wollen, weil er nichts anderes hat.
Aber du, mein lieber Armstrong, du lässt sie alle auf Ehrenwort laufen und kümmerst dich um den anfliegenden Zeppelin, wenn er wirklich kommt.“
„Ich bin zu weich.“
„Nein, verdammt. Ich würde jeden Mann niederschießen, der behauptet, dass Cat Shannons legendärer Flügelmann Armstrong zu weich für diese Welt ist. Du bist zu gut, das ist was anderes. Vielleicht solltest du nach Afrika rüber gehen und diesem anderen Kraut helfen, dem Österreich, der dieses Urwaldhospital aus reiner Menschenliebe betreibt.“
„Schweitzer. Er heißt Albert Schweitzer“, wandte Dave ein.
„Lass ihn meinetwegen Italien heißen, das ist mir scheißegal. Verstehst du worauf ich hinaus will? Bist du sicher, dass du in diesem Leben gut aufgehoben bist? Es gibt sicher einen Winkel auf dieser Welt, in dem du fliegen kannst und vor den großen Nationen sicher bist. Südamerika ist riesig. Afrika kaum erforscht. Junge, die Welt da draußen ist bunt und groß. Du musst dich nicht an Sky Haven binden.“
Der Blick, mit dem sich Armstrong nachschenkte und mit dem er sein Glas leerte, ging Cat durch Mark und Bein. Er kannte diesen Blick, hatte ihn oft genug selbst im Spiegel gesehen und er hatte Männer gekannt, die ihn getragen hatten. Die meisten waren tot – vornehmlich jene, die wegen ihm so geschaut hatten.
„Ich bin hier weil ich deinen Rat will, Cat, nicht eine Predigt.“
„Und welchen Rat willst du?“ Cat leerte sein eigenes Glas und brach die neue Flasche an. „Du bist rein gekommen und hast gesagt, die ganze Welt ist dein Feind, bis auf die Froschfresser.“
Shannon taxierte den Mann einen Moment. „Du begehst einen Riesenfehler wenn du glaubst, ich wäre ein gutmütiger Mann, der dir aus reiner Freundlichkeit Tipps und Ratschläge gibt. Oder der dir auch noch hilfreich zur Seite springt, nur weil es dich gibt.“
Für einen Moment stand Angst in Daves Blick, Entsetzen. Dann nickte er. „Natürlich, Cat.“
„Aber für meinen ehemaligen Flügelmann, den Jungen, der mir mehr als einmal den Rücken frei gehalten hat und der mir O´Malley vom Arsch weggeputzt hat, als ich dachte, nun wird es Zeit in die irische Hölle einzufahren, für den komme ich sogar extra nach Sky Haven zurück. Und natürlich für meine süße kleine Maxine, die mit jedem Tag schöner wird.“
Irritiert stellte Cat fest, dass er bei den letzten beiden Sätzen weder übertrieben noch gelogen hatte. Empfand er wirklich so für Dave und Max? „Aber nichts ist in dieser Welt umsonst. Kannst du heute nicht bezahlen, bezahle morgen, das ist mein Motto, okay?“
Etwas munterer nickte Dave.
„Gut, gut, dann will ich dir einen Rat geben. Der erste ist immer kostenlos. Texas hat mit dir gespielt wie sie es wollten. Texas hat gesehen wie du zu den Russen gefahren bist. Und dann haben sie dir gesagt, greif Russen und Japaner an.
Dann haben sie dich nach Hawaii geschickt, obwohl sie wussten, dass dort auch Japaner sein würden. Noch schlimmer, weil sie es wussten. Und dann haben sie dich ihnen verraten und dich verkauft. Nicht du und deine Crew sollten ausgeliefert werden, sondern das texanische Parlament, denn du hast nur Befehle ausgeführt, aber diese Wichser haben sie geplant und befohlen. Aber so ist diese Welt. Laut, ungerecht. Und sie pisst auf die Treue. Hm, es wundert mich nur, dass der alte Campbell da mitmacht. Ich denke, ich kenne ihn gut genug, um…Hm. Eigentlich dachte ich, er würde sich eher die Eier abschneiden lassen, als einen Menschen zu hintergehen, der sich auf ihn verlässt.“
Cat langte über den Tisch und legte Armstrong eine Hand auf die Schulter. „Mein Rat, mein Junge, ist: Ich weiß, du willst die LEVIATHAN, weil dieser Wichser Jerome dein Mädchen vom Himmel geputzt hat. Vergiss das nicht. Das ist dein Ziel und das ist deine Motivation. Und sobald du das geschafft hast, sobald Jerome in tausend kleinen Schnipseln gen Erde trudelt, dann komm hierher nach Sky Haven zurück und mach dir keine Sorgen darum, dass die ganze Welt dein Feind ist. Natürlich kannst du morgen schon sterben. Eine Bombe hier, ein Scharfschütze da. Aber vielleicht auch erst in einem Jahr. Oder erst in fünfzig Jahren.
Es ist egal, weil wir Piraten sind.“ Cats Hand holte kurz aus und schlug kräftig auf die Schulter seines alten Flügelmanns. „Wir, Armstrong. Wir. Piraten leben im heute und im jetzt. Lass das was auf dich zukommt auf dich zukommen. Weiche dem aus, was du nicht treffen willst und genieße deine Tage in vollen Zügen. Ich habe gehört, du hast bei den Russen richtig abgeräumt. Du bist reich und kannst noch reicher werden. Damit bist du in Sky Haven vor jedem Geheimdienst so sicher wie es geht. Und verdammt noch mal, Armstrong, fliege. Fliegen ist unser Leben, unsere Berufung und unsere Bestimmung.
Schnapp dir Blue, reiß ihn auf deine Augenhöhe hoch und frag ihn ob er mit meiner kleinen Maxine glücklich ist. Und sobald er ja gesagt hat – wenn er nein sagt, bringe ich ihn um – dann frag ihn, was er vermisst. Das wird das fliegen sein. Fliegen…Verstehst du mich, mein Junge?“
„Die Welt ist im Wandel, Cat.“
„Das ist sie immer. Das ist sie immer. Wir passen uns an.“
Armstrong atmete heftig aus. Diesmal nippte er nur an seinem Drink. Dann griff er in die Innentasche seiner abgewetzten Fliegerjacke und zog einen Brief hervor. „Heute gekommen“, brummte er und schob ihn Cat zu.
Der nahm den Umschlag entgegen, las den Briefbogen aufmerksam einmal, zweimal, und begann leise glucksend zu lachen.
„Was soll ich tun, Cat?“
„Na was wohl? Du hast das jetzt nie gehört, ich habe es nie gesagt und du wirst es nie beweisen können, aber…Vertraue Richard Campbell. Der Mann hat Eier aus Stahl und scheißt Haufen, mit denen er das texanische Parlament zukompostieren kann.“
„Hm“, machte Dave, wenig überzeugt.
Cat schenkte sich nach und nippte nun ebenfalls an seinem Drink. Langsam wurde er kribblig, er spürte es. Zu schnell zu viel. Ein guter Kaffee hinterher war eine ausgezeichnete Idee.
„Cat, wenn ich auf die LEVIATHAN gehe, hilfst du mir?“
„Wenn der Preis stimmt“, erwiderte Shannon. „Wenn ich in der Nähe bin.“
Armstrong nickte ernst. „Ja, natürlich.“
„Wenn du mich darum bittest, Junge.“ Er gab es nicht gerne zu, aber irgendwie hatte er dieses freche, unmögliche, an pure Dreistigkeit grenzende Gör Annie gemocht. Nun, er hatte schon immer einen riskanten Geschmack gehabt, was Frauen anging. Aber bei dieser war er froh, dass sie sich für Armstrong entschieden hatte. Das hinderte ihn nicht daran, mit einem Schmunzeln an sie zu denken.
„Danke, Cat“, brummte Armstrong als Erwiderung.
„Ich bin teuer.“
„Ich bin reich.“
Die beiden Männer sahen sich an und grinsten.
Oh ja, dieser Mann war mal sein Flügelmann gewesen. Aber jetzt, wo die Air Action Weekly über ihn berichtet hatte, bekam es Cat ernsthaft mit der Angst zu tun, in den Geschichtsbüchern nur noch als Lehrmeister von Dave Stone erwähnt zu werden. Es war vielleicht keine schlechte Idee, ihn nicht alles alleine machen zu lassen.
„Cheers“, brummte Cat und stieß mit Armstrong an.
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Hawaii

Wenn sie im Voraus gewusst hätte, was auf sie zukam, dann hätte sie sich vielleicht doch nicht an diese Aufgabe gewagt. Dann hätte sie, trotz des letzten Willens ihres verstorbenen Mannes, die Geschäfte wohl an einen ihrer Verwandten abgetreten.
Die Weiterführung des Transportunternehmens, das Fumio Kazuo in den letzten zwölf Jahren (mit heimlicher aber nicht unbeträchtlicher Unterstützung des japanischen Geheimdienstes) aufgebaut hatte, war ein Vollzeitjob. Vor allem für jemanden wie Shoean, die mit diesem Erbe ganz bestimmt nicht gerechnet hatte.

Natürlich, sie hatte die Unterstützung eines gut eingespielten Managements – ihr Mann hatte die Fähigkeit besessen, Verantwortung zu delegieren und Loyalität schaffen zu können. Und nachdem sie sich, wenn auch mit einem unguten Gefühl, entschlossen hatte, die Offerte des japanischen Militärgeheimdienstes anzunehmen, hatte sich wie durch ein Wunder das Verhalten vieler japanischer Geschäftsleute schlagartig geändert.
Sie wusste immer noch nicht genau, wie verzweigt und ausgedehnt das unsichtbare Spinnennetz war, dass die Agenten des Tennos gesponnen hatten. Aber der neue Vorsitzende der japanischen Gemeinde, Watanabe, gehörte auf jeden Fall dazu. Wie auch nicht, war er doch Bruder des japanischen Botschafters. Er hatte Shoean seine uneingeschränkte Unterstützung zugesichert, und sein Wort gehalten. Und damit gab er eine Verhaltensrichtlinie vor, gegen die kein etablierter japanischer Geschäftsmann offen wagen würde zu verstoßen. Und was die einheimischen und weißen Unternehmer und Geschäftspartner anging…Nun, da musste sie sich auf ihren gesunden Menschenverstand und die Hilfe ihrer Angestellten verlassen. Und auf die Hilfe von Hiroshi Shimada. Er hatte natürlich Wort gehalten. Es wäre wohl einfacher für ihren inneren Frieden gewesen, wenn er das nicht getan hätte. Dann hätte sie ihn einfach vergessen oder verdammen können. Aber er hatte es ihr noch nie leicht gemacht.

Vor ein paar Tagen war die Fahndung nach Shimada offiziell eingestellt worden. Aber dies hatte den Gewerkschaftsführer vorerst nicht dazu veranlasst, seine Deckung aufzugeben. Das war wohl auch nur verständlich, nachdem das „freie Geleit“ das der König Shimada schon einmal garantiert hatte, beinahe zu einem Massaker geführt hatte.
Dennoch hatte Shimada die Zeit gefunden, seine Untergebenen gemäß der Vereinbahrungen zu instruieren, die er mit Shoean getroffen hatte. Die Informationen, die ihr zugespielt wurden, würden ihr helfen, Geschäftskonkurrenten und –partner besser einzuschätzen, oder sie sogar wenn nötig übervorteilen und unterbieten zu können. Und sie konnte erst einmal davon ausgehen, dass ihre Geschäfte nicht von lästigen Streiks behindert wurden, wenn sie ihrerseits der Gewerkschaft etwas entgegenkam.

Aber all das war eigentlich nicht so wichtig. Jedenfalls nicht für sie, und nicht in diesem Augenblick: „Sie haben…?“
„Nicht am Telefon. Ich…“, er schien zu zögern. Dann fuhr er fort: „Sie erinnern sich an unser letztes Treffen? Die gleiche Zeit.“
„Aber…“
Er hatte aufgelegt. Sie presste kurz die Lippen zusammen. Dieser verdammte Kerl! Seine Paranoia mochte berechtigt sein, aber sie mochte es nicht, herumkommandiert zu werden. Vor allem nicht von Shimada.
Aber es war von dem Tag, als sie sich das erste Mal begegneten, so gewesen, dass es ihm allzu leicht gefallen war, sie zu überraschen, sie zu verärgern, und zu verwirren. Sie hatte es jedoch niemals zugelassen, sich von Hiroshi Shimada einschüchtern zu lassen. Das war wohl auch ein Grund für sein beunruhigendes Interesse an ihr.
Die Tatsache, dass sie ihn offenbar auch verunsichern und die unsichtbare Mauer durchbrechen konnte, die Shimada um sich herum errichtet hatte, befriedigte sie allerdings auch nicht. Denn die Gründe dafür lagen auf einem sehr unsicheren, ja gefährlichen Boden, vor dem sie beide instinktiv immer wieder zurückwichen. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie nur Verachtung, Wut, oder wenigstens Gleichgültigkeit gegenüber Shimada empfunden hätte. Aber so war es nun einmal nicht. Er war ihr alles andere als gleichgültig.
Zumindest sich selber gegenüber konnte sie es zugeben, obwohl das stumme Eingeständnis sie unwillkürlich erröten ließ. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht ausgerechnet jetzt…

************

Einige Stunden später

Shoean saß im Büroraum ihres Mannes, das jetzt ihr Arbeitszimmer war. Auch wenn man von einer japanischen Frau etwas anderes erwartete, das Warten fiel ihr schwer. Die Nacht war längst hereingebrochen. Wie beim letzten ‚Besuch’ von Shimada schliefen die meisten Bewohner des Hauses längst. Soviel Shoean wusste, war der Einzige, der momentan noch außer ihr wach war, ihr neuer Leibwächter. Watanabe hatte ihr Toraji Ogi beinahe aufgenötigt. Wohl oder übel hatte sie das Angebot akzeptiert. Sie wusste genau, wem die Loyalität des Mannes wirklich gehörte. Aber so wusste sie wenigstens auch, wer sie im Auftrag des japanischen Geheimdienstes bespitzelte. Und sie brauchte ihm ihre Zusammenarbeit mit Hiroshi Shimada weder zu erklären, noch zu verheimlichen.
Als sie Toraji allerdings über das Treffen informierte, waren sein Gesichtsausdruck beinahe schon unverschämt, und seine Stimme direkt anzüglich gewesen. Shoean war knallrot geworden, als sie begriff, worauf ihr ‚Leibwächter’ hinaus wollte. Offenbar ging er davon aus, dass sie und Hiroshi die Zeit keineswegs nur zum Reden nutzen würden. Und wenn schon Toraji eine solche Auffassung vertrat, dann käute er damit wahrscheinlich nur dass wieder, was ihm sein Herr vorgegeben hatte.
War es das, was die alten Männer der japanischen Gemeinde von ihr dachten? Zweifelsohne war die Vorstellung verführerisch für sie, die mit Shoeans ‚unweiblichen’ Verhalten nichts anfangen konnten.
Sie hatte Toraji scharf zurechtgewiesen, härter als es üblich war. Und sie hatte ihm klar gemacht, dass sie, ob in der Öffentlichkeit oder unter vier Augen, von ihm den Respekt erwartete, der ihr zustand. Andernfalls würde sie ihn in Schimpf und Schande zu Watanabe zurückschicken, was sowohl Toraji wie auch den Vorsitzenden der japanischen Gemeinde zutiefst beschämen würde.
Shoean glaubte, dass der Leibwächter nun seine Lektion gelernt hatte. Es war nicht sehr klug, einen Mann zu brüskieren, der sie und ihren Sohn beschützen sollte – zumal Toraji einen Verweis keineswegs so gleichmütig oder gar amüsiert aufnahm, wie es zum Beispiel Hiroshi Shimada tat. Aber sie konnte es auf keinen Fall dulden, dass er ihre Ehre in Frage stellte.
Im Stillen verfluchte sie einmal mehr Shimada. Wer war denn schuld an diesen Verwicklungen, wenn nicht er? Und wo blieb er eigentlich?

Die Antwort auf die letzte Frage erfolgte nur wenige Minuten später, als sie leise Schritte hörte, die sich ihrer Tür näherten. Ein sichtlich angespannter Toraji öffnete die Tür, und bedeutete dem hinter ihm stehenden Hiroshi Shimada, er solle eintreten.
„Danke, Ogi. Du kannst wieder nach Unten gehen.“ Bei diesen Worten behielt Shoean ihren Leibwächter genau im Auge. Aber er hatte zweifellos begriffen, was sie von ihm erwartete. Toraji Ogi neigte nur knapp den Kopf, schloss die Tür hinter Shimada, und ging.

Der Gewerkschaftsführer sah deutlich besser als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Seine Kleidung war zwar immer noch einfach, aber diesmal wenigstens sauber. Die alte Selbstsicherheit Shimadas war vielleicht noch nicht ganz zurückgekehrt, oder wirkte in ihrer Gegenwart etwas gedämpft, aber trotzdem war der Gewerkschaftsführer wesentlich mehr mit sich im Reinen, als vor ein paar Wochen. Das flüchtige Lächeln, mit dem er kurz hinter dem Leibwächter hinterher sah, war jedenfalls ganz das alte: „Und was sollte das jetzt klarstellen?“
„Manche Leute müssen einfach auf den Platz verwiesen werden, der ihnen zusteht.“ schoss Shoean zurück. Natürlich verstand Shimada die Anspielung. Sein Lächeln war allerdings genauso schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war: „Ogi gehörte zu Watanabes persönlichen Leibwächtern. Sie…“
„Ich sagte es schon einmal, halten Sie mich nicht für eine Närrin.“
Jetzt war das Lächeln wieder zurück. Aber sie beunruhigte der fast sehnsüchtige Unterton in seiner Stimme: „Das tue ich nicht. Shoean…“
Sie registrierte, dass er diesmal ihren Vornamen benutzte, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Was er auch sagen wollte, sie wollte es nicht hören. Nicht ausgerechnet jetzt: „Sie sind nicht hierher gekommen, um über meinen Leibwächter zu reden.“

Shimada verstand die Botschaft: „Entschuldigen Sie.“ Kurz zögerte er, dann fuhr er fort, wobei er seine Worte vorsichtig formulierte. Shoean fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Jedes Mal, wenn dieser Unterton in Hiroshi Shimadas Stimme auftauchte, war es um etwas Unangenehmes oder Gefährliches gegangen, das ihr Leben verändert hatte. Nicht unbedingt zum Besseren: „Die Suche…war teilweise erfolgreich. Der Geheimdienst hat die Attentäter jetzt identifizieren können. Wir wissen, wer…Fumio ermordet hat.“
Shoean Kazuo fühlte, wie der Schmerz, der in den letzten Wochen ein wenig schwächer geworden war, sie nicht mehr in jedem untätigen Augenblick zu quälen schien, wieder aufloderte. Und gleichzeitig auch ihre Wut auf Hiroshi Shimada. Weil er Teil jenes Netzwerkes war, das ihren Mann in Geschäfte verwickelt hatte, die zu seinem Tod geführt hatten. Wut auch darüber, was sie manchmal in seinen Augen sah und in seiner Stimme hörte. Wut auf die Gefühle, die sie selber empfand, aber nicht wollte. Ihre Stamme klang brüchig: „Was hat der Geheimdienst? Hat er die Mörder gefangen genommen? Ein paar Leichen reichen mir nicht.“
„Einen haben sie erwischt. James Tupaia, ein einheimischer Hitman. Er arbeitet für die Mafia, übernimmt aber offenbar auch Aufträge von Privatleuten und…Anderen. Vermutlich wurde er als Ortskundiger angeheuert. Die beiden anderen Attentäter waren Chinesen. Shou-feng und You-cheng. Aber das sind nur Decknamen. Sie sind Söldner, die offensichtlich auch als Auftragskiller in Shanghai und wahrscheinlich auch in Hongkong aktiv waren. Sie arbeiten immer zu zweit, nutzen gelegentlich aber auch lokale Hilfkräfte.“
„Wann werden Sie die beiden haben?“
Hiroshi Shimada presste kurz die Lippen zusammen: „Vermutlich gar nicht. Sie haben unmittelbar nach dem Mord Hawaii verlassen, praktisch mit dem ersten Passagierluftschiff, das nach Ende der Kampfhandlungen startete. Ihr Ziel war Hongkong. Sie kennen sich dort aus, können wahrscheinlich problemlos untertauchen. Und das Geld, das sie für ihren Auftrag kassiert haben, garantiert ihnen Unauffindbarkeit. Außerdem hat Japan nur sehr begrenzte Zugriffsmöglichkeiten in Hongkong. Jedenfalls bisher.“
„Die Weltmachtsphantasien der kaiserlichen Führung interessieren mich nicht.“ Doch diesen Worten fehlte das übliche Feuer.
Shimada musterte sie schweigend. Aber sie wollte sein Mitleid nicht: „Und wenn Hawaii offiziell ermittelt? Einen Hilfsantrag stellt?“
Der Gewerkschaftsführer verzog geringschätzig die Lippen: „Die Briten beherrschen Hongkong. Aber in den Chinesenvierteln haben sie keine große Macht. Dort herrschen die Triaden. Shou-feng und You-cheng haben todsicher die richtigen Verbindungen. Und nach dem Schauraufen zwischen ANZAC und Hawaii wird sich die englische Kolonialverwaltung nicht gerade ein Bein für uns ausreißen.“
„Und wer hat sie beauftragt? Hat Tupaia gesagt, wer den Mord befohlen hat?“
Ein paar Augenblicke zögerte Shimada. Die Worte kamen nur widerwillig über seine Lippen: „Das wissen wir nicht. Er weiß es nicht.“
„Was?“
„Der Geheimdienst hat ihn verhört. Wenn er es gewusst hätte, dann hätte er es gesagt.“
„Aber…“
„Nein. Er hat nichts zurückgehalten. Er könnte es gar nicht.“ Es waren weniger die Worte selber, als der Klang mit dem sie ausgesprochen wurden. Shoean wusste nicht, was der Geheimdienst mit dem Mann gemacht hatte. Und sie wollte es jetzt auch nicht mehr wissen. Er hatte das verdient, sagte sie sich. Aber das konnte doch nicht Alles sein: „Und mehr können sie nicht bieten? Einen Mafia-Killer, der nichts weiß, und ein paar falsche Namen?“
„Vorerst…wer auch immer Tupaia angeheuert hat, er ist kein Risiko eingegangen. Hätte er etwas gewusst, was den Auftraggebern gefährlich werden könnte – dann hätten sie ihn entweder auch von der Insel weggeschafft, oder sie hätten ihn ausgeschaltet. Aber sie haben es nicht getan. Weil sie es nicht für wichtig hielten, ob er lebt, ob er stirbt, oder ob er gefangen genommen wird. Er war nur ein unwichtiger Handlanger.“
„Wer sind ‚sie’?“
„Das weiß ich nicht. Aber wer auch immer den Mord befohlen hat, er wusste genau, was er tat.“
„Und das heißt...?“
„Geheimdienst. Oder zumindest hatte jemand die Fäden in der Hand, der eine entsprechende Ausbildung hat. Ein Privatmann, die Mafia, die Yakuza…die würden nicht so weit voraus denken.“
„Ja, aber welcher Dienst war es?“
Shimada wusste genau, was sie meinte. Er zuckte müde mit den Schultern: „Sie kennen meine Meinung.“ Shoean bemerkte, dass er wieder förmlicher geworden war. Sie war sich selber nicht ganz sicher, was sie dabei empfand. Aber das war ja nichts Neues: „Ich will, dass Sie ihn der Polizei übergeben. Er soll nicht einfach verschwinden, verstehen Sie? Ich will, dass er gesteht, und ordentlich verurteilt wird. Ich will…“, sie zögerte, „Weiß er von den…Geschäften meines Mannes? Weiß er, dass der japanische Geheimdienst ihn gefangen genommen hat?“
„Nein und Nein. Er ist ein Auftragskiller. Er fragt nicht, warum er tötet. Und wie bereits gesagt, seine Auftraggeber waren sehr konspirativ. Und er glaubt, dass es meine Leute waren, die ihn gestellt und…verhört haben.“
„Also werden Sie seine Gefangennahme für sich beanspruchen?“
„Es klingt plausibel, dass ich ein Interesse daran habe, die wahren Mörder zu finden. Immerhin geht es um meinen guten Ruf.“ Der letzte Satz klang ziemlich zynisch. Hiroshi Shimada wusste sehr genau, welchen Ruf er hatte.
„Aber wenn Tupaia nicht weiß, wer ihn beauftragt hat, dann entlastet Sie seine Aussage nicht wirklich.“
„Nein. Aber vielleicht sammle ich so doch ein paar Punkte. Und vielleicht…vielleicht macht das irgendjemanden nervös. Wer weiß? Vielleicht überschätze ich ja auch unseren Gegner, und sie machen jetzt einen Fehler. Und außerdem…ich habe es Ihnen versprochen.“

Shoean stand auf. Wie kurz vor ihrem letzten Treffen, als Shimada ihr die schockierende Wahrheit über die geheimen Geschäfte ihres Mannes enthüllt hatte, trat sie an das Fenster des Arbeitszimmers und starrte auf das Lichtermeer Honolulus. Und wie damals fand sie keinen Trost in diesem Anblick. Sie lehnte den Kopf gegen das kühle Fensterglas, und unterdrückte ein Seufzen. Wenn die Gefangennahme eines der Mörder ihres Mannes ein Sieg sein sollte, dann keiner, der ihren Seelenfrieden wiederherstellte. Eine Frage hatte sie aber noch: „Warum haben Sie mir eigentlich gesagt, dass der Geheimdienst diesen Tupaia gestellt hat, und nicht ihre Leute? Warum haben Sie nicht einfach den Ruhm für sich beansprucht?“
„Ruhm…“ Shimadas Stimme klang angewidert, aber nicht das war es, was sie zusammenzucken ließ. Sie hatte seine Schritte nicht gehört, aber jetzt musste er direkt hinter ihr stehen. Nahe, viel zu nahe. Das war nicht richtig. Sie fühlte sich nicht bedroht, nicht mehr. Aber sie war sich nicht sicher, ob die Gefühle, die sie jetzt spürte, besser waren.
„…es muss einen Menschen geben, dem ich die Wahrheit sagen kann. Die Wahrheit, und keine Lüge, keine Halbwahrheit.“ Sie konnte seinen Körper spüren, obwohl er sie nicht berührte. Instinktiv krampften sich ihre Hände um das Holz des Fensterrahmens: „Und das ist Alles?“ Ihre Stimme klang heiser.
„Das IST Alles.“
Als sie sich umdrehte, war Shimada gegangen, hatte das Zimmer ohne ein weiteres Wort verlassen, als wäre er auf der Flucht.

********

Mizunami hatte in seiner Dienstzeit schon einige höchst unangenehme Sachen erlebt und gehört. In einer Stadt, in der die Yakuza, die Mafia und die Tiraden operierten, und die fast ein halbes Dutzend Geheimdienste als ihre Spielwiese betrachteten, konnte man nicht Polizeichef werden, ohne sich abzuhärten.
Trotzdem erschauerte er unwillkürlich, als er dem nüchternen Bericht des Polizeiarztes lautete: „…alle Finger der linken Hand wurden einzeln gebrochen, einige mehrmals. Der Mann wurde brutal zusammengeschlagen. Mehre Zähne wurden ihm ausgeschlagen, zwei Rippen sind gebrochen, und in den nächsten Tagen wird er wohl vor allem Blut pissen.“
„Halten Sie diese Ausdrucksweise als für den Polizeibericht angemessen?“
Der Polizeiarzt, ein älterer Europäer, grinste auf eine Art und Weise, die reichlich unverschämt war. Er wusste, was Mizunami an ihm hatte, und Mizunami wusste das auch. Der Job, den der ehemalige Militärarzt ausübte, war nicht sehr angesehen, und der Arzt wusste, dass es kaum jemanden gab, der bereitwillig in seine Fußstapfen treten würde, und ein vergleichbares Fachwissen besaß: „’Tschuldigung. Soll ich weitermachen?“
„Lassen Sie schon hören.“
„Fußsohlen, Oberschenkel und Genitalbereich weisen Verbrennungen auf, die vermutlich auf den Einsatz brennender Zigaretten zurückzuführen sind. Nicht sehr innovativ, aber wirkungsvoll. Und noch was. An drei Zehen hat man ihm die Nägel ausgerissen. Die waren wirklich bei der Sache.“
Mizunami schnaubte angewidert. Der Gewerkschaftsoffizier, der den so grausam Behandelten vor ein paar Stunden abgeliefert hatte, hatte den erbarmungswürdigen Zustand des Gefangenen damit erklärt, dass ein paar seiner Leute ihre Wut über die auf Shimada abzielende Intrige an dem Killer ausgelassen hätten. Weil der zu diesem Zeitpunkt Dienst tuende Polizeilieutenant den Gefangenen nicht genauer in Augenschein genommen hatte, hatte sich der Gewerkschaftler – ein Mann namens Yamagata – schon wieder abgesetzt, bevor
eine genauere Untersuchung des Gefangenen dann die Wahrheit über die Herkunft der Wunden zutage förderte.
„Ihr Urteil, Doktor?“
„Der Mann wurde systematisch gefoltert. Und zwar von Könnern. Sie waren anscheinend unter Zeitdruck – deshalb dieses Ausmaß an Gewalt – aber sie wussten genau, wieweit sie gehen konnten und gehen mussten. Was er auch immer weiß, er wird es ihnen gesagt haben.“
„Das sagt er uns ja auch.“ knurrte Mitsunami angewidert. Der Gefangene hatte tatsächlich fast sofort angefangen zu reden, und hatte alle möglichen Einzelheiten über den Mord an Fumio Kazuo hervorgesprudelt. Man hatte ihn offenbar gründlich gebrochen.
Mitsunami fühlte sich unter Druck gesetzt. Er verabscheute Folter. Aber andererseits war er sich nicht sicher, was er jetzt unternehmen sollte. Die Gewerkschaften angehen, weil sie einen Mörder misshandelt hatten, war wohl kaum opportun. Außerdem würde es fast unmöglich sein, die Identität der Folterer zu ermitteln. Es gefiel ihm kein bisschen, dass Shimada ihm den Attentäter hinwarf, wie eine Katze eine halbtote Maus, an der sie das Interesse verloren hatte.
„Was bezweckt er damit?“ Das war eine rhetorische Frage, aber der Polizeiarzt fühlte sich dennoch zur Antwort veranlasst: „Ich denke, der Mann ist eine Botschaft. Erst mal will er klar machen, dass er es nicht war. Da der Mann aber anscheinend so wenig weiß, ist das nicht allzu überzeugend.“
„Er will Druck ausüben. Indem er uns dieses Wrack zukommen lässt, stellt er klar, was seine Gegner zu erwarten haben. Es ist eine Kriegserklärung an die Hintermänner des Mordes. Eine Warnung an all seine Gegner. Und eine Herausforderung für uns. ‚Wenn ihr nicht vorankommt, ich kann es – mit meinen Methoden.’ Verdammt. Das kann sich zu einem Untergrundkrieg ausweiten. Als ob wir nicht schon genug Tote hatten.“
„Sie sollten es positiv sehen. So werden die unbequemen Elemente der Stadt sich gegenseitig dezimieren.“ Die Stimme des Arztes klang sarkastisch. Natürlich wusste er schon im Voraus, wie Mizunamis Antwort auf einen solchen Vorschlag lauten musste: „So funktioniert das nicht.“

********

Ungefähr zur selben Zeit, vor der Küste von Hawai’i

Das Treffen war nicht geheim. Angesichts der Position der Beteiligten wäre es praktisch unmöglich gewesen, die Tatsache zu verbergen, dass einige der reichsten Unternehmer Hawaiis sich auf einer Privatyacht versammelten. Solche Treffen waren nicht selten, und selbst einem aufmerksamen Beobachter wäre wohl kaum aufgefallen, dass die Zusammensetzung dieser Herrenrunden (alle Teilnehmer waren weiß und männlich) gelegentlich etwas variierte.
Zwar expandierte die japanische Gemeinde zahlen- und finanzmäßig, aber immer noch war hier ein sehr großer Teil des hawaiianischen Kapitals versammelt. Diese Männer hatten zum überwiegenden Teil ihr Vermögen während der amerikanischen Herrschaft erworben, und keiner unter ihnen sehnte sich nicht nach der ‚Goldgräberstimmung’ der Jahrhundertwende oder des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Es waren bessere Zeiten gewesen.

Aber jetzt ging es um die Gegenwart. Und um die Zukunft.
„Wie kann es sein, dass der König einem gewöhnlichen…Arbeiter, einem KOMMUNISTEN soviel durchgehen lässt! Und wie kann es sein, dass wir tatenlos zusehen, wie die Gefahr immer weiter wächst?! Wollen wir wirklich warten, bis alle Dämme brechen, die niederen Instinkte einer primitiven Rasse und die Rachegelüste der unteren Klassen entfesselt werden?!“
„Bitte! Sparen Sie sich diese Rede für die nächste Wahl!“ Das war natürlich ein Witz, wenn auch kein sehr guter. Mit solchen Parolen offen anzutreten, dazu war keiner der anwesenden Männer dumm genug. Auch wenn der Sprecher den meisten aus der Seele gesprochen hatte, es wäre viel zu riskant gewesen. Außerdem war Hawaii eine Monarchie, und der König wäre wenig von derartigen Programmen begeistert gewesen.
„Wir sollten uns lieber darüber Gedanken machen, was wir tun sollen. Leider ist es nicht gelungen, einen bewaffneten Konflikt zwischen Polizei und Arbeiterbanden zu provozieren, und so die Verteidigung entscheidend zu schwächen. Dazu erfolgte das Attentat ohnehin zu spät. Aber das war vielleicht auch gut so…“
„Wie bitte?!“
„Inzwischen haben wir erfahren, dass die Commonwealth-Operation eher ein ziemlich dilettantisch gestarteter Versuchsballon war, als eine echte Invasion. Und wir wissen genau, was die Folge gewesen wäre, wenn derartig schwache ANZAC-Truppen gegen den Widerstand von japanischen Truppen Hawaii besetzt hätten. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass eine japanische Besetzung von Hawaii das wohl schlimmste Szenario darstellt, abgesehen vielleicht von einer siegreichen kommunistischen Revolte.“
„Nanking hat gezeigt, wie die Japaner sogar ihre eigene Rasse behandeln. Sie würden uns an die Wand stellen. Unsere Söhne würden sie in ihre Arbeitslager werfen, und unsere Töchter in ihre Armeebordelle. Wir…“
„Ich denke, einem jeden von uns ist Ihr Standpunkt geläufig. Aber diese Gefahr ist vorbei. Vorerst sind wir sicher vor einer japanischen Besetzung. Gegen die gesamte Weltöffentlichkeit würde es Japan nicht wagen…“ Was diesen Punkt betraf, hegten einige der Anwesenden insgeheim andere Ansichten, behielten sie aber lieber für sich. Es wäre ihnen wahrscheinlich auch nicht recht gewesen, sich durch die Pläne bestätigt zu wissen, die im japanischen Marine-Oberkommando zurzeit mit Hochdruck entwickelt wurden.
„Unsere…geheimen…Commonwealth-Verbündeten sind leider zur Zeit ziemlich geschwächt. Wir werden uns vor allem auf uns selber verlassen müssen. Auf unsere Truppen und unsere Entschlossenheit.“
„Worauf wollen Sie genau hinaus?“
„Wir sind uns doch einig daran, dass wir zwei Gefahren gegenüberstehen, die sich teilweise überschneiden. Die rote und die gelbe Gefahr…“
„Und beide Bedrohungen für uns und für jeden Weißen auf Hawaii, laufen bei Shimada zusammen! Wenn er tot ist, dann würden sich seine Banditenchefs gegenseitig zerfleischen. Der Mann ist gefährlich! Er kontrolliert die japanische Gemeinde! Oder was meinen Sie, woher das Geld und die Waffen für seine Verbrecher kommen?! Er muss der Führer der hiesigen Komintern- und japanischen Geheimdienststelle sein!“
„Alles auf einmal? Das wäre denn doch…“
„Ich weiß nur eins – er weiß zu viel! Er ist gefährlich, und viel zu mächtig! Kazuo war für ihn nur eine Marionette. Wir hätten Shimada töten sollen! Dieses ganze Attentat war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen! Es hat uns nichts gebracht. Kamehamea ist einfach viel zu feige, um gegen Shimada loszuschlagen. Aber was soll man auch von einem Polynesier anders erwarten. Schwächlich, nutzlos – egal ob sie noch nackt herumlaufen oder eine weiße Schule besuchen.
Und statt Kazuo haben wir jetzt seine Frau. Ich kann nicht feststellen, dass dieser Wechsel irgendetwas für uns verbessert hat! Wenn Shimada schon Fumio nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte, wird nicht ausgerechnet eine FRAU ihm Probleme bereiten. Wahrscheinlich treibt er es mit…“
„Das führt jetzt wirklich zu weit. Und Sie wissen sehr genau, warum wir nicht Shimada ins Visier genommen haben. Wir wussten ja nicht einmal genau, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Und der Mann ist nicht so einfach umzubringen. Ihn in eine solche Falle zu locken, wäre wohl kaum möglich gewesen.“
„Wenn wir ihn nicht ausschalten, dann wird er unser aller Tod sein!“
„Beruhigen Sie sich. Ich gebe Ihnen ja Recht, er ist momentan unser Hauptproblem. Oder vielmehr das, was er verkörpert. Ihn nur zu töten, löst unsere Probleme nicht, und ist zudem nicht einfach, denn er ist sehr vorsichtig, und nicht leicht aufzuspüren. Wir müssen seine Basis zerstören. Shimada mag ein Ärgernis sein, aber wenn wir die Macht zerstören, auf die er sich stützt, DANN werden wir Frieden haben. Andernfalls wird sich schnell Ersatz finden, ob nun Moskau oder Tokio ihn schicken.“
„Und was schlagen Sie genau vor?“
„Verschärfen wir das, was diese roten Verbrecher den ‚Klassenkampf’ nennen. Denn sie haben Verluste erlitten, sind zu einem Kampf noch nicht bereit. An und für sich war die Idee der ANZAC nicht schlecht. Schaffe eine Krisensituation, und dann stehst du als Retter da. Gegen die bolschewistische Gefahr müsste auch dieser erbärmliche Marionettenkönig Stellung beziehen. Und keine westliche Macht kann es hinnehmen, dass Hawaii kommunistisch wird. Angesichts einer solchen Bedrohung hätten wir jedes Recht, gegen Shimadas Banden vorzugehen. Nicht einmal Japan könnte daraus einen auch nur halbwegs plausiblen Grund zum Eingreifen konstruieren. Immerhin sind sie Teil des Anti-Kominternpaktes.
Setzen wir unsere Sicherheitskräfte ein. Keine Kompromisse bei Lohnpolitik, Arbeitsschutz oder –zeiten. Diesem Lumpenpack geht es sowieso viel zu gut. Wenn wir nicht wären, dann würden sie immer noch in der Steinzeit leben, oder sie würden verhungern. Schüren wir die Unruhen. Schon jetzt wird der Mob frech, und stellt Forderungen. Bleiben wir stark, beharren wir auf unseren Rechten! Wenn wir in Selbstverteidigung handeln, wird uns die Polizei sogar helfen müssen.
Und wir müssen unsere Auslandspropaganda verbessern. In Amerika, in Australien, in Europa müssen sie begreifen – auch die Bevölkerung – was hier auf dem Spiel steht! Das Japans militarisierte Horden und die bolschewistischen Banden nur darauf lauern, ganz Hawaii mit einer Orgie aus Gewalt, Vergewaltigung und Vernichtung zu überziehen.“
„Und der König?“
„Offiziell werden wir ihn in Ruhe lassen. Er kann uns immer noch nützlich sein. Selbst er muss doch wissen, dass sein Anbiedern an Shimada jeder Logik und jedem Standesbewusstsein widerspricht. Er dürfte froh sein, wenn ihn jemand von dieser Gefahr befreien könnte, ohne seinen kostbaren, lächerlichen Thron umzustürzen. Er weiß doch, was im Fall einer japanischen Besetzung oder einer Revolte sein Schicksal wäre.“
„Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten Shimada ausschalten.“
„Überhastet zuzuschlagen wäre das Dümmste, was wir tun können. Denn dann machen wir uns vielleicht selber zu Zielen. Keiner konnte ahnen, dass er diesen Hitman so schnell aufspüren konnte. Zum Glück weiß der Killer wahrscheinlich nichts. Aber wenn wir jetzt die Nerven verlieren, gefährden wir unsere Tarnung. Wir werden Shimada beobachten. Auch er hat Schwachstellen. Die müssen wir finden, und ausnützen.“
„Und Sie glauben, das reicht?“
„Es ist ein Anfang. Denken Sie daran, was wahrscheinlich hinter Shimada steht. Er ist auch nur eine Marionette. Genauso wie der König.“
„Unsere Marionette ist leider keiner von beiden.“
„Vielleicht findet sich dafür eine Lösung…“
05.09.2020 21:51 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Sky Haven

Es war kein Geheimnis, wie der Chef des Dog Pack und die vor einigen Tagen zur NORTH STAR geflüchtete Schieberin zueinander standen. Jedenfalls glaubten die meisten der Männer und Frauen an Bord, Bescheid zu wissen. Tatsächlich hatten sie teilweise Recht, obwohl ihnen ein wichtiger Aspekt der Beziehung völlig unbekannt war. Und das sollte auch so bleiben.

Ernst „Steel“ von Stahlheim lag auf der schmalen Koje in seinem Quartier. Das eine Bein hatte er aufgestellt, das andere, notgedrungen, ausgestreckt. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er den Gipsverband los sein würde. Diese Behinderung trieb ihn innerlich fast zur Weißglut. Er konnte weder rennen, noch schnell laufen, musste bei längeren Strecken sogar auf eine Krücke zurückgreifen. In seinem Beruf aber waren Schnelligkeit, Wendigkeit und Reaktionsfähigkeit unverzichtbar. Ansonsten würde er wahrscheinlich sehr bald sehr tot sein. Wenigstens Fliegen konnte er immer noch. Sollte er dabei allerdings abgeschossen werden, würde es ihm wohl nur sehr schwer möglich sein, auszusteigen. Und gerade jetzt hätte er körperlich voll auf der Höhe sein müssen. Wer wusste schon, was als nächstes geschehen würde? Marquardt war auf seinem Rachetripp, und sein Ziel schien sich der Bedrohung inzwischen bewusst geworden zu sein. Das versprach Probleme – selbst bei einem Überraschungsangriff auf die LEVIATHAN hätte Steel mit Verlusten gerechnet. Und wer wusste schon, wann die Japaner endlich ernst machten mit ihrer Jagd? Oder was sich Texas als nächstes einfallen lassen würde?
Elisabeth O’Conner hatte sich den einzigen Stuhl gegriffen, der zum Inventar der Kabine gehörte, und sich breitbeinig verkehrt herum hingesetzt. Das war sicherlich kein sehr damenhaftes Verhalten, aber darauf hatte sie noch nie etwas gegeben. Sie stützte ihr Kinn auf die Stuhllehne, und musterte ihren deutschen ‚Kollegen’ schweigend. Die Abwehr-Agentin hatte sich erstaunlich schnell von den Schrecken und Strapazen der letzten zwei Wochen erholt, und zeigte nach Außen schon wieder ihr übliches, forsch-selbstbewußtes Wesen. Nur von Stahlheim wusste, dass sie immer noch Albträume quälten, die Elisabeth manchmal schweißgebadet aufwachen ließen.

Momentan allerdings war die Aufmerksamkeit des Agenten ganz und gar auf das kleine Metallobjekt in seiner Hand konzentriert – die Patronenhülse eines Gewehrs Kaliber 30-60: „Und das war wirklich Alles?“
Elisabeth schnaubte abfällig: „Was denkst du, was ich bin – eine Idiotin? Wenn du mich schon losschickst, um die Stellung unseres Scharfschützen mal genauer unter Augenschein zu
nehmen, dann musst du mit schon vertrauen. Das einzige, was ich sonst noch gefunden habe, waren die Abdrücke von Turnschuhen Größe 44, und den Abdruck einer Decke, auf der er gewartet hat. Noch etwas. Die Decke ist offenbar zu keiner Zeit verrutscht, und den Abdrücken nach hat er seine Füße absolut ruhig gehalten, während er gewartet hat. Und bei Hin- und Rückweg hat er sich Zeit gelassen.“
„Er fühlte sich also sehr sicher.“
„Er war ein verdammter Profi. Er trägt Turnschuhe mit Gummisohlen, geht völlig kaltblütig vor. Er ist ein erstklassiger Scharfschütze – auf dreihundert Meter schießt er einem bewegten Ziel den Kopf weg. Gleich mit dem ersten Schuss.“
„Kennst du jemanden, auf den das passt, und der Kaliber 30-60 benutzt?“
Elisabeth zuckte mit den Schultern. Die Geste wirkte etwas…unbehaglich: „Ich kenne jemanden, auf den das passt, und der sich wohl gerade hier aufhält. Ich verstehe bloß nicht, warum der auf einmal Schutzengel spielt. Das passt nicht zu ihm. Der Mungo.“
„Ich dachte, der arbeitet eher für die andere Seite?“
„Nicht mehr. Ich habe ihm nahe gelegt, dass er den Kontrakt für Armstrong abgibt.“
„DU HAST WAS?!“ Ohne den Gipsverband wäre Ernst von Stahlheim vermutlich regelrecht an die Decke gegangen.
„Schrei mich nicht an! Es war notwendig, und ich habe es getan. Und damit Schluss!“
Steel musterte die Agentin, und schluckte offenbar das herunter, was ihm auf der Zunge lag: „Danke. Aber woher weißt du, dass er den Auftrag wirklich aufgegeben hat?“
„Dein dämlicher Chef hat doch immer noch seinen bescheuerten Kopf auf seinen verdammten Schultern, oder?!“
„Schon gut, schon gut. Aber warum entdeckt er auf einmal sein Herz für uns? Nicht, dass ich ihm nicht dankbar wäre…“
„Und das genau ist es wahrscheinlich, was er will. Jetzt schulden wir ihm beide etwas. Er wird sich todsicher melden…“
„Oder er denkt über ein längerfristiges Engagement nach. Irgendwann suchen auch Topkiller sich einen festen Brotherren.“
Elisabeth zuckte noch einmal mit den Schultern. Die Zukunft des Mungos stand momentan nicht weit oben auf ihrer Prioritätenliste: „Auf jeden Fall haben wir Glück, dass deine Leute nicht gerade die hellsten sind. Es scheint niemanden ernstlich aufgefallen, dass einer dieser Scheißkerle von HINTEN erschossen wurde. Und dass eine Autopistole selbst mit Dumdum-Geschossen keine derartigen Wunden reißen kann. Ansonsten hätte ich wohl einiges zu erklären gehabt. Vor allem, da die Feuerstellung mehr als dreihundert Meter entfernt war.“
Ernst von Stahlheims Lächeln hatte eine ausgesprochene grimmige Note. Natürlich hatte sie Recht. Jeder würde nervös werden und Fragen stellen, wenn er mit der eiskalten Präzision des Mungos konfrontiert wurde. Deshalb verdiente der Mann ja auch so gut: „Die Frage ist, was nun?“
„Das sollte ich eigentlich dich fragen. Nachdem Marquardt es offenbar geschafft hat, es sich mit mehr Leuten zu verscheißen, als Jerome…warum zum Teufel setzen wir uns nicht einfach ab? Die Japse haben den Nitrobooster.“
Steel schüttelte langsam den Kopf: „So einfach ist das nicht. Momentan bin ich nicht gerade auf der Höhe. Mit diesem verdammten Bein falle ich auf, und bin ein leichtes Ziel.“
„Und du glaubst, HIER bist du sicher?!“
„Zumindest vor Kopfgeldjägern und Attentätern. Da du den Mungo ausgekauft hast…Es wäre auch sehr unplausibel, wenn ich mich jetzt einfach absetze. Jemand könnte misstrauisch werden. Und vielleicht auch genauer in deiner Vergangenheit stöbern. Bisher weiß keiner, für wen wir wirklich arbeiten. Und das soll auch so bleiben.“
„Das ist ja sehr rührend von dir, aber zumindest ich kann auf mich selber aufpassen. Und mich um meine Tarnung kümmern. Es nützt gar nichts, wenn du deine Scheinidentität so weit treibst, dass du dich von Jeromes Bastarden, den Texanern, den Russen, oder meinetwegen auch den Schlitzaugen massakrieren lässt!“
Steel grinste sardonisch: „Jetzt bin ich aber gerührt über deine Besorgnis. Aber das ist noch nicht Alles. Dieser Überfall in Seattle, dann der Mungo, und jetzt der Hinterhalt bei der Landung…Ein bisschen viel auf einmal. Jemand scheint unsere Gegner mit Informationen zu versorgen. Von Tauten war gar nicht erbaut über die Möglichkeit, dass jemand in der Abwehr oder die RSHA in seine Operation hineinfunkt. Er will wissen, ob es irgendwo ein Leck gibt. Außerdem…scheint Marquardt mich zu brauchen.“ Das sardonische Lächeln verstärkte sich bei diesen Worten noch.
„Bah! Das einzige, was er braucht, ist eine ordentliche Tracht Prügel, damit er lernt, sich nicht mit der gesamten Welt auf einmal anzulegen. Und dann auch noch in Exklusivinterviews damit zu kokettieren. Die RSHA dürfte das gar nicht spaßig finden.“
„Nein, bestimmt nicht.“ Aber ungeachtet dessen, im gewissen Sinne hatte Ernst von Stahlheim seine Worte zumindest teilweise ernst gemeint. Natürlich kannte er seine Pflicht. Würde der Befehl kommen, er würde Marquardt, verraten, ans Messer liefern, ihn sogar ermorden. Wenn auch mit Bedauern.

Dennoch, ganz hatte er sich noch nicht lösen können, von dem alten Ehrenkodex, dem man ihm beigebracht hatte. Solange es noch möglich war, versuchte er ihm zu folgen. Und das beinhaltete zum Beispiel, dass man einem Mitkämpfer, egal für wie wenig lebensgescheit man ihn hielt, den Rücken freihielt, und ihn nicht im Stich ließ. Ernst von Stahlheim lief nur ungern davon. Aber es gab auch noch einen anderen Grund. Einen, den Elisabeth verstehen konnte: „Jerome ist eine Bestie. Ihn zu töten, wäre wohl mehr als nur eine gute Tat…“
„Das ist nicht deine Sache! Die Abwehr bezahlt dich nicht dafür, hier den Helden zu spielen. Und wenn du schon deine moralische Ader entdeckst, warum zum Teufel…“ Sie brach ab. Aber er konnte sich vorstellen, was sie hatte sagen wollen. Einige der Geschichten, die er in der Heimat oder von Kollegen gehört hatte, waren alles andere als schön. Aber sich darüber den Kopf zu zerbrechen, war sinnlos. Unbeirrt fuhr er fort: „…aber darum geht es nicht einmal an erster Stelle. Aber dieses Schwein hat die Abwehr herausgefordert. Er hat dich angegriffen. Dafür muss er bezahlen. Mit Blut. Solange Jerome lebt, bist du in Gefahr. Also muss er sterben.“
Elisabeth riss die Augen auf. Ausnahmsweise schien ihr eine schlagfertige Antwort zu fehlen. Dann aber fand sie doch etwas, und brauste auf: „Ich habe verdammt noch mal nicht von der verlangt, dass du hier für mich den Rächer spielst!“
Ihr Gegenüber grinste knapp: „Das spielt dabei keine Rolle. Aber natürlich hast du nicht ganz Unrecht. Hier auf der NORTH STAR zu bleiben, ist riskant. Bei der passenden Gelegenheit…solltest du dich besser absetzen.“
„Oh nein! So schnell kannst du nicht das Thema wechseln!“
„Wir müssen so schnell wie möglich wieder Kontakt zur Abwehr aufnehmen. Ich will nicht zu viel funken. Du musst deine Arbeit fortsetzen. Deine Tarnung hat schon genug Risse bekommen. Solange wir beide hier an Bord sind, ist das Risiko, aufzufliegen, doppelt so groß. Ich habe ein ganzes Bündel von Gründen, um an Bord zu bleiben. Du nicht.“
„Einen habe ich.“ Ihre Stimme klang bei diesen Worten ungewöhnlich leise. Ernst von Stahlheim reagierte mit einem eher seltenen, offenen Lächeln, das auch seine Augen erreichte: „Danke. Das bedeutet mir viel.“
„Woher weißt du denn, dass ich ausgerechnet dich meine?“ konterte sie bissig.
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Als Dave Stone die finstere Lagerhalle irgendwo in den Randbezirken von Sky Haven betrat, kam er sich für ein paar Sekunden etwas dumm vor. Nachdem aber zwei große Spots aufflammten und ihn in ihrem Licht badeten, kam er sich ausgesprochen dämlich vor. Er hob eine Hand vor die Augen, um sie zu schützen und fragte: „Dick?“
Die Antwort war das Klicken, das entstand, wenn man einen Karabiner entsicherte. Das Geräusch ertönte in etwa zwanzig oder dreißig Mal.
„Dick, bist du hier?“
In der Finsternis hinter den Scheinwerfern wisperten ein paar Stimmen. Dem folgte ein lauter Seufzer und ein gezischter Befehl. Wieder ertönte dieses Klicken, und erleichtert registriere Dave, dass die Karabiner damit gesichert worden waren.
Die Scheinwerfer erloschen. Dafür flammte in der Halle Licht auf.
Nun, es dauerte einen Moment, bis Dave Armstrong Stone wieder einigermaßen sehen konnte, nachdem die Scheinwerfer ihn geblendet hatten. Aber danach erkannte er sehr deutlich ein Rudel Texas Marines, das ihre Gewehre auf ihn im Anschlag hatten. Erst ein Befehl des kommandierenden Offiziers ließ sie die Waffen abnehmen. Etwas hinter der Formation stand der Mann, der ihn in diese Halle eingeladen hatte.
„Entschuldige, Thomas, aber ich dachte, ich muss dich erst einmal bedrohen, bevor du dich weit genug abgekühlt hast, um mir zu zu hören“, entschuldigte sich der Mann, der im Aufsichtsrat von Colt Aviation saß und eine nicht gerade ungewichtige Stimme in Innen- und Außenpolitik von Texas hatte. Der Mann, der um ein Haar sein Schwiegervater geworden war. „Oder dass du zwei Dutzend Marines mitbringst, um diese Halle von allen Seiten hoch zu nehmen.“
Dave winkte ab. „Das hätte ich vielleicht versucht, wenn dies hier Hawaii wäre und der Tag nach der Schlacht um Pearl City. Aber mittlerweile hat mir ein alter Freund den Kopf zurecht gerückt und mir aufgezeigt, wer in dieser Welt mein Freund ist und wer nicht.“
„Du sprichst doch nicht von diesem verlausten Piraten mit dem öligen Charme eines alternden italienischen Gigolos?“, fragte Richard Campbell mit einem Schmunzeln.
„Wenn du damit Cat Shannon meinst, hast du Recht, Dick.“
Der Texaner lachte leise. Dann winkte er die Marines auseinander und deutete auf einen Tisch im Hintergrund der Halle. Er war für drei Personen eingedeckt. „Hast du schon gegessen? Wenn nicht begleite mich doch beim Abendessen, Thomas. Das ROYAL-Hotel hat einen ganz außergewöhnlichen Catering-Service.“
„Ich habe nichts gegen eine Kleinigkeit, Dick.“ Düster fügte er hinzu: „Während du mir erklärst was zur Hölle schief gelaufen ist.“
Richard ging auf den jungen Mann zu, legte in einer vertraulichen Geste den Arm um seine Schultern und führte ihn zum Tisch herüber. Dort wartete bereits ein schwarz livrierter Kellner, der sich vor den beiden verneigte, als sie näher kamen. „Ich werde alle deine Fragen beantworten. Bei einem guten Essen und etwas ordentlichem zu trinken. Nicht wahr, Pierre?“
„Oui, Monsieur Campbell. Le Chef bereitet `eute sein exquisites Fünfgängemenu mit Meeresfrüschten. Wir beginnen mit ein paar Dutzend frischer Austern, die `eute Morgen noch im Meer getümmelt `aben. Dazu empfehle isch eine trockene Weisswein, eine Riessling aus die Elsass.“
„Danke, Pierre.“ Campbell deutete auf den einen Stuhl am Stirnende. „Bitte nimm Platz, mein Sohn.“
„Mein Sohn? Was ist los mit dir, Dick? Wirst du sentimental auf deine alten Tage oder versuchst du mich einzulullen?“
Der alte Mann setzte sich ihm gegenüber. „So. Denkst du wirklich, dass ich dich benutze? Das ich dich fallen lasse, sobald Annie gerächt ist? So wie Texas dich über Hawaii fallen ließ? Thomas, ich habe eine sehr lange Zeit gebraucht um mich an dich zu gewöhnen. Und glaub mir, ich habe mich nie besonders bemüht. Aber es ist halt irgendwann passiert, und ob es dir passt oder nicht, irgendwie gehörst du jetzt zur Familie.“
„In einer Familie passt man aber aufeinander auf. Das kann ich von dir nicht gerade behaupten… Dad.“
Richard Campbell nickte einem der Männer zu, die diskret im Hintergrund warteten. Sofort trat der Mann mit einer Tasche heran und stellte sie neben Dave ab. „Bitte, Commander.“
„Da drin sind zwanzigtausend Dollar, mein Sohn. Alles, was dir Texas an Sold, Prämien, Sonderzuschlägen und Spesen schuldet, plus ein fettes Trinkgeld. Ich hoffe, das mildert deinen Zorn auf Texas etwas.“
„Nicht unbedingt. Das Geld kommt schließlich von dir, und wenn ich auf dich sauer sein sollte, dann nur weil du mich nicht gewarnt hast.“
„Das Geld ist nicht von mir. Es stammt aus der Staatskasse. Und ich konnte dich nicht warnen. Du hättest nur versucht alles besonders perfekt zu machen und jedem und allem gerecht zu werden. Und dann wäre es erst recht schlimm geworden. Oder perfekt, aber darauf habe ich mich nicht verlassen.“ Campbell roch am Korken der Flasche, die Pierre ihm brachte, nahm einen Probeschluck und nickte. „Einverstanden.“ Dann sah er wieder Dave an. „Thomas, ich habe Norah gewarnt. Sie kann mit so einem Wissen und dieser Situation besser umgehen.“
„Na danke“, brummte Armstrong beleidigt.
Pierre ließ derweil von Hilfskräften drei große Teller mit Austern servieren.
„Du fragst dich sicher, für wen Teller Nummer drei ist“, stellte Campbell fest.
„Allerdings. Wenn du mir schon zwanzigtausend Greenbucks hinterher wirfst, wird sich nicht jeder Hinz und Kunz zu uns setzen. Wer ist es? Der Gouverneur? Der Bürgermeister von Sky Haven? Ghengis Khan? Nathan Zachary?“
„Falsch, falsch, falsch, falsch“, stellte Campbell genüsslich fest. „Lass es mich so sagen. Das Geld kommt von Texas. Aber mit unserem Gast erfülle ich mir einen persönlichen Wunsch. Obwohl ich vor einer Woche noch nicht einmal wusste, dass ich ihn habe.“
Dies war der Moment, als sich das unverkennbare Rohr einer Luger in Daves Hals bohrte. Deutlich spürte er das Zielkorn in seiner Haut. Dazu hauchte eine raue, verärgerte Stimme: „Endlich habe ich dich. Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, dir hinterher zu kommen?“
Spontan sprang Dave auf, die Waffe vollkommen ignorierend. Er wirbelte herum und spürte, wie sein Kiefer herab sackte. „Aber… Aber… Aberaberaberaber…“ Mit aufgerissenen Augen sah er zu Campbell herüber, der wissend schmunzelte.
„Aber? Mehr hast du nicht zu sagen, wenn du deinem Bruder begegnest, Thomas David Marquardt?“
„Pete!“, brach es aus ihm hervor. Überschwänglich nahm er den Jüngeren in die Arme. „Mein Gott, du bist es! Pete, wie schön dich zu sehen!“
Der junge Mann lachte und drückte den Bruder ebenfalls an sich. „Und es ist schön dich zu sehen, großer Bruder. Aber musst du mich Pete nennen? Haben dich die Amis schon so angesteckt mit ihren Anglizismen? Nichts für ungut, Mr. Campbell.“
„Oh, Ihre Einstellung sei Ihnen gegönnt, Peter Marquardt“, sagte der Texaner schmunzelnd.
„Peter Aaron Marquardt. Was treibst du hier, mitten in der gefährlichsten Stadt des ganzen Kontinents?“
„Später. Ich erzähle dir später alles. Ich musste Mr. Campbell versprechen, dass er den Vortritt bekommt. Jetzt lass uns erstmal essen. Ich habe einen Kohldampf, der ist nicht von schlechten Eltern.“
„Es gibt Fisch“, stellte Dave nüchtern fest.
„Ich bin nicht mehr sechzehn, Thomas.“ Der Jüngere zwinkerte. „Ich habe dazu gelernt.“
„Bitte, Pete, setzen Sie sich. Pierre, noch ein Glas für den Herrn.“

Eine Zeitlang widmeten sich die Herren den Austern. Dave musste zugeben, dass ihm das Zeug schmeckte. Wenngleich das fehlen von Besteck ihn etwas irritierte.
„Zweiter Gang. Salat mit Meeresfrüschten, Messieurs.“
Misstrauisch betrachtete er den zarten kleinen Glasteller mit Blattsalat, Krabben und diversen Dingen, die er nicht zu identifizieren vermochte. „Können wir das hier nicht überspringen und zum Hauptmenu kommen?“
„Meinetwegen. Pierre, was macht der Hummer?“
„Noch fünf Minüten, Monsieur le Directeur.“
„Diesen Hauptgang meinte ich nicht, Dick. Was ist passiert? Was hast du für mich? Was ist schief gelaufen?“
Richard Campbell fixierte den Deutschen mit einem Blick, der alles bedeuten konnte. Als er zu sprechen begann, tat er dies mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme.
„Thomas, du warst zu gut.“
Sein kleiner Bruder nickte dazu mit einem dicken Grinsen, und das verursachte Dave eine Gänsehaut. „Wie bitte?“
„Du weißt, Texas ist von allen Seiten von potentiellen Feinden umgeben. Und die texanische Führung glaubt, dass wir alleine als Freistaat selbst mit dem Nitro-Booster der Ersten Generation nicht sehr viel länger stand halten können, wenn eine Großmacht ein begehrliches Auge auf uns wirft.
Als du zu den Roten hochgefahren bist, entstand über Wochen ein Plan, um einige dieser Großmächte zu testen. Du solltest die Russen angreifen, damit wir sehen konnten, was sie den Peoples Collective beibringen oder womit sie sie verstärken können. Und du solltest die Japaner angreifen um heraus zu finden, was die Nation of Hollywood gegen uns aufbieten kann. Nun, die Ergebnisse waren schockierend. Deine Leute waren gut, aber die Roten und die Japse waren weit besser als erwartet. Das ging soweit, dass im Parlament eine Diskussion losgetreten wurde, um das Bündnis mit einer Großmacht zu suchen. Die Diskussion ging sogar so weit, ein ernsthaftes Bündnis mit Japan zu suchen. Sie brauchen Öl, wir haben Öl. Wir brauchen Ausrüstung und Piloten, sie haben Ausrüstung und Piloten.
Als Kamehameha der Dritte an uns heran trat, um seine Inseln vor der Invasion der ANZAC zu bewahren, mein Junge, sollte dies zugleich der letzte Feldtest für die Japaner sein.
Was dann aber kam, ist mir entglitten. Dave, niemals hätte ich dich absichtlich verraten oder derart dem Feind ausgeliefert.“
„Ich weiß, Dad. Ich nehme an, eine Gruppe in der Führungsschicht ging davon aus, dass die Japaner doch irgendwann herausfinden würden, wer den Stützpunkt Weißer Bär Eins angegriffen hat und sie dem mit einem reinen Tisch zuvor kommen wollten. Schlimmer noch, ich wurde als Präsent dargebracht.“
Campbell nickte. „Scharfsinnig wie immer. Und genau deshalb habe ich Norah darüber informiert, was euch da drüben erwartet. Es ist ja auch alles nach Plan gelaufen. Nach meinem Plan.“
Dave klopfte auf die Tasche mit den Greenbucks. „Passt schon, Dad. Und, was hast du jetzt mit mir vor? Die LEVIATHAN?“
„Natürlich die LEVIATHAN, Thomas. Aber nicht nur. Wir sind dabei sie einzukreisen, bildlich gesprochen. Aber bis es soweit ist und deine Mannschaft sich weit genug erholt hat, werden noch Wochen vergehen. Und dann müssen wir auch über das danach nachdenken. Texas wird auch weiterhin Verwendung für einen Freibeuter haben, der in Sky Haven seinen Stützpunkt hat. Und Texas wird ihn teuer bezahlen.“
Dave wollte protestieren, zumindest einwenden, dass er seinen Leuten nach dieser Blamage kaum einreden konnte, dass sie weiterhin für Texas tätig waren, aber Campbell schnippte nur mit den Fingern. Zwei Marines brachten daraufhin einen Rolltisch heran und entfernten die Plane. „Dies ist die erste Rate. Der Nitro-Booster der Zweiten Generation. Zehn Prozent höhere Leistungsfähigkeit und vierzig Prozent geringerer Verschleiß. Ermöglicht wird dies durch ein neues Leichtlauföl und einen speziellen Zusatz im Flugbenzin. Unsere Wissenschaftler und Techniker waren nicht untätig. Wir arbeiten bereits an der dritten Generation. Aber es wird noch dauern, bis diese auch zur Serienreife gelangt. Bis dahin musst du dich mit diesem hier begnügen.“
Argwöhnisch zog Dave die Augenbrauen hoch. „Wie viele?“
„Genug für zwei Staffeln plus zwei als Reserve. Die alten kannst du meinetwegen für teures Geld auf dem Schwarzmarkt verscherbeln. Ab heute sind sie aus dem Rennen geschlagen.“
„Danke. Und die zweite Rate?“
Wieder schnippte Campbell mit den Fingern, ein Scheinwerferspot erleuchtete die Flanke der Halle und entriss dort vier Flugzeuge der Dunkelheit. „Zwei Fury und zwei Bloodhawk. Sieh das als kleines Geschenk von mir persönlich. Der neue Booster ist bereits eingebaut.
Pierre, der Hummer dürfte nun soweit sein, oder?“
„Oui, Monsieur. Isch serviere sofort.“
Während die rotschaligen Krustentiere serviert wurden, sprach Richard weiter. „Es wird sich nichts zwischen uns ändern. Du wirst zum gleichen Satz für uns arbeiten und beizeiten Aufträge für uns erledigen. Ich habe aber den Sold um zehn Prozent raufsetzen lassen. Unsere Zusammenarbeit ist natürlich geheim. Nur du, Norah und ich wissen davon. Ach, und natürlich Peter hier.“ Der Texaner nickte dem jüngeren Marquardt zu. „Bitte, mein Junge.“
„Was uns wohl zu mir bringt“, sagte Pete mit einem bedauernden Blick auf seine zerlassene Butter und den halb aufgebrochenen Hummer. „Thomas, der Führer will dich begnadigen.“
Vor schreck fiel Armstrong die Hummerzange aus der Hand und fiel scheppernd auf den Teppich. „WAS?“
„Eine interne Untersuchung hat ergeben, dass die Vorwürfe gegen Mutter haltlos waren. Außerdem wurde festgestellt, dass die beiden GESTAPO-Männer einen Mordauftrag hatten. Du solltest nicht zum Verhör geschafft werden, du solltest sterben.
Erinnerst du dich an General von Richthofen? Er hat vor einem halben Jahr eine intensive Untersuchung angestrengt und ließ mehr als einen Kopf rollen. Es heißt, eine komplette Ortssektion der GESTAPO wurde ausgetauscht.“
„Das ist nett“, sagte Dave vorsichtig, „aber warum interessiert sich ausgerechnet ein hoch dekorierter Luftwaffengeneral für mich?“
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat dein Ausbilder ein gutes Wort für dich eingelegt.“
„Nach zwei Jahren“, bemerkte Dave mit tiefer Resignation in der Stimme.
„Zugegeben. Aber besser spät als nie. Jedenfalls, wenn du zurückkommst, dann kriegst du deine eigene Staffel. Ich rede hier von einem Sechs Rotten-System und dem Hauptmannsrang. Alles was du darüber hinaus tun müsstest wäre Fördermitglied der SS zu werden. Du weißt schon, einer von diesen Typen mit dem goldenen FDSS-Anstecker.“
Dave senkte den Kopf. „Du verstehst es nicht, oder? Ich bin damals nicht nur geflohen, weil die verdammten Schlapphüte es auf mein Leben abgesehen hatten. Ich bin geflohen, weil ich nicht in einem Land leben kann, in dem ein unbescholtener Luftwaffenoffizier einfach so verschwinden kann. Und das wäre ich, wenn ich der GESTAPO erlaubt hätte, mich mitzunehmen. Solange Hitler an der Macht ist, wird sich das nicht ändern. Versteh mich nicht falsch, ich hasse unser Land nicht. Und ich habe nichts gegen unser Militär oder gegen die SS. Die soll sich meinetwegen fördern lassen, bis ihnen der Arsch blutet.“
Peter prustete. „Für so eine Ausdrucksweise hätte Mutter dir den Mund mit Seife ausgewaschen.“
„Apropos Mutter. Wie geht es ihr und Vater?“
Der kleine Bruder sah betreten zu Boden, bevor er es wagte, Dave wieder anzusehen. „Sie sind jetzt in Frankreich. Mutter war eine lange Zeit interniert, und als sie raus kam, da hat sie gesagt, dass sie in diesem Land nicht mehr leben kann. Sie spricht nicht über ihre Haft, aber Mutter hat mir eingeschärft dir zu sagen, dass nicht du an ihrer Haft sondern sie an deinem Unglück Schuld ist.“
„Weder noch. Nicht Mutter oder ich sind Schuld, kleiner Bruder, sondern die Partei, die aus unseren Deutschland einen schlimmeren Staat gemacht hat als unter napoleonischer Besetzung. Verstehst du jetzt, warum ich nicht zurück will? Nicht mal für den Hauptmannsrang?“
„Uff, da bin ich aber erleichtert, Thomas. Ich dachte schon, du gehst darauf ein.“
„Hä? Und warum hast du mir dann überhaupt dieses Angebot unterbreitet?“
„Erstens, um dich zu warnen. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass es immer noch einen deutschen Geheimdienst gibt, der Jagd auf dich macht, also pass auf.“
„Na danke. Erst wird Jerome auf mich aufmerksam, und nun können die Krauts nicht genug von mir kriegen. Und zweitens?“
Pete grinste schief. „Und zweitens war es der schnellste und billigste Weg für mich, um dich zu treffen. Großer Bruder, ich will für dich fliegen. Mir gibt dieses Regime auch nichts mehr.“
„Na, das ist ja mal eine erstaunliche Entwicklung. Willkommen an Bord der NORTH STAR, Pete.“
„Wenn alles geklärt ist, können wir uns ja wieder dem Essen widmen“, stellte Richard Campbell fest. „Erste Instruktionen werde ich nächste Woche für dich verfassen, Thomas. Auch einige neue Leute schicke ich dir. Und ich habe das Gelände gekauft auf dem du deine NORTH immer anbindest. Sieh es als Zusatzgeschenk an. Für die Verteidigung von Texas ist nichts zu teuer. Ach, und noch etwas, sieh dich vor deinem neuen Gast vor. Die kleine Schieberin, die dein Steel neulich gerettet hat, steckt in einem ziemlich verworrenen Informantennetz fest und hat angeblich sogar Kontakte zu einem großen Auslandsgeheimdienst. Wer weiß welche Natter du dir da an deinen Busen gelegt hast. Oder was sie tun wird, um deinen kleinen Industrial-Piloten umzudrehen.“
„Ich vertraue Steel“, sagte Dave fest. „Aber ich werde besser etwas auf ihn aufpassen.“
„Der vierte Gang: Cancer Soup in its Bread Bowl.“

Es wurde ein recht gelungener Abend, der mit den Flugzeugen und den Greenbucks ein furioses Finale erreicht hatte.
Nun konnte Dave hoffen, Jerome aus der Geschichte zu tilgen.
Sein Bruder würde ihm eine große Hilfe sein. Vielleicht ebenso groß wie die Hilfe von Steel.
05.09.2020 21:52 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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„Die Schlinge wird immer enger.“ Mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck sah Karl Regen hinaus in den verregneten Nachmittag. „Und unser deutscher Freund ahnt nichts davon.“
„Was interessiert es Sie, Bürgermeister?“, antwortete eine harsche, befehlsgewohnte Stimme. „Sie hatten nie mit ihm zu tun, unterhalten keine Geschäftsbeziehungen mit ihm und sind ihm nicht verpflichtet.“ Zu der Stimme gehörte ein bulliger kleiner Mann, der wie dafür geschaffen zu sein schien, um in den Heckschützensitz einer Baltimore zu passen. Seine Bekleidung war ein Anzug neuester Mode, aber er saß wirklich schlecht. Und zudem schrieen sein Auftreten und seine Sprechweise Militär. „Außerdem bezahlen wir Sie gut für diesen Dienst.“
„Sie verstehen nicht ganz. Es kommt vor, dass sich die Piraten, Privatunternehmer und wer sich sonst in den Straßen und Hängen dieser schönen Stadt herumtreibt, einander bekämpfen. Aber diese Stadt zu führen bedeutet ein Geschäft zu machen. Die Menschen, die hierher kommen, bezahlen ebenso für die Freiheit, ihre Feinde töten zu können als auch Entspannung und Erholung zu finden, geschweige denn Ersatzteile und Munition. Es ist meine Aufgabe, ein Gleichgewicht zwischen diesen Bedürfnissen herzustellen.“
Eine wuchtige Hand schlug auf einen ledernen Aktenkoffer. „Zehntausend Greenbucks sind wohl mehr als genug, um Sie ein wenig in die andere Richtung sehen zu lassen und uns unsere Vorbereitungen treffen zu lassen. Ich bitte Sie, auch das ist nur ein Geschäft, Bürgermeister Regen.“
Für einen Moment sah der Mann zurück. Sein Blick war eisigkalt. Man sagte ihm nach, er würde ohne zu zögern seine Großmutter verkaufen, wenn sich der Preis lohnte. Aber das kam der Wahrheit nicht einmal ansatzweise nahe. Er würde auch die Großmütter anderer Leute verkaufen, wenn das Geld stimmte. Aber er war ein wenig mehr als ein simpler Schläger, Erpresser und Betrüger. Er war der Mann, der letztendlich dafür sorgte, das Sky Haven funktionierte. Sie war überbevölkert, hoch frequentiert und stets in der Gefahr, angegriffen zu werden. Die Schranke zwischen arm und reich war gigantisch; es gab nur eine Handvoll wirklich vermögender Leute in der Stadt, dem gegenüber stand ein Heer an Hoffnungslosen, das in die zehntausende ging. Wenn diese Menschen eines Tages auf den Gedanken kamen, den Aufstand zu proben, würde die Stadt die blutigsten Tage ihrer kurzen Geschichte erleben. Nicht einmal der kombinierte Arixo- und Peoples Collective-Angriff würde dann damit mithalten können. Und was war, wenn die Reichen beschlossen, diese Stadt zu verlassen und niemals wiederzukehren, weil sie ihr zu unsicher war?
Ein Piratennest wie dieses konnte man überall erschaffen. Es erhalten war die Schwierigkeit, und Regen hatte es nicht vor, es so weit kommen zu lassen, dass Leute wie Ghengis Khan beschlossen, ihr Vermögen in einem eigenen Projekt zu investieren.
„Guter Mann, Gewalt ist in dieser Stadt an der Tagesordnung. Ein Tag ohne wenigstens zehn Tote ist ein verlorener Tag, sagt man in dieser Stadt. Leben ist billig, noch billiger als Alkohol und Frauen. Aber es gibt eine Sache, die ich stets bedenken muss.
Unser deutscher Freund Dave Stone hat eine eigene Zigarre. Er ist erfolgreich, und seit einiger Zeit auch noch berühmt. Es wäre ein gewisser Verlust für diese Stadt, wenn er seine Geschäfte fortan woanders tätigt. Ich habe gehört, er hat gute Beziehungen in Tichuana aufgebaut.“
„Wollen Sie den Preis in die Höhe treiben?“
„Ich will, dass Sie mich verstehen. Es wäre einfacher für mich, Ihre Bluthunde agieren zu lassen, nachdem sein Ruhm etwas abgeflaut ist. Seine zwanzig Minuten sind leider noch nicht vorbei.“ Regen seufzte. „Noch lange nicht.“
„Meine Auftraggeber werden das nicht hinnehmen. Ich habe den Bef…Auftrag, meine Mission so schnell wie möglich durchzuführen.“
Karl Regen sah wieder aus dem Fenster. „Dave Stone ist zweifellos ein interessanter Mann. Er wurde von der GESTAPO durch die halbe Welt gehetzt, flog für die Tigers im Chinakrieg mit Japan und hat sich in Amerika seine ersten Sporen als Flügelmann von Conal Andrew Thomas Shannon verdient. Ein Ire. Wissen Sie, was Sie riskieren, wenn Sie den Busenkumpel eines Iren töten?“
Dies war das erste Mal, dass der Gast eine Reaktion zeigte. Es war nur ein kurzes Aufleuchten der Augen, aber das sagte genug.
„Außerdem ist es zurzeit ein wenig unruhig um unseren deutschen Freund. Zuerst der Anschlag auf sein Leben im La Fleure, danach die Attacke auf seinen Zeppelin während der Landung. Und dann hat eine Horde Irrer einen seiner Händler kreuz und quer durch die Stadt gejagt. Wenn er im großen Finale noch ums Leben kommt, wirft das ein sehr schlechtes Licht auf mich und diese Stadt. Deshalb rate ich Ihnen, noch ein wenig zu warten. Und sei es nur, damit seine Wachsamkeit wieder eingeschläfert wird.“
„Wie ich schon sagte, ich habe meine Anweisungen. Und Sie haben das Geld, Mr. Regen.“
Der Bürgermeister von Sky Haven wandte sich vom Fenster ab und zog den Lederkoffer an sich. „Also gut. Sie können Ihre Aktion durchziehen. Ich werde Sie nicht behelligen.“
Auf den Gesichtszügen des Manns erschien ein triumphierender Zug. „Ich danke Ihnen, Bürgermeister Regen. Es freut mich, dass wir letztendlich geschäftseinig geworden sind.“
„Aber“, sagte Regen und betonte das Wort eindringlich, „Sie haben nur eine Woche. Danach will ich Ihre Killerbande nicht mehr in meiner Stadt sehen.“
„Eine Woche ist mehr als genug. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden…“

Eine Zeitlang starrte Karl Regen noch auf die Tür, die sich hinter dem Fremden geschlossen hatte. Der Bürgermeister von Sky Haven tippte auf britischen Geheimdienst oder von den Japanern gekaufte Auftragsmörder. Er war sicher, dass er damit nicht allzu falsch lag.
Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und zog ein Blatt Papier hervor. Mit sorgfältigen und langsamen Strichen begann er zu schreiben. Als er damit fertig war, rief er über die Sprechanlage einen seiner Männer herein. Das Papier landete in einem Umschlag, und wurde von ihm versiegelt.
„Hier, Will. Ich möchte, dass dieser Brief umgehend zugestellt wird.“
„Ist in Ordnung, Chef. Wer soll ihn kriegen?“
„Lass ihn auf die NORTH STAR bringen, zu Händen von Commander Dave Stone.“
„Jawohl, Boss.“ Der Schläger nahm den Brief entgegen und verließ das Büro.
Regen lächelte zynisch. Sein Gast hatte noch viel zu lernen, wenn er in dieser Stadt überleben wollte. Wäre er schlau gewesen, hätte er nicht nur seine Ignoranz dem Jagdteam gegenüber gekauft, sondern auch noch sein Schweigen.
Somit hatte er drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wenn Armstrong überlebte, würde er noch berühmter werden und noch mehr Aufmerksamkeit auf diese Stadt ziehen; fortan würde der Deutsche in der Schuld des Bürgermeisters von Sky Haven stehen und letztendlich würde der nächste Geheimdienst, der mit Forderungen an ihn heran trat, etwas umsichtiger, vorsichtiger und sicherlich auch großzügiger sein.
Denn dies war Sky Haven. Seine Stadt.

***

„Guten Morgen, meine Lieben.“
Der groß gewachsene Mann, der in einem Pyjama am Tisch saß und zeichnete, sah erfreut auf. „SIR!“ Sofort sprang er auf und reichte Armstrong die Hand. „Es tut gut, Sie endlich wieder zu sehen, Sir.“
„Es tut gut, dich zu sehen, Tom. Du siehst gut aus. Viel besser als bei meinem letzten Besuch.“
„Es geht mir auch besser. Die Brüche sind gut verheilt und ich habe keine bleibenden Schäden erlitten, sagt mein Arzt. Ich habe aber Sehkraft auf dem linken Auge eingebüßt.“
„Das tut mir Leid, mein Junge.“
„Sollte es nicht, Sir. Ohne Sie wären Sharon und ich jetzt tot, und ich glaube das ist schlimmer.“
„Apropos Sharon, wo ist sie?“
Grinsend deutete Tom aus dem Fenster. Dort setzte gerade ein Hoplit zu einer Kurve mit abschließender Landung an. „Seit es ihr wieder besser geht, fliegt sie die Botengänge für das Hospital. Sie sagt, das ist besser für ihre Heilung als im Bett zu liegen.“ Missmutig sah der Junge den Commander an. „Ich muss mich ja noch schonen.“
„Das macht dir niemand zum Vorwurf, mein Junge. Du hast furchtbar ausgesehen. Darf ich dir meinen Begleiter vorstellen? Das ist mein kleiner Bruder Pete.“
„Freut mich Sie kennenzulernen, Sir.“
„Ob, bitte, nennen Sie mich nicht Sir. Ich bin erst achtzehn.“
Die Miene des anderen zerfurchte sich plötzlich. „Ich bin siebzehn, Sir.“
Peter Marquardt schluckte trocken. Sein Gegenüber wirkte mehr wie Ende zwanzig.
„Ich weiß, ich weiß. Ich sehe furchtbar aus“, sagte der Junge und lachte gekünstelt. „Aber ich habe auch genug gesehen.“ Er zog einen der Blöcke vom Tisch und öffnete ihn. „Ich habe die Zeichnungen angefertigt, Sir, alles was Sie wollten. Ich war leider nur einmal auf der Brücke der LEVIATHAN, deshalb bin ich mir nur bei den Ausmaßen sicher. Hier, das zeigt den Hangar. Wir mussten manchmal zusehen, wenn sie Menschen über Bord geworfen haben, die entweder wertlos für sie waren oder ihren Unterhaltungswert verloren hatten.“ Die Augen des Mannes wurden blass und glanzlos. „Hier, in dieser Sektion wurden wir meistens gefangen gehalten. Ansonsten mussten wir arbeiten. Ab und zu haben sie sich dann einen von uns gekrallt und aus reiner Lust an der Freude gequält oder sogar gleich getötet. Jerome, mögen seine Innereien verfaulen, hatte ganz spezielle Vorlieben.“
Armstrong versteifte sich merklich. Wenn er daran dachte, dass seine Annie nicht in der Luft gestorben wäre sondern hätte auf diesem Schiff landen können, wurde ihm schlecht.
„Oh, wir haben Besuch. Armstrong, Sir, es freut mich, Sie wieder zu sehen.“
Mit einem beschwingten, sicheren Schritt trat eine junge, braunhaarige Frau ein. Sie trug Fliegerkluft und lächelte, dass es Steine geschmolzen hätte.
„Ist etwas, Sir? Ich bin es, Sharon.“
„Sharon? Du bist nicht wiederzuerkennen.“ Ein wenig sprachlos schüttelte er der Frau die Hand und stellte seinen Bruder vor.
„Du siehst wieder ganz hervorragend aus, Sharon.“
Sie lächelte tapfer. „Ich weiß, Sir. Alles verheilt gut, und der Doc hat mir versprochen, dass keine Narben bleiben. Aber…“ Betreten senkte sie den Blick. „Aber wahrscheinlich werde ich nie Kinder haben. An Bord der LEVIATHAN haben sie…“
Armstrong winkte ab. Es gab Dinge, die er seinem Bruder ersparen wollte. Und die gute alte Geschichte von der Abtreibung mit dem schmutzigen Messer war nun wirklich nichts, was ein Achtzehnjähriger hören wollte oder sollte.
Sharon nickte verstehend, allerdings mit einem spöttischen Seitenblick auf den jungen Deutschen.
„Du hast den Hoplit geflogen, Sharon?“, hakte Dave nach.
„Wenn es Recht ist, Sir. Ich bin früher mal für STI geflogen, bevor da wegen der Black Hats alles den Bach runter ging. Danach habe ich eine lokale Miliz ausgebildet. Das habe ich ja noch gar nicht erzählt, nicht wahr?“ Sie seufzte. „Leider kam irgendwann die LEVIATHAN vorbei und ich war etwas zu hübsch, um einfach erschossen zu werden. Hätte ich gewusst, was mich erwartet, wäre ich lieber aus dem Zeppelin gesprungen.“
„Gut, dass du es nicht getan hast“, sagte Armstrong fest.
Er deutete auf die Stühle am Tisch. „Tom hat uns schon ein paar der Zeichnungen gezeigt. Das sind gute Arbeiten, mein Junge.“
„Ich wollte Ingenieur werden. Blaupausen zu zeichnen ist ein Klacks für mich. Bei den Gesichtern habe ich schon mehr Probleme. Aber da hilft mir ja Sharon.“
Die Pilotin lächelte dünn. „Das kommt von den vielen Steckbriefen. Irgendwann kann man es einfach. Irgendwie. Ich habe auch ein paar Dossiers zusammengestellt. Vorlieben, Flugverhalten, Maschine, und so weiter. Aber ich schätze diese drei hier sind die Wichtigsten. Die anderen können während unserer Abwesenheit ausgetauscht worden sein. Auf der LEVIATHAN stirbt man schnell oder setzt sich flink ab, vor allem wenn der Nachfolger schon an Bord ist.
Dieses Bild zeigt den Boss. Er fliegt eine Bloodhawk. Ich habe damals dreiundzwanzig Abschussmarkierungen gesehen, und ich glaube dass er sich jede einzelne verdient hat. Eine davon gehört zu meinem Vogel, Sir. Er ist ein ziemlich aggressiver Pilot, der meistens alleine fliegt. Aber er hat keinerlei Skrupel, einen seiner Leute zu Hilfe zu rufen.
Dies hier ist sein Erster Offizier. Er kommandiert den Zeppelin. Felix Richter. Ein alter, steifer Knochen, überkorrekt, immer in gestärkter Uniform. Aber das soll nur den Sadisten in ihm verstecken. Wenn Sie ihn vor sich sehen, knallen Sie ihn wie den räudigen Hund nieder, der er ist, Sir. Und lassen Sie ihn niemals in die Nähe von Kindern.“
Peter raunte entsetzt und selbst Armstrong musste schlucken.
„Dieses Bild gehört zu Ross Conway, dem Anführer der zweiten Staffel. Die LEVIATHAN hat mindestens immer zwölf und höchstens vierundzwanzig Maschinen an Bord. Im Einsatz gehen sie durch zwei und werden unter Jerome und Ross aufgeteilt. Ein simples Prinzip.
Conway selbst ist ein wortkarger, ruhiger Mann, der ebenso fliegt. Kompromisslos, ruhig und kaum aus der Ruhe zu bringen. Ich hatte nie mit ihm zu tun, Sir, aber bei den Gefangenen wurde selten über ihn geklagt.“
Tom lachte dabei rau auf, sagte aber nichts weiter. Stattdessen sah er wütend auf die Tischplatte.
„Immerhin hat er nicht verstümmelt und getötet“, setzte sie stoisch hinzu.
„Hm. Gut. Das hilft uns alles weiter. Aber jetzt muss ich euch eine wichtige Frage stellen. Kommt ihr zwei an Bord meiner Zigarre?“
„Was? Natürlich kommen wir!“ Hastig ergriff Tom Sharons Linke und drückte sie fest. „Darauf warten wir schon seit Tagen!“
„Gut, dann kommt ihr an Bord, sobald Stick und Klutz abgeholt werden. Sharon, du bist Pilotin? Was hast du so geflogen?“
„Meistens Bloodhawk, Defender und Fury, Sir. Was man in Empire und Umgebung so kriegen konnte.“
„Kannst du notfalls Devastator oder Brigand fliegen?“
„Ich kann es lernen, Sir“, erwiderte sie trotzig.
„Gute Antwort. Und Tom…“
„Es ist mir egal, was ich machen muss. Ich kann nicht fliegen, Sir, aber ich bin lernfähig und ich bin stark! Geben Sie mir eine Aufgabe, irgendeine. Ich will nur dabei sein, wenn die LEVIATHAN brennend vom Himmel fällt.“
„Bist du stark genug für die Marines? Eventuell lasse ich das Schiff entern. Dann wäre jemand mit Ortskenntnissen ungeheuer wertvoll.“
„Natürlich, Sir. Solange ich eine Waffe bekomme.“
Armstrong nickte ernst. „Gut. Ich lasse euch morgen alle abholen. Schlaft noch mal richtig aus. Die nächsten Wochen werden anstrengend für euch.“
„Wir fürchten uns nicht vor harter Arbeit, Sir“, sagte Sharon ernst. „Nur davor, dass die LEVIATHAN entkommt.“
„Das wird sie nicht, das verspreche ich euch. Das wird sie nicht.“ Trotzig nickte Armstrong den beiden zu. „Also morgen dann.“

Vor dem Krankenhaus wechselte Armstrong noch ein paar Worte mit Arthur Mertens, dem Bordarzt der NORTH, der nun die weiterführende Behandlung der beiden übernehmen konnte. Danach gingen er und sein Bruder auf den wartenden Hoplit zu.
„Wohin jetzt, Armstrong? Ins La Fleure? Ich habe gehört, das ist Ihre zweite Stube. Soll ein schickes Bordell sein und…“
„Bordell? Zweites Zuhause? Willst du mir vielleicht irgendetwas erklären, großer Bruder?“
„Kiki“, tadelte Dave die japanische Hoplit-Pilotin, „das hast du doch absichtlich gemacht!“
„Natürlich. Wo bliebe sonst der Spaß?“ Sie zwinkerte Peter zu, der verschwörerisch zurück zwinkerte. „Also, wo soll es hingehen?“
„Nach Hause, Makiko. Zurück auf die NORTH.“
Eigentlich hätte er sich nun lieber in eine Kneipe wie das FORD´S zurückgezogen, aber seine neue temporäre Bürokraft hatte sich einen Termin erbeten, um ihm seine schlampige Buchführung um die Ohren zu hauen. „Himmel, hoffentlich versteht sie mehr von Gnade als ihr Freund Steel“, murmelte Armstrong. Kurz darauf hob der Hoplit ab.
05.09.2020 21:54 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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„Warum? Warum tun Sie das?“
„Weil ich es kann.“
Kapitän Jeromes Antwort auf die Frage eines sterbenden Gefangenen



Irgendwo über dem nordamerikanischen Kontinent

Die LEVIATHAN operierte momentan mit Schleichfahrt. Die Maschinen machten nur kleine Fahrt. Weder Positionslichter noch Suchscheinwerfer waren eingeschaltet. Alle Luken waren geschlossen, die wenigen Bullaugen, hinter denen ein Licht brannte, waren verhängt. Jerome hatte mehr als ein halbes Jahr gebraucht, bis dieses Manöver perfekt klappte, und seine Befehle strikt befolgt wurden. Doch nachdem er ein Besatzungsmitglied, das zweimal gegen die Verdunklung verstoßen hatte, lebendig in einen Propeller hatte hängen lassen, hatte es keine weiteren Probleme gegeben. Das Piratenzeppelin war momentan praktisch unsichtbar, nur noch ein Schatten, der erstaunlich lautlos durch die Nacht glitt.

Der Herr der LEVIATHAN durchstreifte die weitestgehend leeren Gänge. Er war alleine. In der Stille klang das Knallen der genagelten Militärstiefel unnatürlich laut.
Es gab Millionäre, die wie Zuhälter wirkten, Huren, die das Aussehen von Prinzessinnen hatten, und Generäle und Massenmörder, die man auf den ersten Blick für Buchhalter halten könnte.
Doch niemandem, der Kapitän Jerome begegnete, wäre ein ähnlicher Fehler unterlaufen. Sein Auftreten und seine Ausstrahlung ließen keinen Raum für Illusionen oder Täuschungen. Der Pirat war fast zwei Meter groß, und verband die Statur eines Boxers mit den Reflexen einer Klapperschlange. Allerdings warnte er seine Opfer in der Regel nicht, bevor er angriff. Auch wenn er sicherlich schon über vierzig Jahre alt war, schienen die Jahre ihn nur noch gefährlicher zu machen, indem sie seine erschreckenden körperlichen Fähigkeiten mit der Erfahrung zahlloser Kämpfe kombinierten. Verbunden mit einem schon fast wahnsinnig anmutenden Desinteresse für Gefahren und Risiken und einem wachen Verstand, der weder von Skrupeln noch Moral oder Bedenken gehemmt wurde, hatte Jerome vor etwa zehn Jahren für die französischen Anwerber wie ein perfekter Legionärsanwärter gewirkt. Seine späteren Vorgesetzten hatten allerdings irgendwann erkannt, dass dieser Mann selbst nach den sehr lockeren Standards der Legion nicht tragbar gewesen war. Dass er Schwierigkeiten hatte, sich unterzuordnen. Und das selbst das Eingraben unter dem Fahnenmast ihn nicht brechen konnte. Im gewissen Sinne hatten die Versuche der Legionsoffiziere, ihn endlich zur Unterordnung zu zwingen, seine Entwicklung sogar vollendet und ihn vervollkommnet. Das behauptete Jerome jedenfalls manchmal.
Das kantige Gesicht schien unfähig zu einem offenen oder freundlichen Lächeln, unfähig eine andere Gefühlsregung zu zeigen, als Hass, Wut, brutale Gleichgültigkeit, Hohn oder zynische Belustigung. Die blassblauen, unnatürlich hellen Augen erinnerten manche in ihrer grausamen Ausdruckslosigkeit an die Augen eines angreifenden Haifischs. Die schmalen Lippen wurden fast völlig verdeckt von einem dichten, rotbraunen Bart, der bis zum Kehlkopf reichte.

Der Pirat liebte diese Stunden, wenn die Gänge des Zeppelins ihm ganz alleine gehörten. Alle anderen Menschen an Bord – Piloten, Bordpersonal und Gefangene – waren nur Werkzeug, Publikum oder Zeitvertreib. Er duldete seine Untergebenen, weil er sie brauchte, aber er verachtete sie gleichzeitig. Mancher an Bord hasste ihn, und mancher bewunderte ihn. Doch keiner liebte Jerome, und jeder fürchtete den Piratenkapitän. Und das war auch gut so. So hatte er es gewollt.
Entgegen der Geschichten waren nur wenige in der Mannschaft von Michael Jerome derart psychopathisch, dass ihnen die Konsequenzen ihres Handelns völlig gleichgültig gewesen wären. Ein Mann der den Tod nicht fürchtete, war schwer einzuschüchtern und kaum zu kontrollieren. Deshalb vermied es Jerome in der Regel auch, sich mit den japanischen Armee- und Marinezeppelinen und der russischen Luftwaffe anzulegen. Streitkräfte, die auf eigene Verluste wenig Rücksicht nahmen, oder die sogar die Selbstaufopferung zum Bestandteil ihrer Einsatzdoktrin erhoben hatten, waren ein schwer einzuschätzender Gegner. Furcht und Angst machte die Menschen hingegen berechenbar und kontrollierbar. Jerome wollte auch niemanden unter seinem Kommando, der so war wie er – ein solcher Mann war unfähig, sich unterzuordnen. Das wußte er. Lieber verachtete er die Männer unter seinem Kommando für ihre Unvollkommenheit und Kurzsichtigkeit, als dass er einen Rivalen geduldet hätte.

Dann hatte er sein Ziel erreicht – der Teil der Lagerräume, die als Massenunterkünfte für die Sklaven dienten. Jerome öffnete die Außentür und trat in die aus Drahtgitter geformte ‚Schleuse’ die den eigentlichen Sklavenquartieren vorgelagert war. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, hätte einen normalen Menschen würgen lassen, aber Jerome sah sich selber schon lange nicht mehr als normalen Menschen an.
Momentan war es still hier, waren die schweren Atemzüge der Schlafenden, leises Stöhnen und ein monotones Wimmern die einzigen Geräusche. Jerome war das nur Recht. Zurzeit war er nicht in der Stimmung, seinen Männern dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie sich mit den Gefangenen vergnügten. Natürlich waren solche Spielereien notwendig, und er selber beteiligte sich auch daran. Aber es stieß ihn ab und erfüllte ihn mit Verachtung, dass seine Untergebenen nur das Vergnügen und ihre Gelüste sahen, wenn sie sich an den hier eingepferchten Menschen vergingen. Sie begriffen es einfach nicht.
Der Raum besaß keine Fenster, deshalb drückte Jerome einfach auf den Lichtschalter. Gleißendes Licht flutete den Raum, und enthüllte gnadenlos jede Einzelheit.
Zurzeit hatte die LEVIATHAN nur wenige ‚Gäste’. Nicht mehr als ein knappes Dutzend, von denen acht zurzeit in diesem stinkenden Verließ ausharrten. Die übrigen waren nicht unbedingt besser dran – die Piloten und Offiziere hatten das Recht, für ihr Privatvergnügen auf einzelne Gefangene einen Exklusivanspruch zu erheben. Nur Jerome hatte in dem Fall das Recht, weiterhin frei über die betreffenden Gefangenen zu verfügen.
Der Hangar schien für eine wesentlich größere Anzahl Gefangener gedacht. Seitdem Jerome vor einigen Wochen einen Schub Menschenmaterial an seine Mittelsmänner in Sky Haven verkauft hatte, war es noch nicht gelungen, die Vorräte wieder aufzufüllen. Dagegen musste bald etwas getan werden, damit seine Männer in der richtigen Stimmung blieben. Sie verloren schnell den Geschmack.

Der größte Teil der Gefangenen waren Frauen, dazu kamen ein paar Männer, allesamt noch recht jung. Ältere Männer und Frauen hielten sich nie lange an Bord der LEVIATHAN, genauso wenig wie Kinder.
Jeromes Augen wanderten ausdruckslos über das Bild des Jammers, das sich ihm bot, die geschundenen, zerschlagenen Opfer seiner Männer. Er selber hatte nur relativ selten Hand angelegt bei diesem Elendshaufen, und diesmal seinen Leuten den Hauptteil des Vergnügens überlassen. Eine junge Frau lag nahe der Tür auf dem Bauch, ihre Arme und ihr Rücken waren übersäht von Blutergüssen, Kratzern, Quetschungen und eingetrocknetem Blut. Aber noch lebte sie. Das tonlose Wimmern, das zwischen ihren Lippen hervorquoll schien weder Ende noch Anfang zu haben. Achtlos stieg der Pirat über sie hinweg. Dann hatte er sein Ziel erreicht: „Hoch mit dir!“
Der Mann, der zusammengekrümmt am Boden lag, warf Jerome einen hasserfüllten Blick zu. Andere an Bord hätten ihm dafür die Augen ausgestochen. Doch Jerome genoss den ohnmächtigen Hass seines Gegenübers.
„Verdammter…Bastard.“
Jerome schüttelte knapp den Kopf: „Lass dir was Neues einfallen. Los, steh auf. Andernfalls…“, Plötzlich hielt er den schweren Browning in den Händen, den er immer im Gürtel trug. Allerdings zielte er nicht auf den Mann vor ihm, sondern auf den Halbwüchsigen, der ein paar Meter auf dem Boden lag, und Jerome entsetzt aus von Schlägen zugequollenen Augen anstarrte, „…jag ich dem Schwachkopf da drüben eine Kugel durch das Knie. Ziemlich schmerzhaft, aber nicht tödlich. Solange sein Arsch noch warm ist, werden Pieter und Rouqet auch noch Spaß mit ihm haben, wenn ihm das Bein abfault.“ Der Lauf der Pistole wanderte weiter, zielte jetzt auf ein halbwüchsiges Mädchen, die entsetzt aufschrie: „Oder wie wäre es mit ihr?“
„Bastard!“ Aber langsam kam der Gefangene auf die Beine, wobei er sich allerdings an der Wand abstützen musste. Er mochte vielleicht Anfang Dreißig sein, war von schlanker, durchtrainiert wirkender Gestalt, und sein Gesicht hätte unter anderen Umständen attraktiv gewirkt. Jetzt jedoch war ein Auge durch einen mörderischen Hieb fast vollständig geschossen, die Lippen blutig und aufgerissen. Irgendjemand hatte aus dem weißblonden Haarschopf eine ganze Handvoll Haare herausgerissen. Ohnmächtiger Hass verzerrte das zerschlagene Gesicht zu einer unheimlichen Maske. Unter dem zerrissenen Uniformhemd sah man die Spuren weiterer Misshandlungen. Und dabei war der Mann sogar noch in einem ziemlich guten Zustand, auch wenn er Jerome dafür wohl kaum dankbar war. Vor fünf Wochen war John Mitchell noch Offizier der Industrials gewesen, der als Enkel von Robert Fitzgerald Mitchell, einem mehrfachen Millionär und erfolgreichen Unternehmer aus Chicago, eine blendende Kariere vor sich zu haben glaubte.
So schnell konnten die Mächtigen und die Privilegierten fallen. Deshalb, und wegen des Hasses und der Wut, die er in ihm spürte, hatte Jerome ihn auch ausgewählt.
„Na also, es geht doch. Mitkommen.“ Jerome holsterte seine Waffe und wandte sich zum Gehen.
Im nächsten Augenblick stieß der Gefangene sich mit einem wortlosen Schrei von der Wand ab, und stürzte sich auf den Piraten, die Finger nach der Pistolentasche ausgestreckt.
Er hatte nicht die geringste Chance. Mit unnatürlich wirkender Geschwindigkeit fuhr Jerome herum, und rammte dem Gefangenen seine schwere Faust in die Magengrube. Der Angreifer klappte zusammen wie ein Taschenmesser, und krümmte sich würgend zu Füßen des Piratenkapitäns. Jeromes Lippen verzogen sich zu einem brutalen Lächeln: „Immer noch der Alte? Immer noch einmal ein neuer Versuch? Inzwischen müsstest du es eigentlich gelernt haben.“
Dann packte er den Gefangenen am Genick, und zerrte ihn wieder auf die Füße: „Genug mit den Spielereien. Vorwärts.“
Am Eingang zur ‚Schleuse’ wäre Mitchell beinahe über den Körper der am Boden liegenden Frau gestolpert. Er krallte seine Hände in das Drahtgitter. Wenn er jetzt zu Boden ging, da war er sich sicher, würde er nicht wieder auf die Beine kommen.
Jerome hielt kurz inne, und sah zu, wie sein Gefangener versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Dann wanderte sein Blick abwärts. Die Frau hatte sich nicht bewegt, auch nicht, als Mitchell unabsichtlich auf ihr Bein getreten war. Aber immer noch wimmerte sie, die Finger in den nackten Metallboden verkrallt.
Der Piratenkapitän verzog angewidert den Mund. Er zuckte mit den Schultern, und dann, mit einer fließenden, kraftvollen Bewegung, trat er der Wehrlosen in den Nacken. In dem umfunktionierten Frachthangar klang das Knacken unnatürlich laut. Wie auch John Mitchells Aufschrei: „NEIN!!“
Aber dieser Protest kam zu spät, und wäre ohnehin vergeblich gewesen. Das Wimmern war verstummt.
„DU VERDAMMTES SCHWEIN!!“
Jerome wehrte den unbeholfenen, kraftlosen Schlag mühelos ab, und stieß seinen Gefangenen zurück. Ein schneller Kinnhaken brachte John Mitchell zum Schweigen.
Der Piratenkapitän nickte knapp, öffnete die Schleusentür und zerrte den Gefangenen hinter sich her. Dann hämmerte er auf einen roten Knopf an der Bordwand und wartete.
Eine Minute später flog die Tür auf, und zwei Piraten stürmten in den Raum. Während der erste einen schweren 45er Revolver in der Faust hielt, hatte der zweite eine deutsche Mpi in den Händen.
„Nicht eben schnell, ihr Hurensöhne!“
„Was ist los, Chef?“
Jerome wies mit dem Daumen auf den Leichnam der Gefangenen: „In einer Viertelstunde überfliegen wir Dakota Falls. Irgend so eine miese kleine Siedlung. Dann geht die Nutte über Bord. Was ihr bis dahin mit der Leiche macht, ist mir egal. Aber ihr markiert den Kadaver, bevor er Außenbord geht, verstanden?!“
„Ja, Chef.“ Es war Jeromes höchstpersönliche Erfindung gewesen, auf die er nicht wenig stolz war. Leichen gab an Bord der LEVIATHAN genug. Gefangene die ihren Unterhaltungswert verloren hatten, die ‚unbeabsichtigt’ während der Vergnügungen der Mannschaft starben, oder Jeromes gelegentlichen ‚Demonstrationen’ zum Opfer fielen – und gelegentlich eben auch Besatzungsmitglieder, die seinen Zorn erregt hatten oder Befehle verweigerten. All diese Toten einfach wahllos über Bord zu werfen, erschien ihm als eine Verschwendung. Deshalb hatte er angefangen, die Toten gezielt über Ortschaften abzuladen. Er hatte die Methode noch verfeinert, indem er befohlen hatte, den nackten Leibern ein schwarzes Halstuch umzubinden, bevor sie aus der Luke flogen. Wo auch immer eine bestialisch zugerichtete, nackte Leiche mit diesem Zeichen gefunden wurde, total zerschmettert von dem Sturz, da wussten die Menschen, wem sie diese Botschaft zu verdanken hatten.
Jerome stellte sich gerne vor, wie sie dann voller Angst und Entsetzen in die Wolken starrten, in dem Wissen, dass der Tod über sie hinweg gezogen war. Entsprechende Leichenfunde schafften es fast immer in die Zeitungen, auch wenn Jerome den Eindruck hatte, dass längst nicht alle dieser Toten sein Werk gewesen sein konnten. Aber das machte ihm nichts aus. Egal wie viele Trittbrettfahrer es gab, wie viele Morde so verschleiert wurden – es trug nur dazu bei, seinen Ruf zu festigen. Den Ruf eines Teufels in Menschengestalt.

Roh stieß er den Gefangenen vorwärts, während die beiden Piraten sich mit ein paar obszönen Bemerkungen daran machten, die Leiche aus dem Gefangenenquartier zu ziehen.
Die Gedanken des Gefangenen rasten. Was hatte der Piratenkapitän vor? Er behandelte die Gefangenen mit gedankenloser Grausamkeit, doch ohne den sadistischen Enthusiasmus, den andere der Piraten bewiesen. Er hatte den Grausamkeiten, Misshandlungen und Vergewaltigungen zugesehen, aber sich selten beteiligt. So hatte er etwa vor den Augen der Gefangenen mit einigen anderen Piraten die unglückliche Frau missbraucht, die er vor ein paar Minuten getötet hatte. Im Gegensatz zu den anderen Piraten aber hatte er schnell das Interesse an ihr verloren. Und statt seinen Kumpanen bei ihrem viehischen Vergnügen zuzusehen, hatte er die anderen Gefangenen beobachtet, mit diesen blassen, toten Fischaugen. Dann hatte er die anderen Piraten hinausgejagt. Jerome aber war geblieben, hatte schweigend getrunken und die Gefangenen angestiert, bevor er sich endlich wortlos erhob, John Mitchell zusammenschlug und rausmarschierte. Wenn Jerome in dieser Stimmung war, dann hielten sogar seine Kumpane Abstand. Am nächsten Tag aber hatte er eingegriffen, als ein paar Piraten John aus einer Laune heraus mit Bleirohren bearbeitet hatten.

Was also hatte Jerome mit ihm vor? Wollte er ihn jetzt endlich töten? Der Gefangene biss die Lippen zusammen, versuchte die würgende Angst hinunterzuschlucken, die ihn seit dem ersten Augenblick an Bord der LEVIATHAN ergriffen und seitdem nicht wieder verlassen hatte. Jerome, das hatte er inzwischen gelernt, tötete mit gedankenloser Schnelligkeit. Aber in der Regel tötete er vor Publikum, fast als wäre das seine Absicht.
Im Gegensatz zu einigen anderen Piraten schien Jerome auch kein sexuelles Interesse an Männern zu haben, so dass wohl dieser Grund für seine ‚Milde’ Mitchell gegenüber wegfiel. Oder wollte er ihn für einen der legendären ‚Hangarkämpfe’ aufheben?
Davon hatte John Mitchell schon gehört. Manchmal ließ Jerome zur allgemeinen Belustigung einen Neuling, oder jemanden aus seiner Mannschaft, der sich aus irgendeinem Grund ‚rehabilitieren’ musste, gegen einen Gefangenen kämpfen. Die Kämpfe fanden immer im Hangar statt, bei geöffneten Toren. Die Waffen waren Metallrohre, Messer, oder aber die bloßen Fäuste, und es wurde bis zum Tod gekämpft.
War der Pirat der Gewinner, dann zahlte ihm Jerome eine Siegesprämie, und alle früheren Fehler waren vergessen. Gewann aber der Gefangene, dann stellte ihn Jerome vor die Wahl. Die eine Möglichkeit war, sich den Piraten anzuschließen. Das bedeutete allerdings auch, dass er sich bald darauf beweisen musste – indem er zum Beispiel vor versammelter Mannschaft einen Gefangenen langsam zu Tode folterte oder eine Gefangene vergewaltigte und anschließend ermordete. Was es auch immer war, Jerome stellte damit sicher, dass es für den ehemaligen Gefangenen kein Zurück mehr gab. Im Fall einer Gefangennahme war jedem Piraten Lebenslänglich oder die Todesstrafe sicher. Sie hatten buchstäblich alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Die andere Möglichkeit für einen siegreichen Gefangenen war, von Bord zu gehen. Wer diese Wahl traf, der durfte die LEVIATHAN tatsächlich lebend verlassen. Nachdem Jerome dem Betreffenden eine Hand abgehackt hatte. Niemand der nicht zur Mannschaft gehörte, durfte ungestraft einen Piraten töten.

Dann begriff Mitchell endlich, wohin der Piratenkapitän wollte. Jeromes Ziel war die ‚Aussichtsplattform’…
Trotz des Namens handelte es sich dabei um eine eigentlich rein funktionelle Einrichtung. Manchmal waren auch während des Fluges Kontrollinspektionen oder Reparaturen an der Außenhülle notwendig, die nicht vom Inneren des Zeppelins aus erfolgen konnten. Ein schmaler Laufsteg auf dem Rücken der LEVIATHAN diente dann als Ausgangspunkt für die notwendigen Maßnahmen.
Aber nach allem, was John Mitchell gehört hatte, hatten Jeromes Piraten mehr als einmal diesen Laufsteg für eine Hinrichtung verwendet, auch wenn sie normalerweise aus Bequemlichkeit den Hangar bevorzugten. Instinktiv sträubte sich der Gefangene gegen die Faust, die ihn unerbittlich vorwärts schob. Vergeblich.
John Mitchell biss sich die Lippen blutig in dem Versuch, einen Aufschrei des Entsetzens zu unterdrücken, oder gar Jerome um Gnade anzuflehen. Diese Genugtuung konnte und wollte er dem Piraten nicht geben.
Dann hatten sie die Leiter erreicht, die zu der Außenluke führte. Jerome hielt plötzlich wieder seine Pistole in der Hand. Seine Stimme klang unnatürlich aufgeräumt: „Da wären wir. Wenn du jetzt Sperenzchen machst, jage ich dir eine Kugel durch die Kniescheibe, kapiert? Und dann werde ich erst RICHTIG unangenehm. Los, vorwärts!“
Jetzt, den eigenen Tod unmittelbar vor Augen, fehlte John Mitchell die Kraft für einen Akt des Widerstandes. Geschockt, fast apathisch, wie betäubt, ließ er sich die Leiter hinaufschieben. Als er dann auf dem schmalen Gitterrost stand, der den Laufsteg bildete, nicht mehr als ein fragiles Geländer zwischen ihm und dem Tod, als ihn der Fahrtwind packte, verließen den jungen Industriell-Offizier die Kräfte. Er ging in die Knie, während blutige Tropfen aus den zerbissenen Lippen über sein Kinn rannen.
„SCHWÄCHLING!“ Jerome packte den Gefangenen einmal mehr am Genick, und riss ihn hoch: „Auf die Beine, erbärmlicher Hund! Auf die Beine, oder ich schmeiße dich sofort über Bord!“
Als John Mitchell den Sinn dieser Worte begriff, riss er überrascht die Augen auf. Michael Jerome lachte zynisch: „Glaubst du wirklich, ich schleppe dich extra hier rauf, bloß um dich Außenbords gehen zu lassen? Mitten in der Nacht, und ohne Publikum? Du begreifst GAR NICHTS!!“
John Mitchell antwortete nicht, doch Jerome schien auch keine Antwort zu erwarten. Schweigend stand er da, breitbeinig, den Kopf in den Fahrtwind gedreht.
„Siehst du sie, du Kröte? SIEHST DU SIE?!“ Jerome deutete vorwärts, und der Industriell-Offizier erkannte die wenigen Lichter am Boden, die Dakota Falls bilden mussten.
„DAS IST WAHRE MACHT!“ Die Stimme des Piratenkapitäns war verzerrt von grausamer Belustigung, voller Hass und Triumph: „Sie sind wie Ameisen. Wie Insekten…kriechen auf dem Boden hin und her, inmitten ihrer erbärmlichen kleinen Welt, die sie Zuhause nennen. Sie fühlen sich sicher. SICHER! Eine Handbewegung, ein Befehl – ich könnte sie auslöschen, wie eine Kerze. Das ist Macht!“
„Sie sind wahnsinnig…“ Im nächsten Augenblick schrie der Gefangene auf, als ihn der Piratenkapitän vorwärts stieß und gegen das dünne Geländer presste. John Mitchell zappelte hilflos in dem unbarmherzigen Griff des Piraten, versuchte ihm die Finger seiner rechten Hand in die Augen zu stoßen. Jerome fing den Angriff blitzschnell mit seiner Linken ab. Ein schneller Ruck, und John Mitchell schrie gellend auf. Der Pirat hatte ihm den kleinen und den Ringfinger gebrochen: „Du jämmerlicher Waschlappen. Ich kann dich töten, und ich kann dich stückweise verfaulen lassen. Ich könnte es dir mit einer abgebrochenen Flasche besorgen lassen, bis du ausblutest. Du bist ein Wurm, unter meinen Füßen! Und DU willst entscheiden, ob ich verrückt bin?!“
Doch dann ließ der Druck nach, trat Jerome einen Schritt zurück: „So schnell kommst du mir nicht davon, Industriell.“
„Was…was wollen Sie?“
„Wart es ab. Und jetzt halt erst mal das Maul, Idiot!“
Die nächsten zwei Minuten verrannen schweigend. Mitchell schwieg immer noch von seinem Beinahetod erschüttert, während Jerome damit zufrieden schien, sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen, und die kalte Nachtluft gierig einzuatmen, als wäre sie eine Droge. Unter der LEVIATHAN glitt Dakota Falls vorbei. Der Gefangene zuckte unwillkürlich zusammen, als ihm bewusst wurde, was in diesem Augenblick im Hangar geschehen musste. Er war selber schon Zeuge gewesen, wie man andere Unglückliche über Bord geworfen hatte.
Jerome lachte jäh auf: „Ich frage mich, was diese erbärmlichen Spießer zu meinem Geschenk sagen werden…Das wird ihnen in den nächsten Tagen ganz schön den Schlaf rauben.“
John Mitchell schüttelte nur den Kopf Die Brutalität Jeromes hätte ihn nach den Erlebnissen der letzten Wochen nicht mehr überraschen dürfen. Und dennoch…
Seine Stimme klang undeutlich, leise, er sprach mehr zu sich selbst, als zu dem Piratenkapitän. Immer noch rann Blut über Mitchells Lippen: „Warum nur?“
Doch Jerome antwortete: „Sie war nur noch totes Fleisch. In ein oder zwei Tagen wäre sie sowieso draufgegangen. Vermutlich langsamer. Ich habe ihr einen Gefallen getan, findest du nicht? Manchmal bin ich richtig sentimental. Warum also nicht? Und ich brauchte sie nicht mehr. Sie hatte nichts mehr, was mich noch interessiert. Nichts mehr, als einen kümmerlichen Rest Leben. Wertlos.“
„Bestie!“
Jerome lachte wiehernd: „Bestie?! Ja, das gefällt mir! Aber du verstehst einfach nicht. Ich habe sie getötet, weil ich es konnte. Weil es keinen Grund gab, es nicht zu tun. Denn es gibt keine Regeln! Keine Grenzen. Im Krieg ist es eine Heldentat, Menschen in Stücke zu hacken, ihr Fleisch mit Blei, Stahl und Feuer zu zerreißen und zu verbrennen. Wir ersticken unsere Gegner mit Gas! Und du jammerst wegen einem einzelnen Leben!“
„Was Sie tun, das ist kein Krieg! Das ist Mord!“
„Alles ist Krieg. Und wir alle sind nur Fleisch…“
„So wollen Sie dieses MASSACKER entschuldigen?! Sie mieses Schwein!“ Mitchells Stimme klang lauter und stärker, als er es selber für möglich gehalten hätte. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, wartete auf den nächsten Schlag. Aber der blieb aus.
„ENTSCHUDLIGUNGEN?! Ich brauche keine! Vor wem sollte ich mich denn entschuldigen? Vor den erbärmlichen Kriechern da unten? Pah! Vor Gott?! Es gibt keinen Gott! Und wenn es ihn gibt, dann ist er machtlos. Euer Gewimmel kümmert ihn nicht, Mensch! Es gibt nur den Teufel! Er regiert die Welt. Und euer Teufel, dass bin ich!
Ich brauche den Krieg nicht als Entschuldigung…Aber der Krieg hat mich vieles gelehrt. Blick ihm in das zerfetzte, blutige Totengesicht, und du begreifst, wie diese Welt wirklich funktioniert, was sie regiert! Was weißt du schon vom Krieg?!“
Fassungslos lauschte der Gefangene der sich überschlagenden Stimme des Piratenkapitäns. Jerome schien ihn beinahe vergessen zu haben, brüllte seine Tiraden in die Nacht hinaus: „Furcht und Angst beherrschen die Welt! Das war schon immer so. Aber mich beherrschen sie nicht! MICH NICHT! Und wenn ich sie zurücklasse, wenn ich über das hinauswachse, was uns klein hält - was kann mich dann noch aufhalten?! Wer kann mich dann noch stoppen?! WER?! Ich zerreiße all das, was sie an Regeln und Gesetzen aufgebaut haben! All das, was sie für sicher und für unangreifbar hielten! Niemand kann mich aufhalten! Niemand mich kontrollieren! Sie fürchten mich – und indem sie mich fürchten, werde ich stärker! Mehr als ein Mensch!“
‚Er ist völlig verrückt geworden…’ war John Mitchells einziger Gedanke. Und fast, als hätte er diesen Gedanken gehört, wandte sich Michael Jerome wieder seinem Gefangenen zu, packte ihn am Hals. Ein unheimliches Feuer brannte in seinen Augen: „Du hast keine Ahnung, was ich meine, Wurm?! Aber du wirst es noch begreifen!
1916 tötete ein einziger Haifisch an der Westküste vier Menschen. Alle Strände waren wie leergefegt, keiner traute sich mehr ins Wasser. 1938 sendete irgend so ein Typ ein Hörspiel, über eine Invasion vom Mars. Überall auf dem amerikanischen Kontinent brach Panik aus! Die Menschen beteten, flohen, einige begingen sogar Selbstmord!
ICH BIN DIESER HAI! Ich bin die Bestie, die aus der Dunkelheit jenseits der Sterne zuschlägt, und die nur Blut, Schreie und Tränen zurücklässt! Nichts ist so grauenhaft, wie das, was man nicht verstehen, nicht kontrollieren kann! BEGREIFST DU JETZT!!“
„Sie sind ein wahnsinniger Pirat! Das ist alles!“
„Oh nein, da täuschst du dich! Das bin ich schon lange nicht mehr! Ich bin der Tod, und jeder der die LEVIATHAN auf Angriffskurs sieht, der weiß das. Und dann zögert er, weicht zurück. Dann weiß er, dass seine Zeit gekommen ist. Dass er nur noch eine Wahl hat. Er kann fliehen, dann entkommt er vielleicht. Oder er hält stand. Dann stirbt er – schnell oder langsam, aber sterben wird er auf jeden Fall! Vielleicht wird jemand irgendwann den Mann Jerome töten. Aber nur den Mann! Der Mythos wird weiterleben!
DAS IST DIE UNSTERBLICHKEIT!!“

Michael Jerome war verrückt, das war dem Gefangenen in den letzten Minuten mehr als deutlich geworden. Aber das machte ihn nur noch bedrohlicher. Denn dieser Verrückte hatte immerhin ein schwer bewaffnetes Zeppelin, anderthalb Dutzend Kampfflieger und ein halbes Hundert Totschläger unter seinem Kommando. Und diese Privatstreitmacht kontrollierte er mit eiserner Hand. Was Jerome befahl, das war Gesetz an Bord der LEVIATHAN. Es gab keine Kontrollinstanz. Widerspruch wurde mit Folter und Tod bestraft. Und noch schlimmer, auf einer gewissen Ebene folgte sein Wahnsinn immer noch einer grausamen, perversen Logik.

„Du fragst dich, warum ich dir das sage? Warum ich meinen Atem für so etwas Erbärmliches wie dich verschwende?“ Jetzt klang Jerome lauernd. Ein irres Grinsen verzerrte seinen Mund, dann nahm seine Stimme einen getragenen, rezitierenden Klang an:
„Und ich bin allein entronnen
dass ich’s dir ansagte.“
Wieder lachte er höhnisch, während er Hiob zitierte. Dann fuhr er fort: „Verstehst du das? Ich lasse dich leben! LEBEN! Du wirst berichten können. Ich werde dich gehen lassen, irgendwann. Vielleicht in einer Woche, einem Monat.
Ich weiß nicht, ob du dann noch deine Augen hast. Deine Finger. Oder deinen Schwanz. Aber auf jeden Fall noch deine Zunge. Du wirst Zeugnis ablegen vor der ganzen Welt!“ Und dann kippte die Stimme um, sank zu einem heiseren, kalten Flüstern herab: „Aber vorher wirst du durch die Hölle gehen. Das verspreche ich dir.
Und komm nicht auf die Idee, dich aus der Verantwortung zu stehlen. Du wirst leben. Wenn du schlapp machst, dann verspreche ich dir, lasse ich jeden einzelnen dieser erbärmlichen Fleischsäcke, die wir mitschleppen, über die Klinge springen. Und sie werden weder schnell sterben, noch schmerzlos. Wenn du durchhältst, wenn du deinen Teil unseres…Geschäftes einhältst, dann lass ich einen von ihnen mit dir zusammen von Bord. Ist das nicht ein Bombengeschäft? Du wärst ein Held!
Überleg es dir gut. Zeit hast du reichlich…“ Jerome musterte kurz das verständnis- und fassungslose Gesicht seines Gefangenen. Dann, ohne Übergang, schlug er zu, drosch wieder und wieder auf den Industrielloffizier ein, bis dieser stöhnend am Boden lag. Jerome kniete sich hin, und ergriff fast behutsam Mitchells rechte Hand. Dann brach er ihm auch noch die übrigen Finger, ohne auf die dumpfen Schreie zu achten.
„Das war nur ein Vorgeschmack. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir.
Du hast immer noch die Wahl. Du kannst den einfachen Weg wählen.“ Mit einer knappen Bewegung wies Jerome auf die Außenhaut der LEVIATHAN: „Aber du weißt, was das bedeutet. Du hast die Wahl!“ Lachend stand er auf, und ging.

Es würde nicht das erste Mal sein, dass er dieses Mittel einsetzte, um seinen Ruhm zu vergrößern. Was für einen Sinn hatte denn Terror, wenn er unbekannt blieb? Vor zwei Jahren hatten Jeromes Männer bei einem Überfall einen Journalisten gefangengenommen, und schlagartig hatte der Piratenkapitän erkannt, was für eine Chance sich ihm damit bot.
Er hatte den Mann zwei Monate Jahr lang an Bord behalten, und dann laufenlassen. Der Journalist hatte in dieser Zeit ein halbes Dutzend Zähne, zwei Finger, ein Ohr und den größten Teil der Sehkraft seines rechten Auges eingebüßt. Aber er hatte über das berichten können, was er an Bord der LEVIATHAN erlebt und gesehen hatte.
Die Zeitungen und später auch einige Verleger hatten sich um die Berichte gerissen. Und der Journalist hatte nach seiner Freilassung niemals mehr ein Zeppelin betreten. Nach allem, was Jerome gehört hatte, brachte er es kaum fertig, sich einem Flughafen zu nähern. Jerome hatte einen Erfolg auf der ganzen Linie erzielt. Und daran würde er anknüpfen.

Als am nächsten Morgen zwei Matrosen den Laufsteg betraten, fanden sie John Mitchell dort, wo er zusammengebrochen war. Er war halb erfroren, aber am Leben. Er hatte nicht den einfacheren Weg gewählt.

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Michael Jerome musterte die Männer, die um den Tisch herum versammelt waren. Er vertraute keinem von ihnen vollständig, aber einigen doch mehr, als anderen Menschen. Und momentan brauchte er sie. Was sie allerdings nicht wussten. Und er wusste, was er von ihnen zu erwarten hatte: „Also, Richter, wie sieht es aus?“
Der Erste Offizier wiegte überlegend mit seinem Kopf. Selbst in dieser Runde und im Sitzen hielt er sich sehr gerade, waren seine Bewegungen abgezirkelt und präzise. Zusammen mit der immer makellosen Uniform und seinem knappen, militärischen Auftreten wirkte der alte Mann vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Soldat: „Unsere Vorräte an Raketen und Lufttorpedos sind gefährlich zusammengeschmolzen. Treibstoff, Munition für die Maschinen- und Handfeuerwaffen sind kein Problem, dank der letzten Überfälle. Aber für das schwerere Gerät…“
Jerome verachtete den Mann. Nicht wegen seines militärischen Auftretens, sondern wegen seiner…persönlichen Vorlieben. Eigentlich war es dem Piratenkapitän egal, was seine Leute in der Freizeit trieben. Aber dass Richter Kinder und Halbwüchsige bevorzugte, hielt Jerome für erbärmlich. Wer seine Triebe nur an derartig unterlegenen Objekten ausleben konnte, war in seinen Augen kein richtiger Mann. Aber seine Verachtung ging nicht so weit, dass er nicht Richters Kompetenz zu schätzen wüsste: „Nach Sky Haven einzufliegen kommt momentan nicht in Frage. Ihr wisst warum. Für wie viele Gefechte reichen unsere Vorräte noch?“
„Zwei, schätze ich, wenn auch die LEVIATHAN eingreift. Aber dann haben wir keinen einzigen Lufttorpedo mehr, und höchstens noch einen halben Gefechtssatz Raketen.“
„Das wird reichen. Ross?“
Der Staffelführer zuckte mit den Schultern: „Wenn wir die Avenger wieder zum Laufen bekommen, haben wir neunzehn Maschinen startfertig. Und zwei weitere Maschinen, die wir zumindest als Ersatzteilspender nutzen können. Aber wir haben nur sechzehn Piloten für sie. Nach Markus Tod, und solange Renden ausfällt…“
„So ein dämliches Arschloch. Warum musste er sich noch mal ein Messer zwischen die Rippen jagen lassen und Markus die Kehle aufschlitzen?“
Anatoli Sorrokow, Richters Stellvertreter und ehemaliger Zeppelinoffizier der zaristischen Luftstreitkräfte, zuckte verächtlich mit den Schultern: „Wegen dieser schwarzhaarigen prostitutka. Anscheinend gab es Streit, wer als Erster an die Reihe kommt. Glupovat sobaka!“
„Schwachkopf. Na ja, das Problem wird sich jedenfalls nicht mehr stellen. Die Nutte ist heute Nacht Außenbords gegangen. Und wenn Renden sich nicht vorsieht, dann fliegt er hinterher. Mir ist es scheißegal, wenn sich diese Idioten gegenseitig die Scheiße aus dem Kopf dreschen. Wenn aber deswegen zwei meiner Piloten ausfallen, dann gibt es Ärger.
Also neunzehn Maschinen, sechzehn Piloten. Oder besser siebzehn. Wenn Renden in einer Woche nicht wieder auf dem Damm ist, mach ich ihn alle. Aber auf jeden Fall reichen die Flieger.“
„Wofür, Chef?“ fragte Ross Conway. Die anderen Offiziere hielten sich in Jeromes Gegenwart häufig etwas zurück. Entweder, weil sie die Planung nicht interessierte, oder aus Vorsicht. Man wusste nie so genau, wie Jerome auf eine Frage oder gar Kritik reagierte. Als einmal der frühere Befehlshaber der Entertruppen einen von Jeromes Plänen etwas zu vehement kritisiert hatte, hatte ihn Jerome einfach über den Haufen geknallt, und hatte mit der Einsatzplanung fortgefahren, ohne auch nur die Leiche entfernen zu lassen.
Eine Bande von Psychopathen, Mördern, Vergewaltigern und Deserteuren derartig einzuschüchtern, war ein hartes Stück Arbeit und nicht ungefährlich. Aber es war Jerome gelungen, und dass erfüllte ihn mit Stolz. Jeder Idiot konnte eine Herde Schafe in Furcht und Schrecken versetzen. Aber ein Rudel Raubtiere, einen Schwarm Haie, alleine durch den eigenen Willen, durch Drohungen, Gewalt, Einschüchterung und sorgfältig dosierte ‚Anreize’ und ‚Belohnungen’ zu kontrollieren und zu beherrschen, das war etwas ganz anderes.
„Unser Ziel ist die NORTH STAR. Wie es aussieht, haben wir einen neuen Fan, der uns unbedingt kennen lernen will. Wird Zeit, dass wir einen Höflichkeitsbesuch machen.“
Rund um den Tisch wurden Blicke gewechselt. Es hatte bereits Gerüchte gegeben. Die meisten im Raum kannten das Gefühl, gejagt zu werden. Dass allerdings Jerome offenbar entschlossen war, den Krieg zum Feind zutragen, stieß nicht unbedingt auf Begeisterung.
„Lohnt es sich?“ Conway stellte sich die Frage, die sich die meisten im Raum stellten. Ein Piratenzeppelin wie die NORTH STAR war kein einfacher Gegner.
„Nach allem was ich gehört habe, hat die NORTH STAR in Alaska fette Beute gemacht, und massig Sonderprämien für Hawaii kassiert. Zusammen mit dem Geld, dass ihnen die Texaner in den Arsch geschoben haben, bevor sie diese Wende gemacht haben, lohnt es sich. Ich habe nicht die Absicht, ihnen die Gelegenheit zu geben, alle ihre Jäger rauszuschicken, also kommen die noch zur Beute dazu. Sie haben kaum Gelegenheit gehabt, von ihrer Beute und ihren Prämien etwas auszugeben. Und da sie es sich mit praktisch jedem verschissenen haben, müssen die Greenbucks wohl noch an Bord sein.“
Jerome mochte Conway nicht besonders. Er war schwer zu durchschauen. Aber Conway war gut. Und vor Jahren hatte Jerome ihm einmal das Leben gerettet, warum wusste er selber nicht mehr: „Trotzdem, das wird nicht einfach werden. Die NORTH STAR ist ein Militärzeppelin, kein Passagierluftschiff oder ein zum Hilfskreuzer aufgerüsteter Frachter. Die Piloten sind gut. Immerhin haben sie mit den Russen und den Aussies mithalten können. Und ihre Maschinen sind allesamt mit Nitroboostern aufgerüstet.“
„Pah! Es sind nicht mehr so viele übrig. Sie haben Verluste erlitten, Männer und Maschinen. Etliche sind von Bord gegangen, und der Rest fragt sich sicherlich schon, was sie nun machen sollen, wenn die ganze verdammte Welt auf ihren Fersen ist.“
„Dann werden sie wachsam sein.“
„Nicht wachsam genug für mich. Hast du Angst?!“ Jerome fixierte seinen Staffelführer eiskalt, aber der erwiderte den Blick, ohne seine Augen abwenden zu müssen. Noch etwas, das Jerome an ihm nicht schätzte.
„Ich bin nur vorsichtig. Auch wir haben nicht nur Freunde.“
„Dann werden wir eben gut sein müssen. Hört zu. Ich will ja nicht, dass wir ihnen einen Herold schicken! Wir schlagen überraschend zu, aus dem Hinterhalt. Ehe sie begriffen haben, was ihnen geschieht, sind wir schon über sie hergefallen.“ In Jeromes Stimme klang eine fast sexuelle Erregung. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt: „Wir haben immer noch Leute in Sky Haven. Nicht genug, um einen Bodenangriff zu organisieren, aber diese Bastarde dürften sowieso zu wachsam sein. Aber ich denke, wir können herausbekommen, wann sie ablegen. Vielleicht sogar, wohin sie wollen. Wir könnten sogar versuchen, sie von einem Strohmann für einen Scheinauftrag anheuern zu lassen – dann wissen wir ganz genau, wann sie wo sind. Wenn es nötig ist, dann lege ich die LEVIATHAN bei Sky Haven auf die Lauer und hefte mich an ihre Fersen – UND JAGE SIE BIS ZUM TOR DER HÖLLE!!“
„Wir greifen nicht direkt bei Sky Haven an?“
Jerome schüttelte den Kopf: „Auch auf uns ist mehr als ein Kopfgeld ausgesetzt. Und Armstrongs Piratenfreunde dürften die einzigen Verbündeten sein, die er noch hat. Ich will einen sauberen Angriff – brutal, vernichtend, tödlich. Keine beschissene Luftschlacht der verdammten vier Armeen. Wir geben ihnen ein paar Tage Freilauf, drei bis fünf, dann schlagen wir zu. NIEMAND soll uns in die Quere kommen.“
Sorrokow klang nicht unbedingt begeistert: „Warum warten wir nicht, bis jemand anderes unsere Arbeit gemacht hat? Dieser Idiot hat genug Feinde. Vermutlich müssen wir uns anstellen.“
Jeromes ausdruckslose Fischaugen richteten sich auf den Piratenoffizier. Seine Stimme war sehr kalt: „Weil ich es sage. Dieser Bastard glaubt, mich herausfordern zu können. Er hat meine Agenten und meine Geschäftspartner umgebracht. Natürlich sind die mir scheißegal. Aber hier geht es um Prinzip. Niemand darf das, außer mir! Er hat mir ins Gesicht gespuckt. Ich will dem Bastard sein eigenes Herz zu fressen geben.“

Sorrokow nickte, sichtlich eingeschüchtert, und der Kommandeur der Entertruppen meldete sich zu Wort. Ahiga Stoneface war Apache, und er trug seinen Namen zu Recht. Sein breites, dunkles Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, und die schwarzen Augen schienen aus Vulkanglas geschnitten zu sein. Von untersetzter, kompakter Statur, meisterhaft im Umgang mit Feuer- wie Nahkampfwaffen, und selbst unbewaffnet tödlich, war er ein mörderischer Gegner. Ahiga war der einzige Mann an Bord, dem Jerome bei einem Zweikampf eine gewisse Chance eingeräumt hätte. Der Apache stammte angeblich aus einer der kleinen unabhängigen Indianergruppen, die auch nach der Niederlage ihres letzten berühmten Häuptlings Geronimo in der Sonora ausgeharrt hatten, bis die verhasste USA auseinanderbrach. Dort hatte Ahiga offenbar gelernt, wie man jagte, wie man in der Wüste überlebte, und wie man tötete. Aus dieser Zeit musste auch sein kalter Hass auf die Amerikaner stammen. Jerome hatte den Indianer vor etwa drei Jahren auf einem spanischen Zeppelin „rekrutiert“, dass die LEVIATHAN aufgebracht hatte. Ahiga hatte sich in einem ‚Hangarkampf’ das Recht erworben, ein Pirat zu werden und zum Beweis seiner Skrupellosigkeit einen Gefangenen fast vierundzwanzig Stunden lang gefoltert, bis das Herz des Gequälten aufgehört hatte zu schlagen. Anderthalb Jahr später, nach dem Tod des Enterführers, hatte der Piratenkapitän dem Indianer den vakanten Posten gegeben, und es nicht bedauert. Jerome fand Ahigas Skrupellosigkeit und Brutalität, die sich gegen Frauen wie auch Männern richtete, als geradezu erfrischend. Und einige der Foltermethoden, die der Indianer beherrschte, hatten sogar den Piratenkapitän überrascht. Geld interessierte Stoneface wenig, er schien nur dafür zu leben, töten zu können. Jerome hätte in dem Mann eine Gefahr oder aber eine verwandte Seele sehen können, wenn er intelligenter und ehrgeiziger gewesen wäre. Aber Stoneface war nun einmal kein wiedergeborener Geronimo oder Chato. Er brauchte einen Häuptling, und hatte ihn anscheinend in Jerome gefunden. Solange der Indianer seine Rache an den Weißen und besonders den Amerikanern vollziehen konnte, folgte er Jerome mit der stummen Loyalität eines Bluthundes. Und genau das sah Jerome in ihm – ein zum Töten geborenes und dressiertes Tier, nützlich aber nicht ebenbürtig. Vielleicht erkannte Ahiga instinktiv, was Jeromes Ziel war, bewusst begreifen konnte er es wohl nicht: „Könnte klappen. Für Armstrong gibt es ein hübsches Lösegeld. Das werden die Männer lieben. Wir können ihn versteigern. Es gibt genug Leute, die ihn lebend wollen.“ Es war ungewöhnlich, dass Stoneface soviel sagte, und er klang fast bedauernd.
Jerome schüttelte den Kopf: „Keine Sorge. Wir liefern ihn nicht aus. Wenn irgendjemand für seinen toten Körper zahlt, gut. Aber niemand von der NORTH STAR wird jemals wieder lebend auftauchen. KEIN EINZIGER. NIRGENDS.“
In Ahigas Augen blitzte es kurz. Er schien verstanden zu haben. Vielleicht hätte er sogar beinahe gelächelt.
Richter aber fand die Idee nicht so gut: „Aber warum? Sie werden ihn doch sowieso…“
„WEIL ICH ES SO WILL. Armstrong hat gewagt, mich herauszufordern. Das hat seit mehr als einem Jahr kein verdammter Pirat mehr gewagt. Es wird Zeit, dass die Welt diese Lektion noch einmal lernt. Und deswegen wird die NORTH STAR verschwinden. Wenn wir Gefangene machen können, gut. Ich biete fünfzig Greenbucks aus meinen Ersparnissen für jeden Gefangenen als Prämie. Und auf meinen eigenen Beuteanteil verzichte ich diesmal. Wir werden mit den Gefangenen noch Spaß haben. Aber keiner – KEINER – wird lebend von Bord gehen. Nicht als Sklave, und auch dann nicht, wenn ein Erschießungskommando ihn erwartet. Die LEVIATHAN wird sie fressen. Mann für Mann, Frau für Frau. Alle. Ausnahmslos.“

Keiner der Offiziere wagte es, zu widersprechen. Aber natürlich begriffen sie nicht den Grund. Außer vielleicht Ahiga, dem das im Blut liegen musste. Es war wieder einmal Zeit, Entsetzen zu sähen. Und die Mannschaft der NORTH STAR war die perfekte Botschaft an die Welt. Eine Botschaft, die mit Blut geschrieben werden würde. Sie einfach nur zu töten, genügte nicht. Sie mussten leiden.
Jerome hatte irgendwo einmal gehört, dass die alten Azteken ihre Kriege nicht führten, um ihre Gegner zu töten. Viel ehrenvoller war es, den Gegner gefangen zunehmen, um ihn dann den Göttern zu opfern. Ihre Taktiken und ihre Waffen waren speziell für diese Aufgabe entworfen worden. Am Ende hatte das zu ihrer Niederlage gegen die spanischen Konquistadoren beigetragen.
Auch wenn die Indianer die Sache bis auf eine groteske Spitze getrieben hatten, Jerome begriff den Sinn ihrer Strategie. Einer Strategie, die von den unterworfenen Völkern neben den üblichen Tributen alljährlich auch die Auslieferung von lebenden Menschen forderte, damit sie zu hunderten und tausenden auf den Opferpyramiden starben. Öffentlich, in einer Orgie aus Blut und Gewalt.
Die Azteken regierten durch Terror und Entsetzen – und die Mannschaft der NORTH STAR würde der blutige Tribut an Jerome sein, der geopfert werden mußte, um Grauen und Angst zu verbreiten.
Keiner außer Jerome begriff natürlich die erhabene, berauschende Größe dieser Idee. Selbst wenn er es ihnen erzählen würde. Nicht Conway, mit seinen lächerlichen Bedenken. Nicht Richter, mit seinen erbärmlichen Gelüsten. Auch nicht Sorrokow, dem es nur um Geld und sein Vergnügen ging. Und auch nicht Stoneface, obwohl gerade er Jeromes Werkzeug werden würde. Das war das Schicksal des Genies - nicht verstanden zu werden, von seinen Werkzeugen und Untergebenen.
Natürlich musste die Botschaft auch verbreitet werden, damit die Welt zumindest erahnen konnte, was er wollte, damit Furcht und Entsetzen wuchern und sich verbreiten konnten.
Ja, Mitchell würde die Rolle des Botschafters übernehmen. Er würde Zeuge sein, bis zum blutigen Ende. Und nicht nur er. Jerome beschloss, auch ein oder zwei der anderen Sklaven, die er momentan an Bord hatte, die Freiheit zu geben, nachdem er mit den Männern und Frauen der NORTH STAR fertig war, und der letzte zerstückelte, nackte Leichnam mit dem schwarzen Halsband über Bord gegangen war.
Diese ausgewählten Herolde würden mit eigenen Augen sehen, wie sich die LEVIATHAN in ein Inferno verwandelte, der alle bisher erlebten Schrecken verblassen ließ, in einen der neun Kreise der Verdammnis. Dann würde Jerome sie entlassen. Sollten sie doch leben. Sie würden niemals vergessen können, was sie gesehen hatten. Bis zu ihrem Tod würden sie dazu beitragen, Jeromes Ruf zu verbreiten – alleine durch ihre kümmerliche Existenz. Ja, so würde er es machen!

Jeromes Stimme vibrierte förmlich vor Energie, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch: „So machen wir es. Ein schneller Angriff aus dem Hinterhalt, mit aller Macht. Wir putzen alle Jäger weg, die draußen sind. Dann jagen wir ihnen ein paar Splitterraketen und Maschinengewehrsalven in die Hangartore, und schießen jeden ab, der zu starten versucht. Wir kämpfen ihre Maschinengewehrnester nieder, dann geht Ahiga ran. Die LEVIATHAN halten wir in Reserve. Wir bestücken unsere Maschinen…“
Jerome hatte seine Entscheidung getroffen. Jetzt wurde es Zeit, die Pläne in die Tat umzusetzen. Es war Zeit, die Hölle zu entfesseln.
12.09.2020 20:09 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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Laute, hektische Stimmen weckten Peter Marquardt aus seinem unruhigen Schlaf. Es war mitten in der Nacht, und der deutsche Nachwuchspilot war ehrlich erschöpft. Steel hatte ihn und Maxine furchtbar angetrieben, damit die beiden als zukünftiges Duo ordentlich zusammen flogen. Den Punkt hatte Peter noch begrüßt, denn er hatte seine neue Schwester sofort ins Herz geschlossen. Die harte Arbeit, die komplexen Manöver und vor allem Steels gnadenlose Schärfe bei jeder Art von Fehler hingegen nicht so. Der Mann war härter als sein Ausbilder in der Motor-HJ, und das wollte schon was heißen.
Dennoch folgten die Piloten seinem Drill willig bis zum umfallen.
Es war ein wenig wie guter Polizist, böser Polizist. Sein Bruder Dave war der gute, der zu dem sie alle aufsahen, den sie bewunderten. Und Steel war der Treiber, der böse, der sie mit seiner Art allerdings zu hervorragenden Piloten formte, für die Staffelmanöver kein Fremdwort, sondern ein ständiger Begleiter war.
Peter hatte nun schon den vierten Tag in Folge von Ernst Stahls Training gekostet und war rechtschaffend müde. Dennoch wachte er beinahe sofort auf, als er die Stimmen hörte.
Er schnappte sich die kleine Derringer, die ihm Max mitleidig überlassen hatte als sie gehört hatte, dass er keine eigene Waffe besaß, warf sich den Morgenmantel um und verließ seine Kabine.
Die Stimmen kamen aus dem Hangar, und sie wurden lauter, weil mehr und mehr Besatzungsmitglieder der NORTH STAR hinzukamen.
Rücksichtslos drängelte sich Peter nach vorne. Er war der Bruder vom Alten, und das wussten alle, deshalb nutzte er es schamlos aus. Nur nicht Steel gegenüber, dem sogar egal gewesen wäre, wenn er Friedrich Wilhelm der Zweite gewesen wäre.
Als er endlich in vorderster Reihe stand, inmitten eines Pulks aus Infanteristen und halb schlafenden Technikern, fiel sein Blick auf sechs Männer in schwarzer Kleidung. Die Gesichter waren geschwärzt, und Doktor Mertens versorgte gerade eine Schusswunde bei einem der Männer. Um sie herum standen zehn Männer in Khakifarbenen Uniformen. Jeder von ihnen trug stolz ein weißes Kepi und an ihren Gürteln baumelten ein großes Kampfmesser und eine Pistole italienischer Fertigung. Einer von ihnen unterhielt sich leise und sehr ernst mit Thomas David Marquardt, Jeff Daines und Ernst Stahl.
Dabei nickte sein Bruder immer wieder, und zwischendurch musste er auch mal grinsen.
„Ich verstehe kein Wort“, klagte Steel in diesem Moment, und seine Stimme trug bis zu Pete herüber. „Entschuldigen Sie, Lieutenant, aber könnten Sie englisch sprechen? Mein französisch ist doch etwas erbärmlich für eine Abschlussbesprechung.“
Pete drängte sich bis zu Steel heran. „Soll ich übersetzen, Chief?“
Ernst Stahl zog fragend eine Augenbraue hoch. „Chief?“ Dann dachte er über das Angebot nach. „Ist Ihr französisch so gut wie das Ihres Bruders?“
„Natürlich. Unsere Mutter ist Französin.“
„Dann übersetzen Sie, Rock.“
Pete war nicht wenig stolz darauf, dass der große, stolze Industrial ihn mit dem neuen Callsign angesprochen hatte, dass er sogar persönlich ausgewählt hatte, lauschte mit einem Ohr der Unterhaltung der beiden und übersetzte so schnell er konnte. Französisch zu deutsch wäre schneller gegangen, aber Jeff Daines bevorzugte sichtlich englisch.
„Diese zehn Männer gehören zu einer Söldnertruppe“, sagte Pete hastig, bevor er den Faden verlor. „Sie wurden von Armstrong engagiert, um unsere Außenbewachung zu verstärken.“
„Das weiß ich. Ich war bei den Verhandlungen dabei“, murrte Steel. „Worüber reden sie jetzt?“
„Die Söldner sind ehemalige Fremdenlegionäre und darauf spezialisiert, Kommandos abzufangen. Sprich, Schlapphüte“, sagte Pete und freute sich diebisch darüber, dass er ein deutsches Wort hatte einfließen lassen können. „Diese sechs hier gehören zu einem Kommando, das die NORTH seit gut vier Tagen observieren. Sie haben sich feste Spots eingerichtet, von denen sie den Zeppelin rund um die Uhr beobachten konnten. Sie haben Wachwechsel dokumentiert, Anzahl der Personen pro Teileinheit und die Maschinen. Da, er übergibt Dave gerade die kompletten Aufzeichnungen.
Jetzt erwähnt der Lieutenant, dass er angegriffen hat als absehbar war, dass sie in dieser Nacht angreifen wollten. Sie haben ihnen ein paar Fallen gestellt und sie relativ einfach überwältigen können. Tja, und jetzt sitzen sie hier auf dem kalten Hangarboden und holen sich Hämmorrhoiden.“
„Sehr witzig. Ehemalige Fremdenlegionäre? Ist das sicher?“
„Den Part habe ich nicht genau verstanden. Es können auch aktive Fremdenlegionäre sein, die gerade ihren Sold aufbessern“, versetzte Pete verlegen. „Jetzt sagt der Lieutenant gerade, dass die Männer keine Identifikationen bei sich haben. Aber sie kommunizieren in englisch mit Downunder-Akzent. Ihre Ausrüstung ist auch very british. Brownings, Stabhandgranaten und dergleichen. Die Männer wurden bereits einmal verhört, aber sie haben noch nichts über ihre Ziele verraten. Das scheint Dave aber egal zu sein. Er sagt gerade, dass ihr Ziel sicherlich sein Tod gewesen war.
Hm, da komme ich jetzt nicht mit…Oder kann das wirklich sein?“
„Was ist denn, Rock?“, fragte Steel nervös.
„Ich dachte, ich hätte mich verhört, aber mein Bruder hat dem Lieutenant gerade befohlen, die Männer wieder von der Zigarre zu schaffen und am Rande des Landefelds freizulassen. Ihre Ausrüstung schenkt er den Franzosen als Bonus.“
„Ist er verrückt geworden? Erkannte Gegner schaltet man doch aus! Die kommen doch wieder, so wie die Sachlage liegt!“
„Das sagt der Franzose auch. Aber Dave hat nur erwidert, er würde dafür bezahlen, dass sie für ihn arbeiten, nicht umgekehrt. Der Lieutenant hat das tatsächlich gefressen.“
Dave Stone nickte dem großen Mann kurz zu, dann stellte er sich vor die sechs Gefangenen. „Gentlemen! Unabhängig von der Tatsache, dass Sie versucht haben, diesen Zeppelin mit zwei Scharfschützengewehren unter Feuer zu nehmen. Ungeachtet der Tatsache, dass Sie vorhatten, meinen Hangar auszuräuchern und meine Leute zu töten. Ungeachtet der Tatsache, dass Sie mich persönlich töten wollten, werde ich Sie freilassen. Und nett wie ich bin verzichte ich darauf, Ihnen als permanentes Andenken irgendetwas abzuschneiden. Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat und danach einen Befehl.
Zuerst der gute Rat. Laufen Sie schnurstraks zu Ihrer Basis, schnappen Sie sich genügend Geld, um aus dieser Stadt zu entkommen und seien Sie morgen früh nicht mehr da, denn dann habe ich auf jeden von Ihnen eintausend Greenbucks Kopfgeld gesetzt.
Und jetzt der Befehl: Richten Sie Ihren Vorgesetzten vom MI6 aus, dass sie es wesentlich leichter haben können. Da sie uns anscheinend genug schätzen um uns ein paar Kommandos auf den Hals zu hetzen, hätten sie uns auch anwerben können.“
Aufgeregtes Raunen erklang von den Gefangenen.
Armstrong wandte sich ab und machte eine wegwischende Handbewegung in Richtung der mutmaßlichen britischen Agenten. „Lieutenant Cartier. Vite, vite, avec des amateures.“
Der Franzose grinste von einem Ohr bis zum anderen. „Si, mon Capitaine.“

Als Armstrong zu dem Pulk der Offiziere zurücktrat, waren die Franzosen schon dabei, die schwarzen Gestalten auf die Beine zu holen. Zum Glück war Mertens mit seiner Erstversorgung schon fertig. Ein Schott wurde geöffnet, und die Franzosen schafften ihre Gefangenen hinaus.
„Das war unverantwortlich“, zischte Steel wütend. „Schlimm genug, dass wir sie schon in der Hand hatten und du sie laufen lässt. Aber jetzt auch noch ein Kopfgeld auf sie auszustellen und ihnen sagen, dass sie uns anwerben können ist doch…“
„Was das Kopfgeld angeht kann ich dich wohl beruhigen, Ernst. Das muss ich ja nur bezahlen, wenn ich es auch aussetze, oder?“
„Was? Aber du… Du hast doch…“
„Sie werden sich kaum danach erkundigen, wenn sie mitten in der Flucht sind. Ihre Identität hier ist ohnehin verbrannt. Sie müssen sich zurückziehen, oder jeder der irgendeinen Hass gegen die Briten hat, wird sich um sie kümmern, oder?“
„Zugegeben“, erwiderte Steel, es klang aber mehr wie ein wütendes Murren.
„Auf jeden Fall kannst du jetzt nicht mehr sagen, ich wäre zu blauäugig. Das Geld für die Franzosen hat sich jedenfalls gelohnt. Cartier und seine Leute werden uns auch zur Verfügung stehen, wenn wir das nächste Mal hier andocken.“
Armstrong sah in die Runde. „Wenn wir schon so heimelig hier versammelt sind, Herrschaften…Ernst, wie macht sich denn der Kleine an der Seite von Max?“
„Was? Ganz gut soweit. Ich muss ihn jedenfalls kaum treten. Als nächstes bringe ich dem Sauhaufen bei, als Staffel zu fliegen. Was hat das denn jetzt damit zu tun?“
„Und wie macht sich deine Bloodhawk? Hast du den neuen Booster schon mal ausprobiert?“
Ein verschwörerisches Lächeln ging über Steels Züge. „Ein nettes kleines Maschinchen, das muss ich ehrlich zugeben. Willst du wirklich lieber die Fury? Nicht, dass ich dir dieses Stück Spitzentechnik fortnehme.“
„Was denn, was denn, ich dachte für einen Industrial gibt es nur eine Spitzentechnik, und das ist die Hellhound“, warf Peter spöttisch ein.
„Sie halten den Rand, wenn sich Erwachsene unterhalten, Junge“, erwiderte Steel scharf.
Erschrocken schloss der junge Halbfranzose den Mund.
„Gehen Sie wieder schlafen. Und, Rock, Sie waren heut wirklich gut da oben.“
Steels Miene bewegte sich bei dem Lob nicht, aber Pete bekam glänzende Augen, als er gelobt wurde und erneut sein neues Callsign fiel. „Danke, Sir!“
„Jetzt aber los. Kinder brauchen ihren Schlaf!“ „Ja, Sir!“

Eine Zeitlang sahen die beiden Männer dem Jüngeren hinterher. „Waren wir auch mal so jung, Dave?“
„Vielleicht. Er wird mal ein guter Pilot, wenn er genügend Zeit kriegt, Ernst.“
„Genügend Zeit? Und dann lässt du ihn gegen die LEVIATHAN fliegen? Hast du dir das gut überlegt?“ Ernst klopfte dem Commander auf die Schulter und ging ebenfalls.

***

Der nächste Morgen begann für Armstrong mit einer kleinen Überraschung. Er war gerade beim rasieren, als ein sichtlich aufgebrachter Steel mit einer Zeitung in der Hand hereingestürzt kam und sie ihm auf den Schreibtisch knallte. „Dieser Bastard! Dieser elende Bastard! Ich wusste, er steckte hinter der Hatz auf Elisabeth, aber jetzt leistet er sich zuviel!“
„Ruhig, Pilot, schraub die Umdrehung runter. Was ist dir denn so früh am Tag über die Leber gelaufen?“
„Seite drei! Ist das frischer Kaffee? Steht der Whisky da wo er immer ist? Danke.“
„Kaffee mit Whisky am frühen Morgen?“ Armstrong wischte sich den Schaum aus dem Gesicht und schlug die Zeitung aus. „Die hiesige Faksimile der Chicago Tribune, oder?“
„Die Meldung ganz oben!“
„…wurde eine nackte Männerleiche mit einem schwarzen Halstuch nahe Combsbridge gefunden… …wies zahlreiche alte und neue Wunden auf… …starb beim Sturz… …furchtbar zurgerichtet… Das klingt zwar recht scheußlich, aber warum regst du dich so auf? Du bist doch auf deine alten Tage nicht noch Philantroph geworden?“
„Die nackte Leiche, das schwarze Halsband. So entsorgt Jerome seine Gefangenen! Haben Tom und Sharon das nicht erzählt?“ Steel winkte ihm auffordernd zu. „Letzter Absatz, Armstrong, letzter Absatz.“
„…wies die Leiche mehrere Schnittwunden auf dem Rücken auf, die zusammen die beiden Worte NORTHSTAR NEXT ergeben… Ach du grüne Scheiße, jetzt weiß der Froschfresser wirklich über uns Bescheid.“
„Und er hat uns gerade den Krieg erklärt. Na, kein Wunder, wir haben ja auch seine Leute kalt gemacht, als sie die NORTH stürmen wollten.“
„Du hast sie kalt gemacht, Ernst“, erwiderte Dave trocken. „Keine Frage, er will uns aus der Reserve locken. Ich nehme an, dieses Kaff ist irgendwo im Süden der Industrials, oder? Damit wir es binnen weniger Tage bei Marschfahrt erreichen können.“
„Du willst da doch wohl nicht hinfliegen“, brach es aus Steel hervor.
„Nein. Und das erwartet er auch nicht von mir, der gute Jerome.“ Dave rieb sich die Schläfen. „Nein, er will nur, dass ich anfange zu denken. Nervös werde. Fehler mache, weil ich überstürzt reagiere. Aber in einem Punkt hast du Recht. Er hat sich gerade vom Gejagten zum Jäger erhoben. Zumindest glaubt er das. Aber ich lasse mich nicht manipulieren.“
Armstrong ging an den Tresor seiner Kabine, öffnete ihn und zog ein Bündel Greenbucks hervor. Das warf er Steel zu. „Schnapp dir Makiko und flieg in die City. Sie ist ein flinkes Mädchen, das einen Eisblock zum reden bringen könnte, und du hast ein Talent dafür, dir die richtigen Menschen auszusuchen, die dir was erzählen können. Schmier ein wenig rum.“
„Soll ich geschmiert sein oder geschmiert haben?“
„Geschmiert haben. Ich will, dass du ein paar Kontakte knüpfst. Ein wenig Geld verteilst. Wir bezahlen für Wissen über die LEVIATHAN, und das sehr gut. Wirklich gut. Vielleicht gelingt es uns, eine Historie der letzten Wochenaktivitäten zu erstellen. Ach, und such meine Freundin von der Air Action Weekly auf. Sie wird dir sicherlich alles zur Verfügung stellen, was ihre Zeitung über Jerome weiß, wenn du ihr ein paar exklusive Berichte versprichst.“
„Gut. Und was tust du? Ich bin hier immerhin der Verletzte.“
„Es hat seine Vorteile, Boss zu sein“, erwiderte Dave mit einem grinsen. „Ich teste heute meine neue Fury auf Herz und Nieren. Eventuell schieße ich auch was zum Abendessen.“
„Nimm Rock und Toro mit hoch, Boss. Sie können die Flugstunden brauchen.“ Steel steckte das Geldbündel ein und machte sich auf den Weg, den Raum zu verlassen.
„Ach, Ernst.“
„Ja?“
„Du erinnerst dich daran, dass Lieutenant Cartier gestern nur französisch gesprochen hat?“
„Ich bin sicher, da steckt eine einleuchtende Erklärung hinter.“
„Steckt sie. Er hat gesagt, er will den dämlichen Allemand ärgern.“
Steel ließ einen herben Fluch hören. „Ich bin Industrial, kein Deutscher!“
„Und er ist Louisianer, kein Franzose. Aber manche werden eben nie schlau.“
„Das kann man auch auf dich anwenden, Dave“, murrte Steel und ging.
Dave seifte sich neu ein. Vielleicht schaffte er diesmal die Rasur. „Nein, Michael Jerome, nicht zu deinen Bedingungen. Nur zu meinen. Nur zu meinen.“

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Drei Tage später in der Kantine der NORTH STAR:
„Ich habe el Toro umbesetzt“, sagte Ernst Stahl anstatt einer Begrüßung.
„Das heißt zuerst mal guten morgen und kann ich einen Kaffee haben“, tadelte Armstrong und wies einladend auf den Platz ihm gegenüber. „Wohin hast du unseren kleinen Juanito denn versetzt?“
„Er fliegt jetzt mit mir. Es passt besser zur Tonnage der Maschinen. Und ich habe direkt ein Auge auf ihn.“
„Traust du ihm immer noch nicht?“, fragte Armstrong nachdenklich, während er Steel eine Tasse Kaffee einschenkte.
„Nein, ich bin nur nicht von seiner Teamfähigkeit überzeugt, also halte ich ihn nahe bei mir. Dann habe ich Max und Rock zusammen gesteckt. Beide fliegen Devastator, also bilden sie ne gute Kombi. Außerdem hat Max mehr Flugerfahrung und kann gut auf Rock aufpassen.“
„Bei den beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Er wird sich von ihr schon was sagen lassen“, brummte Armstrong nachdenklich. „Und Hammer hast du also mit Rocket zusammengespannt?“
„Die Gelegenheit war günstig. So sehr ich dein Genie geschätzt habe, mir zu meiner Fury eine schwere Vampire zu geben…“, sagte Steel mit einem sardonischen Lächeln, „so gefällt mir der Gedanke, eine Avenger mit einer Vampire fliegen zu lassen, doch irgendwie besser. Damit ist meine Staffel komplett, Boss.“
„So“, brummte Armstrong. Dankbar nahm er von Johnny, dem Chefsteward, sein Frühstück entgegen. Toast und Marmelade. „Und jetzt willst du sicher wissen, wie ich mir meine Staffel zusammen geschustert habe.“
„Ich gebe zu, ich bin latent interessiert.“
„Ich fliege weiterhin mit Melissa.“
„War klar. Ihr klebt ja schon seit zwei Jahren zusammen. Und im Gegensatz zu dir bleibt sie auch oben.“
„Sehr witzig, alter Freund, sehr witzig. Dann habe ich Rainmaker in Rotte zwei auf den ersten Platz gesetzt. Er hat lange genug an Happys Flügel – Gott sei seiner Pilotenseele gnädig – geklebt, um mal selbst den Lead auszuprobieren. Ich habe Rook auf die zweite Bloodhawk gesetzt, die uns Dick überlassen hat, und seine Devastator fliegt jetzt Pete.“
„Das macht Sinn und zwei Rotten. Und da Klutz und Stick wieder im Rennen sind, hast du fast eine Staffel zusammen.“
„Es kommt noch besser. Sharon fliegt für uns.“
„Sh-sharon? Du meinst doch nicht etwa diese arme Kreatur, die du zusammen mit Thaddeus aus diesem Sklavenloch befreit hast? Sie und dieser Tommy sind doch – mit Verlaub – halb tot geprügelt gewesen.“
„Und sie hatten Zeit sich zu erholen. Sie war früher beim STI, und ich habe mich davon überzeugt, dass sie mit schweren Maschinen klar kommt. Sie ist wahrscheinlich das Beste, was wir auf die Schnelle kriegen können. Und glaub mir, gegen die LEVIATHAN wird sie keine falsche Gnade zeigen.“
„So, so. Du willst sie also einsetzen. Ist dein Verstand jetzt zu akkurat oder dein Herz zu weich?“
„Etwas von beidem, vermutlich."
„Jedenfalls müssen wir uns jetzt nur noch um zwei Dinge kümmern. Entweder du setzt sie auf die zweite Fury, die dein Gönner aus Texas dir geschenkt hat, oder du kümmerst dich um eine Brigand und einen anständigen Bordschützen.“
„Oh nein, nicht ich kümmere mich um sie – sondern du!“
„Was, bitte? Hat mir die Aktion neulich Nacht einen Hörsturz beschert? Warum muss ich mich um deine Staffel kümmern? Und besser noch, warum um einen Bordschützen? Hallo, ich bin Pilot!“
„Mein bester Pilot, um genau zu sein.“
Steel brummte etwas Unverständliches als Erwiderung, aber für den Moment war ihm der Wind aus den Segeln genommen.
„Ich verlange nicht mehr als du ohnehin tust. Ich will, dass du dir Kiki schnappst, Sharon und Stick, und dann fliegt ihr rüber ins FORD´s. Den Laden habe ich für heute Nachmittag angemietet und verlauten lassen, dass wir einen Heckschützen anwerben. Du übernimmst die Auswahl, achtest aber darauf, dass Stick ein paar Fachfragen stellen kann. Du weißt schon, Heckschützenkram eben. Und Sharon muss der neue Partner auch gefallen. Die Chemie muss stimmen, so was eben.“
„Und warum machst du das nicht selbst?“
„Weil ich einen alten Geschäftspartner aufsuchen muss. Er hat mir schon einmal zwei Brigand beschafft, vielleicht kriegt er das ein zweites Mal hin.“ Dave nahm einen Schluck Kaffee. „Oder sollen wir tauschen? Ich kümmere mich um den Bordschützen und du um den Schwarzhändler?“
„Sind nicht alle Händler hier Schwarzhändler?“, giftete Steel. „Moment Mal, das letzte mal, als du Brigands eingekauft hast, da…Richtig, da hast du diesen wahnwitzigen Stunt durchgezogen, der Sharon und Tommie hervorgezaubert hat. Du willst doch nicht etwa wieder…“
„Keine Sorge, ich will nur ein paar Informationen.“ Genüsslich lehnte sich Armstrong zurück. „Also, tauschen wir jetzt, oder bleibt es dabei?“
„Es bleibt dabei. Aber sieh zu, dass du nicht zu sorglos bist. Bei den Briten hattest du Glück. Aber das bewahrt dich nicht davor, auf zweitausend Meter mit einer Kugel um den Hohlraum erleichtert zu werden, den du Kopf schimpfst.“
„Schlecht geschlafen, Steel? Deine Spitzen sind ansonsten sehr treffend, aber selten erniedrigend.“
Der Industrial krampfte seine Hände um den Becher. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Verdammt, Thomas, du hattest Glück bisher, verdammt viel Glück! Mehr nicht! Und das war vor Hawaii. Aber jetzt ist die halbe Welt hinter dir her und wer weiß sonst noch welcher Abschaum sich für dich interessiert. Geht das nicht in deinen Kopf rein, dass du nicht weitermachen kannst wie bisher? Willst du vielleicht deinen kleinen Bruder mit in den nächsten Abgrund ziehen?
Die LEVIATHAN schön und gut, aber werde gefälligst vorsichtiger, rationaler. Die Legende um den unverwundbaren Dave Stone ist ja gut und schön, aber nur solange, wie keiner das Gegenteil beweist.“
Armstrong zog die Augenbrauen hoch. „Legende um den unverwundbaren Dave Stone?“
„Du hast die neue Air Action Weekly nicht gelesen, oder? Deine Freundin in der Redaktion jubelt dich jedenfalls bis in die Wolken. Die Aussicht auf ein paar Exklusivberichte hat sie wohl als Anlass genommen, um deinen Marktwert zu steigern. Angeblich hast du dein Callsign geändert. Statt Armstrong heißt du jetzt Invincible.“
„Invinvible? Unverwundbar? Jetzt gehen aber doch die Pferde mit ihr durch.“
„Und jeder Pirat mit Haaren am Arsch wird scharf darauf sein, sich mit dir zu messen.“
„Tja, Ruhm hat seinen Preis.“
„Und der Preis wird dein Kopf sein, wenn du nicht aufpasst.“ Steel erhob sich. „Sieh es mal so: Sobald ich meine, dass dein Kopf in höheren Wolken schwebt als dein Flugzeug, werde ich meine Sachen packen und hier verschwinden. Denn dann fliegst du in den Tod, und alle anderen, die dir folgen, mit dir. Und der Tod ist nichts für meines Vaters Sohn.“
„Steel, traust du mir etwa nicht mehr?“
Der Industrial räusperte sich wütend. „Es ist nicht die Frage ob ich dir traue. Ich traue der Situation nicht. Merkst du nicht, dass sich die Umgebung schneller verändert als wir Schritt halten können? Normalerweise würde ich sagen, lass die LEVIATHAN LEVIATHAN sein und wir verkriechen uns zu einem langen Urlaub auf Kuba, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Aber da spielst du sicher nicht mit, oder? Obwohl die neuen Piloten Staffeltraining brauchen. Obwohl es offensichtlich ist, dass Jerome den Spieß umzudrehen versucht und dich provoziert. Obwohl jetzt die Russen genauso wissen wie die Japaner, wem sie noch mehr von ihrem Ärger oben in Alaska verdanken. Obwohl“-
„Schon gut, schon gut, die Botschaft kam an. Setz dich bitte wieder.“
Nur zögerlich nahm Steel wieder Platz. „Was kommt jetzt? Ein Appell an mich und der berühmte Satz: Du bist mein bester Mann?“
„Dixie.“
„Dixie?“
„Dixie.“
„Dixie was?“
„New Orleans, um genau zu sein. Wir fliegen rüber und üben uns einen Monat ein. Nach Feierabend machen wir die Stadt unsicher. Und wenn wir bereit sind, jagen wir die LEVIATHAN unsererseits.“
„Woher kommt diese unverholene Einsicht, Armstrong Invincible Super-Deutscher?“
„Sehr witzig, Herr Hart wie Krupp-Stahl. Wir haben ein paar neue Leute für die Marines angeworben, dazu Flugpersonal, Servicekräfte und neue Mechaniker. Die brauchen alle etwas Zeit, um sich einzuarbeiten und ein Team zu werden. In Sky Haven geht das etwas schlecht, weil wir hier immer wie auf dem Präsentierteller liegen. Finde ich.
Deshalb habe ich Dick gebeten, mir ein sicheres Übungsgelände zu besorgen. Und voilá, schon hat er ein Flugfeld ausgegraben, auf dem Colt Aviation früher Flugtests durchgeführt hat, bevor mit den U.S.A. alles den Bach runterging. Die Kontakte sind noch da, wenngleich Texaner da nicht gerne gesehen sind.“ Armstrong grinste zufrieden wie ein satter Kater. „Aber wir sind ja keine Texaner, oder?“
„Wer sind Sie, und was haben Sie mit Armstrong gemacht?“, fragte Steel mit trockener Miene.
„Darf ich das als Kompliment für meine Pläne auffassen, Steel?“
„Durchaus. Jesus, ich hätte nie gedacht, dich mal vernünftig zu erleben. Wann fliegen wir los?“
„In zwei Tagen. Ich will so schnell es geht runter von der Zielscheibe.“
„Bis dahin hast du deinen Heckschützen.“ Steel erhob sich.
„Ach, Ernst, zwei Dinge noch. Wir bräuchten noch etwas mehr. Ich habe dem Barkeeper, James, einen Auftrag mitgegeben. Sei so gut und bring den Umschlag mit, den er vorbereitet hat.“
„Gut. Das sollte selbst ein dressierter Affe schaffen. Und Punkt zwei?“
„Wirf noch mal nen Blick in deine Maschine.“ Armstrong zwinkerte dem Piloten zu. „Kleine Überraschung.“
„Kleine Überraschung? Ich mag sie jetzt schon nicht“, brummte Steel reserviert. Er imitierte einen kurzen militärischen Salut und verließ die Kantine.

Armstrong grinste in sich hinein, während er sich Kaffee nachschenkte. Was würde Steel wohl mehr aufregen? Die Bonbonierre, die im Cockpit auf ihn wartete – für eine Stadt, die sich brüstete für Geld alles anzubieten war es sehr schwierig gewesen, Schweizer Schokolade aufzutreiben – oder die Glückwunschkarte zur neuen Maschine und dem frommen Wunsch, dass diese ihn länger in der Luft halten würde als die letzte?
Wenn er die Ohren spitzte, würde er den Industrial vielleicht sogar schreien hören können…
12.09.2020 20:11 Tyr Svenson ist offline E-Mail an Tyr Svenson senden Beiträge von Tyr Svenson suchen Nehmen Sie Tyr Svenson in Ihre Freundesliste auf
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